Zwischen Psychose, Psychosomatik und

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Zwischen
Psychose, Psychosomatik und
Spiritualität
Psychotherapie in Grenzbereichen
Kurt Gemsemer
zwischen 1990 und 2012
Kurt Gemsemer: Facharzt für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie in
privater Praxis, bis 2014 auch als Leitender Arzt einer psychosomatischen Tagesklinik
beim Tannenhof Berlin Brandenburg tätig. Mitglied der Deutschen Vereinigung für
Gestalt Therapie (DVG), Gestalt-Körpertherapiefortbildung. Fortbildung in
systemischer Aufstellungsarbeit bei A. Mahr. Langjährige Therapieerfahrung in der
Arbeit mit Menschen in und nach psychotischen Krisen. Supervisionstätigkeit.
Veröffentlichungen zur Psychotherapie von Psychosen.
Praxis:
Eisenacherstr. 43
10823 Berlin
Fon: 03078711717
Email: [email protected]
Publikationen
1990
1997
2003
2008
2012
Psychose als Erscheinungsform eines kritisch veränderten Bewusstseins. In:
Gestalttherapie 1/90, S. 32-43
Transpersonale Aspekte der Gestalttherapie in der Psychosetherapie. In:
Zeitschrift für Transpersonale Psychologie und Psychotherapie (TPP) S. 6577
Transpersonales Containment in der Arbeit mit Psychosen. In: Galuska, J.:
Den Horizont erweitern. Die transpersonale Dimension in der
Psychotherapie. S.154-181. Berlin, 2003
Psychose, Trauma und Bewusstseinsevolution. In: Transpersonale
Psychologie und Psychotherapie. 1/2008 S. 19-34
Meditation und Psychotherapie. Die Vertiefung des Bewusstseins als
heilende Funktion. In: Zeitschrift für Transpersonale Psychologie und
Psychotherapie (TPP) 2/2012, S. 53-66
2
Inhaltsverzeichnis
I.
Psychose als Erscheinungsform eines kritisch veränderten
Bewusstseins
In: Gestalttherapie 1/90, S. 32-43
1.
Die Erschütterung des schulmedizinischen Krankheitsmodels in meinem
Erleben.
1.1.
Der Widerspruch
1.2.
Die Entdeckung der Konfluenz in der Gestalttherapie mit dem biographischen psychoanalytischen Interpretationsmodell
1.3.
Das körpertherapeutische Potential
2.
Emotion - Körper - Psychose
2.1.
Die Identifikation mit dem Aggressor
2.1.1. Die Neuroleptika in der Konfluenz mit der Aggressorposition
2.2.
Entfremdung - Depersonalisation
3.
Die Grofsche Erweiterung der Kartographie der Psyche.
3.1.
Eine Skizze
3.3.
Synchronizität als Beispiel eines transpersonalen Wahrnehmungsphänomens.
3. 4. Die perinatalen Grundmatrizen / Systeme verdichteter Erfahrung
3.4.1. Die erste perinatale Grundmatrix: Das amniotische Universum.
3.4.2. Die zweite perinatale Grundmatrix: Kosmisches Verschlungenwerden und
Ausweglosigkeit.
3.4.3. Die dritte perinatale Grundmatrix: Der große Kampf vor Tod und
Wiedergeburt.
3.4.4. Die vierte perinatale Grundmatrix: Tod und Wiedergeburt.
3.5.
Psychotische Symptome im Verständnis des Grofschen Modells
4.
Der Übergangsbereich zwischen integrierten und desintegrierten veränderten
Bewusstseinszuständen
3
4.1.
Ein altes Fallbeispiel von C.G. Jung
4.2.
z.B. Maslows Entdeckung
4.3.
z.B. Moodys Entdeckung
4.4.
z.B. Jane Roberts Erfahrungen
4.5.
Methoden, die die existentielle Bedrohung des Organismus benutzen.
5.
Der Einfluss des kulturellen Weltbildes auf das Integrationspotential einer
gegeben Situation
6.
Zusammenfassung
7.
Literatur
II.
Transpersonale Aspekte der Gestalttherapie in der Psychosetherapie.
In: Zeitschrift für Transpersonale Psychologie und Psychotherapie (TPP). I/97,
S. 65-77
1.
Der Grenzprozess als vollendete Gestalt. Das mystische Erlebnis von R.
Maharshi
2. Maharshis Selbstbegriff
3.
Der Grenzprozess als offene Gestalt
4.
Praxisbeispiele
Fallbeispiel I
5.
Veränderung der Wahrnehmungsmodalitäten
Fallbeispiel II
6.
Die zu erweiternde Persönlichkeitsfunktion an der Existenzgrenze
7.
Aus der Sicht der Gestalttherapie birgt der gelungene Kontakt
Heilungspotential
8.
Literatur
4
III.
Transpersonales Containment in der Arbeit mit Psychosen.
In: Galuska, J.: Den Horizont erweitern. Die transpersonale Dimension in der
Psychotherapie. S.154-181. Berlin, 2003
1. Einleitung:
Die Begegnung mit Psychoseerfahrenen in der Psychotherapiepraxis
1.1
Erstes Fallbeispiel
1.2
Zweites Fallbeispiel
2. Landkarten für Desintegrationsprozesse
Helmut Pauls Begriff des „inneren Kindes und S. Grofs perinatale
Matrizen
2.1
Das Traumselbst und die holotrope Wahrnehmung nach Grof
2.2
das Kernselbst
2.3
die Entwicklung des subjektiven Selbst
2.4
Das sprachliche Selbst
2.5
Bildung des Ich als emergierendes Holon
2.6
Abwehrvorgänge
3. Psychose als Emergency
3.1
Betrachtung der Desintegration von verschieden Strukturebenen aus und
therapeutische Konsequenzen
3.2
Drittes Fallbeispiel
3.3
Psychosetherapie in der Einzeltherapie
4. Resonanzphänomene in Teams
4.1
Viertes Fallbeispiel
4.2
Übergangsformen
4.3
Supervisionsarbeit
5.
Schlussfolgerungen
6.
Zusammenfassung
7.
Literatur
5
IV.
Psychose, Trauma und Bewusstseinsevolution
In: Transpersonale Psychologie und Psychotherapie. 1/2008, S. 19 -34
1. Einleitung
1.1
Die Holone als Träger von Individuation und Kooperation
1.2
Die vier Quadranten
2.
Quadrant links unten
Trauma versus Konflikt
3.
Quadrant rechts oben
Neurobiologie
4.
Quadrant links oben
Subjektives Erleben des Traumas
5.
5.1.
6.
7.
Trauma und Psychose – Zerstörung von Bindung
Zahlen und Fakten
Quadrant rechts unten
Auf welche Stimmen hören wir?
Diese Frage gilt immer und für jeden von uns.
Quadrant rechts unten
Daraus möchte ich folgende Schlüsse ziehen
Systemische Betrachtung Beide untere Quadranten
der Schmerzkörper
Spiritualität als Resilienzfaktor
8.
9.
10.
11.
12.
13.
Aufbau von Bindung
Zusammenfassung
Abschluss
Literatur:
Summary: Psychosis, Trauma and Evolution of Awareness
Psychosis, Trauma and Evolution of Awareness
5.2
5.3
5.4
6
V.
Meditation und Psychotherapie
Die Vertiefung des Bewusstseins als heilende Funktion
In: Transpersonale Psychologie und Psychotherapie. 1/2008, S. 53-66
1. Einleitung
2. Das funktionale und das dysfunktionale Dreieck
3. Krise versus »Jetzt, die heilende Kraft der Gegenwart (Tolle 2002)«
4. Veränderung
5. Achtsamkeit
6. Kontakt als wesentlicher Vertiefungsvorgang
7. Evolution
8. Zusammenfassung
9. Literatur
7
Psychose als Erscheinungsform eines
kritisch veränderten Bewusstseins
In: Gestalttherapie 1/90, S. 32-43
In dem folgenden Beitrag geht es mir um die Entwicklung eines Modells, welches das
psychotische Erleben als Ausdrucksform eines (kritisch) veränderten Bewusstseins
versteht. Dieses veränderte Bewusstsein gehört in diesem Denkmodell der gleichen
Erlebenstiefe an, die auf der Reise der Selbsterforschung unter Einbeziehung der
perinatalen und transpersonalen Erlebensräume entdeckt werden kann. Es geht
darum zu verstehen, wann der Erlebensstrom als integrierter Zustand veränderten
Bewusstseins erscheint und unter welchen Bedingungen eine psychotische
Erlebnisproduktion resultiert, und dass folglich Übergangszustände existieren.
1. Die Erschütterung des schulmedizinischen Krankheitsmodels in meinem Erleben
1.1. Der Widerspruch
Das im Folgenden Dargestellte gründet auf zwei sehr unterschiedlichen
Erfahrungsbereichen. Der eine Bereich ist die Erfahrung in der institutionellen
Psychiatrie, der andere Bereich ist eine Gestalt- und danach eine
körpertherapeutische Ausbildung und die damit verbundene (Selbst) Erfahrung.
In dieser Aufteilung ist recht bald für mich ein Spannungsfeld erschienen :
In der Gestaltarbeit geht es um Kontakt, um Emotion, um Öffnung, um Vertiefung
des Erlebens, um Begleitung eines sich zwischen Klient und Therapeut entwickelnden
Prozesses, dessen Entfaltung idealerweise eben gerade nicht durch vorgegebene
Denkstrukturen blockiert werden soll. Eher werden vorhandene Denkstrukturen
hinterfragt hinsichtlich ihrer Tauglichkeit, den fliessenden Prozess zu begleiten. Ja,
als Gestalttherapeuten versuchen wir geradezu spontane Bereiche der Persönlichkeit
zu aktivieren.
In meiner täglichen psychiatrischen Arbeit habe ich nun aber die Erfahrung machen
müssen, dass genau das Gegenteil von mir im Vollzug des schulmedizinischen
Krankheitsverständnisses erwartet wurde. Hier geht es in erster Linie um
Beherrschung der (psychotischen) Symptome. Erregung ist sozusagen ein
psychopathologischer Begriff, und die Wirkung der Neuroleptika ist abzulesen am
Verschwinden der zuvor als Symptome einer Krankheit definierten Phänomene. In
der Gestaltarbeit dagegen lernte ich zur gleichen Zeit Techniken, um "excitement" zu
fördern, und lernte Unterstützung und Vertrauen in meinem eigenen spontanen
emotionalen Prozess zu finden. Die Haltung der meisten Psychiater ist dagegen, dass
ein aufdeckendes Verfahren wie die Gestalttherapie im Falle von Psychose oder
Psychosegefährdung kontraindiziert ist.
Es gibt also einerseits eine (psychiatrische) Haltung, welche das Verschwinden bzw.
Verringern der Symptome zu ihrem Ziel erklärt, während andererseits die
(gestalttherapeutische) Haltung, die dem Prozess folgt, die vorübergehende
8
Verschlechterung der Symptome durchaus in Kauf nimmt, sofern der Klient sich für
diesen Weg entschieden hat.
Diese Haltung ist dem homöopathischen Verständnis eines Heilungsprozesses
verwandt.
Für mich war also die Frage zu beantworten, ob für mein eigenes Erleben und das
Erleben der von einer Psychose betroffenen Person eine gemeinsame Basis existiert,
ob es ein Kontinuum des Erlebens gibt, welches das psychotische Erleben umfasst, in
dem unfertige Gestalten ihren Abschluss suchen, oder ob das völlig verschiedene,
nicht mehr vergleichbare, unzusammenhängende Erlebensformen sind, die dann
auch nicht mehr den in der Gestaltarbeit beschriebenen Gesetzmäßigkeiten folgen.
Dass es kein Erlebenskontinuum gibt, ist die Sichtweise der Schulmedizin bis heute,
die das psychotische Erleben als einen Ausdruck nur noch nicht verifizierter
physischer Fehlfunktion sieht und somit als mehr oder weniger sinnlosen Bruch mit
der Realität beschreibt; wenn man inzwischen auch zubilligt, dass es gewisse
familiäre und soziale entwicklungsgeschichtliche Einflüsse im Sinne von sog.
Stressoren gibt. Die Suche nach der organbiologischen Grundlage der Psychose wird
aber fortgesetzt.(vgl. Szasz 1979, S.83 ff)
1.2.
Die Entdeckung der Konfluenz in der Gestalttherapie mit dem biographischen psychoanalytischen Interpretationsmodell
In meiner Gestalt-Ausbildungszeit habe ich auch erfahren, wie die Gestalttherapie,
anlehnend an das psychoanalytische Konzept, die im therapeutischen Setting
auftretenden Ereignisse ausschließlich biographisch interpretierte.
Nicht immer sind meine Gestaltlehrer dem therapeutischen Prozess gefolgt. So habe
ich erlebt, wie spontan einsetzende Hyperventilation als hysterisches Phänomen
denunziert wurde und der Betroffene aufgefordert wurde, das sein zu lassen.
Noch verstand ich nicht, dass die mangelnde Bereitschaft, mit diesem
(Körper-)Prozess mitzugehen, in einem Verharren auf der biographischen Ebene
begründet liegt; und dass hier eine Konfluenz mit dem psychoanalytischen,
psychologischen und medizinischen Denken vorliegt, welches sich keine früheren
Erinnerungen und Einflüsse als die, an einen bestimmten Reifezustand des ZNS
gekoppelten, vorstellen kann; frühestens also postnatale Einflüsse (vgl. Grof 1985,S.
184).
Wie S. Grof gezeigt hat, überschreitet unter Umständen der therapeutische Prozess
mittels Hyperventilation den biographischen Kontext (vgl. Grof 1987, S. 28 ff). Inzwischen arbeiten wir dementsprechend gezielt mit dem sog. holotropen Atmen Hyperventilation in einem von S. Grof (Grof 1987, S. 201) definierten Setting -, um
den biographischen Kontext zu überschreiten und tieferliegenden Gestalten zum
Abschluss zu verhelfen.
Ich selbst habe die Erfahrung der Hyperventilation erstmals in der
Körpertherapieausbildung erlebt, und zwar als positives bereicherndes Erlebnis, und
habe erstmals auch mit einem damaligen Lehrer eine perinatale Erfahrung gehabt.
Es ist das eigene Erleben, das diesen Erfahrungen ihre Qualität gibt; und ich bin mir
wohl bewusst, dass ich niemanden von der Existenz solcher Erfahrungen überzeugen
9
kann, der sie nicht selbst hatte. Allerdings hat jeder die Freiheit, diese
Erfahrungsmöglichkeiten in einem entsprechend definierten Setting zu prüfen.
1.3. Das körpertherapeutische Potential
Zu dieser Zeit etwa machte ich mich auf die Suche nach einem neuen
Persönlichkeitsmodell.
Die Väter der Körpertherapie - Reich und Lowen - beziehen ihre Erfahrungen auch
immer wieder auf die Biographie, obwohl A. Lowen in seinem Buch "Körperausdruck
und Persönlichkeit" die perinatale Symbolik der Psychose und die Existenz
transpersonaler Wahrnehmungsmuster beschreibt, ohne sich dabei auf dieses
(Grof´sche) Modell zu beziehen:
"Der Schizophrene ist das Kind im Mutterleib (S. 417)."
"Und wir können mit besonderer Übung, ähnliche Phänomene beobachten. Diese
Welt besteht aus Energiewellen, energetischen Feldprozessen, die uns in der
Atmosphäre umgeben. Soweit halluziniert der Schizophrene nicht (S. 412)."
"Dass der Raum selbst unter allen Umständen im Sinn von Bewegung und Vibration
lebendig ist, ist eine Tatsache, die die impressionistischen Maler so lebhaft porträtiert
haben, und die heute nur wenige Künstler leugnen würden. Der Schizophrene ist viel
empfindlicher für derartige Phänomene als der Durchschnittsmensch. (S. 428)"
Unzweifelhaft wohnt aber dem körpertherapeutischen Vorgehen selbst ein Potential
inne, den Klienten mit den tieferen Schichten seines Bewusstseins (perinatale,
transpersonale Bereiche) zu konfrontieren.
2. Emotion - Körper - Psychose
2.1. Die Identifikation mit dem Aggressor
Wichtigste Erkenntnis in diesem Zusammenhang aus der Körpertherapieausbildung
ist die einfache Tatsache, dass Emotionen psychische und physische Vorgänge sind,
ja dass sich in der Emotion das "Lebendige" (vgl. Reich 1970, S. 359f) selbst im
Körper ausdrückt.
"Es ist nämlich der Körper, der vor Liebe vergeht, vor Furcht erstarrt, vor Zorn bebt
und sich nach Wärme und Kontakt sehnt (Lowen 1980, S.14)."
In der emotionalen Äußerung verschmolzen sozusagen Körper und Seele in einer
Ausdrucksbewegung, und zwar umso intensiver, je vollständiger der Körper bereit
war, das Gefühl zum Ausdruck zu bringen.
Hier begann für mich ein neues Erleben und Verstehen des Katharsisbegriffes. (Grof
1985, S. 286 ff, 363) und es ist anzunehmen, dass bisherige Vorstellungen von
Katharsis nicht diese Intensität kannten, wie sie in der tiefen Körperarbeit vorkommt.
Es gab also zu dieser Zeit in meinem Erfahrungsbereich Erlebnisstürme, die
absichtlich und mit entsprechender therapeutischer Erfahrung hervorgerufen wurden,
und Erlebnisstürme in der psychiatrischen Aufnahmestation, die mit allen zur
Verfügung stehenden Mitteln unterdrückt wurden.
10
2.1.1. Die Neuroleptika in der Konfluenz mit der Aggressor Position
Ja, die Gegensätzlichkeit der Auffassungen manifestiert sich m. E. sogar in der
Wirkungsweise der antipsychotischen Medikamente (Neuroleptika):
Der Körpertherapeut löst, um die Emotionen zum Ausdruck hin zu unterstützen, die
verspannten Muskeln. Er identifiziert die in der Verspannung liegende
Charakterhaltung, das Muster an muskulärer Beteiligung, welches dem Ausdruck
einer Emotion entgegensteht, als Identifikation mit dem Aggressor auf einer
traumatisch fixierten somatischen Ebene. Die Neuroleptika dagegen erhöhen die
Muskelspannung (vgl. Haase 1977, S. 121 ff) mit genau dieser Intention, nämlich,
die psychotische Erregung zu unterdrücken. So bilden sie (die Neuroleptika) in dieser
Hinsicht eine Verifizierung der intrapsychisch sowieso vorhandenen Aggressor
Position bei dem Betroffenen.
2.2. Entfremdung - Depersonalisation
Beeinflusst durch die Körpertherapie sah ich nun in meiner Arbeit in der Psychiatrie
und mit "psychiatrischen" Patienten zunehmend deren Schwierigkeiten sich in ihrem
Körper zu Hause zu fühlen, ja zuweilen sich dieses Körpers überhaupt gewahr zu
sein. Das Phänomen ist auch soweit bekannt und heißt Depersonalisation. Lowen
beschreibt dies als die Flucht aus dem Körper, um der existentiellen Angst, die sonst
gefühlt werden müsste, zu entkommen. Seiner Auffassung nach kann sich der
psychotische Mensch nicht mit seinem Muskelsystem identifizieren, ohne in panische
(Todes-) Angst zu geraten (vgl. Lowen 1980, S. 47 ff), und im Erleben des
Betroffenen gibt es noch keine Vorstellung davon, sich von jemanden halten oder
trösten zu lassen, das heißt ein wesentliches Element dieser Flucht aus dem Körper
ist die Isolation in der materiellen/sozialen Realität; und Isolation meint hier, dass die
Emotion bisher kein Gegenüber gefunden hat.
Aus dem soweit Gesagten ist leicht nachvollziehbar, dass ich meine Klienten, mit
denen ich in diesen Prozessen arbeite, unterstütze ihre körperliche, emotionale
Realität wieder zu fühlen. Hier finden die vielfältigen Möglichkeiten der
Gestalt/Körperarbeit ihre Anwendung, in dem Maße, in dem dies der Kontakt zu
meinem Klienten erlaubt.
Aber wo finde ich jemanden, wenn er einmal aus seiner körperlichen Wirklichkeit
geflohen ist?
Welche Landkarte gibt mir Auskunft, wo ich mich aufhalte, wenn ich versuche,
jemandem zu folgen, der diese Flucht vor seiner körperlichen, emotionalen Realität
antreten musste.
3. Die Grof`sche Erweiterung der Kartographie der Psyche.
3.1. Eine Skizze
Bis in die ersten Lebensmonate hinein haben sich Therapeuten wie B. Bettelheim
(vgl. Bettelheim 1983, S. 15 ff) und M. Mahler (vgl. Mahler 1978) in die individuelle
11
Lebensgeschichte ihrer Klienten eingefühlt. Im folgenden werden nun die Schritte
über diese Zeitraum hinaus, in den perinatalen und transpersonalen Bereich der
menschlichen Psyche, nachvollzogen:
1.
2.
3.
4
5.
6.
7.
Gegenwart (Hier und Jetzt)
aktuelle Lebenssituation
weitere Biographie
psychodynamische Entwicklung (ödipale Phase)
frühe Ich-Entwicklung (präödipale Phase)
perinatale Muster
transpersonale Muster
Die Erfahrungsmöglichkeiten der Ebenen 6 und 7 entfalten nun andere
Wahrnehmungsqualitäten als die Ebenen 1 bis 5, welche S. Grof holotrope
Wahrnehmungsmodalität nennt, und die das westliche wissenschaftliche Denkmodell
heftig konfrontieren (ebenda S. 330). In diesem Erleben ist die Identifikation mit
einem grenzenlosen Bewusstseinsfeld gegeben; es gibt echte Alternativen zum
dreidimensionalen Raum und zum linearen Ablauf der Zeit; die Festigkeit und
Diskontinuität von Materie ist Illusion; derselbe Raum kann von verschiedenen
Objekten eingenommen werden usw.
D. h. die holotrope Wahrnehmung führt in die Bereiche veränderten Bewusstseins, in die perinatalen und transpersonalen Felder.
"Der gemeinsame Nenner dieser sehr reichhaltigen und weitläufigen Gruppe von
transpersonalen Phänomenen ist das Empfinden, dass das eigene Bewusstsein über
die normalen Grenzen des Ich hinausgegangen ist und die Beschränkungen von
Raum und Zeit überwunden hat (Grof 1987, S. 63)".
In außergewöhnlichen Bewusstseinszuständen kann die Welt der Urbilder des von
C.G. Jung beschriebenen kollektiven Unbewussten zum Leben erwachen. Sie kann
die Form verschiedener mythologischer und legendärer Wesen und Ereignisse, von
Szenen aus Märchen, guter und böser Gottheiten aus verschiedenen Kulturen oder
transkultureller Archetypen und universeller Symbole annehmen".(ebenda S.139)
3.3. Synchronizität als Beispiel eines transpersonalen Wahrnehmungsphänomens.
Eine alltägliche Erscheinungsform der Wahrnehmungsmodalität aus der
transpersonalen Ebene ist das Erleben sogenannter Synchronizitäten. Hierbei treffen
Ereignisse in der materiellen Welt und Erfahrungsmuster im individuellen Leben so
zusammen, dass die betroffenen Personen in diesen Ereignissen einen auf sie
gerichteten Sinn entdecken (Grof 1985 S. 187ff und 1987, S. 185).
Psychiatrisch wäre die Definition Beziehungswahn erfüllt. Die von Synchronizitäten
betroffenen Menschen können sich aber bester geistiger und körperlicher Gesundheit
erfreuen.
Jung hat beobachtet, dass solche Synchronizitäten zu Zeiten heftiger
Identitätswandlungen erfolgen.
Es wundert daher nicht weiter, wenn Grof bemerkt, dass Menschen, die von
bewusstseinsverändernden Prozessen betroffen sind, häufig Synchronizitäten
wahrnehmen, und dass dies besonders auch für Menschen in psychotischen Krisen
gilt.
Ich selbst kenne ein ausführliches Fallbeispiel aus meiner Praxis. Bei diesem Klienten
12
blieben die sich zunächst in wiederholenden psychotischen Episoden
manifestierenden Synchronizitäten nach der gelungenen Integration des
psychotischen Erlebens weiterhin überdurchschnittlich häufig wahrnehmbar, hoch
geschätzt von dem Betroffenen.
3. 4. Die perinatalen Grundmatrizen / Systeme verdichteter Erfahrung
Grof hat nun in den letzten Jahren m.E. einen wesentlichen Beitrag geleistet, die
Erfahrungsmöglichkeiten in den Erfahrungsräumen 6 und 7 verständlich zu machen.
Zunächst einmal beschreibt er (Grof 1983, S.67 ff) "Systeme verdichteter Erfahrung
(systems of condensed experience = COEX-Systeme)" und meint damit assoziativ
verknüpfte Erfahrungsmuster,
"deren gemeinsamer Nenner eine starke emotionale Besetzung von der gleichen
Qualität, eine intensive Körperempfindung der gleichen Art oder irgend ein anderes
wichtiges (assoziativ verbindendes) Element ist."(Grof 1987, S. 22)
"Die COEX-Systeme enthalten Erinnerungen aus unterschiedlichen
Lebensabschnitten."(ebd.)
Enthält nun ein solches Muster - man könnte auch - Gestalt - dazu sagen - ein
existentiell bedeutendes Thema, dann ist es eben deshalb mit den perinatalen
Grundmatrizen verknüpft. Irgendein Ereignis im Hier und Jetzt, dessen existentieller
Charakter für den Betroffenen gegeben ist, kann also nach diesem Modell die
perinatalen Grundmatrizen (-gestalten) aktivieren.
Die perinatalen Matrizen ihrerseits sind in diesem Modell wiederum assoziativ mit
Mustern aus dem transpersonalen Bereich verbunden.
Damit verändert sich aber auch mit zunehmender Annäherung an die perinatalen
Gestalten die Wahrnehmungsmodalität von hylotrop nach holotrop.
Grof´s Kartographie umfasst eine Einteilung in 4 perinatale Matrizen und eine
Unterteilung in verschieden Formen transpersonalen Erlebens (Grof 1987, S. 32 ff).
3.4.1. Die erste perinatale Grundmatrix: Das amniotische Universum.
Diese Erlebensgestalten umfassen Eindrücke des Fötus aus der Schwangerschaft bis
zur beginnenden Geburt. Die Identifikation mit dieser Ebene öffnet nun wiederum
entsprechende Erfahrungsmuster im transpersonalen Feld.
"Alle beschriebenen Erfahrungen haben einen sehr starken numinosen Charakter. Am
deutlichsten aber kommt das heilige und spirituelle Element der ersten perinatalen
Grundmatrix in den Erfahrungen der kosmischen Einheit und der unio mystica zum
Ausdruck. Solche Erfahrungen sind gekennzeichnet durch die Überwindung von Zeit
und Raum, überwältigende ekstatische Gefühle, das Empfinden der Einheit alles
Seienden ohne Grenzen sowie tiefe Ehrfurcht und Liebe gegenüber der ganzen
Schöpfung (ebd. S. 33)".
3.4.2. Die zweite perinatale Grundmatrix: Kosmisches Verschlungenwerden und
Ausweglosigkeit.
Diese Erfahrungsgestalt beschreibt das Erleben des Fötus bei der beginnenden
Geburt: Einsetzen der Wehen, Abschied aus der Geborgenheit des Mutterschosses,
13
der aber auch zum Ende der Schwangerschaft immer enger geworden war. Hier
werden "überwältigende, immer stärker werdende Angstgefühle und die
Wahrnehmung einer unmittelbaren Gefahr für das Leben (ebd. S. 37 ff)" erfahren.
Transpersonale Themen, die hiermit verknüpft sind, sind
"... die Erfahrung der Ausweglosigkeit oder Hölle...das lineare Zeitempfinden geht
verloren...(man) ist blind für alles Positive in der Welt... metaphysische Einsamkeit,
Hilflosigkeit, Minderwertigkeit, ...existenzielle Verzweiflung und Schuldgefühle (ebd.
S. 39). "
Diese Matrix ist aktivierbar durch Lebensumstände, "in denen man passiv und hilflos
von einer destruktiven Kraft überwältigt wurde, ohne entfliehen zu können (ebd. S.
39)".
Einer meiner Klienten kam mit dieser Matrix in Berührung, nachdem er eine lange vor
sich hergeschobene Zahnarztbehandlung über sich ergehen ließ. Er hyperventilierte
und wurde mit Blaulicht in die Notaufnahme eines Krankenhauses gebracht und
entsprechend schulmedizinisch behandelt.
3.4.3. Die dritte perinatale Grundmatrix: Der große Kampf vor Tod und
Wiedergeburt.
Dieses Muster umfasst die Erfahrungen des Fötus während der Austreibungszeit, also
das Erleben der zunehmenden Wehentätigkeit, intensive (brennende)
Hautempfindungen, eventuelle Kreislaufdepressionen durch Einschränkung der
Blutzufuhr mit entsprechenden Erstickungsgefühlen, Berührung von
Körpersubstanzen (Blut, Schleim, Urin, Kot). Es scheint hier ein Kampf ums pure
Überleben erfahrbar zu sein, bei dem alle Empfindungen enorm gesteigert sind,
insbesondere auch das sexuelle Erleben. Dieses findet durch die
Verknüpfungsmöglichkeiten dieser Matrix mit entsprechenden transpersonalen
Themen vielfältige Ausdrucksformen. Der Phantasie sind hier im wahrsten Sinne des
Wortes keine Grenzen mehr gesetzt.
Entsprechende transpersonale Themen sind: Kriegsszenen, entfesselte
Naturelemente, Begegnung mit dem Feuer, Bedrohung durch Dämonen,
mythologische Opferrituale, Kreuzigung Christi etc. (vgl. ebd. S. 43-53).
Nachvollziehbar ist nunmehr, dass Erlebnisse von Gewalt (Prügel, sexueller
Missbrauch, Unfälle) dieses Muster aktivieren können.
3.4.4. Die vierte perinatale Grundmatrix: Tod und Wiedergeburt.
Hier erlebt der Fötus (im Regelfall) das Durchtreten des Kopfes aus dem mütterlichen
Becken, die erste Begegnung mit der Welt und ihrer Atmosphäre, Willkommen Sein
oder Nichtwillkommen geheißen werden, abgenabelt, getrennt werden, ankommen,
unendliche Erschöpfung... Die Erfahrung des völligen Loslassen des Egos wird erlebt:
der Ich-Tod;
"Was aber tatsächlich in diesem Prozess stirbt, ist eine im Grunde von Angst
geprägte Einstellung zur Welt, in der die negativen Erfahrungen des betreffenden
Menschen... zum Ausdruck kommen (ebd. S. 54 ff)."
Im transpersonalen Muster kann hierbei tiefe spirituelle Befreiung erlebt werden.
Im Folgenden sollen nun die Einflüsse dieser Muster auf das psychotische Erleben
dargestellt werden.
14
3.5. Psychotische Symptome im Verständnis des Grofschen Modells
Mit dem Berühren der perinatalen Erfahrungsmuster verändert sich das Erleben in
charakteristischer Weise. Der Mensch, der sich der Aktivierung dieser
Erfahrungsgestalten ausgesetzt sieht, ohne dafür ein geeignetes inneres oder
äußeres Bezugssystem zu besitzen, wird den Kontakt zur inneren und äußeren
Wirklichkeit verlieren. Das entspräche in der Zuspitzung dem Manifestieren eines
psychotischen Geschehens. Falls er in die äußere Wirklichkeit zurückfindet oder - und
das ist die therapeutische Alternative - einen Rahmen findet, der ihm das Erleben der
inneren Bewusstseinsräume erlaubt (holotropes setting) würden gemäß diesem
Modell keinerlei psychopathologische Phänomene resultieren.
"Die Emotionen und Körperempfindungen, die zum Ereignis der Geburt voll und ganz
passen, werden in anderem Zusammenhang zu psychopathologischen
Symptomen...(dann) erlebt ein solcher Mensch weder die Gegenwart noch die
biologische Geburt. In einem gewissen Sinne steckt er im Geburtskanal fest und ist
noch nicht geboren worden (Grof 1985, S. 329). Es hat deshalb den Anschein, als ob
die biographischen Elemente nicht an sich, sondern auf Grund ihrer Verknüpfung mit
perinatalen Matrizen für die Entwicklung einer Schizophrenie verantwortlich sind.
...Während in der Neurose die Elemente perinataler Matrizen in abgeschwächter
Form erscheinen und durch dramatische Ereignisse nach der Geburt gefärbt sind,
werden sie in der Psychose in nicht gemilderter reiner Form erlebt (ebd. S 290 ff)";
ohne dass jedoch der Betroffene sich in der Lage sähe, das Erlebte zu integrieren.
Grof beschreibt dann im Einzelnen, welches typische psychotische Erleben welcher
Matrix zugehört:
"Die frühen Stadien der zweiten perinatalen Grundmatrix scheinen die Basis für die
undifferenzierte Angst und das Gefühl der allgemeinen Bedrohung zu bilden, die
charakteristisch für die Paranoia sind. ...Der intrauterine Kosmos des Fötus, sein
Lebensraum...bekommt feindselige Züge. ... Erlebt ein erwachsener Mensch diese
Situation wieder, ohne ihre wahre Natur zu erkennen, neigt er dazu, sie auf seine
gegenwärtigen Lebensumstände zu projizieren und aus dieser Sicht zu interpretieren.
Das entscheidende Element seines Erlebens ist ein Zustand intensiver Angst. ...sie
(die Betroffenen) sehen darin Auswirkungen schädlicher Strahlen..., wittern
Machenschaften, Beeinflussung durch außerirdische Lebewesen. ... In ihrer voll
entwickelten Form trägt die zweite perinatale Grundmatrix zur schizophrenen
Symptomatologie die Atmosphäre der ewigen Verdammnis sowie die Motive der
unmenschlichen Folterung durch erfindungsreiche Vorrichtungen, des nie endenden
Leids in der Hölle und anderer auswegloser Situationen bei. ...Der zweiten
perinatalen Matrix entspringt auch das Gefühl des Schizophrenen, in einer sinnlosen
bizarren Welt mit "gemachten" Figuren und leblosen Robotern zu existieren oder ein
Teil einer phantastischen Zirkusvorstellung zu sein (ebd. S 291 ff)".
Auch aus den Prägungsvorgängen der dritten perinatalen Grundmatrix führt Grof
reichhaltiges Material an, welches, wenn es in seinem ursprünglichen Kontext nicht
verstanden wird, ebenfalls auf die Umstände im Hier und Jetzt projiziert wird und
damit zu der typischen psychotischen Fehlinterpretation führt.("... archetypische
Motive von gewaltiger Dimension..., Gewalttätigkeit, Selbstverstümmelung...sowie
ihre Visionen und Erlebnisse von Grausamkeiten aller...Art, ...Koprophilie und
Koprophagie...(verraten) unzweifelhaft ihre Herkunft ...(von der ) dritten Matrix";
ebd. S. 292).
Zu den psychotischen Abkömmlingen der vierten Matrix zählt Grof die Vorstellung
15
vom Weltuntergang, Identifikation mit Jesus Christus, das Sendungsbewusstsein und
den damit einhergehenden Größenwahn.
"Viele psychotische Patienten haben Erlebnisse der ekstatischen Vereinigung mit Gott
und dem Universum, manchmal zusammen mit Gefühlen der symbiotischen Einheit
mit dem mütterlichen Organismus...
Zu einem Erlebnis der Einheit mit dem Göttlichen, das gut verarbeitet und integriert
ist, gehört ein Gefühl des tiefen inneren Friedens, der Ruhe und der Gelöstheit. Der
betreffende Mensch erkennt, dass seine göttliche Herkunft nicht etwas
Außerordentliches ist, und nur für ihn gilt, sondern auch für jeden anderen
Menschen... So scheint es eine ... eindeutige Verbindung zwischen Störungen des
embryonalen Daseins zu geben...(z.B. versuchte Abtreibung, toxische Einflüsse; d.
Verf.) und den schizophrenen Verzerrungen der Spiritualität....(ebd. S. 293 ff).
Ebenso können psychotische Phänomene ihren Ursprung im transpersonalen Feld
haben. Dass hier Ordnungen/Muster in Form verschiedener Erlebensgestalten
anzutreffen sind, geht schon aus der Jungschen Auffassung der Archetypen hervor.
Hier spätestens wird deutlich, "dass es eine ziemlich fließende Grenze zwischen der
Psychose und dem Prozess der spirituellen Transformation gibt... (ebd. S. 295) ".
4.
Der Übergangsbereich zwischen integrierten und
desintegrierten veränderten Bewusstseinszuständen
Zum Verstehen dieses ganzen Ansatzes ist es wesentlich zu betonen, dass in der
Jungschen, aber auch in der Grofschen Auffassung diese tiefen Dimensionen der
menschlichen Psyche ein großes Heilpotential beinhalten (ebd. S.350 ff). Anders als
das von Freud beschriebene Unbewusste ist diese Dimension der menschlichen
Psyche nicht primär destruktiv und muss daher nicht ständig kontrolliert werden.
Wesentlich in der Grofschen Auffassung ist, ein Gewahrsein darüber zu besitzen,
welcher Bereich der Psyche derzeit aktiv ist. Überwiegt die holotrope
Wahrnehmungsmodalität auf Grund starker Aktivierung unabgeschlossener Gestalten
aus den Ebenen 6 und 7, so erfordert dies eine bestimmte gesicherte Verankerung in
Raum und Zeit. Die holotrope Wahrnehmung ist nicht geeignet für Interpretationen
in der Welt der newtonschen Mechanik.
Die transpersonalen Phänomene können die Qualität eines echten Transzendierens
von Raum und Zeit annehmen. Wenn also jemand die Identität von z. B. Judas
Ischariot annimmt, dann kann er sich in dieser Identität so authentisch fühlen, dass
die damit verbundenen Schuldgefühle zum Suizid führen können! Oder anders
herum: Die an die Oberfläche des Bewusstseins drängenden Schuldgefühle
(unabgeschlossene emotionale Gestalten) können in ihrer Intensität so mächtig sein,
dass sie die Grenzen des individuellen Fühlens überschreiten ("unfassbar,
unglaublich,...kann nicht wahr sein", etc.) und somit Kontakt zu einem
transpersonalen Muster herstellen, und dieses als "Judas Ischariot" in Erscheinung
tritt.
Dies wiederum macht sich die "Technik" in einem holotropen setting zu Eigen. Indem
heftige kathartische emotionale Reaktionen ausgelöst werden, ergeben sich solche
Grenzüberschreitungsphänomene. Hierbei besteht nun das therapeutische Interesse
darin, sog. "negative Gestalten" zum Abschluss zu bringen und den Übergang zu
positiven Mustern zu ermöglichen (vergl. S. 334).
Bei dem erwähnten Patienten ("Judas Ischariot") bestand der Übergang darin, dass
16
er später ein Erleben hatte, welches ihm sein Leben eingebunden und sinnvoll im
Kosmos erscheinen liess. Er nannte dies sein "samadhi-Erlebnis". Dies entspräche im
Grofschen Modell einer Aktivierung der ungestörten perinatalen Matrix I und den
damit verknüpften transpersonalen Mustern.
Insbesondere in der Arbeit mit diesem Mann fand ich die Auffassung von Grof und
Jung bestätigt, dass diese Bereiche unserer Psyche großes Heilpotential und eine
spirituelle Qualität jenseits von dogmatisch verstandener Religion besitzen.
"Nach den neuen Erkenntnissen ist Spiritualität eine der Psyche innewohnende
Eigenschaft und tritt spontan in Erscheinung, wenn der Prozess der
Selbsterforschung tief genug fortgeschritten ist (ebd. S. 351)."
Dieser Auffassung zufolge ist also der transpersonale Bereich der Psyche ein im
Bewusstseinskontinuum und unter bestimmten Bedingungen aktivierbarer
Wahrnehmungsbereich.
Ob dieser nun heilsam integrativ wirkt oder sich mit Todesangst verbunden
manifestiert, hängt von benennbaren Bedingungen ab. Diese sind in erster Linie in
der aktivierten, zugrunde liegenden Gestalt, den Integrationsmöglichkeiten der
Person und in dem äußeren materiellen und emotionalen Rahmenbedingungen zu
suchen, in dem die betreffende Person dieses Erlebnis hat.
4.1. Ein altes Fallbeispiel von C.G. Jung
"Etwa im Jahr 1906 stellt Jung fest, dass einer seiner Patienten..., ein paranoider
Schizophrener die Sonne anblinzelte und gleichzeitig den Kopf von einer Seite zur
anderen drehte. Der Patient erklärte Jung, dass die Sonne einen Penis besäße, der
der Ursprung des Windes sei...
(Die archetypische Verbindung wurde klar), als Jung auf einen griechischen Bericht
über ein altes Mithras-Ritual stieß, der von einer Röhre berichtete, die vom Antlitz der
Sonne herabgelassen wurde und den Ursprung des Windes darstellt (Peat 1989, S.
120) ".
In Jungs Beispiel wird offensichtlich die ursprüngliche mythologische Gestalt durch
biographische Einflüsse entstellt, ist aber dennoch gut zu erkennen. Solche
Verzerrungen gründen dann im individuellen Unbewussten und sind m. E. Hinweise
auf eine existentiell bedrohliche Erlebnisdimension in der Geschichte des Betroffenen,
eben weil sie von Archetypen durchflutet sind. Daher haben sie auch die Eigenschaft,
perinatale und transpersonale Muster zu aktivieren.
D.h. : lebensbedrohliche Traumata, Unfälle, Gewalt, Missbrauch, Misshandlungen,
Deprivation, aber auch Zeiten von Wandel, wie Pubertät, Tod von Angehörigen oder
Nahestehenden, Geburt eines Kindes etc., also Ereignisse, die an die Grenze der
eigenen Existenz rühren, können assoziative Aktivierungsmuster für perinatale oder
transpersonale Gestalten sein.
Die biographisch begründete Verzerrung des transpersonalen Feldes muss
verstanden werden, um ein Weiterfließen in demselben zu ermöglichen.
Generell, - so Grof - besteht die therapeutische Arbeit in der kathartischen Entladung
der negativen COEX-Systeme und in der Unterstützung der Wahrnehmung positiver
Systeme (Gestalten), wie sie z.B. in der ungetrübten Wahrnehmung der perinatalen
Matrix I oder im Abschluss der perinatalen Matrix IV und den damit verbundenen
transpersonalen Feldern enthalten sind.
Die Situation der Psychose wäre also als ein zu Tode geängstigtes Ego im
Niemandsland an der Grenze von individuellem und kollektivem Unbewussten zu
17
beschreiben, welches auf Grund der vorhandenen Angst nicht loslassen kann, um
sich den tieferen Schichten anzuvertrauen, weil es den Glauben an sich selbst - seine
spirituelle Dimension - verloren hat.
Hier findet nun auch die unheilvolle Konfluenz zwischen Arzt und Patient statt, wenn
der Patient beim Arzt auf Abwehr trifft, deren Hintergrund ebenfalls Angst vor diesen
Schichten des Bewusstseins sein mag. Positiv formuliert: Der Arzt oder Therapeut
kann nur in diese Bewusstseinsräume hinein begleiten, wenn er deren Existenz für
möglich hält, am besten wenn er sich dort auskennt.
Einmal wurde ich an dieser Stelle gefragt, ob das denn hieße, dass man selbst
psychotisch werden müsste, um mit den entsprechenden Patienten arbeiten zu
können. Natürlich nicht, jedoch ist das Erleben eines veränderten
Bewusstseinszustandes zum Verstehen psychiatrischer Patienten eine unermessliche
Hilfe.
Bemerkenswert ist Jungs eigene Entwicklung in dieser Hinsicht:
"Seit Tagen schon spukte es im Jungschen Haus,... und eines Sonntagmorgens ging
die Türklingel. Niemand stand draußen. Die Luft war dick, sage ich Ihnen. Da wusste
ich, es muss etwas geschehen, Das ganze Haus war angefüllt wie von einer
Volksmenge, dicht voll von Geistern. Sie standen bis unter die Tür, und man hatte
das Gefühl kaum atmen zu können. Natürlich brannte in mir die Frage: "Um Gottes
Willen, was ist denn das?" Da riefen sie laut im Chor: "Wir kommen zurück von
Jerusalem, weil wir nicht fanden was wir suchten (ebd. S. 21)."
Was von Kritikern als Zeichen einer Geisteskrankheit gewertet wurde, ist m. E. zu
verstehen als das Eintauchen in ein transpersonales Feld. Vermutlich wusste Jung
1916 noch nicht um die Notwendigkeit, die Eindrücke aus diesem Feld nicht mit der
Alltagswelt zu durchmischen. Dennoch gelang es ihm, durch die Niederschrift der
"Sieben Reden an die Toten" in den drei auf den "Zusammenbruch" folgenden
Nächten enorm viel kreatives Material aus diesem Zustand mitzubringen, welches die
Nähe des Jungschen Denkens zur Philosophia perennis begründet.
Es existieren also fließende Übergänge zwischen Integration und Desintegration
eines kritisch veränderten Bewusstseinszustandes. Das was uns klinisch als
"psychotisches" Phänomen beeindruckt, gehört demselben Bewusstseinskontinuum
an wie z. B. die Erfahrung des bekannten amerikanischen Mediums Jane Roberts u.
a., bei denen diese Erfahrung gut integriert erscheint.
4.2. z.B. Maslows Entdeckung
Auf der Seite der Integration ist das Erleben eines veränderten
Bewusstseinszustandes möglich ohne psychopathologische Erscheinungsform.
Voraussetzung hierfür ist die vorbereitete Persönlichkeit (bewusst oder unbewusst),
mit einem Ego, welches bereit ist, sich tieferen Schichten jenseits seiner selbst
anzuvertrauen. Dazu gehört auch ein sozialer Kontext, der dies ermöglicht, - eine
Verankerung in der materiellen, körperlichen Welt. Man könnte einfach sagen: "Eine
Liebe zum Leben." Hier ist die Arbeit von A. Maslow zu erwähnen, der in seiner
"Wachstum-Gipfel-Probe" herausfindet, dass Individuen mit solchen Voraussetzungen
spontan zu sog. Grenzerfahrungen neigen.
"Wenn man sich … auf die Gipfelerlebnisse konzentriert und damit fast alle
Merkmale findet, die traditionell den universellen religiösen Erfahrungen zugeordnet
werden (unabhängig vom Ort und vom Glaubensbekenntnis), dann kann man vom
18
Wiedererleben des Religiösen und vom Heiligen des gesamten Lebens sprechen
(Maslow 1984, S. 207) ."
Hier ergibt sich also das Bild, dass das Ego in seiner fortgeschrittenen Entwicklung
spontan tieferen Bereichen des Bewusstseins Raum schafft.
In dem Bereich zwischen Desintegration und Integration sind alle möglichen
Übergangsformen denkbar, in denen die betreffende Personen mehr oder weniger
Integrationsarbeit zu leisten hätte.
4.3. z.B. Moodys Entdeckung
Die von A. Moody erstmals dokumentierte Nahtoderfahrung scheint mir ebenfalls
hierzu zu gehören, obwohl Moody selbst versucht seine Entdeckung von
"Geisteskrankheit" abzugrenzen. Die durch das Ereignis des klinischen Todes
charakterisierte Todesnähe konfrontiert den Organismus soweit, dass das körperliche
Ego anscheinend wirklich losgelassen wird. Gerade die "out-of-body"- Erfahrungen
sind ja gut dokumentiert. Damit ist jedoch genau die Voraussetzung zur spirituellen
Integration gegeben: das völlige Loslassen vom (Körper-) Ego. Folgerichtig ist die
spirituelle Erfahrung ein fast regelmäßiger Bestandteil der von Moody Interviewten
(vgl. Moody 1977 und 1989).
4.4. z.B. Jane Roberts Erfahrungen
Das Beispiel von Jane Roberts zeigt eine weitere Möglichkeit der Integration von
Einflüssen aus dem transpersonalen Feld auf Seit 1963 empfing sie eine Stimme,
deren Identität sich selbst als eine Wesenheit - in einer anderen als der physischen
Realität zentriert - bezeichnete. J. Roberts unterzog sich diversen psychologischen
Untersuchungen. Sie erfreute sich über Jahre hinweg guter geistiger und seelischer
Gesundheit und förderte ein unglaubliches umfassendes und philosophisch dichtes
Material mit "Seths" Hilfe zu Tage.
Hier erwähnenswert erscheint mir dieses Phänomen insofern, als J. Roberts selbst
einen deutlichen autobiographischen Hinweis liefert, aus dem hervorgeht, dass sie
ein ungewolltes, ungeliebtes Kind war. Die Mutter gab der Schwangerschaft und der
Geburt die Schuld an ihrer späteren Arthritis.
"Das Kind im Erwachsenen hat immer noch das Gefühl, dass die Mutter, sogar jetzt
noch, die Macht hätte, das Kind in den Mutterleib zurück zu zwingen und sich zu
weigern es zu gebären (Roberts 1989, S. 202)."
Das wäre im Grofschen Modell die biographische Verknüpfung zum perinatalen und
transpersonalen Erfahrungsraum. Gleichzeitig zeigt dieses Beispiel ein hohes Maß an
Integration und die Möglichkeit der Integration des biographischen Erlebens durch
den Kontakt zum transpersonalen Feld, da "Seth" reichhaltiges Material zu J. Roberts
Selbstverständnis liefert.
4.5. Methoden, die die existentielle Bedrohung des Organismus benutzen.
Angebracht scheint mir hier die Überlegung, dass bestimmte "therapeutische"
Maßnahmen mehr oder weniger unbeabsichtigt den im veränderten
Bewusstseinszustand Befindlichen existentieller Bedrohung ausgesetzt haben oder
dies immer noch tun. Ich sehe die nun nicht mehr praktizierte
Insulinschockanwendung, aber auch die Elektrokrampfbehandlung in diesem Licht.
19
Vorläufer solcher Art Maßnahmen waren im Altertum, wie S. Grof berichtet (1987, S.
265), z.B. das Aussetzen von Patienten in einer Schlangengrube mit Kobras, denen
zuvor die Giftzähne gezogen worden waren, oder das Losstürmen eines dressierten
Elefanten, der kurz vor dem Patienten stehen blieb. Die Wirksamkeit solcher
Methoden liegt m.E. in der Aktivierung der entsprechenden COEX-Systeme im
perinatalen oder transpersonalen Feld durch ihre assoziative Verknüpfung mit dem
Tod/Wiedergeburt-Muster durch die Todesandrohung. Während die altertümlichen
Methoden vielleicht sogar noch die Erforderlichkeit der existentiellen Tiefe zur
Rechtfertigung ihres drastischen Vorgehens anführten, wird dieser Aspekt z.B. in der
Elektrokrampfbehandlung völlig verleugnet oder verharmlost.
5.
Der Einfluss des kulturellen Weltbildes auf das Integrationspotential einer
gegeben Situation
Das Phänomenale an der transpersonalen Erfahrung Jungs ist, dass er sich die
Wertevorstellung zur Integration dieser Erfahrung pionierhaft selbst geschaffen hat,
und dass das von ihm vertretene Modell die Grenzen damaliger und heutiger
mechanistischer Weltsicht immer noch transzendiert, während die offizielle
Wissenschaft mindestens von einem "völligen geistigen Zusammenbruch" sprach.
Ebenso beinhaltet das von Jane Roberts gechannelte (vgl. Klimo 1988) Material die
Information zu dessen Verständnis, welche ebenfalls die derzeitige wissenschaftliche
Weltsicht völlig herausfordert.
Solange unsere Kultur ein solches Werte/Weltbild (Existenz und Bedeutung der
perinatalen und transpersonalen Muster) nicht bereithält, ist die Wahrscheinlichkeit,
einen günstigen und unterstützenden Kontext zur Integration eines kritisch
veränderten Bewusstseinszustandes vorzufinden, wesentlich geringer, als wenn
kulturell eine solche Erfahrungswelt akzeptiert wäre oder gar die Bedingungen zu
ihrer Integration kulturell unterstützt würden.
Als Phantasie wäre ein Ort denkbar, in dem der Betroffene seine Erfahrung
abschließen kann und die hierzu erforderlichen Mittel bereitgestellt würden.
Solange unsere Kultur und Wissenschaft diese Erfahrung aber nicht anerkennt, kann
der Einzelne seine Erfahrung nur im Konflikt mit dem herrschenden Paradigma
anerkennen und wird gedrängt, auf diese Erfahrung z. B. den Begriff der
Geisteskrankheit zu projizieren.
Damit ist eine unheilvolle Konfluenz zwischen wissenschaftlicher Haltung und
individueller Persönlichkeitsfunktion beschrieben. - Oder der Einzelne, sich gegen die
Haltung der herrschenden Wissenschaft und Kultur auflehnend, muss sich auf den
Weg machen, ein subkulturelles Supportsystem zu suchen, welches seine Erfahrung
anerkennt.
6. Zusammenfassung
Es gibt also verändertes Bewusstsein, das mehr oder weniger integriert sein kann.
Mit zunehmender Desintegration wird im Kontakt mit dem Klienten zunehmende
Angst deutlich. Die Herausforderung, diese Angst gemeinsam auszuhalten,
auszudrücken ist gestellt. Aus einer sog. objektiven Position erscheint die
zunehmende Desintegration als psychotische Erlebnisproduktion. Diese Position ist
20
aber Ausdruck einer Kontaktstörung zwischen dem Betroffenen im veränderten
Bewusstsein und dem ihn Kategorisierenden.
Der erste integrative therapeutische Schritt ist die Redefinition des
Damoklesschwertes "geisteskrank-unentrinnbar-chronisch-prozesshaft-verlaufend" zu
einem Zustand kritisch veränderten Bewusstseins. Die gefühlte Gefahr als Angst des
Egos zu erkennen und loszulassen, ist das therapeutische Ziel. Das führt uns
natürlich durch die Biographie, aber auch darüber hinaus.
Die Übergänge von Desintegration des veränderten Bewusstseinszustandes in einen
integrierten veränderten Bewusstseinszustand untermauern die Sichtweise des
Bewusstseinskontinuums.
Es sind die integrierten Zustände veränderten Bewusstseins, die die spirituelle
Dimension der menschlichen Psyche verdeutlichen, ganz unabhängig von dem zuvor
vorhandenen Glaubensbekenntnis.
Diese Art Zustände wurden auf Grund des darin enthaltenen Heilpotentials von den
Menschen durch alle Zeiten hindurch gesucht. D.h., in einem kritisch veränderten
Bewusstseinszustand begibt sich der Organismus in eine Bewusstseinstiefe, die auch
das Lösungspotential für die aufgeworfene existentiell bedrohliche
Problemkonstellation beinhaltet.
7. Literatur
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Grof, S.: Geburt, Tod und Transzendenz. Neue Dimensionen in der Psychologie.
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21
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Grof, S.: Auf der Schwelle zum Leben. Die Geburt: Tor zur Transpersonalität und
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22
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Wilber, K.: Das holographische Weltbild. Bern 1986
23
Transpersonale Aspekte der Gestalttherapie
in der Psychosetherapie.
In: Zeitschrift für Transpersonale Psychologie und Psychotherapie. Nr. 1 Petersberg 1997
Zusammenfassung: In dem folgenden Beitrag geht es um den Versuch die Berührung
der Gestalttherapie mit spirituellen Vorstellungen, insbesondere R. Maharshis zu
beschreiben. In der Darstellung dieser Berührung wird die Persönlichkeitsfunktion
herausgearbeitet, die erforderlich ist, um Menschen in existentiellen psychischen
Krisen (Psychosen) begleiten zu können.
Schlüsselworte: Psychose, Gestalttherapie, transpersonales Bewusstsein, Kontakt,
Persönlichkeitsfunktion.
Summary: the following article attempts to describe the interrelationship between
gestalttherapy and spiritual concepts, particulary those of R. Maharshis. The
personality function which is necessary to help people in existential psychic crisis
(psychosis) is analysed in the discussion of this relationship.
Key words: psychosis, gestalttherapy, transpersonal consciousness, contact,
personality function.
1. Der Grenzprozess als vollendete Gestalt
Das mystische Erlebnis von R. Maharshi
Ramana Maharshi war als Heiliger und Weiser bekannt und lebte von 1879 - 1950 in
Indien in der Nähe von Madras. Viele Europäer sind zu ihm gereist und brachten
seine Lehren mit in den Westen. Persönlich hat mich die Einfachheit und Klarheit
seiner Darstellung des spirituellen Weges beeindruckt.
Der Wendepunkt in seinem Leben mit dem Durchbruch der in seiner Psyche
schlummernden spirituellen Tiefe, manifestierte sich als er etwa 16 Jahre alt war.
Hier Maharshis Darstellung dieses Ereignisses.
"Der Schock der Todesangst trieb meinen Geist nach innen, und ich stellte innerlich
fest, ohne es wirklich in Worte zu fassen: ` Dies also ist der Tod. Was bedeutet das?
Was stirbt da? - Dieser Körper stirbt.´ Und ich begann, den Vorgang des Sterbens
nachzuspielen. Ich lag steif mit ausgestreckten Gliedern, als ob die Totenstarre
eingesetzt hätte und ahmte eine Leiche nach, wie um meinem Forschen eine größere
Wirklichkeit zu verleihen. Ich hielt meinen Atem an und meine Lippen fest
geschlossen, so dass kein Laut entschlüpfen konnte, weder ein `ich´ noch irgendein
anderes Wort. `Schön´, sagte ich zu mir selbst, `dieser Körper ist tot. Er wird zur
Verbrennungsstätte getragen und dort zu Asche verbrannt werden. Aber bin `ich´
tot mit dem Tod dieses Körpers? Bin `ich´ der Körper? Er ist still und gefühllos, ich
aber fühle die ganze Kraft meiner Persönlichkeit und höre, getrennt von ihm, selbst
die Stimme des Ichs in mir. So bin Ich also der Geist, der über den Körper
hinausreicht.
Der Körper stirbt, aber der GEIST, der ihn überschreitet, kann vom Tode nicht
berührt werden. Das bedeutet, dass ich der todlose GEIST bin.´
All dieses waren nicht dumpfe Gedanken; es durchfuhr mich vielmehr lebhaft als
lebendige Wahrheit, die ich unmittelbar wahrnahm, fast ganz ohne Denkvorgang.
24
`Ich´ war etwas sehr Wirkliches, das einzig Wirkliche meines gegenwärtigen
Zustandes, und alle bewusste Aktivität, die mit meinem Körper zusammenhing, war
auf jenes Ich konzentriert. Von dem Augenblick an hielt das Ich oder Selbst die
Aufmerksamkeit durch eine machtvolle Anziehung auf Sich Selbst gerichtet fest. Die
Todesangst war ein für allemal verschwunden. Seit jener Zeit hielt das
Aufgesogensein im Selbst ununterbrochen an. Andere Gedanken mögen kommen
und gehen wie eine Melodie, das Ich aber dauert an wie der Leitton, der allen
anderen Noten unterliegt und mit ihnen verschmilzt.
Ob der Körper redend, lesend oder anderweit beschäftigt war, ich blieb immer auf
das Ich konzentriert. Vor dieser Krise hatte ich keine klare Vorstellung von meinem
Selbst und fühlte mich bewusst nicht von ihm angezogen. Ich war gar nicht an ihm
interessiert, viel weniger geneigt, dauernd in ihm zu verweilen." (Cornelsen, 1985, S.
21)
Nach diesem Ereignis verließ er seine sozialen Zusammenhänge, und traf am 1. Sept.
1896 bei dem in der hinduistischen Religion als heilig verehrten Berg Arunachala ein.
"Der Junge hatte alle Brücken abgebrochen, die ihn mit seinem bisherigen Leben
verbanden. Nun entledigte er sich der letzten Habseligkeiten... Bald erregte er
Aufmerksamkeit; Straßenjungen plagten ihn... Schweigend versunken in sein SELBST
schenkte er Körper und Welt keine Beachtung mehr. Nach acht Wochen brachten
Sannyasins den Jungen, dessen Körper abgemagert und von Ungeziefer zerfressen
war, an einen anderen Ort...
Erst zwei Jahre danach erfuhr seine Mutter den Aufenthaltsort... So traf sie ihn an:
fast unkenntlich mit seinem verwahrlosten Leib. Doch ließ er sich nicht helfen und sie
musste ohne ihn heimkehren... Im Jahre 1917 durfte die Mutter zu ihm ziehen.
Sri Ramana (Maharshi), wie er jetzt genannt wurde, lebte zu dieser Zeit mit einigen
Gefährten in einer höhlenartigen Behausung am Hang des Berges." (Cohen,1992, S.9
u. 10)
Als die Mutter gestorben war, -1922- entstand in der Nähe des Grabes ein Ashram,
der zu einem Magnet für Tausende von Besuchern wurde.
Aus der biographischen Beschreibung geht deutlich hervor, dass die Rückkehr
Maharshis zu einem "äußerlich normalen Leben" nur ganz allmählich vonstatten ging.
(Cohen, 1992)
2. Maharshis Selbstbegriff
Dieser indische Mystiker beschreibt in der o.g. Schilderung, wie er damals als 16jähriger junger Mann das Durchleben einer Todesangst, - einer existentiellen
Grenzerfahrung - erfahren hat. Es gelang ihm, durch Annehmen und Loslassen
diesem Prozess zu folgen und ihn zu einer geschlossenen Gestalt werden zu lassen,
obgleich die Rückkehr zu einem äußerlich normalen Leben (Jahre) später erst
vollzogen wurde. Ganz wie Grof dies auch, (Grof, 1983a, 1983b, 1985, 1987, 1989.,
1990) - insbesondere in der Erfahrungsmöglichkeit der IV-ten perinatalen Matrix -,
beschrieben hat, wird das Durchleben dieser existentiellen Bedrohung zu einer
mystischen Erfahrung, da die Identifikation mit den angstbesetzten Überzeugungen
im Ich losgelassen wurde.(Grof 1987, S. 54)
(Diese angstbesetzten Überzeugungen im Ich werden oft schlicht als Ego
bezeichnet.)
Die geschlossene Gestalt des Durchlebens dieses Sterbeprozesses ist die Begegnung
25
mit dem SELBST.
Das Beispiel von Maharshi zeigt, dass es die Möglichkeit gibt, diese existentielle
Bedrohung durch einen der Psyche innewohnenden, spontan von statten gehenden
Prozess, zu einem positiven bedeutenden Erfahrungsschatz werden zu lassen.
Allerdings kann die Vollendung dieses Prozesses nur gelingen, wenn man sich ihm
anvertrauen kann, Zeit und Raum für die vollständige Integration vorhanden ist und
die Umgebung eine wertschätzende Haltung zeigt.
Dies alles war in seinem Fall gegeben. Er wurde z. B. in seinem körperlich
beeinträchtigten Zustand nicht in eine psychiatrische Klinik gebracht, sondern von
Menschen, die ihn in einem tiefen spirituellen Wandlungsprozess begriffen, versorgt.
Vertraut man sich diesem Prozess an, so wird erfahrbar, dass an der Grenze
zwischen Leben und Tod keine Vernichtung des Lebens geschieht, sondern der
Lebensprozess weitergeht und dies auch wahrgenommen werden kann, so dass der
Tod vielmehr als eine Gestalt der Lebens-Veränderung erscheint, in der bisher gültige
Strukturen der Psyche, aber nicht das Leben aufgelöst werden.
Diesen Prozess der Lebens-Veränderung hin zur Begegnung mit dem SELBST hat L.
Frambach in seinem Buch "Identität und Befreiung" untersucht (Frambach, 1993). Er
hat dabei gezeigt, dass dieser Befreiungsprozess einen immanenten Verlauf hat und
sowohl für den spirituellen Befreiungsprozess, von dem die Mystiker berichten, als
auch für den psychotherapeutischen Befreiungsprozess von neurotischer Fixierung
gilt, wie er in der Gestalttherapie von Perls beschriebenen wurde.
In einer sich spirituell entwickelnden Persönlichkeit werden also die ängstlichen
Kontraktionen im Ego-Prozess zunehmend aufgelöst und das Loslassen wird immer
mehr zu einer selbst-verständlichen psychischen Funktion. Damit wechselt der
Identifikationsfocus der Person hin zum Selbst.
Würde man die Wahrnehmungsfunktionen nun weiterhin als Ichfunktionen
beschreiben, so stünden diese nunmehr in inniger Verbindung mit den spirituellen
Schichten der Psyche.
3. Der Grenzprozess als offene Gestalt
Menschen, die mit ängstlicheren inneren Voraussetzungen als Maharshi an diese
existentielle Grenze stoßen - und das sind die meisten von uns - können diesen
Prozess nicht wie er zu einer geschlossenen Gestalt werden lassen, sondern bleiben
irgendwo in diesem Prozess stecken.
Das Steckenbleiben in einem Prozess an dieser existentiellen Grenze kann uns
klinisch als Psychose erscheinen und entspräche in seiner Symptomatik den
angstbedingten Alpträumen eines sich der Auflösung, dem Loslassen widersetzenden
Ego-Prozesses, der (noch) seine Identität in seinen Kontraktionen erlebt.
J. Perry, ein jungianischer Psychotherapeut und Begründer einer Einrichtung
-Diabasis- zur nonpharmakologischen Begleitung akut Psychoseerkrankter, hat in
seiner Arbeit gezeigt, dass diese immanente Verlaufsgestalt bei stecken gebliebenen
Grenzprozessen immer noch erkennbar bleibt und dass mit entsprechender
Unterstützung der Transformationsprozess zur Vollendung begleitet werden kann.
Dabei werden die Patienten natürlich nicht automatisch zu Mystikern und Heiligen,
aber sie haben die Erfahrungsmöglichkeit, einen Transformationsprozess zu
durchleben und als sinnvolle Gestalt in ihrem Leben zu integrieren; und das ist eine
spirituelle Erfahrung (Perry, 1986).
26
V. Aderhold hat sich in seiner Dissertation ausgiebig mit dem Thema "Die akute
Schizophrenie als Prozess der Selbst-Gestaltung" (Aderhold, 1994) beschäftigt und
ebenfalls herausgearbeitet, dass der psychotische Prozess in vielen Fällen diese
immanente Verlaufsgestalt besitzt und daher mit entsprechender therapeutischer
Begleitung zum Abschluss gebracht werden kann (ebd. S.162 ff).
Insbesondere wird durch Aderholds Arbeit die Gefahr der Chronifizierung durch die
Neuroleptika deutlich, da durch diese das Steckenbleiben zur Behandlung erhoben
werden kann, wenn der Prozess nicht verstanden wird.
Gleichzeitig arbeitet Aderhold heraus, dass nonpharmakologische Begleitung in den
entsprechenden differentialdiagnostisch geklärten Fällen indiziert ist:
"Es scheint eine große Gruppe schizophrener Menschen zu geben, die die
biologischen, physiologischen, psychologischen und sozialen Voraussetzungen
mitbringen, um ohne neuroleptische Behandlung in einem angemessenen
psychosozialen Milieu aus einem akut schizophrenen Prozess wieder in einen
normalen Wachbewusstseinszustand in relativ kurzer Zeit zurückzukehren (ebd.
S.65)."
4. Praxisbeispiele
Ich möchte nun in diesem Zusammenhang von Klienten sprechen, die von
psychotischen Episoden betroffen waren, mit denen ich lange genug in der Praxis
gearbeitet habe, um die inneren Zusammenhänge zu begreifen und für die zutrifft,
psychische Traumatisierungen verarbeiten zu müssen, die sie an diese existentielle
Grenze geführt hatten.
Die Bedrohungen der eigenen Existenz waren durch körperliche Gewalt und sexuelle
Übergriffe geschehen oder sind andere Katastrophen im Leben des Kindes, wie im
nachfolgenden Beispiel. Wobei ausschlaggebend ist, dass für das Kind keine
bergende, schützende Haltung in der Verarbeitung des Traumas zugegen war. Dann
kann anscheinend lange Zeit noch eine Verleugnung aufrechterhalten werden, bis
irgendein Auslöser an diese psychische Wunde erinnert und der psychotische
Zusammenbruch erfolgen kann.
Auf diese Weise wird im Grofschen Sinne ein COEX -System (system of condensed
experience) (Grof, 1983b, 1985, 1987) aktiv und Erfahrungen aus den verschiedenen
Ebenen des COEX-Systems drängen ins Bewusstsein.
COEX-Systeme sind Erfahrungsmuster "deren gemeinsamer Nenner eine starke
emotionale Besetzung von der gleichen Qualität, eine intensive Körperempfindung
der gleichen Art oder irgendein anderes wichtiges Element ist (Grof 1987, S. 22)."
"Die COEX-Systeme enthalten Erinnerungen aus unterschiedlichen
Lebensabschnitten(ebd.).“
"Die meisten biographischen COEX-Systeme sind mit bestimmten Aspekten des
Geburtsprozesses dynamisch verbunden (ebd.)."
Enthält nun ein solches Muster - man könnte auch - Gestalt - dazu sagen - ein
existentiell bedeutendes Thema, dann ist es eben deshalb mit den perinatalen
Grundmatrizen verknüpft. Irgendein Ereignis im Hier und Jetzt, dessen Charakter für
den Betroffenen assoziativ mit einer psychischen Grenzsituation verknüpft ist, kann
also nach diesem Modell die perinatalen Grundmatrizen /gestalten) aktivieren.
Die perinatalen Matrizen ihrerseits sind in diesem Modell wiederum assoziativ mit
Mustern aus dem transpersonalen Bereich verbunden.
27
Hierdurch erklärt Grof eine Vielzahl möglicher psychotischer Phänomene (Grof 1985,
S. 290 ff und 328 ff).
Fallbeispiel I
Im nachfolgenden Fallbeispiel geht es um eine jetzt 52-jährige Klientin, deren Mutter
und Bruder ebenfalls an Schizophrenie litten, bzw. noch leiden und daher ihr
Selbstverständnis sehr dem schulmedizinischen Modell, das ja in solch einem Fall den
Vererbungsaspekt herauskehrt, gefolgt war.
Sie glaubte zu Beginn unserer therapeutischen Arbeit, dass die Krankheit vererbt sei,
dass sie also eine Behinderung habe, und lernen müsse, möglichst mit der Krankheit
zu leben.
Am Anfang der Behandlung schilderte sie Folgendes:
Die Mutter habe sich suizidiert und das im unmittelbaren Zusammenhang mit einer
frechen Bemerkung ihrerseits, als sie 10 Jahre alt war.
Sie sei in der Küche an ihren Schulaufgaben gesessen, als die Mutter, die zu diesem
Zeitpunkt psychotisch, wahnhaft war, hereingekommen sei und sie gestört habe.
Daraufhin habe sie zur Mutter gesagt: "Hau endlich ab!"
Die Mutter sei verschwunden und als sie selbst nach einer Weile nach draußen wollte
und der Mutter Bescheid sagen wollte, konnte sie diese zunächst nicht finden,
bemerkte dann aber die ungewöhnlicherweise offen stehende Schlafzimmertüre und
fand dort die erhängte Mutter.
Die Klientin konnte sich nicht mehr an das Bild der erhängten Mutter erinnern. Nur
noch die Szene in der Küche und ihr Weg bis zur Schlafzimmertüre waren in ihrem
Gedächtnis und die Szenerie danach vage, als sie um Hilfe zu holen, eine ganze
Strecke durchs Dorf rennen musste und eine Verwandte benachrichtigte.
Niemand hat sich im Gefolge um sie gekümmert, geschweige denn dieses Ereignis
als ein Trauma für die Psyche eines 10-jährigen Kindes begriffen.
Sie hatte seit dieser Zeit Schuldgefühle, dass sie durch ihre Bemerkung den Tod der
Mutter verursacht habe.
Diese Schuldgefühle bestanden zu Beginn der Behandlung massiv und sie war
zunächst ganz abwehrend, als ich diese in Frage stellte.
Nach der Kenntnis der für das Kind traumatischen Suizidszene, bewertete ich die
Situation als eine Katastrophe im Leben des Kindes, die keinen Halt und Trost
gefunden hatte.
Entsprechend fanden sich auslösende Situationen, wenn die Klientin von der IchFunktion entschlossen "nein" zu sagen (Dreitzel, 1995) Gebrauch hätte machen
müssen, bzw. wenn solche Situationen angehäuft worden waren.
Dann berührten die in der aktuellen Situation ausgelösten Schuldgefühle das
Trauma, das innere Katastrophengebiet, die unabgeschlossene Gestalt.
Ich arbeitete mit der Klientin 1x pro Woche eine Einzelstunde gestalttherapeutisch
aufdeckende und integrierende Arbeit.
Ziel war es, ein Mitgefühl, - eine haltende bergende Haltung für das 10-jährige Kind
zu entwickeln und es aus der Schuldvorstellung zu befreien.
Dies also als Beispiel für eine Katastrophe existentiellen Ausmaßes, in der es der
(kindlichen) Psyche nicht gelang (die durch das Trauma erzeugten Affekte)
loszulassen, weil Verständnis, Halt und Trost fehlten, sondern stattdessen eine
Fixierung an das Schuldgefühl und darüber an den Wahnsinn (der Mutter) erfolgte.
Nach etwa einem Jahr, als wir uns schon beinahe sicher wähnten, ergab sich durch
28
eine berufliche Konfliktsituation erneut die auslösende Konstellation und der Eintritt
in die Psychose geschah sozusagen vor meinen Augen. Das Schuldgefühl war wieder
da und riesengroß: "Ich habe sie (die Mutter) umgebracht. Jetzt bin ich ganz sicher."
Ich konnte die Patientin regelmäßig während der nun ca. 10 Tage dauernden
psychotischen Episode sehen und in den Therapiestunden kleine "Inseln der Klarheit"
(Podvoll, 1994) mit ihr erleben. Ich unterstützte ihr "grounding" und widersprach
freundlich, penetrant den Schuldgefühlen; nährte so gut ich konnte den Zweifel an
der wahnhaften Schuldverstrickung.
Sie war in der Psychose nicht selbst- oder fremdgefährdet, nahm lediglich 3 Tage
lang Neuroleptika, um die Familie zu entlasten, die für sie sorgte, befand aber, dass
sie besser ohne Neuroleptika aus der Psychose herausfinden würde, was dann auch
geschah.
Erst im darauf folgenden 2-ten Therapiejahr konnte dann an Hand von Träumen die
Integration der haltenden, bergenden Haltung verifiziert werden, deren Erarbeitung
wesentlich in der Wiederherstellung der Ich-Funktion entschlossen "nein" zu sagen
bestand. (Dreitzel, 1995, S. 26)
Die Therapie wurde nach 2 Jahren gemeinsamer Arbeit in gegenseitiger
Übereinstimmung vorläufig beendet, mit dem von der Patientin gewonnen Eindruck
der Integration. Der weitere Verlauf muss dies noch bestätigen.
5. Veränderung der Wahrnehmungsmodalitäten
Wird durch die Aktivierung eines COEX-Systems ein Wahrnehmungsbereich vor dem
dritten Lebensjahr aktiv, und dies ist bei einer existentiellen Traumatisierung (immer)
der Fall, so desintegrieren die Wahrnehmungsmodalitäten hylotrop (normaler
Alltagswahrnehmungsmodus, auf das Teil gerichtet, analytisch, Raum und Zeit linear
erfahrend) und holotrop in dem Masse, wie dieser frühe Wahrnehmungsbereich das
Alltagsbewusstsein überflutet. Die Wahrnehmungsmodalitäten hylotrop/holotrop
können sich offensichtlich gegenseitig durchdringen oder auch die jeweils andere
vorübergehend dominieren, bzw. miteinander in Konflikt geraten. Überwiegt die
holotrope Wahrnehmungsmodalität auf Grund starker Aktivierung unabgeschlossener
Gestalten aus den frühen biographischen und perinatalen Erinnerungen, so erfordert
dies eine bestimmte gesicherte Verankerung (Containment) in Raum und Zeit. Die
holotrope Wahrnehmung ist nicht geeignet für die Alltagswelt.
Die holotrope Wahrnehmung ist der Wahrnehmung im Traum vergleichbar und löst
die normalerweise gültigen Wahrnehmungsgrenzen auf. Die holotrope Wahrnehmung
kann unsere Sinne von innen her überlagern. Dann sehen wir unseren individuellen
eigenen Film. Wir sind von Sinnen dergestalt, dass die kollektive Übereinstimmung
der Interpretation von Sinnesdaten verlassen wird und andere Interpretationsmöglichkeiten entstehen. Affekte können wie im Traum unmittelbar szenisch erlebt
werden.
In diesem Erleben ist die Identifikation mit einem grenzenlosen Bewusstseinsfeld
gegeben; es gibt echte Alternativen zum dreidimensionalen Raum und zum linearen
Ablauf der Zeit, zeitliche Abläufe werden psychisch erlebt, was zur Folge haben kann,
dass z.B. eine Sekunde sehr lange dauern kann. Die Festigkeit und Diskontinuität von
Materie ist Illusion; derselbe Raum kann von verschiedenen Objekten eingenommen
werden (Grof 1985, S.328-331).
Somit könnte verstanden werden, dass eine Fixierung in einem COEX-system, einen
chronischen Alptraum hervorbringt, in dem holotrope Wahrnehmung überaktiv ist,
29
die Angst und Schrecken sozusagen "traumhaft" übersetzt, anders gesagt:
So wie eine nicht versorgte physische Wunde sich entzünden und eitern kann, so
kann eine existentielle psychische Wunde alpträumen, also Psychose erzeugen.
Diese Alpträume, welche die Alltagswahrnehmung (hylotrope Wahrnehmung) mehr
oder weniger überlagern können, sind - so gesehen - also sich wiederholende
Reinigungsversuche des betroffenen Organismus, der versucht, den psychischen Müll
loszuwerden, um eine Erfahrung in sich (sterben)loszulassen.
Klinisch mag uns das dann als Halluzination, Paranoia o.ä. erscheinen.
Fallbeispiel II
Die Klientin ist jetzt 35 Jahre alt. Sie leidet unter enormen Zwängen, die einen
wesentlichen Teil ihres Tagesablaufes bestimmen und von der inneren Erfahrung
voller Schmutz zu sein, geprägt sind.
` Im 6-ten Schwangerschaftsmonat der Mutter habe es einen Zwischenfall, mit
erheblichem Fruchtwasserverlust gegeben.´
Dieses Ereignis war der Klientin zwar immer schon bekannt, sie erinnerte es jedoch
in einer "Geleiteten-Phantasie-Sitzung" als bedrohliches intrauterines Ereignis wieder,
und konnte es durch Nachfragen bei der Mutter bestätigt erhalten, `wobei die
Angaben der Mutter eher bagatellisierend gewesen seien.
Die Mutter habe mit der Sauberkeitserziehung im 4-ten!! Monat begonnen und diese
sei bald nach der Geburt der ein Jahr jüngeren Schwester abgeschlossen worden.
Insbesondere die Haltung der Mutter sei ihr gegenüber kontrollierend gewesen.
Ordnung und Sauberkeit seien für die Mutter sehr wichtig. Sie habe sich als KleinKind eher lästig und irgendwie falsch gefühlt.
Das später alles überlagernde Schuldgefühl,´ so meint sie, `sei schon sehr früh´also vor dem Trauma (s.w.u.) - ` da gewesen.´
Das überschattende Ereignis ihrer Kindheit, welches die Klientin bruchstückhaft und
verzerrt erinnert, ereignete sich, als sie 4 Jahre alt war:
Ein Landarbeiter, der in der elterlichen Landwirtschaft arbeitete, vergewaltigte das
Kind an mehreren Tagen, mindestens aber 2 mal. Sie weiß nicht mehr wie häufig, ist
sich aber sicher, dass es sich wiederholt hat, weil sie beim 2-ten Mal zu ihm gesagt
habe, ` er solle ihr Kleid nicht schmutzig machen. ´
Sie erinnert deutlich die Berührung des Penis des Erwachsenen an ihrem kindlichen
Genitale.
Sie muss dann ins Wohnhaus zurückgekehrt sein, ohne von den Eltern bemerkt
worden zu sein. Vermutlich geschah dies um die Mittagszeit und die Eltern hielten
Mittagsruhe, die von den Kindern als "heilig " respektiert werden musste.
Das Kind blieb nach dem Trauma sich selbst überlassen!
Im Alter von 12 Jahren habe sie anlässlich ihrer Menarche all ihren Mut
zusammengenommen und eines Tages der Mutter erzählt, was passiert sei, denn sie
habe befürchtet, dass der Samen des Mannes noch in ihr sein könne und sie
schwanger werden könne.
Die Situation war sozusagen zwischen Tür und Angel, da die Mutter gerade im
Aufbruch war. Die Schwester - zu diesem Zeitpunkt also 11 Jahre alt, kommentierte:
"Vielleicht hat es Dir ja Spaß gemacht?" Die Mutter ging unter Zeitdruck stehend
nicht weiter auf das Kind ein, sondern stellte lediglich einige Fragen: "Warum bist Du
nicht weggegangen? Warum hast Du Dich nicht gewehrt? Hat er Dich festgehalten?",
30
wodurch das Kind aber in seiner Mitteilung unterbrochen wurde und sich wieder
verschloss.
Allerdings fragte die Mutter am nächsten und an den folgenden Tagen nicht weiter
nach!
Die Klientin blieb außer einer ihr eigenen Nervosität, und Schreckhaftigkeit klinisch
unauffällig, bis sie eine tiefe Liebesbeziehung zu einem Mann erlebte. In der Intimität
und Nähe dieser Beziehung brach das Trauma auf und die Zwänge begannen sich zu
bilden.
Für das Verständnis des vorliegenden Zwangs-Syndroms ist das oben geschildert
Trauma und der familiäre Umgang damit grundlegend.
Das Trauma selbst ist für die zu diesem Zeitpunkt vorhandene kindliche Identität
zerstörend. Die kindliche Psyche fragmentierte in dieser Situation und verlor damit
ein einheitliches "Ich". Der fixierte postraumatische Zustand ist ein regressiver
Zustand vor der vollendeten Ich-Entwicklung und enthält entsprechend
Desintegration zwischen hylotroper und holotroper Wahrnehmung.
Sie kann die einzelnen Fragmente, die in und nach diesem existentiellen Trauma
entstanden sind, wie folgt benennen:
Es gibt ein weißes oder helles Kind und ein dunkles Kind. Das helle Kind erscheint
manchmal in noch mehrere Fragmenten unterteilt. Dieses Kind hat den Ort des
Traumas verlassen, allerdings unter Mitnahme der Erfahrung, verschmutzt zu sein
und sich psychisch unter Verzicht der von dem dunklen Kind besetzten Funktionen
weiterentwickelt. Dieser helle Teil stellt ihre Funktionsfähigkeit als erwachsener
Mensch dar, soweit dies möglich ist.
Das dunkle Kind hat den Ort des Geschehens nicht verlassen. In ihm sind noch alle
Affekte des Traumas lebendig und es ist mit der Energie des Täters "kontaminiert".
Dies erklärt das Erleben des Durchdrungen-Seins von Schmutz. Schmutz war das
Schlimmste, was das Kind in den Augen der Mutter an sich haben konnte. Und das
was dem Kind jetzt passiert war und in sein Inneres eingedrungen war, war das
Schlimmste, was es je erlebt hatte. Es musste also Schmutz gewesen sein und dieser
konnte von nun an immer und jederzeit in sie eindringen. Diese kindliche
Rationalisierung bildete von jenem Ereignis an die Grundlage für alle
Alptraumszenarien.
Sie erlebt diese holotropen Wahrnehmungsphänomene aus dem wirksamen COEXSystem z.B. in ihrer Wohnung, wenn sie zwischen sich und den Gegenständen keine
Grenze mehr empfindet; außerdem in der panischen Angst vor Berührung durch
Hundehaare, wobei auch hier die Grenze unklar erlebt wird und ein in die Nähe
kommender Hund dies schon auslösen kann.
Die existentielle Dimension der Schuld und der Angst sind ebenfalls
Erlebnisqualitäten, die aus dem wirksamen COEX-System stammen. Im Sinne von
Grof ist hier ein COEX-System aktiv, welches ein schweres körperliches und
seelisches Trauma mit einem intrauterinen Trauma verknüpft und die dortigen
holotropen Wahrnehmungsphänomene einer negativen perinatalen Matrix I (bzw.
perinatale Matrix II, da ein drohender Abort wie eine beginnende Geburt wirken
kann) hervorruft. Dies würde die existentielle Dimension der vorhandenen
Schuldgefühle (Grof, 1985, S. 109ff, S. 291) zusätzlich erklären, welche in dem
Gedanken zusammengefasst sind:
"Wäre ich bei dieser Schwangerschaftskrise gestorben, dann hätte ich dieses Trauma
auch nicht herbeiführen können. Nur weil ich überleben wollte, bin ich in dieses
Trauma geraten. Alleine, dass ich leben wollte, ist schon Schuld."
31
Es ist, als ob der dunkle Teil ihrer selbst aus dieser psychischen Wunde heraus mehr
oder weniger fortwährend alpträumt.
Die Zwänge erfüllen somit mehrere Funktionen:
- Sie sind eine extreme Variante der mütterlichen Reinlichkeitserziehung.
- Sie dienen der Aufrechterhaltung der Isolation, damit der Verleugnung der
unabdingbaren Hilfsbedürftigkeit des Kindes und
- gleichzeitig der Herstellung des Erlebens, durch endlose Wiederholungen doch
alleine die Wahrnehmung von Grenzen erzeugen zu können,
d.h. m. E. bilden die Zwänge eine Homöostase zwischen einem drohenden
psychotischen Zusammenbruchs und der rituellen Erzeugung von Ich-Grenzen. Diese
soeben erzeugten Grenzen werden aber durch die immense (Todes-) Angst immer
wieder schnell zerstört.
Der Anfang der Therapie diente beharrlich der Fokussierung des Traumas im frühen
Kindesalter und der Bearbeitung der Verleugnung.
Parallel hierzu wurde Kontakt zu einer erfahrenen Therapeutin aufgenommen, die
dann dazukam.
Vorbereitet und auch durchgeführt unter Durchschreiten sehr großer Angst und
beginnender Affektlösung seitens der Klientin wurden dann symbolisch-rituelle
Waschungen der "kontaminierten" Hände durch die Therapeutin. Schließlich wurden
die Hände gewaschen und eingecremt, als symbolische, stellvertretende, tröstende
Handlung, die eigentlich der gesamte Organismus bräuchte.
Dadurch lernt die Klientin, das familiäre Muster - alleine mit dem Trauma
zurechtkommen zu müssen - loszulassen und kann die im Trauma gestauten Affekte
loslassen.
6. Die zu erweiternde Persönlichkeitsfunktion an der Existenzgrenze
Wie dieses Beispiel zeigt, ist es von Bedeutung, ob der Mensch eine Fähigkeit in sich
oder in seiner Umgebung vorfindet, mit der existentiellen Herausforderung
umzugehen. Gäbe es diese innere Fähigkeit, so wäre dieses Trauma vom betroffenen
Organismus aushaltbar, sozusagen verdaubar. Hat der betroffene Organismus diese
Haltung schon in sich, so besitzt er bezüglich der Herausforderung eine
Integrationsfähigkeit. Falls nicht, ist die Herausforderung an die Umgebung gestellt,
diese bergende, haltende Haltung anzubieten und zu vermitteln, d.h., einen Kontakt
zu finden, der die Betroffenen dort abholt, wo sie sind und deren beeinträchtigte
Persönlichkeitsfunktion dadurch zu heilen, dass diese Kontaktmöglichkeit
selbstverständlich wird.
Das Problem hier ist, dass bezüglich dieser existentiellen Herausforderung (von
psychotischen Phänomenen) die Persönlichkeitsfunktion im gesamten Kollektiv noch
nicht funktionsfähig ist, solange die zu Grunde liegenden Gestalten ausgegrenzt
bleiben und die psychischen Verletzungen in diesen existenziellen Prozessen noch
nicht selbstverständlich genug erkannt und ausgehalten werden.
Solange dies der Fall ist, besteht eine unheilvolle Confluenz zwischen der
Persönlichkeitsfunktion der Betroffenen und der Persönlichkeitsfunktion ihrer
potenziellen BehandlerInnen. Diese Confluenz rührt auf beiden Seiten aus der noch
nicht vorhandenen Integrationsfähigkeit von Prozessen an der Existenzgrenze,
schlicht gesagt, aus der Angst vor dem Tod.
32
Die potenziellen BehandlerInnen müssten demnach eine Persönlichkeitsfunktion
entwickeln und diese im Kollektiv verankern, welche in der Lage ist, dieser
existentiellen Herausforderung standzuhalten.
7. Aus der Sicht der Gestalttherapie birgt der gelungene Kontakt Heilungspotential
Grof hat in seiner Arbeit immer wieder darauf hingewiesen, dass diese existentiellen
Erfahrungen großes Heilungspotential besitzen, weil in diesen Dimensionen der
Psyche die Berührungsfläche zwischen biographischen, individuellen
Erfahrungsmustern und kollektiven, spirituellen Erfahrungsmöglichkeiten besteht. Da
psychotische Prozesse diese Erfahrungsmöglichkeit beinhalten, besitzen sie auch
prinzipiell dieses Transformationspotential (Grof, 1985, S. 279ff).
Die oben zitierten Kartographien der psychischen Landschaft an dieser
Existenzgrenze geben den TherapeutInnen Orientierung und Selbstsicherheit, wenn
er/sie gelernt hat, sich dort zurechtzufinden.
So kann z. B. mit der Hilfe des Grofschen Verstehens eine coänestetische
Missempfindung wie das Hören von Geräuschen im Kopf oder ein
Verschiebeempfinden im Kopfbereich auf der Ebene einer perinatalen Matrix
interpretiert werden. Was also als psychotisches Phänomen anmutet, ist auf der
regressiven Ebene ein gültiges, sinnvolles Erfahrungsphänomen.
Das bedeutet in diesem Beispiel, dass der Therapeut eine Kontakterfahrung zu
gestalten hätte, die diese perinatale Ebene erfahrbar macht.
Im Erleben eines gelungen Kontaktes erscheint eine jeweilige Erfahrung
kontextbezogen und dadurch plausibel. Das heißt, in einem gelungenen Kontakt
erleben beide eine gemeinsame Erfahrung, von der jeder ein nicht wegzudenkender
Teil ist.
"Für den Gestalt-Werde-Prozess der psychotischen Erfahrung gelten meiner Meinung
nach die gleichen Prinzipien wie für den Individuationsprozess im Sinne Jungs: er
vollzieht sich nicht allein, sondern erst im mitmenschlichen Vollzug, am Gegenüber.
Die psychische Gestalt kann sich erst vollständig im erkennenden Blick des anderen
ausbilden. Selbsterkennen bedarf des Erkanntwerdens." (Aderhold, 1994, S. 181)
Dies ist ohne Liebe, ohne Annehmen, nicht vorstellbar.
Damit ist ebenfalls der Wertebereich in der Persönlichkeit gemeint, den Maslow
beschreibt, wenn er von der Fähigkeit eines reifen Ich zur Transzendenz spricht
(Maslow, 1984 und Globe, F., 1979).
Der in der Gestalttherapie beschriebene Kontaktprozess zeigt, wie im Moment eines
gelungenen Kontaktes das SELBST erfahren wird. (Perls, 1979, Dreitzel, 1992)
Diese SELBST- Erfahrung ist die heilende integrative Qualität des Kontaktes, der in
der prozessorientierten (Gestalt)-Psychotherapie angestrebt wird, denn die Idee des
vollen Kontaktes beinhaltet die Vorstellung von Hingabe und damit von Liebe,
während die Übung von Gewahrsein eine Desidentifikationsübung vom Denkprozess
ist und den Meditations- und Kontemplationsübungen ähnelt, die in den spirituellen
Schulungen angewendet werden, um das SELBST zu gewahren.
Die grundlegende Methode ist also sowohl in der Gestaltherapie, als auch in der
spirituellen Schulung z.B. Maharshis, das Üben von Gewahrsein um das SELBST zu
erfahren. (Maharshi, 1993).
Ich erlaube mir hieraus den Schluss zu ziehen, dass es sich insofern um einen sehr
ähnlichen SELBST-begriff handeln muss.
33
Bei vollem Gewahrsein gibt es keinen Denkprozess und damit keinen angstvoll
kontrahierten Egoprozess.
Gewahrsein ist eine Schnittstelle zwischen dem von der Gestalttherapie
beschriebenen Kontaktprozess und den der Psyche innewohnenden spirituellen
Dimensionen.
In der Gestalttherapie wird also durch die Kontakterfahrung das Annehmen und
Loslassen des angstvoll kontrahierten Ego-Prozesses von Kontakt zu Kontakt immer
wieder gelernt, indem immer wieder Gewahrsein geübt wird und damit wird das
Erlernen des Annehmens und Loslassens zur Persönlichkeitsfunktion.
Ist diese Funktion verfügbar, so besteht eine zunehmend dauerhafte Verbindung des
Wachbewusstseins oder Ichbewusstseins zum SELBST. Der Identifikationsfokus
verschiebt sich zum SELBST.
Wie ein geworfener Kieselstein über die Wasseroberfläche schnellt, um beim
Wiedereintauchen jedes Mal ein wenig länger im Wasser zu verweilen, um schließlich
auf dessen Grund zu sinken, so können wir in jedem gelungenen Kontakt, in jedem
spontanen unmittelbaren Tun, in jedem Moment, in dem wir ganz in Gewahrsein
eintauchen, unser SELBST in seiner Ganzheit aufblitzend erfahren.
In dieser Idee des Selbst im Kontaktprozess ist die Auflösung von Grenzen und die
Verbindung mit dem Objekt des Kontaktes zu einer neuen Einheit enthalten.
Im vollen Kontakt wird durch die Berührung von Subjekt und Objekt, von Ich und
Du, die Einheit “ Wir“, also eine transpersonale Wahrnehmung erfahren, - eine neue
Gestalt -, die nach und nach durch immer weitere Assimilation von Grenzen die
Verbundenheit zum ganzen SEIN hervortreten lässt.
Das Selbst ist die Kontaktgrenze, ist das System der Kontakte - so die
Gestaltterminologie (Perlst, 1979). Im Gewahrsein des SELBST löst sich die Grenze
zwischen Individuum und Umwelt auf, weil sie aus der Perspektive des SEBST nie da
war (Maharshi, 1993) während sie (die Grenze) aus der Perspektive des Egoprozess
nach vollendetem Kontakt wieder auftaucht. Die Wahrnehmung der Kontaktgrenze
ist eine Ichfunktion, keine Funktion des SELBST.
In der SELBST-Wahrnehmung wird also ein Aspekt der spirituellen Wirklichkeit
geschaut, in der es keine Objektgrenzen gibt.
Die Gestalttherapie benutzt Gewahrsein, kehrt aber wieder zur Ichperspektive
zurück, während in der spirituellen Perspektive die Wirklichkeit aus der Perspektive
des SELBST weiterhin erfahren wird. Das Kontaktmodell der Gestalttherapie ist daher
eine Beschreibung der Verlagerung des Identifikationsfokus vom Ich zum SELBST
zurück zum Ich.
Entsprechend verschwindet gemäß der Theorie der Gestalttherapie das Selbst aus
der Wahrnehmung nach dem gelungen vollen Kontakt. (Perls, 1979) In der
spirituellen Perspektive verschwindet das SELBST nie (Maharshi, 1993), sondern ist
das SEIN.
Gewahrsein ist demnach keine Ichfunktion, sondern der Erkenntnismodus (Ellen,
1994) des SELBST. Reines Gewahrsein ist das SELBST, ist das SEIN. Reines
Gewahrsein und SELBST sind also synonym (ebd.).
Hier ist die Begegnung des (gestalt)psychotherapeutischen Selbstbegriffes mit dem
spirituellen Begriff vom SELBST.
In diesem spirituellen Verständnis ist das SELBST identisch mit dem SEIN/GOTT und
DIESER ist das EINS OHNE EIN ZWEITES. (Wilber, 1988)
34
Alles was vom SELBST durchdrungen ist, wird in diesem Verständnis ganz, heil und
immer wirklicher. Heilung entsteht dadurch, dass Gewahrsein für das SELBST erlernt
wird, was durch jeden gelungenen Kontakt geschieht.
Gewahrsein, Annehmen und Loslassen sind demnach die Grundelemente eines
transpersonalen Bewusstseins aus der Perspektive der Gestalttherapie und
unerlässliche Persönlichkeitsfunktionen für die Arbeit in den hier beschriebenen
Grenzbereichen.
"Ein solches Gefäß zu sein, ein solcher Container, der auch die energetische Dynamik
spiritueller Krisen oder psychotischer Erlebnisse halten, tragen austragen kann,
erfordert ein transpersonales Bewusstsein." u. w.:
"Spirituelle Krisen, Psychosen, schwere Traumatisierungen sexueller oder
gewalttätiger Natur sind nicht persönlich aushaltbar. Ihre Kraft zerstört die
persönliche Identität. Hier kann nur existentielle Anwesenheit, liebevolle Präsenz, die
Verankerung im Seinsgrund einen Raum für Heilung eröffnen. In jeder anderen
nicht-spirituellen Perspektive könnten wir als Therapeuten den heftigen Stürmen der
Übertragungen und unserer eigenen Gegenübertragung kaum etwas entgegensetzen
und wären nicht in der Lage, ihre Qualitäten fruchtbar zu machen. (Galuska, 1996, S.
29) "
Ob ein kritisch verändertes Bewusstsein als psychotischer Prozess verläuft oder ob
dieses kritisch veränderte Bewusstsein als bestimmte qualitative Gestalt in
Erscheinung treten kann, ergibt sich also aus Voraussetzungen, die nunmehr im
Einzelfall durch Einfühlung (Resonanz) verstanden werden können.
Als Voraussetzungen lassen sich beschreiben:
- die Integrationsfähigkeit der Person im Hier und Jetzt,
- die Rahmenbedingungen (kollektive Wertvorstellungen), in denen die kritische
Bewusstseinsveränderung erlebt wird,
- die Wertvorstellungen jenes Gegenübers, auf die der/die (Psychose)- Betroffene im
Kontakt trifft.
Bei einem adäquaten Verhältnis von persönlichen Voraussetzungen des Betroffenen
und Verständnismöglichkeiten der BehandlerInnen kann aus einer psychotischen
Erfahrung eine, vom Betroffenen erkennbare, bisherige Grenzen transformierende
Erfahrung werden.
Im Hier und Jetzt eines gelungenen Kontaktes kann demnach kein Wahnsinn
existieren.
8.
Literatur
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35
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1/95, S. 17-27
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Transpersonale Psychologie und Psychotherapie. Nr. 1 Petersberg 1996
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Bewusstseins. In: Gestalttherapie, Köln 1/90, S. 32-43
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Grof, S. und Halifax,J.: Die Begegnung mit dem Tod. Stuttgart 1980
Grof, S.: LSD-Psychotherapie. Stuttgart 1983
Grof, S.: Die Topographie des Unbewussten. LSD im Dienst der
tiefenpsychologischen Forschung. Stuttgart 1983
Grof, S.: Geburt, Tod und Transzendenz. Neue Dimensionen in der Psychologie.
München 1985
Grof, S.: Das Abenteuer der Selbstentdeckung. Heilung durch veränderte
Bewusstseinszustände. München 1987
Grof, S.: Auf der Schwelle zum Leben. Die Geburt: Tor zur Transpersonalität und
Spiritualität. München 1989
Grof, S.: Spiriuelle Krisen. Chancen der Selbstfindung. München 1990
Hutterer-Krisch, R.: Psychotherapie mit psychotischen Menschen. Wien 1994
Laing, R.: Das geteilte Selbst. Eine existentielle Studie über geistige Gesundheit und
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Leuner, H.-C.: Halluzinogene. Psychische Grenzzustände in Forschung und
Psychotherapie. Bern 1981
Maharshi, R.: Gespräche des Weisen vom Berge Arunachala. Interlaken. 1993
Maslow, A.: Die umfassendere Reichweite der menschlichen Natur. Düsseldorf 1984
36
Perls, Frederick, S.: Gestalt-Therapie: Lebensfreude und Persönlichkeitsentfaltung.
Frederick, S. Perls; Ralph FF Hefferline; Paul Goodman. Stuttgart 1979
Perry, John Weir: Spirituelle Krisen und Erneuerung. Nachgedruckt aus Re-Vision,
8(2) 1986 in Grof, S.: Spirituelle Krisen. Chancen der Selbstfindung. München 1990,
S 102-118
Podvoll, Edward M.: Verlockung des Wahnsinns; therapeutische Wege aus entrückten
Welten. München 1994
Walsh, N. u. Vaughan, FF: Psychologie in der Wende. Grundlagen, Methoden und
Ziele in der transpersonalen Psychologie - eine Einführung in die Psychologie des
Neuen Bewusstseins. Bern 1985
Wilber, K.: Halbzeit der Evolution. Der Mensch auf dem Weg vom animalischen
zum kosmischen Bewusstsein. Eine interdisziplinäre Darstellung der Entwicklung des
menschlichen Geistes. Bern 1981
Wilber, K.: Das holographische Weltbild. Bern 1986
Wilber, K.: Die drei Augen der Erkenntnis. Auf dem Weg zu einem neuen
Weltbild. München 1988
Wilber, K.: Das Spektrum des Bewusstseins. Hamburg 1991
37
Transpersonales Containment in der Arbeit mit
Psychosen
In: Galuska, J.: Den Horizont erweitern. Die transpersonale Dimension in der Psychotherapie. S.154-181. Berlin, 2003
1.
Einleitung
Immer noch schwebt über von Psychose betroffen Menschen das Bild einer
unentrinnbaren, mit langsamer Verschlechterung einhergehender Krankheit, die auf
einem Defekt beruht, ob dieser nun biologisch genetisch oder psychopathologisch
strukturbedingt wäre.
Es gibt in den vergangenen Jahren aber auch Ansätze die eine Dynamik zwischen
Entwicklungsaspekten und Strukturproblematiken beschreiben und in denen dann
„Psychose als Konflikt“ (Mentzos 1997, Aderhold 1994) erscheint.
Ein transpersonales Verständnis von Psychose, wie ich es hier darzulegen versuche,
greift diesen Ansatz auf.
Darüber hinaus kann es aber unterscheiden, zwischen:
spirituellen Krisen,
die durch einen Entwicklungsschub hin zum transpersonalen Bewusstsein ausgelöst
werden und die möglicherweise präpersonale oder personale ungelöste ProblemZonen (COEX-Systeme, s.w.u.) enthalten, deren Problematik jedoch nicht in einer
präpersonalen Strukturschädigung liegt
und
psychotischen Prozessen,
die durch das Hervortreten neuer entwicklungsbedingter Identitäten manchmal zu
nicht bewältigbaren Herausforderungen und damit statt zu Integrations- zu
Desintegrationsvorgängen führen, in denen dann wiederum die vorhandenen
präpersonalen Strukturprobleme deutlich werden.
Während letzteres noch mit einem dynamischen Ansatz, wie z.B. bei Mentzos (1997)
und Aderhold (1994) erklärbar ist, droht dem Menschen in der spirituellen Krise
Unverständnis und Psychiatrisierung.
D.h. hier ist das transpersonale Verständnis des Therapeuten unabdingbar um zu
einem adäquaten Vorgehen zu gelangen.
1.1
Erstes Fallbeispiel
Ein ca. 45 jähriger Klient, der sich kürzlich bei mir vorgestellt hatte, kam mit der
Anfrage an einer selbsterfahrungsorientierten therapeutischen Gruppe teilzunehmen.
Vor ca. einem halben Jahr hatte er eine psychotische Episode durchlebt und
durchlitten, deren Nachklänge noch zu spüren waren.
Davor im Leben waren keine entsprechenden Störungen bekannt. Er war berufstätig
als Lehrer bis vor der Erkrankung und inzwischen auch wieder nach der Erkrankung.
38
Außer einem dünnen sozialen Netz, das schon mehrere Jahre ohne Partnerschaft
geblieben war, bedingt auch durch einen Umzug, war die starke Idealisierung des
Meditationslehrers aufgefallen.
Das Nachfragen ergab, dass er seit vielen Jahren aktiver Meditationsschüler war und
regelmäßig und auch intensiv Vipassana Meditation praktizierte. Gleichzeitig
berichtete er in diesem Vorgespräch aus seiner Lebensgeschichte, im Alter von
Anfang 20 ein schweres Trauma erlebt zu haben. In der Psychose seien regelrecht
körperliche Eindrücke aus diesem Trauma aktualisiert in seiner sinnlichen
Wahrnehmung erschienen - und damit wie eine unmittelbar realistische
Wiederholung des Traumas.
In dem hier gemeinten Verständnis der Situation des Patienten entstand der
Eindruck, dass durch die Meditationspraxis von ihm eine Bewusstseinsentwicklung
angestrebt wurde und hierbei das in der Psyche enthaltene Trauma nach außen
gelangte, im Sinne von Läuterung und Reinigung, was jedoch mit den vorhandenen
Möglichkeiten der Persönlichkeit zu diesem Zeitpunkt nicht aushaltbar war. Das heißt
die angestrebte Bewusstseinsentwicklung kollidierte mit einer Problemzone, in der
ein Trauma enthalten war und einer zu vermutenden Strukturschwäche (starke
Idealisierung des Meditationslehrers).
Hier gäbe es nun also eine Vielzahl von Fallen, in die man als Therapeut gehen
könnte.
Zum Beispiel könnte man die Meditationspraxis der Psychose Auslösung bezichtigen,
was, wie ich es in anderen Fällen schon erlebt habe, dazu führen könnte, dass
Ärzte/Therapeuten der Patientin nahe legen würden, die Meditation überhaupt
aufzugeben. Oder die Schizophreniediagnose würde so sehr im Vordergrund stehen
und das würde zu einer länger andauernden medikamentösen Behandlung führen,
ohne, dass die Inhalte näher beleuchtet werden würden.
Auch könnte man als Therapeut befürchten, eine erlebnisorientierte Gruppe würde
die Psychose reaktivieren.
Oft stehen die Klienten in der postpsychotischen meist depressiven Phase noch stark
unter dem Eindruck des existenziell erschütternden Erlebens der Psychose-Erfahrung.
Fragen, wie „was ist mit mir geschehen?
Wird das wiederkommen?
Womit hängt das zusammen?
Was hat das mit mir zu tun?
Wie lange muss ich die Medikamente nehmen?“
sind dann sehr drängend.
Während der akuten klinischen Behandlung stand die psychotische Symptomatik und
deren medikamentöse Behandlungen meist so sehr im Vordergrund, dass wenig Zeit
blieb lebensgeschichtliche und persönliche Zusammenhänge tiefer zu beleuchten und
die akute Phase ist auch noch nicht der geeignete Zeitpunkt, diese Fragen zu
beantworten.
Die psychotherapeutischen Maßnahmen, wenn sie denn während einer
Erstmanifestation stationär ergriffen werden, sind meist stützend und die
Persönlichkeit stärkend und heute in einem sogenannten psychoedukativen Sinne, d.
39
h. über die Erkrankung aufklärend, frühe Symptome beschreibend und erkennen
helfend, die Angehörigen beratend und eine gegebenenfalls längerfristige
medikamentöse Behandlung und psychotherapeutische Maßnahmen vorbereitend.
Sicher erfolgt heutzutage nach einer gelungenen Remission während der klinischen
Behandlung die Überweisung an einen niedergelassenen Psychiater und auch zumeist
die Empfehlung, ambulant eine Psychotherapie aufzunehmen (Finzen 2001).
Wenn die Patienten im weiteren Verlaufe wieder zu einem wesentlichen Teil zu ihrer
Persönlichkeit vor der psychotischen Krise zurückgekehrt sind, können wir eine viel
genauere Einschätzung der Persönlichkeitsentwicklung bis hin zur Krise vornehmen.
Und differenziertere Persönlichkeitsentwicklungen vor der Krise erlauben ein
wesentlich anderes psychotherapeutisches Vorgehen in der Zeit nach der Krise, wenn
ausreichende Stabilisierung der Ausgangspersönlichkeit wieder erreicht ist. Die dann
zur Verfügung stehenden Ressourcen der Ausgangspersönlichkeit können und sollten
im therapeutischen Prozess intensiv genutzt werden. Hier könnten stationäre und
ambulante psychotherapeutische Angebote, die diesen transpersonalen Ansatz zur
Verfügung stellen, äußerst hilfreich sein.
Auch könnte am Ende eines ersten akuten klinischen Aufenthaltes eine tiefgehende
Aufklärung über die zur Verfügung stehenden therapeutischen Möglichkeiten
geschehen, welche die vorhandenen Ressourcen des Patienten nutzen.
Diese Aufklärung könnte in einem transpersonalen Verständnis bei genauer
Erforschung der Ausgangssituation gut herausarbeiten, ob wie im nachfolgenden
Fallbeispiel eine spirituelle Krise vorlag und dann geeignete Angebote machen, die
z.B. die Meditationspraxis des Klienten miteinbeziehen.
Auch könnten bei ausreichender Differenzierung der Persönlichkeit vor der Krise
gruppentherapeutische Angebote in erlebnisorientierten Selbsterfahrungsgruppen
durchaus hilfreich sein, wenn die Therapeuten sich das zutrauen, während
schwierigere Strukturproblematiken der Klienten wie z. B. die Struktur einer
Borderlinepersönlichkeit besondere therapeutische Situationen und Maßnahmen der
Strukturbildung erforderlich machen. Hier sind dann viel eher Nachreifungsprozesse
in entsprechenden ambulanten oder stationären Einzel- oder Gruppensituationen
gefragt und/oder gegebenenfalls sozialpsychiatrische Betreuungsmaßnahmen.
1.2
Zweites Fallbeispiel
Ein zu diesem Zeitpunkt 40-jährige Frau litt unter starken Ängsten und enormen
Gefühlsschwankungen, bzw. traten Gefühle auf, die sie in solcher Intensität gar nicht
kannte. Z. B. musste sie aus unerklärlichen Gründen anhaltend und heftig weinen.
Sie litt an Schlafstörungen und Erschöpfung und war zu dieser Zeit arbeitsunfähig.
Da auch Suizidgedanken vorhanden waren, bot sie psychiatrisch das Bild einer
akuten schweren depressiven Phase, die durchaus von einer präpsychotischen
Situation differentialdiagnostisch abzugrenzen war. Psychiatrisch hätte man sicherlich
medikamentös, wenn nicht sogar stationär behandelt.
Anamnestisch war beachtenswert, dass diese Klientin seit etlichen Jahren in einer
sehr befriedigenden, liebevollen Beziehung lebte, lediglich mit ihrem Arbeitsplatz war
sie nicht mehr einverstanden, was aber die Heftigkeit der Symptome so nicht
plausibel erklärte, zumal sie diese Arbeit bisher sehr kompetent gemacht hatte. An
eine durch sog. „burn-out“ verursachte Depression hätte man noch gedacht, aber
40
auch in dieser Hinsicht war zu eruieren, dass sie besser für sich sorgen konnte als
manch’ andere Lehrerin.
Die Erklärung dieser heftigen Krise ergab sich auf dem Hintergrund, dass sie seit
ihrem 16-ten!! Lebensjahr intensiv meditierte, einschließlich mit den in ihrer
Meditationsschule möglichen fortgeschrittenen Übungsweisen. Diese Praxis hatte sie
langsam aber beständig aus dem personalen Bewusstsein hinausgeführt. Sie befand
sich in einer Emergenzsituation hin zum transpersonalen Bewusstsein.
Nachdem wir das so benannt und in aller Ausführlichkeit besprochen hatten und sie
dies auch entsprechend verstanden hatte, löste sich die Angst vor der Veränderung
und sie konnte sich mit ihren neuen Bewusstseinsprozessen langsam anfreunden. Z.
B. wurde ihr dadurch klar, wie sehr sie in dieser Öffnung in Resonanzen schwieriger
Schüler geraten war. Da ihr die bisherige Arbeit nicht mehr gefiel, bewarb sie sich
auf verschiedene Stellenangebote und wurde bei einem sehr attraktiven Arbeitgeber
unter 400 Bewerbern nach sehr intensiven Auswahlgesprächen ausgewählt. Hier
wurde die progressive Dynamik des Prozesses besonders deutlich, da jeder
Desintegrationsprozess in dieser anspruchsvollen Bewerbungssituation aufgefallen
wäre.
Meditation ist hier also nicht eine „dubiose esoterische Freizeitgestaltung“, die auch
Psychosen oder Depressionen verursachen kann, sondern eine ernsthaft betriebene
spirituelle Praxis und Suche nach tieferen Bewusstseinsräumen. Das Hervortreten
(Emergenz) dieser tieferen Bewusstseinsräume wird angestrebt. Dabei kann es
offenbar auch zu Notfallsituationen im Bewusstsein kommen (Emergencies), die
durch das Betreten des neuen unbekannten Terrains und /oder durch das in
Erscheinung treten alter ungelöster Problemzonen bedingt sind.
Wir brauchen hier also zum einen ein Verständnis des Emergenzbegriffes und der
damit verbundenen Fragestellung ‚was hervortreten wollte’ und zum anderen ein
Verständnis der damit verbundenen kritischen Bewusstseinssituationen, eine
Landkarte, die uns Anhalte gibt, wo sich der Klient in seinem Bewusstsein zwischen
Progression und Regression aufhält:
Um besser zu verstehen, wo sich ein Mensch in einer Notfallsituation (Emergency)
des Bewusstseins aufhält, wenn er desintegriert, beziehe ich mich hier auf einen
Aufsatz von Helmut Pauls (1994) über die frühen prä-ichhaften Selbstentwicklungen,
die er mit dem Begriff des „inneren Kindes“ zusammenfasst und auf die
Beschreibungen der Bewusstseinsräume der perinatalen Matrizes nach S. Grof, die
ich zu diesem Thema an anderer Stelle schon ausführlich zitiert habe (1991).
1. Helmut Pauls Begriff des „inneren Kindes“
Pauls unterscheidet vier Selbsterfahrungsbereiche,
das
das
das
das
Traum-Selbst (vorgeburtlich bis zum Alter von ungefähr 2-3 Monaten),
Kernselbst (2 bis 6 bzw. 9 Monaten),
subjektive/affektive Selbst (9 bis 18 Monaten) und
sprachliche Selbst (15 bis 18 Monaten),
welche die der jeweiligen Qualität entsprechenden grundlegenden frühesten
41
Erfahrungen zusammenfassen. Diese von Pauls dargestellten
Selbsterfahrungsbereiche können wir im Wilberschen Sinne als Holone begreifen und
zwar als die Subholone des späteren Ichs. Und eben in diesem Sinne bleiben alle
diese Subholone erhalten und differenzieren sich im Laufe des Lebens weiter. Auch
behalten sie ihre spezifischen Qualitäten. D.h. auch der erwachsene Mensch hat ein
Traumselbst, Kernselbst usw. Und genau diese Selbsterfahrungsbereiche tauchen als
Subholone des Ichs bei Desintegrationsvorgängen des Ichs wieder auf.
Selbsterfahrungen sind in dieser Darlegung die grundlegendsten Begegnungen /
Berührungen mit der Welt. Sie sind auch noch nicht der Bewusstheit zugängig,
sondern zunächst einmal lediglich Erfahrungsansammlungen. Grundlegend jedoch ist,
dass jegliche Erfahrung ein Gegenüber braucht, so dass die Grundbausteine der
werdenden Entwicklung Kontakterfahrungen, Beziehungserfahrungen sind. Und so
wie unser Organismus in seinem Wachstum verschiedene Erfahrungsmöglichkeiten
entfaltet, benötigt er zum Vollzug der Erfahrung ein spezifisches Gegenüber. D.h.,
dass Selbst immer im Kontakt geschieht. Selbst ist also immer Resultat von
Begegnung.
Die Qualität dieser Beziehungserfahrungen bedingt wesentlich das, was ich hier unter
Containment verstehe und zwar die Fähigkeit der Persönlichkeit eine Erfahrung mit
den innerlich vorhandenen oder sozial verfügbaren Möglichkeiten persönlich erleben
und dabei die kollektive Übereinstimmung der Sinnesdaten wahren zu können.
1.1 Das Traumselbst und die holotrope Wahrnehmung nach Grof
Dies entspricht ganz der perinatalen Matrix I von Grof und hat entsprechend als
Kontaktfläche den physischen - oder später dann den sozialen Uterus der Familie.
Letzteren benötigt das Kind, wie wir wissen noch bis zu seinem 3-ten LJ, bevor es
seine psychische Geburt vollzogen hat, welche dann einen Ich-Fokus als Struktur im
Bewusstsein hervorgebracht hat.
Das Traum-Selbst ist das auftauchende Selbst, das langsam sich in der Welt
einfindende Selbst. Dazu ist der Uterus offensichtlich das geeignete Gegenüber. Das
ist also eine klare Gemeinsamkeit mit dem Grofschen Model der perinatalen Matrizes,
hier insbesondere der perinatalen Matrix I. Das aus Grofs Ausführungen wesentlich
beizusteuernde ist die in diesem Selbsterfahrungsbereich dominierende
traumähnliche Wahrnehmungsqualität, von Grof als holotrope Wahrnehmung
beschrieben. Das ist deswegen so außerordentlich bedeutend, weil dadurch die in
psychotisch verändertem Bewusstsein erscheinende Wahrnehmungsqualität ihre
Erklärung findet.
Der Unterschied zu Grof ist die fortbestehende Differenzierung dieses Selbstanteils im
Verlauf des weiteren Lebens.
Wir können hier nun leicht nachvollziehen, dass Desintegrationsvorgänge, die diese
Ebene zum Vorschein bringen, der holotropen, traumähnlichen Wahrnehmung folgen
und mit Erfahrungen, wie bei Grof beschrieben einhergehen können, und damit den
dort auch beschriebenen Desintegrationsmustern gleichen, die sich klinisch als
verschiedene psychotische Phänomene manifestieren können (Grof 1985).
2.2
das Kernselbst....
42
...stellt in dieser Beschreibung die Verankerung des Kindes im eigenen Körper da. Da
es diese Erfahrung natürlich mit einem Gegenüber macht, entsteht entsprechend ein
„Kern-Anderer“.
Und wir sehen auch hier wieder, dass bei der Bildung dieser Kernselbsterfahrung, die
primären Bezugspersonen in den Erfahrungen mit enthalten sind.
Dieser Kern-Andere ist es, der in invasiven, traumatischen Erfahrungen dieser
Entwicklungszeit dann als Verfolger in einer paranoiden Symptomatik auftauchen
kann, von dem man sich dann nicht unterscheiden kann, wenn es auflösungsbedingt
keine unterscheidungsfähige Instanz (Ich) gibt.
2.3
die Entwicklung des subjektiven/affektiven Selbst ...
...des inneren Kindes ist die Erfahrungszeit die in der Mahler’schen Darlegung (1980)
die Zeit des Ausschlüpfens aus der Symbiose meint. Das ist die Zeit in der das Kind
seine subjektive Affektivität zu entwickeln beginnt. Das Kind reagiert jetzt mit
spezifischen, eigenen Gefühlen auf die Gefühle der Umgebung. Wie wesentlich diese
frühen Selbsterfahrungen sind, wissen wir aus den Beschreibungen über das
Borderlinesyndrom, weil hier grundlegende existentielle Gefühlsmissverständnisse
und damit projektive Missdeutungen menschlicher Begegnungen geprägt worden
sind.
2.4
Das sprachliche Selbst...
... nach Pauls beschreibt das Herauswachsen aus den vorsprachlichen, intuitiven,
körperlichen und emotionalen Erfahrungen, die nun durch die Reifung des
Organismus in Sprache übersetzt werden können. D.h. es werden nun wiederum
qualitativ neue Kontakterfahrungen möglich. Und hier ist die Verbindung der Sprache
mit den vorangegangen Bereichen das Wesentliche. Pathologien zeigen sich in einer
vom Körper oder von den Gefühlen losgelösten Sprache. Pauls meint, dass
Problemzonen aus diesen Feldern in schweren Depressionen auffindbar sind.
Aber auch in psychotischen Desintegrationen kann man die Unverbundenheit der
Sprache mit den vorangegangen Selbstbereichen beobachten und der
psychoanalytische Begriff des „falschen Selbst“ findet hier seine Erklärung, wenn die
vorangegangenen Selbsterfahrungen nun nicht durch die Sprache adäquat
repräsentiert werden.
2.5
Bildung des Ich als emergierendes Holon
Der zuletzt beschriebene Abschnitt der Selbstentwicklung entspricht am ehesten der
Herausbildung des Ichs nach Mahler.
Vergleicht man nun diese Beschreibung von Pauls mit der klassischen Beschreibung
von M. Mahler, so ergeben sich weitgehende Übereinstimmungen in der
Beschreibung der Selbsterfahrungsansammlungen, die das Kind zu bestimmten
Zeiten macht, jedoch bleiben diese Selbstqualitäten, wie von Pauls beschrieben, als
Subholone weiterhin im Lebenslauf existent und werden nicht als Phasen betrachtet,
die dann abgeschlossen, wie im analytischen Modell, ein für alle mal vorbei sind. Das
„innere Kind“ als Metapher dieser Subholone des Ichs bleibt ein Leben lang eine
43
wichtige innere Quelle, gespeist aus den verschieden Selbstqualitäten, auf denen die
Ich-Bewusstheit gründet und deren Essenz in der Gestaltbildung aus den verschieden
Subholonen heraus begründetet ist, also mehr ist als die Summe der Subholone.
Dabei können wir uns jetzt vorstellen, dass sowohl die oben aufgeführten einzelnen
Selbstbereiche als Subholone des emergierenden Ich's spezifische Qualitäten wie
oben aufgeführt besitzen, dass aber insbesondere das integrative Zusammenspiel
dieser Selbstqualitäten bei der Hervorbringung eines gesunden Ich's entscheidend
ist.
2.6
Abwehrvorgänge
Und wir können nunmehr verstehen, dass bei Desintegrationsvorgängen, die das Ich
auflösen diese Selbsterfahrungsbereiche, als Subholone incl. der in ihnen enthalten
Problemzonen im Bewusstsein wieder in Erscheinung treten.
Bekannter Weise erzeugt dies z. B. das Phänomen der Spaltungen und/oder
Fragmentierungen, bei dem ganze Bereiche wie nicht zur Person gehörig erlebt und
weg projiziert werden. Diese Abwehrformen sind also nicht ichhaft, wenn die
Desintegration das Ich weitgehend außer Funktion gesetzt hat und daher nunmehr
die nicht integrierten Subholone des Ichs agieren.
Das finden wir z. B. bei einer Borderline-Symptomatik (Stauss 1993).
Ein wesentliches Merkmal der präichhaften Abwehrvorgänge ist, wie aus dem Prinzip
Abb.1
der Selbsterfahrungsbereiche (Traum-, Kern-, subjektives-, sprachliches Selbst und
perinatalen Matrizes) hervorgeht, die darin enthaltene spezifische Qualität der
dortigen, damaligen Wahrnehmung und die darin erlebte Gestalt des Gegenübers
dieser Erfahrung, also u. U. des Aggressors. Davon kann sich der Betroffene bei
Desintegrationsvorgängen, die auf diese Ebene führen nicht unterscheiden, denn
dafür bräuchte man ja ein Ich das sagt, „das bin ich und das bin ich nicht.“
44
D.h. ohne die Identifikationsmöglichkeiten des Ichs ergibt sich eine szenische
Darstellung der frühen Selbsterfahrungen, allerdings in der Psychose dann
traumähnlich/holotrop verfremdet und verdichtet. Und aus der
Borderlinebehandlung ist uns bekannt, wie wir als Therapeuten durch den
Mechanismus der projektiven Identifikation des Klienten ziemlich genau in die
Aggressorposition gedrängt werden (s. w. u.) können.
Abb. 2
Inneres Gegenüber der nicht
integrierten frühen Selbsterfahrung
der innere Anteil der frühen Selbsterfahrung
wird auf den/die Therapeuten projiziert.
Prinzipiell kann aber jedes Fragment in einem Desintegrationsprozess projiziert
werden und damit können in einem Team ganz unterschiedliche, sich auch z. T.
widersprechende Wahrnehmungen eines Menschen, der sich in einer Spaltung oder
Fragmentierung befindet, möglich sein. Dann müssen die unterschiedlichen
Wahrnehmungen dieses Menschen zusammengetragen und zusammengesetzt
werden und es darf nicht darum gestritten werden, wessen Wahrnehmung die
richtigere ist.
Abb. 3
45
2. Psychose als versuchte Emergenz
In der weiteren Persönlichkeitsentwicklung werden nun immer neue Identitätsfelder
auftauchen, wobei dem Ich die Aufgabe zukommt, diese zu organisieren und in die
Persönlichkeit zu integrieren.
Wenn wir uns nun die Emergenz eines neuen Identitätsfeldes in der
Persönlichkeitsentwicklung in einem Zeitablauf vorstellen, so müssen in diesem
Zeitintervall bisherige Ich-Konzepte losgelassen und neue, der emergierenden Gestalt
entsprechende Konzepte aufgenommen werden.
Diese neue auftauchende Gestalt und ihr Bezug in allen vier Holonquadranten ist
also die zu integrierende Erfahrung.
Insbesondere an den Knotenpunkten der Entwicklung, wie in der Adoleszenz
(Dörner, Plog 1996) werden in diesem Sinne starke Anforderungen an die
Integrationsfähigkeit gestellt.
Der Vorgang des Loslassens alter und des Aufnehmens neuer Identitätskonzepte ist
einem Sterben von etwas Altem und mit dem Geborenwerden von etwas Neuem
assoziiert und kann daher entsprechend frühe Selbsterfahrungen mit den darin
enthaltenen Problemzonen, des Traum-, Kern-, subjektiven-, sprachlichen Selbst
nach Pauls und/oder der perinatalen Matrizes aktivieren, - also die COEX-Systeme im
Grofschen Sinne, Systeme verdichteter Erfahrungen -, (1983, 1985, 1987).
S. Grof hat insbesondere in seinem Buch Geburt, Tod und Transzendenz (1985)
ausführlich dargestellt, wie durch die Wirkung der COEX-Ssysteme tief innen
gelegene Gestalten des Bewusstseins nach außen dringen können und hat durch die
Systematik der perinatalen Matrizes und der transpersonalen Felder die Möglichkeit
eröffnet, zu verstehen, woher diese Gestalten stammen und wie man diese Tiefe in
Selbsterfahrungsprozessen bewusst kennen lernen kann.
46
Erst wenn der Persönlichkeit hinsichtlich einer zu integrierenden Erfahrung gänzlich
Containment fehlt, oder so sehr mangelt, dass die von innen kommenden Gestalten
das Wachbewusstsein überfluten und die Abwehrmöglichkeiten des Ichs überfordern,
durchmischen sich innere und äussere Wahrnehmungsmodalitäten
(hylotrop/holotrop) und wirken in den sozialen Alltag hinein. Das zeigt sich dann als
psychotische Desintegration.
Traumähnliche Überdeutung der sinnlichen Wahrnehmung geschieht dann und die
kollektive Übereinstimmung der Interpretation der Sinnesdaten wird verlassen. Eine
höchstpersönliche (narzisstische) Interpretation der Sinnesdaten, vermischt mit einer
großen Rezeptivität für die Informationen des kollektiven Unbewussten und eigener
frühester Selbsterfahrungen und der darin enthaltenen Problemzonen ist die Folge.
Die Wahrnehmung wird holotrop dominiert.
Der Betroffene (alb)träumt sozusagen im Wachzustand. Dies entspräche der
vollständigen Auflösung des Ich’s.
Hier enden die Möglichkeiten der ambulanten Betreuung und der Betroffene benötigt
jetzt die bergende, haltende Atmosphäre, die Präsenz (Dabei-Sein) von
Begleitpersonen, wie dies z. B. in der Soteriakonzeption (Ciompi u.a. 2001)
verwirklicht wurde.
3.1
Betrachtung der Desintegration von verschieden Strukturebenen aus und
therapeutische Konsequenzen
Bei Schwierigkeiten des Integrationsvermögens kann von jeder der bis zu diesem
Zeitpunkt erreichten Strukturebenen aus die Desintegration bis zur Ich-Auflösung hin
erfolgen. Psychose ist also nicht gleichzusetzen mit bestimmter frühkindlicher
Strukturstörung, sondern entspricht vielmehr einer Dynamik zwischen
Herausforderung und Tragfähigkeit des gesamten Holons, also der bestehenden
inneren und äußeren Strukturen der betroffenen Person.
Das scheint mir klinisch besonders relevant, da in der späteren Behandlung die
Ausgangspersönlichkeit und deren erreichtes Strukturniveau bei der Wahl des
therapeutischen Vorgehens von entscheidender Bedeutung ist und hier in der
psychiatrischen Behandlung im Krankenhaus, aber auch ambulant fast überhaupt
keine Differenzierungen gemacht werden und dadurch große Ressourcen der
Rehabilitation ungenutzt bleiben. Beispielsweise könnten Menschen mit gut
integrierter Ausgangspersönlichkeit vor der psychotischen Krise viel mehr mit
selbsterfahrungsorientierten therapeutischen Methoden arbeiten als dies derzeit in
der Psychiatrie der Fall ist. Hier wird noch durch eine diagnostische
Undifferenziertheit eine (psycho)therapeutische Zurückhaltung geübt, die eher auf
Unkenntnis, denn auf Einsicht beruht.
Am einen Ende der Spannbreite steht so die Krise, die wir ganz als spirituelle Krise
wahrnehmen können und die nach erfolgter Integration, spontan oder mit
therapeutischer Hilfe eine gereifte Person und ein erweitertes Bewusstsein
hervorbringt, eine Emergenz eben. Auf der anderen Seite dieser Spannbreite erleben
47
Menschen mit schon schweren Strukturstörungen eine solche Krise und brauchen
dann ganz andere therapeutische Hilfen. Dazwischen gibt es viele Übergänge, wie im
folgenden Beispiel:
3.2
Drittes Fallbeispiel
Dieser Klient kam im Alter von 20 Jahren zu mir. Als ich ihn kennen lernte war er in
seiner Erscheinung ein „Jüngling“. Noch wenig Interesse für das andere Geschlecht.
Er war sehr intellektuell, viel Kopf, wenig Gefühl, aber voller Phantasien. Er kannte
weniger Grimms Märchen, dafür aber alle Episoden von „Starwars“. „Ich bin ein Kind
der Fernsehgeneration“, war seine Selbsteinschätzung.
Er hatte ein ungewöhnliches Schüleraustauschjahr in einem außereuropäischen Land
gemacht. Dort hatte er sich mit Buddhismus und Meditation befasst, wäre fast in
einen Mönchsorden eingetreten. Nach seiner Rückkehr hatte er nicht mehr richtig
Fuß in seiner Peer-group gefasst.
2 Jahre bevor er in dieses Austauschjahr gegangen war, hatten sich seine Eltern
getrennt. Der Vater hatte seinen Beruf aufgegeben, die Mutter war eine erfolgreiche
Geschäftsfrau. Er lebte beim Vater, auch nach seiner Rückkehr. Der Vater kam mit
dem Cannabiskonsum des Sohnes überhaupt nicht klar, so dass das Misstrauen
zwischen den beiden sehr stark wurde. Obwohl der Sohn nach der ersten Psychose
keinerlei Cannabis oder andere Drogen konsumierte, blieb das Verhältnis zum Vater
misstrauisch angespannt. Während der „Abiturspsychose“ zog er in die Nähe der
Mutter, - weg vom Vater.
Mit 18 Jahren, hatte er cannabisinduziert eine erste paranoid-halluzinatorische
Psychose durchlebt mit 6-wöchigem stationären Aufenthalt und anschließender
Betreuung durch die Klinikambulanz. Er nahm zu diesem Zeitpunkt Neuroleptika. Ein
erster Reduktionsversuch kurz vor seinem schriftlichen Abitur führte ca. 2 Monate vor
dem mündlichen Abitur zu einer 2-ten psychotischen Episode, die aber ambulant und
unter erneuter Neuroleptikamedikation und großem Einsatz der Angehörigen
bewältigt wurde. Da er unbedingt zu seiner mündlichen Abitursprüfung erscheinen
musste, um das Abitur zu erhalten, wurde mit vereinten Kräften, insbesondere der
einfühlsamen Mitwirkung der Schule eine Situation kreiert, die es ihm erlaubte, trotz
psychotisch verändertem Bewusstsein, seine mündliche Prüfung abzulegen.
Die nächste Krise kam wiederum ca. 1,5 Jahre später, wurde wiederum ambulant
aufgefangen und brachte dieses Mal einen affektiven Durchbruch. Viele Gefühle
kamen erstmals zum Vorschein, Tränen flossen und Wut kam zum Ausdruck. Wir
organisierten in dieser Phase eine Betreuung in einer für Krisen geeigneten
Wohnung, von wo aus er dann in eine eigene Wohnung, also weg von den Eltern
zog.
In einem Traum aus dieser Phase zeigte sich die ganze männliche
Identitätsproblematik:
„ Eine große Berliner Allee ist rechts und links voller Kreuze, an denen Männer wie
Petrus Kopf unter gekreuzigt sind, auch mein Vater. Ein Kreuz ist frei und ich soll auf
diesen Platz.“
48
Nach dieser psychotischen Episode konnte er Beziehungen zu Frauen seines Alters
eingehen und fand nach einigen Begegnungen eine feste Partnerschaft zu einer für
ihn sehr verständnisvollen Frau. Diese Partnerschaft hält bis in die Gegenwart an.
Mittlerweile studierte er und eine Zwischenprüfung stand bevor. Darauf zugehend
schlitterte er unaufhaltsam in die nächste psychotische Episode. Keine
Medikamentenerhöhung seitens des mitbehandelnden Psychiaters, keine
therapeutische Intervention half. Die Krise wurde sehr heftig und ein stationärer
Aufenthalt immer notwendiger. In der Deutlichkeit der bevorstehenden
Klinikaufnahme unternahm er einen Suizidversuch mit Tabletten.
„ Dies war ein deutliches Signal meiner Hilflosigkeit, war allerdings nicht als
Suizidversuch gedacht, sondern als Schocktherapie für meine Eltern. Dass dies
tödlich hätte enden können, war mir zu diesem Zeitpunkt nicht vollkommen bewusst,
da ich bereits geistig verwirrt war. Direkt vor der Aufnahme ins Krankenhaus, sagte
meine Mutter vehement, wenn ich dies als Suizidversuch der Notärztin gegenüber
schildern sollte, wäre der zukünftige Behandlungsverlauf wesentlich heftiger. Bereits
am kommenden Morgen äußerte ich meiner Partnerin gegenüber den Wunsch, mit
ihr gemeinsam ein Kind bekommen zu wollen. Nicht vergessen werden sollte, dass
die Motivation für die Überdosis eine innere Stimme war, die ich mit der Autorität des
behandelnden Psychiaters gleichgesetzt hatte.“
Es wurde ein mehrmonatiger stationärer und anschließender tagesklinischer
Aufenthalt. Fast schienen wir den Kontakt zu verlieren. Er schien auch enttäuscht,
dass die Therapie ihn nicht besser vor der Psychose geschützt hatte. Ich hörte von
seiner lang andauernden postpsychotischen Depression. Dann kam er wieder zur
Therapie, noch sehr deprimiert, ohne Selbstwert, wieder die Stimmen, die ihn
verächtlich beschimpften im Kopf, aber etwas war geschehen: Seine Freundin war
schwanger und beide hatten sich entschieden, das Kind zu wollen und die jeweiligen
Eltern unterstützen diesen Wunsch.
Unsere neue Therapiephase nach dieser psychotischen Episode und diesem für ihn
bislang längsten Klinikaufenthalt war also eine Geburtsvorbereitung und ein
Herausarbeiten aus der Depression, schließlich auch die Wiederaufnahme des
Studiums, was zwischenzeitlich völlig unmöglich erschienen war.
Inzwischen ist das Kind längst da und mein Klient kann seine Vaterrolle für seine
Verhältnisse ganz gut wahrnehmen. Außerdem gibt es viel Unterstützung der
gesamten Familie für das junge Paar.
Aus dem anfänglichen Jüngling ist inzwischen also ein Vater geworden. Vor kurzem
hat er die oben erwähnte Zwischenprüfung mit einigem Schlingern seines
Bewusstseins bestanden. Und wir haben noch einen weiten Weg in der Therapie vor
uns...
Also kann man eine Einteilung nach verschieden Strukturebenen erwägen und
hieraus völlig unterschiedliche therapeutische Vorgehensweisen in der Aufarbeitung
einer Psychoseerfahrung ableiten. Das hat Volkmar Aderhold(1994) in seiner
Dissertation beschrieben, dem ich mich hier anschließe:
"Grundsätzlich lassen sich so m. E. vier verschiedene Weisen der Verarbeitung von
Verrücktheit unterscheiden:
49
A.
Menschen mit ausreichendem innerem Containment, die den schizophrenen Prozess
auch unter mäßig günstigen, nicht-therapeutischen Bedingungen fruchtbar
durchleben können. Sie zeigen eine sog. Spontanremission der schizophrenen
Symptomatik auch ohne therapeutische Begleitung.“
Das entspräche der Identifikation mit dem eigenen Prozess, der darin enthaltenen
Selbsterfahrung, dem eigenen Schicksal, also einer guten personaler Struktur. In der
Emergenzsituation könnte das auch eine spirituelle Krise mit einem Durchbruch zum
transpersonalen Bewusstsein sein, wie im Fallbeispiel 2. Solche Menschen sind
prinzipiell befähigt, andere in einem existentiell erschütterten Prozess zu begleiten!!
B.
„Menschen mit unzureichendem Selbstcontainment, das jedoch durch eine
Prozessbegleitung so weit substituiert werden kann, so dass es ebenfalls zu einer
Remission oder (partiellen) positiven Transformation kommt.“
D.h. die Containment-Voraussetzungen vor dem Wandlungsereignis, welches zur
Psychose führte, waren entsprechend schwächer. Dies entspräche vielleicht einer vor
der existentiellen Krise erreichten präpersonalen bis personalen Struktur.
Von hier an muss nun die therapeutische Begleitperson in die inneren
Wahrnehmungsmodalitäten mit eintauchen können, um den Kontaktfaden nicht
reißen zu lassen. (Fallbeispiel 1)
C.
„Menschen, bei denen ein spezifischer therapeutischer Umgang erforderlich ist, um
entweder den Gestalt-Werde-Aspekt oder den Energetisierungsaspekt des
psychotischen Geschehens zu fördern. Bei diesen Menschen ist mit einem positiven
Ausgang nur zu rechnen, wenn sie eine über das `being-with (Dabei-Sein)'
hinausgehende therapeutische Begleitung erfahren. Welcher therapeutische Umgang,
welche therapeutischen Medien und Techniken dabei sinnvoll sind, ist weitestgehend
noch eine Forschungsfrage.“
D.h. die Containment-Voraussetzungen vor dem Wandlungsereignis, welches zur
Psychose führte, waren entsprechend kaum vorhanden. Das entspräche vielleicht
einer problematischen vorichhaften Struktur, wie bei einer narzisstischen Problematik
(Fallbeispiel 3) oder einem Borderlinesyndrom.
D.
Schizophrene Menschen, die mit all diesen unterstützenden therapeutischen
Angeboten trotz allem kein ausreichendes Containment für den psychotischen
Prozess entwickeln können, so dass es zu einer weiteren kumulativen
Traumatisierung - sowohl psychisch als auch physisch – kommt und die psychotische
Krise als unüberwindliche Katastrophe erlebt wird, die eine verbrannte
Seelenlandschaft zurücklässt."
50
Als Integrations-Voraussetzungen lassen sich demnach beschreiben:
·
die Integrationsfähigkeit (Strukturniveau) der Person hier und jetzt,
·
die Rahmenbedingungen (kollektive Wertvorstellungen), in denen die kritische
Bewusstseinsveränderung erlebt wird,
·
die Wertvorstellungen des individuellen Gegenüber, auf die der/die
(Psychose)- Betroffene im Kontakt trifft.
·
Zusammengefasst also das Containment des Holons, das die Person zu diesem
Zeitpunkt ist.
3. 3
praktische Arbeit in der Einzeltherapie
In der Einzeltherapie mit Psychoseerfahrenen richtet sich das therapeutische
Vorgehen natürlich ebenso wie in einer Teamsituation in der Klinik ganz nach der
Struktursituation des Klienten und nach der jeweiligen Phase im Psychoseverlauf, nur
dass hier der Therapeut zunächst alleine das Containment für den jeweiligen
Desorganisationsprozess des Klienten aufbringen muss.
D.h. in einer Anfangsphase der psychotherapeutischen Arbeit erfolgt eine Klärung der
Containmentmöglichkeiten, der Strukturvoraussetzungen des Klienten.
·
Wie gut ist der Klient in seinem Körpergewahrsein verankert?
·
Wie nimmt der Klient seine Gefühle war und wie kann er sie ausdrücken?
·
Wie differenziert kann der Klient seinen geistigen Prozess beobachten? Wie
nimmt er seine Träume war und versteht sie?
·
Findet der Klient eine Zeugenposition im meditativen Sinne in seinem
Bewusstsein?
·
Welche spirituellen Entwicklungen und Verwicklungen liegen zum gegebenen
Zeitpunkt vor?
Letztlich wird unser Ziel natürlich sein, den Klienten in die Lage zu versetzen, die
Zonen in seinem Bewusstsein zu erkennen, von denen der psychotische Prozess
jeweils ausgeht. Nur dazu müssen natürlich die Grundlagen geschaffen werden. Und
der zuletzt geschilderte junge Mann musste zunächst einmal in seinem Körper und in
seinen Gefühlen ankommen, um zu verstehen, welche Kräfte ansonsten seinen Geist
bedrängen, wenn sie nicht körperlich, emotional leben können, sondern sich nur in
seinen Größen- oder Minderwertigkeitsphantasien austoben können.
Ich gehe dabei so vor, dass ich meinen Klienten den zu erlernenden Prozess wie auf
einer Landkarte erkläre und dann mit ihnen anhand ihrer Alltagserfahrungen diese
Landkarte verifiziere. Oft ist es einem Supervisionsprozess ähnlich, bei dem man
51
zunächst etwas sichtbar macht, gründlich darüber redet, entängstigend einwirkt,
weniger interveniert.
Wenn Strukturarbeit zu leisten ist, muss ich in diesem Bereich verharren, die
Resonanzen aushalten, bis sie geklärt, d.h. benannt und von meiner Person abgelöst
sind; bis ich also nicht mehr durch projektive Identifikation, bzw. Resonanz zur
Übernahme von Filmrollen im alten Drama gedrängt werde, was lange dauern kann,
zumal die zugeschriebenen Filmrollen wechseln können.
Bei dem zuletzt genannt Klienten bin ich z. B. gerade ein Coach, der seinen ihm
anvertrauten Trainee durch die Erfahrung von Frustration führt. Davor musste aber
auf der „Landkarte“ Frustration als eine wichtige Station heraus aus der
narzisstischen postpsychotischen Depression identifiziert und akzeptiert werden,
bevor sie nunmehr im Alltag, im Körper als Gefühl erkannt und durch gelebt wird.
Wenn wir dann an spezifischere Knoten und Blockaden kommen werden gezieltere
Interventionen erforderlich, die das ganze Spektrum der uns zur Verfügung
stehenden Interventionen abfordern können, immer aber auf der Vorraussetzung der
geklärten Strukturfrage.
4.
Resonanzphänomene in Teams
Wir müssen uns nun klarmachen, dass existenzielle Erschütterungen häufig auch das
persönliche Fassungsvermögen (Containment) eines Betreuers/Therapeuten,
überschreiten und/oder sprengen können. Dann tritt er zwangsläufig in das AgierFeld des Klienten, wie z. B. bei der projektiven Identifikation ein. Dabei kann der
Therapeut nicht mehr zwischen seinen eigenen und den GegenübertragungsGefühlen unterscheiden.
„Die projektive Identifizierung ist, neben der Spaltung, der charakteristische
Abwehrmechanismus bei Borderline-Patienten.... Er (der Therapeut) wird dazu
gedrängt, so zu denken, zu fühlen und sich zu verhalten, wie es den ausgelagerten
Gefühlen und den projektiven Phantasien entspricht. Die projektive Identifikation ist
ein subtiles Manipulationsinstrument, durch das die Menschen in der näheren
Umgebung genötigt werden, eine Rolle bei der Inszenierung des inneren Dramas der
früheren Objektbeziehungen zu übernehmen. Sie werden dazu gebracht, sich mit den
verleugneten Seiten des Projizierenden zu identifizieren (daher die Bezeichnung
projektive Identifikation)“.
In der Regel führt die projektive Identifikation zu einem Beziehungsfiasko.“ (Stauss
1994)
Natürlich ist dieser Vorgang zunächst unbewusst.
Zu empfehlen wäre daher also dass der Therapeut oder das Team den gesamten
Vorgang, die gesamte Projektion dieser Gestalt, Opfer und Täter des Klienten
bewusst in sich aufnehmen, sich davon genügend desidentifizieren und hierzu eine
Antwort des eigenen Organismus bilden.
Wenn die Resonanzen des Klienten aus einem existentiellen Grenzbereich stammen,
und das tun sie z. B. bei Borderlinepatienten immer, dann braucht er/sie eine
transpersonale Verankerung oder das Eingebettet-Sein in einem Team/Gruppe,
welche dazu in der Lage ist, die Türen zum transpersonalen Raum zu öffnen.
52
„Der Unterschied zwischen einem Menschen in einer Psychose und einem Menschen
mit einem mystischen Erlebnis ist der, dass der Mystiker im Ozean schwimmen kann,
während der Mensch in der Psychose darin ertrinkt.“, sagt Williges Jäger (2000) dazu
und „es bedarf schon einer tiefgehenden spirituellen Verankerung, um als einzelner
den Störungen der existenziellen Krisen standzuhalten (Galuska 1996).
Also wäre der Mensch, der die mystischen Erfahrung halten kann, ausgezeichnet
dazu in der Lage, die Ich-Auflösung des Menschen in der Psychose auszuhalten oder
aber er muss sich mit einer Gruppe verbinden, die vorübergehend das transpersonale
Bewusstsein emergieren kann.
Abb. 4
Die Fragmentierungen des Klienten sind ihrerseits ja nicht im Vakuum, sondern sind
im Transpersonalen Bewusstsein eingebettet. Daher werden sie durch ein Vorgehen,
das von dort schaut, auch in ihrem Kontext sichtbar.
Während sich aus der Erschütterungsperspektive, also aus der Perspektive der IchAuflösung, solche Gefühle wie Angst, Panik, Verzweiflung, und Reaktionen wie
Konfusion und Wahn ergeben, bleiben aus der inneren Perspektive heraus die
Zusammenhänge der einzelnen Fragmente erkennbar, ohne dass dabei die Empathie
für diese heftigen Eindrücke verloren ginge, sondern vielmehr erstmalig möglich ist.
Diese Unterscheidung zwischen Gegenübertragungsgefühlen und eigenen Gefühlen
wird offensichtlich umso schwieriger, je existentieller die Desintegrationsvorgänge
auf Seiten des Klienten sind. Da beim Klienten bei Problemzonen, die aus der
vorichhaften Zeit stammen keine Identifikation bzw. Desidentifikation möglich ist
(„Das bin ich.“ oder „Das bin ich nicht.“) gerät der Therapeut leicht in genau diese
53
ich-lose Resonanz und übernimmt einen Teil, den nämlich, den der Klient wegprojiziert, der „Opfer-Tätergestalt“ des Klienten als seinen eigenen Part.
Daher scheint es mir hier besser von Resonanz zu sprechen, denn in der mir
vertrauten Supervisionspraxis werden diese Gefühle sehr selten als
Gegenübertragungsgefühle erkannt und praktisch immer verwechselt.
Der Anspruch als Einzelner diesen Übertragungsstürmen standzuhalten ist für den
Alltag der Psychotherapiepraxis, die Betreuungsarbeit in sozialpsychiatrischen
Einrichtungen wie dem betreuten Wohnen, der Einzelfallhilfe im sozialpsychiatrischen Bereich und auf den Station in den psychiatrischen Kliniken sehr
hoch, bzw. hätte auf Grund der gegebenen Seltenheit zu wenig praktische Relevanz.
Es gibt aber sehr wohl genug Individuen, die in ihrer Persönlichkeitsentwicklung
soweit entwickelt sind, dass sie eine reife Ich-Struktur, also personale Struktur
aufweisen.
Damit meine ich, dass reife Persönlichkeiten der personalen Bewusstseinebene über
die Fähigkeit verfügen sollten, zu erkennen, dass ein Prozess ihre Grenzen als
Individuen überfordert.
Dann könnten wir das nutzen, was uns Wilber schon über die Holone gesagt hat.
Holone mit der Fähigkeit zur Integration und Kooperationen neigen bei
entsprechender Ausdifferenzierung dazu, eine nächsthöhere Stufe zu betreten, in
eine nächst höhere Stufe zu emergieren.
Dieses Prinzip der Evolution können wir uns zu Eigen machen, indem wir uns als
einzelne Betreuer/Therapeutenindividuen zu einem Gruppen-Holon also einem Team
zusammenschließen. Nunmehr ist das Team in seinen Wahrnehmungs-Möglichkeiten
mehr als die Summe seiner in ihm enthaltenen Individuen.
4.1
Viertes Fallbeispiel
Anlässlich einer Mutter/Kind-Behandlung bei einer schweren depressiven Störung der
Patientin, zeigten sich in der Teamsupervision die Überichaspekte der Mutter, die sie
an der Kontaktaufnahme und Versorgung des Kindes hinderten, im Team in einer
gewissen Anspruchshaltung:
Die Patientin möge sich doch mehr um das Kind kümmern und die Teammitglieder
wollten die Patientin weniger in der Versorgung entlasten, auch auf dem Hintergrund
der eigenen sonstigen Arbeitsbelastung.
Mühsam musste diese Reaktion als Gegenübertragung identifiziert werden, was
wiederum die existentielle Dimension der Störung auf Seiten der Patientin
beleuchtete.
Erst als ausführlich über die innere Dynamik der Patientin gesprochen worden war
und die Reaktionen der Teammitglieder als Resonanzen der existenziell bedrohlichen
Überichaktivität der Patientin verstanden werden konnten, wurde die
Versorgungsfrage des Kindes weniger wichtig. Jetzt trat die Patientin in den
Vordergrund und kreative, lebendige Impulse, die die Depression durchbrachen,
wurden im Team berichtet.
54
4.2
Übergangsformen
Inzwischen sehen wir diesbezüglich eine bemerkenswerte Entwicklung in der
Therapielandschaft:
Da wir nicht alle erleuchtet sind und damit diesen Zustand als therapeutische Haltung
nicht ausreichend zur Verfügung haben, bringen wir offensichtlich interessante
Übergangsformen hervor, die das transpersonale Feld vorübergehend durch
Zusammenschluss reifer personaler - das ist die Vorbedingung - Strukturen in
Erscheinung treten lassen. Neurotische oder Spaltungsprozesse in einer Situation, in
der es um das Erfassen der Resonanzen eines Klienten in einer Emergency seines
Bewusstseins geht, würden die Wahrnehmung des übergeordneten Feldes
zusammenbrechen lassen. Als personale Subholone jedoch wirken die Individuen
vorübergehend wie Zellen einer übergeordneten Struktur, die dann für die Dauer
dieses Zusammenschlusses erscheint. Darüber hat T. Yeomans (1994) in der
Darlegung des von ihm so benannten Coronaprozesses berichtet.
M. E. funktionieren so auch System/Familienaufstellungen nach Hellinger (2001) und
A. Mahr hat das auf dem Kongress in Bad Kissingen im Juni 2002 „Spirituelle und
transpersonale Dimensionen der Psychotherapie“ erläutert, wie nämlich
System/Familienaufstellungen im Wortsinne transpersonal sind. Wie das Feld seine
Weisheit vorübergehend sichtbar werden lässt und die Personen in einen tieferen
Einsichtsraum nimmt, wo sie über “teilhabende Wahrnehmung“, also Resonanz
verfügen, die nach der Aufstellung auch wieder verschwindet. Das transpersonale
Feld ist also auch in dieser Vorgehensweise eine zeitweilige Emergenz.
In einem anderen Bereich, nämlich der analytischen Arbeit mit Balintgruppen
beschreibt A. Drees (1995) wie die Körperempfindungsebene, die Ebene des
Kernselbst also, und die Phantasien der Gruppenmitglieder (Traumselbst) genutzt
werden, um ein zusammengesetztes (prismatisches) Bild des Klienten zu erhalten.
Das ist in dem hier vorgetragenen Sinne eine gute technische Anleitung zur
Anwendung des Resonanzphänomens. Genau so kann man das mit
Supervisionsgruppen zunächst schon einmal praktizieren, ohne in ideologische
Erklärungsnotstände zu geraten, da das Ergebnis den teilnehmenden
Teammitgliedern unmittelbar einleuchtet und es ist wie bei den Systemaufstellungen
ein transpersonaler Vorgang, der auf den sichtbar und fühlbar gemachten
Resonanzen gründet.
4.3
Anwendung in der Supervisionsarbeit
In der Supervisionsarbeit in psychiatrischen/psychotherapeutischen Kliniken und
sozialpsychiatrischen Einrichtungen können wir uns dieses Prinzip zu nutze machen,
in dem wir das Team als vom Patienten, den wir in der Supervision besprechen als
aufgestellt, also in Resonanz betrachten. Die sich hieraus ergebenden Einsichten sind
äußerst wertvoll und klärend. Das geht, wie gesagt, natürlich nur mit einem nicht
zerstritten Team. Ein innerer Teamkonflikt legt diese erstaunliche Möglichkeit sofort
brach und muss vorab geklärt werden.
Und wir können in besonders schwierigen Fallbesprechungen ein dafür interessiertes
Team bilden und nutzen und die Resonanzen des Klienten im vorübergehend
55
gebildeten Feld des Teams sichtbar machen. Die vom Team empfundenen
Resonanzen werden, nachdem sie bewusst geworden sind, wie Gegenübertragungen
behandelt und damit zunächst und zuerst als Informationen über das Klientenfeld
und die darin enthaltenen Probleme.
Hier traf ich bislang auf die meisten Verständigungsschwierigkeiten in der
praktischen Arbeit. In der Regel ist es so, dass der Betreuer oder Therapeut
bestimmte Emotionen, die er vom Klienten-Feld empfängt, mit den seinen
verwechselt, sich also aus einer personalen Perspektive mit den bei sich selbst
wahrgenommen Gefühlen, Eindrücken u. Stimmungen wie selbstverständlich
identifiziert. Die Teammitglieder benötigen also als Lernschritt zunächst eine
Desidentifikation von diesen Gefühlen, um sie als Informationen des Patientenfeldes
betrachten zu können.
Das liegt zumeist daran, dass es keine Vorstellungsmöglichkeit, kein Weltbild von
einem gemeinsamen Feld und dessen Funktionsweise gibt.
Dies ändert sich übrigens spontan, wenn man das Setting der Systemaufstellungen
nach Hellinger benutzt, dann wird die erlebte Resonanz fraglos sofort als die
Information des Feldes verstanden.
Außerdem fügt die Technik der Aufstellungsarbeit durch ihre räumliche Ausgestaltung
des Resonanzfeldes eine äußerst wichtige Ausdrucksdimension für das Feld des
Klienten hinzu. Ein Team das üblicherweise in der Supervision nur im Kreis sitzt, kann
wie von Dress (1995) beschrieben eben nur diese bestimmte Selbsterfahrungen in
der Resonanz wahrnehmen (Körperempfindungen, Phantasien, Gefühle), während
die räumliche Dimension dem Feld sofort mehr Spielraum für die
Informationsübermittlung bereitstellt. (Bewegung, Berührung, direktes Sprechen
etc.)
Auch fachlich ansonsten sehr kompetente Therapeuten lehnen es manchmal rigoros
ab, ein gemeinsames Feld wahrzunehmen, wenn sie dafür kein grundsätzliches
offenes Verständnis haben, d. h. wenn ihnen ihr Weltbild es nicht erlaubt, ein solches
gemeinsames Feld anzunehmen. Daraus resultiert dann ein Arbeiten an den
Emotionen des Betreuers oder des Therapeuten im Supervisionsrahmen als dessen
Reaktion auf den Klienten.
Hierdurch gehen die Informationen, die in der Resonanz auf den Betreuer übertragen
werden, in der Regel verloren.
Die Informationen des Klientenfeldes sind überdies in dem Bereich existentieller
Betroffenheit dergestalt, dass Sie die Ohnmacht-, Verzweiflungs-, Hilflosigkeits- und
Resignationsgefühle oder äußerst wütende, sadistische, hasserfüllte Gefühle
übertragen und wenn diese mit den Betreuergefühlen verwechselt werden, erleiden
die Betreuer selbst erhebliche Einbussen an Selbstwert und Kompetenz.
Dann kann das fragmentierte und gespaltene Klientenfeld das Betreuerfeld
dominieren. Das hat im Alltag der psychiatrischen Stationen eine besonders große
Bedeutung:
Wenn mehrere schwierige Patienten zusammenkommen, kann die ganze Station aus
den Fugen geraten und im Stationsteam können sich mächtige Spaltungsprozesse
und Fragmentierungsprozesse zeigen und die Aggressoranteile des Patientenfeldes
werden u.U. mittels institutioneller Zwangsmassnahmen wie Fixierungen und
Zwangsmedikationen ausagiert. Ich meine hier nicht, dass man solche Situationen
56
immer vermeiden kann, aber durch das Schaffen eines dafür geeigneten
empathischen Feldes können solche vehemente Qualitäten viel früher erkannt und
kreative Möglichkeiten erwogen werden.
Jedoch durch Klärung dieser Situation erleben die Therapeuten, indem die
Information des Patientenfeldes aus der Resonanz herausgelesen wird, immensen
Kompetenzzuwachs und es eröffnen sich sehr einfache neue Handlungsmöglichkeiten
mit den Klienten.
Wenn man von getrennten Individuen ausgeht, wie im Falle der projektiven
Identifikation scheint ein Aufnehmen des Klienten in den Organismus des
Therapeuten unabdinglich erforderlich.
Legt man jedoch ein gemeinsames (transpersonales) Feld zu Grunde, dann sind die
Gestalten des Klienten genauso in diesem transpersonalen Feld vorhanden, wie auch
der Organismus des Therapeuten. Das heißt prinzipiell sind alle Informationen beiden
zugänglich.
Wenn es nun dem Containment des Therapeuten möglich ist, auf die Problematik,
wie sie der Klient erlebt, eine Antwort der Stimmigkeit aus dem transpersonalen
Bewusstsein heraus wahrzunehmen, dann findet er Antworten aus dem Bereich der
frühen Selbsterfahrungen wie eingangs dargelegt (Traum-, Kern-, affektives Selbst
oder perinatale Matrizes), die er in seiner Resonanz identifiziert. Die Wahrnehmung
der Wirklichkeit aus dem transpersonalen Bewusstsein heraus rückt das Fragment in
einen stimmigen Sinnzusammenhang.
Hier muss der Klienten also nicht im Organismus des Therapeuten ausgetragen
werden, sondern das transpersonalen Bewusstsein selbst trägt den Klienten (aus).
Die erste Stufe des transpersonalen Bewusstseins, -die subtile Ebene-, stellt
Informationen für die praktische klinische Arbeit ausreichend bereit, um die
emergierende Gestalt des Klienten in dem Resonanzfeld des Teams durchscheinen zu
lassen. Sie erscheint in den von Pauls und Grof beschriebenen SelbsterfahrungsQualitäten, die wir nun aber bewusst wahrnehmen.
Es sind darin sowohl die Gefühle und Erfahrungen der Fragmentierung, die nun
empathisch zugänglich sind, als auch die evolutionär hervortreten wollende Gestalt
des Klienten enthalten.
Das Entdecken der emergierenden Gestalt zeichnet sich durch ein „Aha-Gefühl“ also
durch eine Stimmigkeit aus und stärkt das Kompetenzgefühl des Teams.
Wenn der Klient an diesem Gefühl teilhaben kann, so macht er unmittelbar die
Erfahrung der Richtigkeit und Stimmigkeit seines Prozesses.
T. Yeomans hat...
4.1
...Richtlinien für den Gruppendialog (Yeomans 1995)...
...beschrieben, die dieses Resonanzphänomen erleichtern können und die in der
praktischen Supervisionsarbeit mit Gruppen hilfreich sind.
Davon sind die wichtigsten:
· die Arbeit im Kreis, als nichthierarchischer, archetypisch weiblicher Form
· das finden des richtigen Tempos des Prozesses
· die Stille
57
·
·
·
·
5.
die Wahrhaftigkeit der Mitteilungen
die Präsenz der Teammitglieder
die konfliktfreie Existenz widersprüchlicher Wahrnehmungen
tiefes Vertrauen in die Richtigkeit des Prozesses.
Schlussfolgerungen
Wir können nunmehr verschiedene Komponenten bei einer psychotischen Krise
voneinander unterscheiden:
a.
b.
c.
d.
e.
f.
die auslösende Situation enthält
... eine hervortreten wollende Emergenz
und/oder einen assoziativ verknüpften Stimulus für
die präichhafte Selbstebene (Traum/Kern/subjektives Selbst/perinatale
Matrizes) bis zu der die Desintegration fortschreitet und die dann in der
Psychose auftaucht (COEXsystem),
die darin vorhandenen Problemzonen, die immer, weil sie
Selbsterfahrungen sind, auch Beziehungserfahrungen sind und daher
korrigierende Containmentgestalten auf dieser Ebene brauchen,
die prä-ichhaften Abwehrvorgänge, die zu diesen Problemzonen gehören
Entsprechend muss auch das therapeutische Vorgehen sein und daher die
Strukturebene der Ausgangspersönlichkeit berücksichtigen. Selbstverständlich
besteht hier die Möglichkeit des Einbeziehens von Angehörigen auf jeder der im
Folgenden genannten Ebenen, wenn es dem Prozess förderlich ist:
a.
b.
c.
d.
In der akuten Psychose, der Zeit der Desintegration und Ichauflösung,
gelten in der Begleitung die Soteria-Grundsätze des „being-with“, -Präsenzund des haltenden und bergenden Kontaktes. Dies kann aber nunmehr um
die Kenntnis der prä-ichhaften Selbsterfahrungsbereiche und der dort
notwendigen Containmentgestalten gezielt erweitert werden und
widerspricht nicht einer behutsamen individuell angepassten
neuroleptischen Behandlung.
In der Wiedergewinnung der Alltagsfähigkeiten des Ichs muss dieses
zunächst einmal pragmatisch gekräftigt werden und hier gelten die allseits
bekannten sozialpsychiatrischen Behandlungs- und BetreuungsGrundsätze, wie wir sie im betreuten Wohnen etc. entwickelt haben.
(Grundversorgung: Essen, Schlafen, Wohnung in Ordnung halten, bei
Bedarf auch Psychopharmaka.)
Beruhigende, ermutigende Gespräche, in denen die auftauchenden
Problemzonen und Emergenzen schon benannt werden, aber mit dem
Verweis der zunächst notwendigen Kräftigung der Persönlichkeit noch ein
wenig „ins Regal gestellt werden“, bis sie bearbeitet werden können.
Wenn die Ausgangspersönlichkeit und das dann vorhanden Strukturniveau
wieder klar ist, können dem Strukturniveau der Persönlichkeit
entsprechende Werkzeuge zur Anwendung gelangen, die sowohl die
Problemzonen der prä-ichhaften Selbsterfahrung bereinigen, als auch die
in Erscheinung treten wollende Emergenz begleiten. Hier können dann
auch selbsterfahrungsorientierte Therapiemethoden und/oder systemische
58
e.
Therapiemethoden effektiv eingesetzt werden.
Bei Strukturschwächen der Persönlichkeit muss dieser Emergenz zunächst
einmal strukturell der Weg bereitet werden, sonst würde man ja die
nächste Krise evozieren.
Abb. 5
6.
Zusammenfassung
Blockaden lösende Interventionen erfolgen immer erst nach geklärter Strukturfrage.
In der einzeltherapeutischen Situation ist das Erkennen der Grenzen der eigenen
Containmentmöglichkeiten entscheidend, um sich gegebenenfalls rechtzeitig in
einem größeren Zusammenhang Unterstützung zu holen.
Prinzipiell verhalten sich Teams wie Personen. Sie können neurotische, Spaltungsund auch Fragmentierungsprozesse aufweisen.
Um in dem hier gemeinten Sinne arbeiten zu können, müssen Gruppen aber ein
personales Niveau erreichen und vorübergehend aufrechterhalten.
In der Praxis können solange (neurotische) Teamkonflikte im Vordergrund stehen,
die Wahrnehmungen der Patientenresonanzen nicht in den Vordergrund gelangen.
Dann kam das Team die emergierende Gestalt des Klienten nicht erfassen.
Wenn das Team sich zu einer personalen Struktur, wie oben beschrieben
zusammenfindet, d. h. auf der Grundlage entsprechender Wertevorstellungen
Achtsamkeit
Präsenz
guter Kontakt, Mitgefühl,
59
dann ist es in der Lage die emergierende Gestalt des Klienten aus der Perspektive
des transpersonalen Bewusstseins in unserer Wahrnehmung aufblitzen zu lassen.
Wir lernen dadurch bei einer existenziellen Krise wie einer Psychose,
 was sich entwickeln wollte und
 in welchen frühen Selbsterfahrungsbereichen die Problemzonen liegen.
Kann oder darf sich das nicht zeigen, so entsteht eine Emergency, die den Druck
enthält die angestrebte Ebene zu finden und daher auch den Drang hat wieder zu
kommen.
7.
Literatur
Aebi, Elisabeth, Ciompi, Luc, Hansen (Hrsg.), Hartwig (1996): Soteria im Gespräch
Aderhold, V. ( 1994 ): Die akute Schizophrenie als Prozess der Selbstgestaltung.
Ciompi, Luc / Hoffmann, Holger / Broccard (Hg.), Michel (2001)
Wie wirkt Soteria? Eine atypische Psychosenbehandlung kritisch durchleuchtet.
Dörner, Klaus u. Plog, Ursula (1996): Irren ist menschlich.
Drees, Alfred (1995): Balintgruppe, prismatische Balintgruppen, - wie man mit freien
Phantasien arbeitet, aus, Freie Phantasien in der Psychotherapie und in
Balintgruppen.
Finzen, Asmus: Schizophrenie. Die Krankheit behandeln (2001).
Galuska, Joachim (TPP 1/1996): Transpersonale stationäre Psychotherapie. In:
Zeitschrift für Transpersonale Psychologie und Psychotherapie (TPP).
Galuska, Joachim (TPP 1/1997): Heilung von Psychosen in transpersonalem
Verständnis. In: Zeitschrift für Transpersonale Psychologie und Psychotherapie
(TPP).
Grof, S. (1983): Die Topographie des Unbewussten. LSD im Dienst der
tiefenpsychologischen Forschung.
Grof, S. ( 1985): Geburt, Tod und Transzendenz. Neue Dimensionen in der
Psychologie.
Grof, S. ( 1987): Das Abenteuer der Selbstentdeckung. Heilung durch veränderte
Bewusstseinszustände.
Hellinger, Bert (2001): Liebe am Abgrund. Ein Kurs für Psychose Patienten.
Jäger, Williges (2000): Die Welle ist das Meer.
60
Mahler, Margret (1980): Die psychische Geburt des Menschen.
Mentzos, S.( 1997): Psychose als Konflikt.
Pauls, Helmut (1994): Das „innere Kind“ und die Entwicklung des Selbst. In:
Gestalttherapie, Zeitschrift der Deutschen Vereinigung für Gestalttherapie. S. 19-37.
Stauss, Konrad (1993): Neue Konzepte zum Borderline-Syndrom.
Wilber, K. (1996): Eros, Logos, Kosmos. Frankfurt
Wilber, K. (1997): Eine kurze Geschichte des Kosmos.
Yeomans, Thomas (1994): The Corona Process: Group Works within a spiritual
Context.
61
Psychose, Trauma und Bewusstseinsevolution
In: Transpersonale Psychologie und Psychotherapie. 1/2008 S. 19-34
Zusammenfassung: Die Grundprinzipien der Schöpfung, Kooperation und
Vertrauen, werden durch Traumata erschüttert. Das betrifft uns ganz und gar als
menschliche Holone in allen 4 Quadranten. Diese Verletzungen entstehen durch
Extremstresserfahrungen, verursacht in Handlungsketten, die von gesellschaftlichen,
systemischen und biographischen Katastrophen ausgehen, nicht durch
psychodynamische intrapsychische Konflikte. Letztere sind sekundär. Psychose kann
in diesem Kontext als komplexes Multitrauma verstanden werden. Heilung kann
durch Umkehrung des Traumafolgegeschehens auf den Weg gebracht werden. Dabei
sind Bindung und Spiritualität entscheidende Resilienzfaktoren, die an die
wiederzuerlangende Ganzheit erinnern und manchmal in psychotischen Symptomen
verborgen sind.
Schlüsselworte: Holone, Trauma, Psychose, dissoziative Störungen, Spaltung,
Schmerzkörper, Gewahrsein, Kooperation, Spiritualität, Bindung, Resilienz.
1.
Einleitung
Die Schöpfung ist ein hoch komplexes Zusammenspiel. Ihre Grundlage ist
Kooperation.
In der Evolutionsbiologie scheint der Trend der Erkenntnisse auch dahin zu gehen,
biologische Systeme, die gut zusammenwirken können, als die Überlebensstärkeren
zu begreifen.
Joachim Bauer hat sich in seinem neuen Buch (Bauer 2006),
»Prinzip Menschlichkeit. Warum wir von Natur aus kooperieren«
ausführlich mit diesem Thema auseinander gesetzt und die Bedeutung der
Kooperation dem alten und neuen darwinistischen Denken gegenübergestellt, ohne
jedoch explizit die spirituelle Dimension dieser nunmehr auch in der
wissenschaftlichen Öffentlichkeit mehr und mehr akzeptierten Tatsache
hervorzuheben.
1.1
Die Holone als Träger von Individuation und Kooperation
In der Darstellung der Holone von Ken Wilber (Wilber, K. 1996, 1997) finden wir in
deren grundlegenden Eigenschaften die Beschreibung der Dynamik zwischen
Individuation und Kooperation.
Die Wirklichkeit ist aus Holonen aufgebaut. Ganzheiten, die sich aus Ganzheiten
zusammensetzen. Holone, die immer Ganze und Teile zugleich sind, müssen sowohl
ihre Individualität ausbilden, als auch die Kooperation mit anderen Holonen
bewerkstelligen. Nur beides zusammen sichert ihre weitere Existenz. Kein Holon kann
für sich alleine existieren.
Subatomare Teilchen bilden Atome, Atome bringen Moleküle hervor, diese bilden
Zellen. Zellen bilden Organe, diese Organismen, Organismen bilden Gruppen und
diese schließlich Gattungen.
62
Abb.1
Das heißt im Zusammenwirken und Zusammenschluss der Subholone entstehen
völlig neue Gestalten, die mehr sind als die Summe ihrer Teile. Wasser ist eine völlig
neu Qualität als nur eine Ansammlung von Wasserstoff und Sauerstoff, eben die
(Ver)-Bindung der beiden, in einem präzise abgestimmten Verhältnis.
Diesen Vorgang - immer neue Strukturen hervorzubringen – nennt Wilber Emergenz.
Und er beschreibt in seiner Arbeit wie durch die horizontale Ausdifferenzierung der
Holone und durch die Attraktion der Ganzheit (Telos) ein Emergenzdruck entsteht,
ein Fortschreiten-Wollen der Schöpfung, ein kreativer Drang, neue Gestalten
hervorzubringen.
Wenn Holone zerfallen, zum Beispiel im Sterben, aber auch unter der Einwirkung
eines Traumas, so erscheinen wieder die Subholone. Ein Sterbeprozess
beispielsweise führt die vorübergehende körperliche Lebensgestalt auf die Ebene von
Molekülen und Atomen zurück, die ihrerseits aber immer noch Holone - vom
Sterbeprozess aus retrospektiv gesehen - Subholone dieser ursprünglichen
Lebensgestalt sind.
Gerade beim Verständnis der Folgen eines Traumas gilt, dass ein traumatisierter
Organismus nicht mehr in seiner vollständigen Ausprägung, seiner eigentlichen
vitalen Ganzheit funktionieren kann, sondern die archaischeren, einfacheren
Funktionen wieder erscheinen.
Also kann ein Trauma, beziehungsweise die ständige Wiederholung von
Traumatisierung das Hervorbringen reiferer Strukturen verhindern oder erschweren,
wie wir das bei Persönlichkeitsstörungen und Psychoseerfahrungen sehen können.
Positiv formuliert gilt aber auch, dass der (therapeutische) Zugang zur Ganzheit,
entsprechendes Heilungspotenzial beinhaltet.
63
1.2
Die vier Quadranten
Einen wichtigen Aspekt der Holone, Wilber folgend, brauchen wir hier noch zur
weiteren Entwicklung dieser Gedanken:
Holone haben vier Quadranten.
Abb.2
Die vier Quadranten (Wilber 1996, 1997)
Geistige Prozesse und
Entwicklung; nur dialogisch
erfahrbar; Interpretation
wahrhaftiger Dialog
individuell
durch äußere Sinne und Instrumente
erfahrbar und messbar; materiell;
monologisch
außen
innen
soziale Systeme; durch äußere Sinne und Instrumente;
erfahrbar und messbar; materiell; monologisch
kulturelle Werte; Interpretation;
Glaubenssysteme
sozial
Die beiden rechten Quadranten sind die äußeren Aspekte der Holone, das Materielle,
die Oberfläche. Dies kann man mit den äußeren Sinnen erfassen und vermessen.
Man kann mit diesen Aspekten der Holone monologisch kommunizieren. Ein Arzt z.B.
kann bei einem Patienten ein Röntgenbild machen lassen und darüber eine Krankheit
diagnostizieren, ohne je ein ausführlicheres Gespräch mit dem Patienten geführt zu
haben.
Die beiden linken Quadranten der Holone sind die inneren Räume, das nicht
Materielle, die Tiefe, das Geistige, das Seelische. Sie sind den äußeren Sinnen nicht
unmittelbar zugänglich, sondern können nur im freiwilligen Dialog erfasst werden
und unterliegen der Interpretation.
Tatsächliche Informationen aus diesen inneren Räumen erhält man nur in einem
wahrhaftigen Dialog. Lügen z.B. verstellen den Zugang zu diesem Bereich (linke
Quadranten) der Holone. Eine Psychotherapie kann demnach nur in einem solchen
wahrhaftigen Dialog funktionieren, der die inneren Räume der Beteiligten eröffnet.
Die Quadrantenlehre von Wilber beinhaltet die Herausforderung, die Kausalität nicht
nur in einem der vier Quadranten zu suchen, sondern das gesamte Holon zu
verstehen.
Für unser Thema: Psychose, Trauma und Bewussteinsevolution, könnte das Holon
nun wie folgt aussehen:
Abb. 3
64
Die Verarbeitung und Integration eines Traumas
hängt auch von subjektiven Gegebenheiten ab.
Unsere Fähigkeiten uns an das äußere, auf uns
einwirkende Geschehen anzupassen sind bei
einem Trauma bei weitem überfordert. Das
Trauma ist gekoppelt an überwältigende Gefühle
von Hilflosigkeit, Ohnmacht und Horror,
Schrecken, Todesangst und Panik.
Die Erinnerung an Traumatisierung kann durch
äußere Reize getriggert werden.
In der psychotherapeutischen Kultur
hat ein seit ca. 25 Jahren ein Bewusstseinswandel
stattgefunden, der die Bedeutung der
Traumatisierung erkannt hat.
Dieser Bewusstseinswandel findet im Hinblick auf den
Zusammenhang von Trauma und Psychose erst seit
kürzerer Zeit statt.
Die Wiederbelebung von Bindung und Erinnerung an
Ganzheit beinhaltet Heilungspotenzial und ist eine
spirituelle Unterstützung von Heilungsprozessen.
8.
Bei einem Trauma ereignen sich
neurobiologisch gut untersuchte
Abläufe im Gehirn, die u.U. die Psychoseentstehung im
Sinne der Vulnerabilitätsentstehung mit beeinflussen
und
Rezidivanfälligkeit aufrecht erhalten.
Vulnerabilität, könnte in den synaptischen Verbindungen
der Traumanetzwerke das neurobiologische
Äquivalent haben.
Ein Trauma ist ein Ereignis (kein innerer Konflikt),
geschieht im Sozialen,
kommt von außen,
kann biographisch, systemisch,
gesellschaftlich
bedingt sein.
Quadrant links unten:
Trauma versus Konflikt
»Pierre Janet (1894) und Siegmund Freud(1896) vertraten in der Auseinandersetzung mit dem
Krankheitsbild der »Hysterie« die Position es handele sich hierbei um eine chronifizierte
posttraumatische Störungen nach Kindesmissbrauch. « (zitiert nach Streeck-Fischer u. a. 2002, S. 12)
Janet blieb bei seiner Position, und seine Arbeiten gelten heute als grundlegend für
das psychophysiologische Traumaverständnis.
Freud wich von seiner ursprünglichen Auffassung der traumatischen Verursachung
der Symptome seiner Patientinnen1 ab, hin zur Betonung der intrapsychischen
Konflikte. Im Gefolge davon hatte sich die Psychotherapie sehr lange und sehr
ausgiebig mit inneren psychodynamischen Konflikten beschäftigt.
Auch der Begründer der Gestalttherapie F. Perls schenkte den Trauma-Schilderungen
seiner Patientinnen keinen Glauben und tat diese ins Reich der Fantasien ab:
»All the so called traumata, which are supposed to be the root of neurosis, are an invention of the
patient to save his self-esteem. None of these traumata has ever been proved to exist. I haven’t seen
a single case of infantile trauma that wasn’t a falsification. They are all lies to be hung onto to justify
one’s unwillingness to grow…Psychoanalysis fosters the infantile state by considering that the past is
responsible for the illness. « (zitiert nach H.G. Petzold, in: Gestalttherapie 1/2007, S. 62)
Damit war die Wertekultur - im Wilber’schen Sinne der Quadrant links unten des
Traumaholons - mit der Berichte über Traumata beurteilt wurden, über lange Zeit
festgelegt und ins Fantasiereich der Patientinnen abgetan.
1
Ich wähle absichtlich im Text die weibliche Form, obwohl auch Männer entsprechend betroffen sind
65
Die Berichte der Patientinnen wurden als innere Konflikte zwischen libidinösen
Strebungen und Widerständen umgedeutet.
So bezieht sich noch bis heute der Begriff der »frühen Störung« auf dieses
psychodynamische Verständnis. Psychische Störungen waren in diesem Sinne
Resultate von gestörten Objektbeziehungen, was natürlich nicht falsch, aber verkürzt
ist.
In einem Verständnis, welches die Trauma-Geschichte berücksichtigt, sind gestörte
Objektbeziehungen die Folge von traumatischen Ereignissen und damit sind die
daraus resultierenden psychosomatischen Störungen die Folge dieser traumatischen
Ereignisse. (Huber Band 1, 2005, S.31)
Also sind die psychodynamischen Konflikte bei psychischen Beeinträchtigungen
infolge von Traumatisierungen sekundär!
In dem weit verbreiteten und damals sehr fortschrittlichen Lehrbuch von Dörner und
Plog: Irren ist menschlich, wurde noch Ende der 70 er Jahre Trauma mit
psychodynamisch verstandenem inneren Konflikt gleichgesetzt (Dörner & Plog 1978,
S. 395).
Aber auch in einem ganz aktuellen Lehrbuch: Rahn, Mahnkopf Lehrbuch der
Psychiatrie von 2005 (S. 307) findet man folgendes:
»Auch für die am psychoanalytischen Entwicklungsmodell orientierte Hypothese der frühen Störung
fehlt bislang jeder überzeugende empirische Nachweis. Stattdessen trug sie zur Diskriminierung
primärer Bezugspersonen bei (schizophrenogene Mutter, Fromm-Reichmann 1940).«
Hier wird der Begriff der frühen Störung immer noch nicht im eigentlichen Sinne als
traumatisch bedingt verstanden und es wird überhaupt nicht verstanden, dass die
Mutter als wesentlicher Bindungspartner für das Kind selbst Durchgangspforte und
Opfer eines traumatischen Geschehens sein kann. Insofern ist nicht die Mutter
schizophrenogen, sondern das Trauma, welches die Person übersteigend durch die
Mutter, aber auch den Vater und unter Umständen deren Vorfahren hindurch reicht,
solange nicht eine Unterstützung geschieht, die mit dem Trauma heilend umgeht.
Wie ich weiter unten noch auszuführen werde, geht es bei der Entstehung von
existenziellen Störungen wie Psychosen und dissoziativen Störungen nicht um eine
psychodynamische Beziehungsstörung exklusiv zwischen 2 Menschen. Vielmehr geht
es um die Erfahrung von realen historischen Katastrohen in Familiensystemen.
Solange Gewahrsein und Heilung bei den Betroffenen fehlt, resultieren daraus
Handlungsketten existenzieller, lebensbedrohlicher, traumatischer Erfahrungen, die
weitergereicht werden und zwar im wesentlichen über das Bindungsverhalten der
primären Bezugspersonen eines Kindes und über unbewusste Neuinszenierungen von
traumatischen Szenarien.
66
9.
Quadrant rechts oben
Neurobiologie
Die Neurobiologie des Traumas (Huber 2005) sieht vereinfacht so aus:
Eine Situation, die man durch eigene Kraft nicht bewältigen kann und aus der man
nicht fliehen kann, das ist:
No flight, no fight.
in dieser Situation von extremer Hilflosigkeit und Ohnmacht kommt es zu einer
cerebral erzeugten Lähmungsreaktion und die Erfahrung wird zersplittert:
Freeze and fragment.
Im Gehirn werden entsprechende biochemische Prozesse aktiviert: eine Flut von
Endorphinen wird ausgeschüttet, Adrenalin und Cortisol mobilisiert.
Der Bereich, in dem das Gehirn diese Notfall-Reaktionen produziert, ist
im limbischen System vor allem der sog. Mandelkern, das Amygdala-System.
Normalerweise ist der Hippocampus für die Informationsverarbeitung und für das
Zusammenspiel zum Großhirn verantwortlich, wird aber unter extremen
Stressbedingungen vom Amygdala-System außer Kraft gesetzt, so dass dieses als
Feuerwehr operieren kann.
Je mehr das Amygdala-System dominiert, desto fragmentierter bleiben dem
Hippocampus Fragmente des jeweiligen Ereignisses.
Die Verbindung zwischen Hippocampus und Großhirn wird durch die Angst bedingte
neurobiochemische Veränderung unterbrochen, so dass weder das Erlebte bewertet
wird, noch persönlich zur Kenntnis genommen werden kann. Es kann somit auch
nicht als Vergangenheit erkannt werden und wird bei einem auslösenden Reiz als
gegenwärtige Erfahrung neu erlebt.
(Huber 2005, S.49)
»unter traumatischen Stress wird das Hippocampus-System dysfunktional… körpereigene Morphine
lassen den Menschen geistig weg treten, das Frontalhirn schaltet sich ab (Freeze),
das Amygdala-System feuert weiter und speichert emotionale und körperliche Reaktionen.
Das ausschließlich vom Amygdala-System emotionale, körperliche und vom Hippocampus-System in
einzelnen Bildern und kurzen Sequenzen gespeicherte fragmentarische Material ist Traumamaterial. «
Durch diese Einprägung unter Ausschluss der Bewertungsmöglichkeiten höherer
Gehirnregionen kann ein neuronales Traumanetzwerk entstehen, das dann durch
entsprechende Reize getriggert werden kann.
»Entwicklungsgeschichtlich ist das Amygdala System jenes Stress verarbeitende System, das als
erstes arbeitet: Gleich von Geburt an steht es zur Verfügung, wenigstens in rudimentärer Form.
Das Hippocampus System dagegen wird erst im Alter zwischen zwei und drei Jahren
funktionstüchtig,…richtig gut arbeitet es erst ab 10 bis 12 Jahren (ebd.). «
Das heißt Traumanetzwerke, die sich vor dieser Zeit bilden, sind besonders schwierig
einer frontocortikalen kritischen Überprüfung zuzuführen.
Außerdem können wir nun mit Hilfe dieser neurobiologischen Überlegungen
untermauern, dass besonders extreme Stresseinflüsse um die Geburt herum und in
den ersten beiden Lebensjahren bis hin zur Funktionstüchtigkeit des Hippocampus
dazu beitragen können, eine höhere Vulnerabilität durch die Ausbildung
entsprechender Traumanetzwerke gegenüber extremen Belastungen entstehen zu
lassen.
So könnte Vulnerabilität durchaus eine erworbene, nicht nur genetisch determinierte
Qualität sein.
67
Systemisch betrachtet würde das heißen, je früher im Leben dieser extreme
emotionale Stress besteht, desto gravierender werden die Auswirkungen
systemischer Traumata in die nächste Generation weitergereicht.
10.
Quadrant links oben:
Subjektives Erleben des Traumas
Es gibt heute sehr viele Studien und Wissen über Traumatisierung. Ausgelöst wurde
die intensive Forschung durch die Erfahrungen der großen Kriege im letzten
Jahrhundert den ersten und den zweiten Weltkrieg, vor allem aber dann durch den
Vietnam-Krieg und zuletzt durch den Krieg auf dem Balkan.
Unter dem Eindruck der Leiden der Soldaten des Zweiten Weltkrieges entstand der
Begriff der Physioneurose. Damit begann die intensive Erforschung des
Zusammenhanges von Extremstresserfahrung und somatischer Reaktion.
Vom Individuum aus gesehen, ist ein Trauma ein Ereignis, das unsere Fähigkeiten
uns an das äußere, auf uns einwirkende Geschehen anzupassen, bei weitem
überfordert. Es ist gekoppelt an überwältigende Gefühle von Hilflosigkeit, Ohnmacht
und Horror, Schrecken, Todesangst und Panik (frei zitiert nach einem Vortrag von L.
Reddemann (Kongress 2006, »Bewusstsein und Psychotherapie«, spirituelle und
transpersonale Dimensionen einer Wissenschaft des Bewusstseins in Bad Kissingen).
Wie wir jeweils eine stressvolle Situation erleben, hängt natürlich ganz von unseren
individuellen Ausgangsbedingungen ab. Das Alter spielt eine wichtige Rolle. Ein
älteres Kind wird eine Situation des Alleinseins besser verarbeiten können, als ein
Kind, welches zur Orientierung noch ganz auf seine Eltern angewiesen ist.
Vernachlässigung und Verlassenheit sind damit in den ersten Lebensmonaten und
Lebensjahren ganz besonders traumatisierend.
In der Generation von den jetzt um die 50 Jahre alten und älteren Menschen wurden
viele bei notwendig gewordenen Aufenthalten in Kinderkrankenhäusern, um die
Geburt herum und/oder in den ersten Lebensjahren, durch Trennung von den Eltern
und Verhinderung von Körperkontakt zu diesen, massiv traumatisiert. Diese
Menschen leiden heute z.B. unter langwierigen und chronischen, depressiven
Störungen.
11.
Trauma und Psychose – Zerstörung von Bindung
Mit einer Verzögerung von etwa 15 Jahren hält nunmehr die Forschung im Bereich
der Psychiatrie Einzug, die den Zusammenhang von Traumatisierung und Psychose
untersucht.
Es wurde immer deutlicher, dass bei existentiellen, psychischen Erschütterungen wie
bei Persönlichkeitsstörungen und bei Psychosen schwere Traumatisierungen
nachgewiesen werden können.
68
11.1. Zahlen und Fakten
Quadrant rechts unten
Schon 2002 fand eine Tagung in der psychiatrischen Klinik Hamburg-Eppendorf zum
Thema Psychose und Trauma statt.
Interessant waren die Zahlen, die bereits auf dieser Tagung kursierten, die seit Ende
der 90er Jahre von dem Neuseeländer John Read (Read 1997, 1989, 2003) vorgelegt
worden waren:
Jede zweite schizophrene Krankenhauspatientin, so hat Read herausgefunden, sei
sexuell missbraucht und fast eben so viele Patientinnen körperlich misshandelt
worden. Bei Männern waren es zwischen 26 bis 39% beziehungsweise bis 44%,
wenn man die körperliche Gewalt mit einbezieht.
Und Read untermauert mit seinem Verständnis die o.g. Hypothese, in der die
Vulnerabilität für Psychosen nicht ausschließlich etwas Angeborenes, sondern durch
den Stressverarbeitungsmechanismus des Zentralnervensystems etwas Erworbenes
sein könnte.
Traumatisierungen betreffend, ist bei psychiatrischen Patienten die
Wahrscheinlichkeit betroffen zu werden im Vergleich zur allgemeinen Bevölkerung
erheblich erhöht.
Auf jeden Fall scheint sich die Zahl zu festigen, dass jeder 2-te psychiatrische Patient
schwere, auch wiederholte Traumatisierung in seiner Biografie aufweist (Aderhold
2005).
Hinzu kommen die traumatischen Erfahrungen mit der Psychiatrie selbst und die
Traumaerfahrung, die die Psychose selbst sein kann.
S. Gunkel beschreibt, sowohl die Möglichkeit die Psychoseerfahrung selbst als
komplexes Multitrauma zu verstehen, als auch die Behandlung der Psychose in der
Klinik als ein »sanctuary trauma«, als ein Trauma, das in einer Umgebung erlebt
wird, die eigentlich Schutz und Geborgenheit geben sollte (Gunkel 2004, 2005).
Inzwischen ist aus der Trauma-Forschung natürlich auch bekannt, dass Menschen
mit früher Traumatisierung wiederholt zu Opfern werden.
Nachgewiesen scheint auch ein signifikanter Zusammenhang zwischen kindlichen
Traumatisierungen und Stimmen-Hören.
Besonders Untersuchungen an Kriegsveteranen zeigen, dass bei Patienten mit
chronischer posttraumatischer Belastungsstörung auch Stimmen-Hören und Wahn zu
beobachten sind. (Aderhold 2005)
Schlussfolgernd kann man sagen, dass ein Psychose erfahrener Mensch, der
Stimmen hört, in seinem Leben kaum einer folgenschweren Traumatisierung
entkommen konnte.
Andersherum wissen wir natürlich, dass es Stimmenhören ohne Psychosen gibt, und
zwar in einem Verhältnis von ca. 1:4 (Romme 2003), eben auch als spirituelle
Erfahrung (Walsh, R. N. 1997).
69
5.2
Auf welche Stimmen hören wir?
Diese Frage gilt immer und für jeden von uns.
Quadrant rechts unten
Für G. Bush war das die Frage, ob er auf die Stimme von Hans Blix, dem
Waffeninspekteur der UNO hört und damit auf die Völkergemeinschaft oder auf die
Stimme seines Geheimdienstes.
In dem Film Fahrenheit 9/11 des US-amerikanischen Produzenten Michael Moore,
sieht man, wie G. Bush minutenlang in der Situation, in der er sich gerade befand in einer Kindertagesstätte - , erstarrt und verharrt, als er die Nachricht vom 2-ten
Einschlag in den Twintowers ins Ohr geflüstert erhält.
Er wirkt verstört und handlungsunfähig, ja dissoziiert. Erst in den nächsten Tagen, offensichtlich – stark instruiert von seinen Berater-Stimmen, verwandelt er sich zum
kriegerischen Vorbereiter des Afghanistan - und Irakkrieges, wird also zum Täter.
Auf welche Stimmen hatte er da gehört und wie viel Wahnsinn ist seither zusätzlich
in die Welt gelangt?
Wo in sich selbst hätte er Orientierung finden können?
Wie viel Lüge in den Stimmen, auf die er gehört hatte, enthalten war, wissen wir
inzwischen.
Lüge und Verwirrung sind offensichtlich wesentliche Bestandteile solcher
wahnsinnigen Entscheidungen. Im Krieg stirbt die Wahrheit zuerst, ist ein schon oft
zitierter Satz.
Seit Beginn des Irakkrieges sind inzwischen mehr Amerikaner umgekommen als
durch die Anschläge des 11. Sept. und es sind 100-tausende Iraker ums Leben
gekommen2.
So gelangte wieder einmal der Wahnsinn mit einer auf Lügen und Verwirrung
gegründeten Handlungskette als äußeres Katastrophen-Ereignis - Werte zerstörend
und Werte verwirrend - in die betroffenen Familien, denn am Ende der kriegerischen
Handlungskette stehen immer Familien, also Angehörige und Opfer. Individuen.
Und dann stellte sich auch in Europa diese Frage und wurde unterschiedlich
beantwortet.
Tony Blair hörte auf andere Stimmen als Gerhard Schröder. Es schien also möglich
genau und anders hinzuhören und zu unterscheiden, auf wen oder was man hört.
Um Wahnsinn aufzuhalten gilt also:



Glaube nicht alles, was Du denkst oder hörst!
Lerne Deine Gedanken und innere Stimmen in einem qualitativ hochwertigen
Kontakt zu beobachten und zu prüfen, bevor Du nach ihnen handelst und
zwar
je gewichtiger Deine Entscheidung ist, die Du zu treffen hast.
Eine im Oktober 2006 von The Lancet veröffentlichte und von der Johns-Hopkins-Universität
in Baltimore durchgeführte Studie geht von 392.979 bis 942.636 zusätzlichen Todesfällen im Irak
durch Kriegsfolgen aus.
2
70
Stimmen, die im Vertrauen miteinander bestehen können und unsere sozialen
Kontakte verbessern und bereichern, können wir getrost als inspirierend, nützlich,
hilfreich und integrierbar betrachten.
5.3




Daraus möchte ich folgende Schlüsse ziehen:
nicht die Psychose ist der Wahnsinn, sondern der kollektive, unbewusste
Wahnsinn,
angesammelt in verrückten Denkmodellen und entwertenden Konzepten (wie
z.B. Rassismus, Antisemitismus, Machismus, patriarchalem Denken,
Profitmaximierung, Ausbeutung und Armut usw.
was zu schlimmsten mit Lüge, Verrat und Intrigen einhergehenden
(Kriegs)-Katastrophen führt,
hallt letztendlich auch in Psychosen, Stimmen und Dissoziationen wieder.
Es sind also wahnsinnige und verrückt machende Ereignisse und Handlungen, wie
der Wahnsinn z.B. des 11. Sept. 2001, der Wahnsinn des Irakkrieges, der Wahnsinn
des 2-ten Weltkrieges, der Wahnsinn des Vietnamkrieges, der Völkermord in Ruanda
und Dafur… diese Liste ist sehr, sehr lang…

also kollektive Traumatisierungen,
die in Familien verwirrend, entwertend, verrückt machend, hineinwirken und dort
individuell zu konkreten, weiteren schwersten Traumatisierungen führen, die dann
z.B. auch neurobiologisch zu Vulnerabilität und Psychosebereitschaft gerinnen
können.
»Gesellschaften, die Krieg führen und fortführen, folgen möglicherweise traumatisch bedingten
Wiederholungszwängen. Unverarbeitete Kriegstrauma fließen vielleicht in korrupte Wert -und
Normenvorstellungen einer Gesellschaft ein (Streek-Fischer et al., 2001). «
Eine Zivilisation, die solche wahnsinnigen Ereignisse erschafft, wie den Irakkrieg und
den Terror des 11.Sept. 2001, hat stark verrückte Wertbildungsprozesse, die sich in
den Individuen wiederfinden, die dann in ihren systemischen Zusammenhängen zu
Tätern und Opfern werden.
5.4
Systemische Betrachtung Beide untere Quadranten
Franz Ruppert, Prof. für Psychologie in München, beschreibt durch seine Erfahrungen
als Therapeut mit Familienaufstellungen, wie Traumatisierungen durch Generationen
hindurch gereicht werden. Er spricht speziell von Bindungstraumatisierungen und
Systembindungstraumatisierungen. (Ruppert 2002, 2005, 2007)
In diesem Verständnis ist die frühe Zeit der Ausbildung des Bindungsverhaltens
zwischen dem noch sehr kleinen, abhängigen Kind und seinen Eltern der Zeitraum, in
dem die systemischen Prägungen, auch die traumatischen, von Generation zu
71
Generation über die existentielle Notwendigkeit der Spiegelungs- und
Bindungsvorgänge weitergereicht werden. (vgl. Grossmann & Grossmann 2003)
Auf diese Weise würden also Wertevorstellungen und Handlungsmuster einer Trauma
reproduzierenden Zivilisation innerhalb der konkreten Traumafolgestörungen der
Eltern an die Kinder weitergereicht.
Selbst habe ich diese Vorgänge in vielen Familienaufstellungen, an denen ich
teilgenommen und in solchen, die ich geleitet habe, schon miterlebt.
Wenn heutzutage in der klinischen psychiatrischen Arbeit überhaupt schon nach
Traumatisierungen bei Psychosen geschaut wird, so ist der Schritt zur Einbeziehung
der systemischen traumatischen Belastungen noch gar nicht getan.
Damit fehlt in der klinischen Arbeit derzeit noch ein wichtiges Verständnis, wie die
kollektiven traumatischen Geschehnisse in die Familiensysteme gelangen und hier
dann zu der individuellen Traumageschichte verdichtet werden.
Und es fehlt dann auch der Horizont in dem so existentiell erschütternde Erfahrungen
wie Psychosen ihren (systemischen) Kontext finden könnten.
Mit dieser systemischen Sichtweise, gewinnt ein altes politisches Verständnis neue
Aktualität:

dass es gesellschaftliche, zivilisatorische Vorgänge sind, die psychisches
Leiden und Krankheiten erzeugen können.
Allerdings ist der Vorgang nicht nur einfach im äußeren, politischen Leben unserer
Zivilisation zu suchen, sondern betrifft unsere Familien und reproduziert sich dort z.B.
in sexueller oder körperlicher Gewalt und durchzieht uns bis in die Biochemie unserer
Nervenzellen und bis in die Qualität unserer Gedanken und inneren Stimmen.
Das ganze Holon »Mensch« ist betroffen.
Das entscheidende Bindeglied zwischen den äußeren Ereignissen und den
transgenerationalen Folgen ist das Traumaverständnis in seiner psychodynamischen
und neurobiologischen Auswirkung auf das Bindungsverhalten zwischen Mutter,
Vater3 und Kindern!
6.
der Schmerzkörper
E. Tolle, ein bekannter spiritueller Lehrer unserer Tage und Autor mehrerer Bücher
(Tolle 2002, 2005), nennt die Gestalt der kollektiven, transgenerationalen und
individuellen Traumatisierungen:
den „Schmerzkörper“.
Das Verständnis von S. Grof der Systeme verdichteter Erfahrungen (Coexsysteme)
(Grof, S. 1985) ist dem Begriff des Schmerzkörpers verwandt.
3
Hier möchte ich im Unterschied zu Franz Ruppert betonen, dass Bindung und Bindungsstörung zwischen beiden
Elternteilen und dem Kind stattfinden kann. Das sieht man im positiven Fall auf Frühgeborenen Stationen, wo Väter in gleicher
Weise beim Aufbau von Bindung beteiligt werden. Gerade hier zeigt sich Bindung auch zum Vater als entscheidender
Resilienzfaktor beim Überleben zu früh geborener Kinder!!
72
Dieser Schmerzkörper kann in jedem von uns und auch kollektiv unbewusst zur
Wirkung gelangen4. Die Empfindlichkeit, mit der er zur Wirkung gelangt, wäre im
psychiatrischen Sinne als Vulnerabilität zu verstehen und die Traumanetzwerke sind
das neurobiologische Substrat dieses Schmerzkörpers.
Wird durch die Aktivierung des Schmerzkörpers ein alter traumatischer Bereich, ein
Traumanetzwerk aktiv, so kann die Alltagswahrnehmung desintegrieren, bzw., dann
ist der Hauptabwehrvorgang - bei Aktivierung von traumatischer Erfahrung - die
Dissoziation oder Spaltung.
Umgekehrt kann man sagen, Spaltungsprozesse sind eigentlich immer traumatisch
bedingt.






wir sind dann von Sinnen,
nicht mehr präsent,
in Bruchstücken eines alten Katastrophenfilms gefangen,
den wir als gegenwärtige Realität erfahren,
mit entsprechenden neurobiologischen Konsequenzen.
völlig damit beschäftigt unser Überleben zu gewährleisten.
So sind diese Eindrücke nur schwer relativierbar und nehmen bei mehr und mehr
traumähnlicher Entstellung und vor allem bei daraus resultierenden Handlungen
psychotische Qualität an.5
»So wie eine nicht versorgte körperliche Wunde sich entzünden und eitern kann, so kann eine
existentielle psychische Wunde alpträumen, also Psychose erzeugen (Gemsemer 1997). «
E. Tolles Auseinandersetzung mit diesem Schmerzkörper, also der individuellen und
kollektiven Traumageschichte, besteht sehr vereinfacht gesagt im Erlernen von
Geistesgegenwart, Präsenz, d.h. aus dem Ankommen im Hier und Jetzt und in der
Fähigkeit zwischen Gedanken, Phantasien, Erinnerungen, also Objekten im
Bewusstsein und Wahrnehmung unterscheiden zu können:
Wahrnehmen statt denken.
Das ist nun aber bei Traumafolgestörungen und damit auch bei allen dissoziativen
Persönlichkeitsstörungen nicht so einfach, weil die traumatisch bedingte Störung der
zerebralen Informationsverarbeitung die zeitlich lineare Einordnung des
traumatischen Geschehens so sehr erschwert.
Daher sieht man, dass Therapiemethoden, wie die dialektisch behaviorale Therapie
nach M. Linehan6 (Linehan 1993, 1995), die sich mit dissoziativen Störungen
befassen und erfolgreich sind, an der Schulung der Wahrnehmung, Achtsamkeit und
Präsenz der Betroffenen arbeiten.
Damit sind, etwas versteckt, Methoden spiritueller Schulung zur
Bewusstseinsevolution in psychiatrische Behandlungsmethoden eingeflossen.
4
Besonders in Übergangszeiten, wie Adoleszenz oder bei Identitätserschütterungen oder durch Drogenmissbrauch.
Hier könnte eine weitere Arbeit einsetzen, in der zu überlegen wäre, ob die Fähigkeit das Traumageschehen
beträumen zu können, nicht als eine Schutzfunktion und Fähigkeit der menschlichen Psyche im Umgang mit Traumatisierung
beschrieben werden kann.
6
M. Linehan hat übrigens schon mit Pater Williges (Zenmeister) gemeinsam Seminare gegeben.
5
73
12.
Spiritualität als Resilienz7faktor
Dass Spiritualität ein wesenseigenes Phänomen ist, wird in der transpersonalen
Psychologie beschrieben.
Kinder zeigen noch manchmal diese von äußerer religiöser Zugehörigkeit
unabhängige, wesenseigene Spiritualität spontan.
Als meine Tochter ca. 3 Jahre alt war, beobachtete und hörte ich eine heftige
religiös-spirituelle Debatte mit ihrem damaligen gleichaltrigen Freund.
Dieser war sehr aufgeregt, empört und schlug mit seiner flachen Hand gegen unsere
Wohnungstüre, und sagte sehr laut: » Soll das vielleicht Gott sein!«. Meine Tochter
hatte kurz zuvor offensichtlich behauptet, dass Alles-Was-Ist Gott ist, demnach also
auch die Haustüre.
Ein anderes Mal, da war sie dann ca. 8 Jahre alt, hörte ich eine solche spirituellreligiöse Debatte mit einer Freundin, als wir in den Ferien über ein großes Feld
spazierten. Die Freundin kicherte, schaute nach unten und sagte: »Dann stehe ich ja
auf Gott.« Meine Tochter antwortete ziemlich trocken: »Gott steht auf Gott! «
Diese wesenseigene Spiritualität müsste dann natürlich in unserer Entwicklung
aufgegriffen werden und mit reifen, was in unserer Kultur vielfältigen Störungen
unterliegt. So verbleibt diese kindliche Spiritualität oft unentwickelt und kann dann im
Falle von Krisen nur bedingt als Unterstützung dienen.
Im Falle von traumatisch bedingter Abspaltung dieser kindlichen Spiritualität können
die abgespaltenen Teile auf der Altersstufe der Traumaerfahrung verbleiben.
Das hieße z.B., ein durch Traumatisierung verlorenes Urvertrauen könnte in einer
religiösen Wahnbildung abgespalten wieder zum Vorschein kommen.
Wir wissen seit S. Freud, dass Symptome eine Kompromissbildung sind zwischen
konstruktiven und destruktiven Kräften.
Angewendet auf die religiöse Wahnbildung könnte das bedeuten, dass die spirituelle
Dimension des Symptoms das konstruktive Element wäre, basierend auf einer
wesenseigenen spirituellen Tiefe des Bewusstseins, dass jedoch besonders die
Isolation und Abspaltung die zugehörigen Wahn bildenden Phänomene sind.
Immer wieder tauchen im Bewusstsein der Psychoseerfahrenen, z.B. im Inhalt und in
der Qualität der Stimmen religiöse Empfindungen auf, die aber wahnhaft anmuten
oder gar schädliche Auswirkungen durch die unter Umständen verrückten
Anweisungen der Stimmen auf die Betroffenen haben. In der Fragmentierung des
Bewusstseins fällt man nicht zwangsläufig in die »Hölle« sondern manchmal auch in
den »Himmel«, oder meistens in eine Mischung aus beidem. Daher gilt es hier den
Unterschied zwischen den religiösen Konzepten und Gedankeninhalten und der
spirituellen Bewusstseinsqualität zu begreifen. Gelingt es, diese spirituelle
Bewusstseinstiefe durch Kontaktaufnahme zu integrieren, so ist das ein immenser
Selbst-Stabilisierungsfaktor, ein Resilienzfaktor.
Das heißt, dass neben der Desidentifikation von den destruktiven
Bewusstseinsinhalten durch das Erlernen von Gewahrsein, das Herstellen eines
7
In der Psychologie wird mit Resilienz die Stärke eines Menschen bezeichnet, Lebenskrisen wie schwere
Krankheiten, lange Arbeitslosigkeit, Verlust von nahestehenden Menschen, oder ähnliches, ohne anhaltende
Beeinträchtigung durchzustehen.
74
qualitativ guten, also vertrauensvollen Kontaktes, in dem Präsenz enthalten ist, die
kleinste spirituelle Einheit, das >Wir< - also Bindung - die entscheidende heilsame
Kraft ist.
»So wird in der Gestalttherapie Selbsterfahrung beschrieben und diese SELBST- Erfahrung ist die
heilende integrative Qualität des Kontaktes, denn der vollständige Kontakt schafft Präsenz. Die Übung
von Gewahrsein ist eine Desidentifikationsübung vom Denkprozess und entspricht den Meditationsund Kontemplationsübungen, die in den spirituellen Schulungen angewendet werden, um die
spirituelle Wesenstiefe zu gewahren. Die grundlegende Methode ist also sowohl in der Gestalttherapie,
als auch in der spirituellen Schulung,…, das Üben von Gewahrsein um das SELBST zu erfahren. «
(Gemsemer 1997)
Bei vollem Gewahrsein gibt es keine Identifikation mit dem Denkprozess und damit
keine Wirkung des Schmerzkörpers.
»Gewahrsein ist die Schnittstelle zwischen dem von der Gestalttherapie beschriebenen Kontaktprozess
und den der Psyche innewohnenden spirituellen Dimensionen (ebd.). «
Daher begibt man sich ja in spirituelle Übungswege, wie Meditation oder Yoga.
Durch die Kontakterfahrung wird also das Annehmen und Loslassen des
Schmerzkörpers von Kontakt zu Kontakt immer wieder gelernt, indem immer wieder
Gewahrsein geübt wird. Ist diese Funktion verfügbarer, so besteht eine zunehmende
Verbindung des Wachbewusstseins zum SELBST. Der Identifikationsfokus lockert
sich, ist weniger starr und verschiebt sich zum SELBST. Das ist m. E. hilfreich und
erforderlich, um einen von Psychose betroffenen Menschen wieder zur
Selbsterfahrung zu begleiten.
Hier wird nun deutlich, dass sowohl die Psychose Betroffene, als auch die
Therapeutin durch diese quasi uralte spirituelle Praxis, der Desidentifikation vom
Denkprozess und mit Hilfe des guten Kontaktes sich auf den Weg einer
Bewusstseinsevolution begeben, wie sie in diesen alten spirituellen Übungswegen
(Kontemplation, Zen, Vipassana, Yoga) schon vorgezeichnet waren. Demnach zeigt
die Auseinandersetzung mit existentiellen psychischen Störungen wie Psychosen oder
dissoziativen Störungen die Möglichkeit einer Bewusstseinsevolution auf, in der die
verrückten Wertbildungsprozesse (Stimmen) geschaut, dadurch als relativ begriffen und entlarvt werden können.
Und genau das Erlernen dieser Bewusstseinsqualität ist meines Erachtens auch für
unsere Zivilisation notwendig, um den kollektiven Wahnsinn zu stoppen.
Diese Perspektive ist demnach transrational - über das Denken hinaus gehend. Dann
gilt nicht mehr Descartes: Ich denke also bin ich, sondern: Ich nehme uns wahr, also
sind wir!! Es geht nur zusammen, nur durch vertrauensvolle Kooperation!
8.
Aufbau von Bindung
Für Psychose erfahrene, traumatisierte Menschen und ihre therapeutischen Begleiter
stellt sich also die Aufgabe den Traumafolgeprozess, die Zerstörung von Vertrauen
und Kooperation wieder umzukehren.
75
D. h.:
 Bindung wieder herstellen,
und diese
 geschützt
 sicher,
 verlässlich,
 übersichtlich,
 berechenbar,
 eben wieder vertrauenswürdig erscheinen zu lassen.
 Und – das ist die erweiterte spirituelle Perspektive- die Desidentifikation vom
Denken zu fördern.
Also
 Vertrauen wieder aufbauen.
Das ergibt die Chance von gutem Kontakt in dem o. g. Sinne. In diesem guten
Kontakt können dann die durch das Trauma bedingten (psychotischen) Alpträume
und Stimmen in einem neuen sinnvolleren, dem eigentlichen Kontext verstanden
werden. Hierzu müssten die als Gegenwart und Realität erscheinenden Eindrücke als
Trauma bedingte, traumähnlich verzerrte Erinnerungen verstanden werden.
Durch diese Entzerrung und neue Zuordnung kann klar werden, dass solche
Erinnerungen keine Macht mehr über die Gegenwart besitzen, was ja ursprünglich in
der traumatischen Realität sehr stark der Fall war!
Hierzu bedarf es aber u. U. eines geduldigen Wiedererlernens der Fähigkeit die
Traumaereignisse und Folgeerscheinungen als Erinnerungen zu erkennen, weil diese
Funktion ja zusammengebrochen war, wobei uns das Erlernen von Gewahrsein hilft.
So werden die höheren Funktionen des Gehirns zur Synapsenbildung dadurch anregt,
dass man sie benutzt (Use it or loose it).
8.
Zusammenfassung
Eine spirituelle Perspektive zum Thema Psychose und Stimmenhören






erweitert den Horizont vom Individuellen hin zum Kollektiven,
zum politischen Begreifens der Gedanken, Vorstellungen und Konzepte, die zu
Traumageschichte und Traumakultur geworden sind, in der wir leben,
zeigt, dass schwere psychische Störungen wie Psychosen und dissoziative
Störungen dadurch entstehen, dass das Wertvollste, was wir haben –
Vertrauen und Bindung - zerstört wird.
dass uns dies bis in unsere Biochemie und Gedanken hinein durchdringen
kann.
dass die Stimmen der Psychosen - so gesehen - um Hilfe rufen und gehört
werden wollen.
Infolgedessen
setzt Heilung Wiederaufbau von Vertrauen und Bindung voraus.
76

ist sichere Bindung die Realisierung von Spiritualität im Alltag.
Und eine spirituelle Perspektive zum Thema Psychose und Stimmenhören





verbindet die qualitativ hochwertigen Stimmen Innen und Außen,
hebt also Isolation auf.
stärkt die Selbstposition gegenüber destruktiven Prozessen und destruktiven
Stimmen.
zeigt, dass Kooperation die Grundlage jeglichen sozialen, politischen und
psychisch gesunden Zusammenlebens ist.
erfasst die Relativität jeglicher Stimmen und jeglichen Denkens und gibt dem
Denken seinen Platz als Werkzeug, statt Denken als persönliche Identität zu
begreifen.
Letzteres ist ein evolutionärer Schritt im menschlichen Bewusstsein, den zu gehen
uns unsere spirituelle Entwicklung auffordert, damit wir Gedanken und
(psychotische) Stimmen in ihrer relativen Bedeutung verstehen.
9.
Abschluss
Als der Wasserstoff (H2) und der Sauerstoff (O2) nach langen galaktischen
Verhandlungen, in denen sie Rechthaberei und Starrsinn, Eitelkeit und Gier
überwinden mussten, übereinkamen zu kooperieren, entstand das
Wasser(H2O). Meere, Flüsse, Bäche, Seen, der Regen, das Eis und der
Schnee, Tümpel und Pfützen, der Nebel, der Dunst und der Morgentau
wurden geboren.
10.
Literatur:
Aderhold, V. (2005): Traumaforschung bei Menschen mit psychotischen Störungen.
In Schizophrenie: Mitteilungsorgan der gfts58 Jahrgang 21
Bauer, Joachim (2006):
Prinzip Menschlichkeit. Warum wir von Natur aus kooperieren. Hamburg
Dörner, Klaus und Plog, Ursula (1978): Irren ist menschlich. Wunstorf/Hannover
Dreitzel, H. P.( 1992): Reflexive Sinnlichkeit. Mensch, Umwelt, Gestalttherapie. Köln
Fromm-Reichmann, F.(1940): Notes on the mother role in the family group.. In: Bull.
Menninger Clin., 4, S.132-145.
Galuska, J.( 1996): Transpersonale stationäre Psychotherapie. In: Zeitschrift für
Transpersonale Psychologie und Psychotherapie. Nr. 1 Petersberg
77
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79
Meditation und Psychotherapie
Die Vertiefung des Bewusstseins als heilende Funktion
von Kurt Gemsemer 2012
Wir sind das, was wir denken.
Wir sind das, was wir denken.
Wie kann ein verwirrter Verstand
Alles, was wir sind, entsteht durch unsere
Gedanken.
Alles, was wir sind, entsteht durch unsere
Gedanken.
den Weg verstehen?
Mit unseren Gedanken erschaffen wir die
Welt.
Mit unseren Gedanken erschaffen wir die
Welt.
Spreche oder handle mit unreinen
Gedanken,
Spreche oder handle mit reinen
Gedanken,
und das Unglück wird dich verfolgen
und das Glück wird dir auf dem Fuße
folgen
wie das Rad den Ochsen, der den Karren
zieht.
wie dein Schatten, unerschütterlich.
Dein schlimmster Feind kann dir nicht
soviel anhaben wie deine eigenen
unkontrollierten Gedanken.
Aber hast du sie einmal unter Kontrolle,
so kann dir niemand behilflicher sein.
Nicht einmal mehr dein Vater oder deine
Mutter.
Dhammapada8
In dem vorliegenden Vortrag beschäftige ich mich mit dem Zusammenhang von
Psychotherapie und Meditation im Arbeitsfeld der psychosomatischen Medizin.
Es soll herausgearbeitet werden, wie sich Psychotherapie und Meditation gegenseitig
ergänzen und befruchten -, ohne sich jeweils ersetzen zu können.
Wirksame Schnittstellen von Psychotherapie und Meditation werden im Erlernen von
Desidentifikation und in der Entwicklung zunehmender Achtsamkeit erkannt.
In der Psychotherapie geschieht dies, um sich von Störungen und Leid zu befreien, wobei
unumgänglich Bewusstseinsvertiefung erlernt werden muss und dadurch qualitative
strukturelle Bewusstseinsveränderung bei wirksamer Psychotherapie entsteht.
In der Meditation ist die Reihenfolge umgekehrt. Hier wird Vertiefung und qualitative
Veränderung des Bewusstseins angestrebt. Im Idealfall führt dies zu Befreiung von Leid und
Störung, im Regelfall zu Entspannung und verbesserter Gesundheit, was zudem mit der
Identifikation mit tieferen und weiteren Bewusstseinsräumen einhergeht, die über das
Persönliche hinausgehen.
Zwischen Meditation und Psychotherapie liegt also die Polarität eines störungsorientierten
Modells und dem einer Salutogenese. Dazwischen befinden sich selbstverständlich viele
Übergänge.
So
hat
die
Psychotherapie
inzwischen
viele
Aspekte
von
Ressourcenorientierung und Salutogenese in ihren praktischen Alltag aufgenommen,
während in der Meditationspraxis manchmal Störungen auftauchen, die ein therapeutisches
Eingreifen erforderlich machen.
Einleitung
In der täglichen Arbeit mit den Patienten ist es in meiner Erfahrung zunächst einmal
wichtig, die Wirksamkeit der Bewusstseinsvertiefung ohne ideologische Anklänge in
den klinischen Alltag zu holen und therapeutisch nutzbar zu machen und damit in der
erfahrenen Wirkung, die Effizienz der Verbindung beider Methoden - Psychotherapie
und Meditation - zu belegen. Dann ergibt sich für die Patienten - im Wortsinne »wie
von Selbst« - eine Einsicht in die Wirksamkeit von Bewusstseinsvertiefung zur
Verbesserung ihrer Lebensqualität sowie zur Überwindung der vorhandenen
Störungen.
Dass wir in der Psychotherapie dabei die Werkzeuge benutzen, die schon immer in
spirituellen Schulungen genutzt wurden, ist quasi folgerichtig und wird heutzutage nur
8
Der Dhammapada ist eine Anthologie von Aussprüchen des Buddha. Dabei sind die Verse so
ausgewählt, dass sie den Kern der Lehre des Buddha wiedergeben. Es ist einer der bekanntesten
Texte dieser Lehre
80
mit Hilfe anderer Namen modernisiert. So ist inzwischen MBSR9 in den klinischen
Alltag der Psychosomatik eingezogen, stellt aber im Grunde eine modernisierte
Anwendung alter spiritueller Werkzeuge zur Bewusstseinsentwicklung, kombiniert
mit zeitgemäßer Psychoedukation, dar.
Oder nehmen wir die dialektisch behaviorale Therapie nach M. Linehan (Linehan
1993, 1995) als inzwischen in der Psychiatrie weit verbreitetes, evaluiert wirksames
und also wohl akzeptiertes Werkzeug in der Arbeit mit Patienten, die an
Strukturproblemen wie Borderline-Störungen leiden. Eine modernisierte Anwendung
auf dem Hintergrund des Zen-Buddhismus. Auch hier sind wesentlich Module zur
Schulung von Achtsamkeit beteiligt.
In ihm eigener Weise hatte schon Fritz Perls die tiefenpsychologische
Psychotherapie mit Hilfe von Werkzeugen auch aus dem Zen-Buddhismus als
Gestalttherapie neu erfunden und hat vielleicht, ohne es so zu benennen, eine der
ersten wirkungsvollen Synthesen aus Psychotherapie und (spiritueller)
Bewusstseinsschulung geschaffen.
Durch das Wissen um tiefere Bewusstseinsräume - und das Zugänglichmachen
derselben, wie z.B. von S. Grof (1983, 1985, 1987) beschrieben - wissen wir, dass es
dabei immer um die Erfahrbar- und Nutzbarmachung von bereits in uns
existierenden, heilsamen Bewusstseins Qualitäten geht.
Oder wie Thich Nhat Hanh (2008, S. 121) es heutzutage sagt: „[…] denn das
nachdem wir suchen, ist bereits in uns.“
Daher sind meine Thesen:
dass unser Bewusstsein in seiner Essenz und Tiefe heilsame Qualitäten enthält,
die in der Vertiefung und Evolution von Bewusstsein zugänglich werden und
so zur Heilung psychosomatischer Störungen wesentlich beitragen,
dass im Umkehrschluss bestimmte psychosomatische Erkrankungen Störungen
im Fortschreiten der Bewusstseinsevolution sind und
dass Menschen, die von solchen Störungen betroffen sind, einem
leidensbedingten Entwicklungsdruck unterliegen, der sich als Symptom
manifestieren
kann
und
sie
so
zum
Fortschreiten
ihrer
Bewusstseinsentwicklung auffordert.
Wir können auch mit K. Wilber (2006, 2007) von einem Emergenzdruck sprechen, in
dem Sinne, dass neue Bewusstseinsstrukturen selbstheilend aus größerer Tiefe
hervortreten wollen. Die Blockade oder die Störung, die als psychosomatische
Diagnose fassbar wird, ist dann so gesehen ein Kompromiss zwischen Festhalten
und Loslassen, zwischen Erneuerung und Tradition, zwischen Befreiung und
Gewohnheit, zwischen Identifikation und Desidentifikation.
Das funktionale und das dysfunktionale Dreieck
In meiner klinischen psychosomatischen Tätigkeit begegnete mir immer wieder
folgendes Dreieck, das in den psychoedukativen Gruppen Angst und/oder
Depression zur Anwendung gebracht wird.
9
Mindfullness based stress reduction nach John Kabat Zinn
81
Das Dreieck stammt aus der Arbeit des US-amerikanischen Psychiaters und
Psychotherapeuten Aaron Temkin Beck10. Er gilt als Vater der kognitiven
Verhaltenstherapie und somit der kognitiven Wende in der Psychotherapie, wodurch
Beck wesentlich zur verhaltenstherapeutischen Arbeit mit depressiven Störungen
beigetragen hat. Von ihm stammt z.B. der „BDI“- Becks Depresssionsinventar - der
der klinischen Einschätzung des Schweregrades der depressiven Stimmungslage bis
heute dient.
Seine kognitive Methode setzt an den negativen Denk- und Betrachtungsweisen und
den daraus resultierenden automatischen Gedanken an. Beck sieht psychische
Störungen also als Folge fehl angepasster Einstellungen einer einseitigen
Betrachtungsweise, resultierend aus unbewussten Gedanken und den daraus
resultierenden Denkfehlern.
Hierunter versteht Beck schnell (d.h. unbewusst) ablaufende, blitzartig auftretende, subjektiv
plausibel erscheinende und sich unfreiwillig einstellende Kognitionen/Gedanken, die
zwischen einem Ereignis (externaler oder internaler Art) und einem emotionalen Erleben
(Konsequenz) liegen. Diese automatischen Gedanken sind zumeist im Sinne von typischen
Denkfehlern verzerrt11.
Diese sich aufdrängenden automatischen Gedanken sind den Patienten zumeist zu Beginn
der Therapie nicht bewusst, können jedoch bewusst gemacht werden und sind dadurch der
therapeutischen Bearbeitung zugänglich.
Der Zusammenhang zwischen Gedanken, Gefühlen und Handlungen ist also ein erlebtes
Ereignis und wird in der Wiederholung zu einem Muster. Beck selbst nannte diese Muster
Schemata.
Wichtig dabei ist, zu verstehen, dass Gedanken und Gefühle in uns eng verknüpft sind und
dass sie sich blitzschnell spiegeln und hochschaukeln können und dabei mit entsprechender
Biochemie, Physiologie und Verhaltensimpulsen einhergehen.
Im Weiteren nehme ich ein blaues Dreieck als Repräsentant für dysfunktionale Muster und
ein weißes Dreieck für erlernte funktionale/gesunde Muster, also Ressourcen.
Auch der Patient in der Verhaltenstherapie muss die dysfunktionalen Muster
erkennen, bevor er sie ändern kann, und er muss das Loslassen von den alten
Mustern irgendwie vermittelt bekommen.
Folglich strebt die kognitive Verhaltenstherapie an, dass der Patient lernen soll (F7)
·
·
seine negativen, automatischen Gedanken (Kognitionen) zu kontrollieren
die Zusammenhänge zwischen Denken, Fühlen und Handeln zu erkennen
10
*18. Juli 1921 in Providence, Rhode Island
11
siehe Anhang
82
·
·
·
zu prüfen, was für oder gegen sein gestörtes automatisches Denken spricht
diese einseitigen Kognitionen durch ein stärker an der Realität orientiertes
Verständnis zu ersetzen
zu lernen, die irrigen, depressiogenen Überzeugungen, die seine Erfahrungen
verzerren, zu erkennen und zu ändern.
Hier werden bereits erhebliche Ansprüche an die Weiterentwicklung der
Konzentrationsfähigkeit,
Erforschung der Bewusstseinsinhalte,
Bewusstheit der Muster/Schemata,
Fähigkeit zur Desidentifikation, also der Steuerungsfähigkeit und damit an die
Entwicklung von Bewusstseinsstrukturen
Kontaktfähigkeit zu Therapeuten
gestellt!
Ziehen wir an dieser Stelle die 5 Grundprinzipien der Meditation aus dem Vortrag von D.
Galuska vom 30.11.2009 in Bad Kissingen heran. Die Grundprinzipien der Meditation sind:
Konzentration
Erkenntnis
Bewusstheit
Hingabe
Steuerung
Wir sehen bereits jetzt eine verblüffende Gemeinsamkeit:
Krise versus „Jetzt, die heilende Kraft der Gegenwart“ (Tolle 2002)
Zurück zum Klinikalltag: Wenn die Patienten mit ihrer Symptomatik in der Klinik
ankommen, sind sie mit ihren bisherigen Möglichkeiten, die angefallenen
Herausforderungen in ihrem Leben zu bewältigen, in eine Sackgasse geraten. Die
vorhandenen Fähigkeiten und Möglichkeiten reichen nun nicht mehr aus,
beziehungsweise sind inadäquat, um die gegebenen Herausforderungen zu
bewältigen. Die individuelle Integrationsfähigkeit ist zusammengebrochen. Sie
befinden sich im Zustand einer mehr oder weniger ausgeprägten Erschütterung.
83
In der Stagnation oder gar Desintegration entstehen die jeweiligen Symptome, ob
nun in Form von Angst, Depression, somatoformer Störung oder auch Sucht und
Psychose.
Natürlich ist die gegenwärtige Integrationsunfähigkeit von biographischen, familiären
und auch transgenerationalen Problemkonstellationen abhängig und baut auf der
individuellen, gegebenen Konstitution und Vulnerabilität auf. Dies alles wird vom
Patienten in seiner speziellen eigenen, individuellen Art und Weise erlebt und in
Symptomen verarbeitet, solange die Integrationsfähigkeit nicht wiederhergestellt
ist.
Wir sehen also, dass es neben den individuell vorgegebenen, konstitutionellen
Bedingungen ein Erfahrungsspektrum und eine darin enthaltene Integrationsfähigkeit
gibt, welche durch entsprechende Selbst-Erfahrungen geprägt werden.
Es handelt sich um:
transgenerationale
perinatale
Bindungserfahrungen
biographische
life-events
und gegenwärtige Erfahrungen
Erfahrungen sind immer Beziehungserfahrungen mit Personen oder mit anderen
Teilen der Welt und können funktional oder dysfunktional sein. Und in der Ganzheit
dieser Erfahrungen formt sich und formen wir unsere Integrationsfähigkeit innerhalb
unserer Persönlichkeitsentwicklung.
Damit aber ist das Dreieck - sind die Schemata - überall im Spiel als funktionales
(weißes) oder dysfunktionales (blaues) Muster und bestimmen sowohl unsere
84
Persönlichkeitsentwicklung als auch unser gegenwärtiges Denken, Fühlen und
Handeln, also unser gegenwärtiges Erleben, solange die Muster unbewusst bleiben.
Veränderung
Im wohlbekannten Schema, welches den Angstkreislauf beschreibt, sehen wir, wie
eine gegebene Situation als äußerer Reiz dargestellt, wahrgenommen und
unmittelbar als Bedrohung fehlinterpretiert wird, sodass Angst entsteht. Damit ist das
schematische Dreieck in Gang gesetzt und erzeugt Gefühle, die sich biochemisch
auswirken.
Die klinische Erfahrung zeigt, dass Gedanken sich unmittelbar in Gefühlen spiegeln
können, und E. Tolle (2002) weist darauf hin, dass Gefühle die Widerspiegelung der
Gedanken im Materiellen seien. Gefühle haben erfahrungsgemäß eine starke
körperliche Komponente und verfügen entsprechend über eine eigene Biochemie.
Die biochemische Reaktion wird zur physiologischen und diese wiederum erzeugt
weitere körperliche Symptome, sodass die Angst verstärkt körperlich wahrgenommen
wird. Damit ist der oben dargestellte Angstkreislauf in Gang gesetzt und kann sich in
kürzester Zeit dramatisch bis zur Panik steigern.
Das heißt, dass die jeweilige mentale Interpretation einer äußeren Situation,
sehr unterschiedliche biochemische Reaktionen hervorrufen kann.
Dasselbe gilt natürlich auch für den Teufelskreis der Depression. Hier finden wir
immer negative Gedankenmuster, also dysfunktionale Gedanken, welche die
entsprechende emotionale Verstimmung der Trauer, Niedergeschlagenheit,
Hoffnungslosigkeit, Verlustgefühle, Einsamkeit, Schuldgefühle, Gefühle der
Gefühllosigkeit und Distanz zur Umwelt oder Besorgnis aufrechterhalten. Diese
Gefühle gehen natürlich wieder mit der entsprechenden Biochemie einher, sodass
physiologische Reaktionen entstehen.
Körperlich wird das als innere Unruhe, Erregung, Spannung, Reizbarkeit, vor allem
85
auch als Schlafstörung, Appetitlosigkeit und Libidoverlust wahrgenommen, aber auch
als andere allgemeine vegetative Beschwerden, wie Kopfschmerzen, Müdigkeit oder
Erschöpfung. Manchmal kommen auch in der physiologischen Reaktion Symptome
vor, die als Manifestation einer organisch bedingten Erkrankung missverstanden
werden. Wenn sich eine depressive Verfassung nur auf dieser Ebene zeigt, hatte
man früher von einer lavierten Depression gesprochen, während man dies heute als
somatoforme Störung einordnen würde.
Die Identifikation oder Desidentifikation mit unseren Gedanken und Gefühlen
beeinflusst also das Verhalten der Serotonin/Noradrenalin/Dopamin-Moleküle
und ihrer Rezeptoren und geht mit entsprechender Biochemie und weiterem
physiologischen Geschehen einher.
So wird nun klar, dass das Ziel jeglicher psychosomatischen Therapie die
Veränderung eines bisherigen dysfunktionalen Schemas aus Gedanken, Gefühlen
und Handlungen hin zu einer funktionalen, gesunden Möglichkeit aus eben diesen
Gedanken, Gefühlen und Handlungen im sozialen und kulturellen Kontext sein
müsste.
Entsprechend beschäftigen sich die verschiedenen Therapieansätze mit der
Auflösung der alten Schemata. Dies geschieht entweder gegenwartsorientiert durch
Verhaltensänderung oder in dem an den biografischen, psychodynamischen
Zusammenhängen gearbeitet wird, um die alten Schemata aufzulösen.
Körpertherapeutisch lässt sich am somatischen Aspekt der Gefühle arbeiten, um dort
das Muster zu unterbrechen.
Immanent sind diesen Ansätzen jedoch selbstredend eine Verbesserung der
Wahrnehmungsqualität und eine Vertiefung der Wahrnehmung, da etwas der
Verarbeitung zugänglich gemacht wird, was bisher unbewusst und damit der
Wahrnehmung nicht zugänglich war. Die Wahrnehmung in der psychosomatischen
Psychotherapie dringt also in die Tiefe des bislang Unbewussten vor.
Dem Dreieck fehlt jedoch noch etwas Wesentliches, nämlich der Aspekt,
wer dieses Dreieck, wie - mit welcher Qualität und Differenziertheit 86
wahrnimmt und zwar in seiner mentalen, emotionalen, Werte-bedingten,
handelnden und sozialen Dimension.
Denn das gab es in der Beck'schen kognitiven Verhaltenstherapie noch nicht,
dass man über eine Dimension der Wahrnehmungsvertiefung sprechen
konnte.
Genau
dies
taucht
aber
in
neueren
verhaltenstherapeutischen
12
Vorgehensweisen wie der ACT auf.
Achtsamkeit
Im Zusammenhang zwischen Psychotherapie und Meditation wird die Qualität und
Verfeinerung der Wahrnehmung zur gemeinsamen Schnittmenge.
Diese zu entwickelnde Qualität der Wahrnehmung müssen wir nunmehr zu unserem
Dreieck in Beziehung setzen und stellen uns dies am ehesten als einen
(Bewusstseins-) Raum rings um das bisher zweidimensionale Dreieck vor. Dieser
Raum wird durch die Meditation eröffnet, sodass
in der weiteren Vertiefung das blaue Dreieck bewusster und dadurch transparenter
wird, das Muster also durchschaubarer und schließlich zu einem funktionalen
Schema (weißes Dreieck) transformiert werden kann.
Alle Meditationsübungen dienen dem Ziel der Verfeinerung und Vertiefung der
Wahrnehmung hin zur Präsenz.
Wir sitzen still und aufrecht auf einem Kissen oder einem Stuhl und legen auf diese
Weise unser Verhalten fest. Wir tun nichts, außer still zu sitzen und beginnen nun
zunehmend unsere Wahrnehmung zu qualifizieren. Das tun wir, in dem wir zum
Beispiel beobachten, wie wir atmen und immer wieder zu dieser Wahrnehmung
zurückkehren, falls wir abgelenkt werden. Hierdurch beginnt sich der Geist zu
12
12
Acceptance and Commitment Therapy, (Segal, Teasdale, Williams 2008)
87
beruhigen und Gedanken und Gefühle werden immer deutlicher als Objekte im
Bewusstsein wahrnehmbar, werden also mehr und mehr von der Realität an sich
differenziert, als welche Gedanken und Gefühle mehrheitlich in unseren derzeitigen
kulturellen und mentalen Möglichkeiten noch erlebt werden. Wir lernen nun immer
mehr die Wahrnehmung als solche und die darin enthaltenen Qualitäten zu erfahren.
Das Bewusstsein an sich ist leer, umgibt die Objekte und durchdringt sie. „Leere ist
Form und Form ist Leere“, sagen die Mystiker.
So finden wir immer mehr Stille in uns, je mehr wir uns der Wahrnehmung selbst
zuwenden. Dann tauchen zwar weiterhin Inhalte des Bewusstseins auf, werden aber
immer weniger mit dem Bewusstsein selbst identifiziert, abgesehen davon, dass sie
als Geschöpfe unseres Bewusstseins natürlich auch aus Bewusstsein bestehen. Nur
wird nun der Angst oder den Depression die Grundlage genommen, da man sie so
als eigene Gedanken-Schöpfungen zu erkennen vermag.
Der in der Verhaltenstherapie angestrebte Vorgang, dass Gefühle (Angst) auftauchen
und wieder abklingen, ist hier völlig selbstverständlich und wird durch die Meditation
quasi beständig geübt. In gewissem Sinne üben wir so permanent eine Form der
Impulssteuerung und verbessern damit z.B. die Fähigkeiten zur Selbststeuerung.
Wir üben also in der Meditation eine sehr geeignete Form der Wahrnehmungsund
Strukturverbesserung unseres Bewusstseins, die wir für die
Selbsterforschung in der Psychotherapie nicht nur brauchen, sondern auch
konstruktiv im Weiteren nutzen können.
Dieser Vorgang relativiert die Position unseres Verstandes. Der denkende Verstand,
die Ratio, verliert seine identitätsstiftende Funktion (»Ich denke also bin ich«) und
findet seine ihm zukommende evolutionäre Position - nämlich ein bloßes Werkzeug
zu sein. Wir lernen uns mehr mit der Wahrnehmung als solcher zu identifizieren und
die Objekte als relativ zu begreifen. Damit wird natürlich das ganze bisherige Konzept
der Persönlichkeit13 transparent für die sich nun zeigende, dahinterliegende Tiefe und
Weite des Bewusstseins. Diese können wir hier in alter Tradition Seele nennen
(Galuska 2005), waren doch alle Erfahrungen, die wir gemacht hatten, im Spiegel der
Gegenwart zu Erinnerungen geworden und damit zu Objekten im Bewusstsein. Aus
dieser Perspektive schauen wir also beseelt auf unsere Persönlichkeit und die darin
enthaltenen Muster. Wir können dann sagen, unsere Seele erlebt eine Persönlichkeit,
ohne darin verhaftet zu sein. Umgangssprachlich könnte man sagen, dass man sich
aus dieser Perspektive durchschaut. Wobei das aus dieser Sichtweise freundlich,
akzeptierend und wohlwollend, eben liebevoll geschieht.
Durch das beständige Üben dieses Vorgangs, wird der beseelte Zustand zur neuen
Struktur im Bewusstsein.
Je deutlicher das einzelne Muster durchschaut wird, desto mehr werden aus dieser
Perspektive die Gedanken-Gefühls-Verhaltensmuster zu etwas Wählbarem und
können den Organismus nicht mehr wie die von A.T. Beck beschriebenen
automatischen Gedankenformationen automatisch, d.h. unbewusst ergreifen und
steuern.
Aus psychotherapeutischer Perspektive müssten wir den Vorgang der
Bewusstmachung für jedes einzelne dysfunktionale Muster vollziehen und dieses
13
Summe aus Erinnerungen von Selbsterfahrungen, also Interaktionen – immer enthaltend:
Gedanken, Gefühle und Verhaltensweisen
1313
88
durch ein funktionales ersetzen - und das geschieht auch in der Therapie, ja muss
sogar geschehen - solange der Raum, der jenseits der Identifikation mit den Mustern
liegt, nicht aufrechterhalten werden kann.
Hätten wir jedoch diesen Raum und diese Weite als psychische Struktur stabiler
verfügbar in unsere Wahrnehmung integriert, müssten wir nicht jedes Mal das Rad
neu erfinden, sondern verfügten grundsätzlich über eine Wählbarkeit, was die Ebene
der Gedanken anbeträfe.
Hier könnten wir evolutionär sowohl individuell als kulturell aber auch sozialpolitisch
eine immense Kraft entfalten, wenn wir verstehen würden, dass und wie die Qualität
unserer Gedanken, d.h. die Wählbarkeit derselben enormen Einfluss auf unsere
Lebensqualität als Individuen und Gesellschaft ausübt.
Wir gelangen hier zu einem Verständnis der Verfeinerung unserer Willensfunktion –
zu einer qualitativen Zunahme des freien Willens - durch die Zunahme der Fähigkeit
zur Desidentifikation. Das wirkt individuell körperlich bis zu den entsprechenden
synaptischen Prozessen im ZNS als auch im Sozialen im Sinne geringerer
Manipulierbarkeit (durch Stimulation unbewusster Prozesse).
Um ein simples Beispiel zu nennen: Manipulation durch Werbung wäre dann nicht
mehr möglich.
Thich Nhat Hanh spricht hier vom Inter-Sein (2003) und schlägt in seiner modernen
Übersetzung der buddhistischen Psychologie die achtsame Wahl aus Gedanken,
Gefühlen und Handlungen vor.
Die Vertiefung, Verfeinerung und Pflege der Wahrnehmung auf diesem Wege können
wir Achtsamkeit nennen.
Achtsamkeit
ist
demnach
die
Steuerungsfähigkeit
der
eigenen
Aufmerksamkeit, eine sinnliche Wahrnehmung dessen, was hier und jetzt
geschieht - reflexive Sinnlichkeit - unparteiisch, nicht wertend, aber voller
Leidenschaft für das, was geschieht. Wir begeben uns auf diese Weise in die
Raum-Zeit »Hier und Jetzt«, wo schöpferische Indifferenz erfahrbar wird und
sich die Tiefe des Bewusstseins öffnet, aus der Neues emergiert.
Wir können der Emergenz des Neuen sozusagen beiwohnen, die eigene
Inspiration staunend wahrnehmen.
Die qualitative Zunahme der Achtsamkeit erfolgt dadurch, dass die
Aufmerksamkeit immer weiter ins »Hier und Jetzt« und damit in die Tiefe des
Bewusstseins gelangt.
Eben das verstehen wir unter Präsenz, nämlich dass die Aufmerksamkeit immer
weiter ins »Hier und Jetzt« gelangt, sich ihrer selbst bewusst wird und uns damit die
Tiefe und Weite unseres eigenen Bewusstseins erschließt.
Achtsamkeit könnten wir demnach als eine Form von dynamischer Aufmerksamkeit
beschreiben, die je gegenwärtiger, desto differenzierter funktioniert. Die Präsenz wird zur
Stellschraube am Mikroskop der Aufmerksamkeit und stellt eine zunehmende
Bewusstseinstiefe zur Verfügung, von der aus die geschauten Objekte immer brillanter und in
ihrem Sinn verständlicher abgebildet werden.
»Leer« oder »still« ist dann schon eine sehr feine Einstellung des Mikroskops.
89
Kontakt als wesentlicher Vertiefungsvorgang des Bewusstseins in der
Therapie
Seit Grawes (2001) Arbeit ist es inzwischen allgemeinverbindliches
psychotherapeutisches Wissen, dass der qualitativ gute therapeutische Kontakt der
wichtigste Faktor für eine heilsame Psychotherapie ist.
Dieser Kontakt ist dann gut und heilsam, wenn darin Vertrauen (wieder) herstellbar
wird. Dann kann der Patient neue heilsame Werte, die mit entsprechenden Gefühlen
und dadurch mit veränderter Biochemie und anderem, nämlich heilsamem Verhalten
einhergehen, annehmen und festigen.
Vertraut sich der Patient an, dann wird er offen für die hoffentlich heilsamen
Vorstellungen des Therapeuten. Wir sprechen moderner Weise von Compliance.
Psychoedukation spielt hierbei eine wichtige Rolle, weil der Patient so wesentlich
tiefer und differenzierter seine bisherige, durch die Störung beeinträchtigte Situation
verstehen und wahrzunehmen lernt. Das ist aber nicht alles, sondern der
vertrauensvolle Kontakt vertieft das Bewusstsein noch weiter, um es in die für
Heilung erforderlichen Tiefen zu geleiten.
Darüber habe ich bereits in dem Aufsatz „Transpersonale Aspekte der Gestalttherapie in der
Psychosetherapie“ geschrieben (1997).
Kurz zusammengefasst geht es um Folgendes:
In einem heilsamen Kontakt, wie wir ihn in der Gestalttherapie verstehen und wie dieser
modellhaft für psychotherapeutisches Vorgehen sein könnte, üben wir Achtsamkeit (in der
Gestalttherapie awareness) in der Begegnung mit dem »Du«. In dieser Begegnung ist die
Desidentifikation von Ego-Grenzen enthalten, die ja nun ihrerseits Gedanken Konstrukte
sind. Wir erlauben das Entstehen eines »Wir«. Dieses »Wir« ist nicht einfach die Summe
seiner Teile, sondern überraschend, nicht planbar, eben eine neue Gestalt.
Bei vollem Gewahrsein und der darin entstandenen Präsenz gibt es keine Identifikation mit
dem Denkprozess und damit keinen angstvoll kontrahierten Egoprozess, der den Kontakt
dominieren könnte.
Damit wird, um es mit anderen Worten auszudrücken, der seelische Raum jenseits des
Egoprozesses geöffnet und die Verbindung zur Seele hergestellt, in dem unser Dreieck
funktional ist und transformiert wird.
Stephen Schoen, ein zeitgenössischer Gestalttherapeut, schreibt: „In der Tat, die Heilung in
der Therapie ist die Entwicklung der spirituellen Fähigkeiten des Klienten, seine Tiefe der
Selbst-Akzeptanz und sein Mitgefühl für andere. Nennen wir doch diese Einstellung zu sich
selbst und anderen einfach ‚Liebe‘!“ Weiter schreibt er: „Die Heilung ist, was der Dialog im
Inneren des Klienten erweckt, nämlich seine immer stärker werdende Selbst-Akzeptanz.“
(Schoen 2009, S. 4-6)
Ein solcher heilsamer »Wir«-Kontakt öffnet demnach die der Psyche innewohnenden
spirituellen Dimensionen und ermöglicht die Transformation vom blauen zum weißen
Dreieck.
Auf dem spirituellen Weg der Bewusstseinsvertiefung ist das der Weg der Hingabe, der
existiert seit es Meditationslehrer und ihre Schüler gibt. In der Psychotherapie ist es der
Placeboeffekt oder das was wir auch mit Compliance umschreiben, jedenfalls das
therapeutisch wirksame Vertrauen.
Evolution
Desidentifikation von den Mustern und Identifikation mit der Tiefe und Weite unseres
Bewusstseins wird hierbei zu einer wichtigen, neuen Fähigkeit, Tätigkeit und
schließlich Struktur des Bewusstseins. Da alle unsere Konzepte und Vorstellungen
von uns selbst zu unserer personalen Identität gehörten, führt uns die
Desidentifikation über den personalen Bereich hinaus. Zunächst als wiederholt
erfahrbare Zustände, durch Wiederholung und Übung jedoch zu einer neuen Struktur
90
werdend, die wir nunmehr auch transpersonal oder beseelt nennen können.
Und genau das ist der zu erlernende Schritt in der Evolution des Bewusstseins, der
uns eine wesentliche Hilfe bei der Heilung psychosomatischer Störungen sein würde.
Hier haben wir nun eine Perspektive aus der die vorliegenden psychosomatischen
Störungen viel leichter erkennbar und kontextualisierbar sind und in ihrer Bedeutung
für die Entwicklung der Persönlichkeit verständlich werden. Hier finden wir die
Perspektive, die sichtbar macht, was emergieren will.
Wir haben also 2 grundsätzliche Vorgehensweisen die zu Vertiefungen des
Bewusstseins führen:
Jene psychotherapeutische Vorgehensweise, die sich anhand der Störungen
in die Tiefe des Bewusstseins vor tastet. Das ist die Geschichte der
Psychotherapie von Freud zu Jung und später dann zu Forschern wie Grof
(s.o.) und Widmer (1989), in deren Arbeit die Berührung zu den spirituellen
Dimensionen der Psyche im Geburts/Sterbeprozess ganz offensichtlich wird.
Die meditative Vorgehensweise entlang der Verfeinerung und Vertiefung von
Präsenz in den spirituellen Traditionen. Hier folgt die Vertiefung jener
Gesetzmäßigkeit, wie sie von den alten und neuen Meditationsschulen
beschrieben und inzwischen wissenschaftlich verifiziert wurde (Belschner
2009, Grossman et al. 2004).
(Wenn Menschen diesen Prozess der Bewusstseinsvertiefung gemäß den Regeln und
Abläufen der Meditation erlernen, machen sie also bestimmte, verifizierbare Erfahrungen.
Um von einer Stufe zur nächsten zu gelangen, müssen die Objekte im Geist erkannt und
losgelassen werden, sodass sich die Aufmerksamkeit verfeinern kann. Indem sich das
Bewusstsein sich selbst zuwendet, werden bestimmte Erfahrungen also erst möglich.
Das Erstaunliche hierbei ist, dass der Teil der Gedanken immer weniger wird, bzw. eine
bestimmte Ethik der Kooperation entsteht und die Gefühle bestimmten Qualitäten, nämlich
denen des Mitgefühls folgen und die Handlungen entsprechend ausgerichtet sind. All dies ist
in der Summe wegbereitend und unabdingbar für psychosomatische Heilungsprozesse. Auf
diese Art entsteht Salutogenese.
Zusammenfassung
Wenn wir akzeptieren, dass die Vertiefung von Bewusstsein einem evolutionären Prozess
folgt, wie dieser in den großen spirituellen (mystischen) Richtungen aufgezeigt und von
Einzelnen (Mystikern) bereits sehr weit beschritten wurde, könnten wir uns die
Schlussfolgerung erlauben, dass unsere psychotherapeutische Arbeit innerhalb dieses
Prozesses geschieht.
Die Evolution des Bewusstseins hätte dann - so gesehen - die Psychotherapie in ihrer
derzeitigen Erscheinungsform hervorgebracht. Genauer: Die Aufgabe der psychotherapeutischen Arbeit wäre es also, den in Stagnation geratenen evolutionären Prozess der
Bewusstseinsvertiefung, der sich in psychosomatischen Symptomen äußert, immer wieder
neu anzukurbeln.
Aus dieser hier beschriebenen Perspektive sind wir Psychotherapeutinnen und
Psychotherapeuten also Dienstleistende in der Bewusstseinsevolution unserer
Zivilisation.
Die Schwelle, an der dieser evolutionäre Prozess in unserer Zeit angelangt zu sein scheint,
lässt sich somit als Herausforderung begreifen, über den rationalen Verstand hinaus zu
gelangen und so die ausschließliche Identifikation mit dem rationalen Verstand aufzulösen,
um zu jenen tieferen, heilsamen Schichten des Bewusstseins zu gelangen.
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Der Verstand würde dann in der weiteren Bewusstseinsevolution zu einem wertvollen
Werkzeug, würde aber seine Funktion als Identität verlieren. Wir würden also nicht unseren
Verstand verlieren, sondern nur seine Funktion als Identität (Tolle 2002). Unsere Identität
wäre dann mehr »Teil eines Ganzen« und stünde mit diesem Ganzen im achtsamen,
beständigen Kontakt. Die Aufgabe der Identität wäre ein »Wir« mit diesem Ganzen zu
werden und damit die Bewusstseinstiefe dieses Ganzen als Quelle für Heilungsvorgänge zu
verstehen und zu nutzen. Mit Thich Nhat Hanh (2003) gesprochen, geht also um „Inter-Sein“
und die Lehre vom „Nicht-Selbst“.
Mit zunehmender Bewusstseinsvertiefung werden auch die unterschiedlichen Lehren der
therapeutischen Schulen zu nützlichen Objekten in unserem Geist, denen wir nicht mehr
anhaften müssen. Wir können diese nunmehr als Werkzeuge zum geeigneten Zeitpunkt und
entsprechenden Zweck verwenden und verfügen so über eine integrale Therapie. Die
Perspektive, aus der wir diese Werkzeuge - Verhaltenstherapie, tiefenpsychologische
Psychotherapie, Körperpsychotherapie etc. - zur Anwendung bringen, liegt jenseits der
Perspektive der einzelnen Schule, kann diese aber nutzen.
Es ist also die Vertiefung und Verfeinerung der gegenseitigen Wahrnehmung hin zu mehr
und mehr Präsenz, die Heilung ermöglicht.
Anhang
A.T. Beck:
3. kognitive Triade: Die Gedankeninhalte betreffen das Selbst, die Welt und die
Zukunft. Der Patient hat ein negatives Selbstbild, er beurteilt sich selbst als
fehlerhaft, unzulänglich, wertlos und nicht begehrenswert. Diese Gedanken
gehen so weit, dass der Betroffene denkt, ihm fehlen Eigenschaften, um
glücklich zu sein. Außerdem neigt er dazu, sich zu unterschätzen und zu
kritisieren. Erfahrungen werden in der Regel negativ interpretiert, subjektiv
werden überwiegend Enttäuschungen und Niederlagen empfunden und auch
die Zukunftserwartung ist negativ geprägt. Eine Veränderung der gegenwärtig
empfundenen Situation wird ebenso wenig als möglich angenommen, wie eine
eigene Beteiligung an dieser.
4. Schemata: Die genannten Kognitionen gehen auf Schemata zurück, die aus
vergangenen Erfahrungen entstanden sind. Mit diesem Konzept wird erklärt,
warum ein depressiver Patient trotz objektiver Belege für positive Faktoren in
seinem Leben seine schmerzverursachende und selbstverletzende Haltung
beibehält. Schemata sind hier stabile kognitive Verarbeitungsmuster, die sich
in der Kindheit und Jugend herausgebildet haben. Sie können für längere Zeit
inaktiv sein, aber durch bestimmte Umweltereignisse (z.B. Stresssituationen)
reaktiviert werden.
5. kognitive Fehler: Aufgrund der in der Kindheit gelernten Schemata findet laut
Beck bei Depressiven eine fehlerhafte Informationsverarbeitung statt, die dem
von Piaget beschriebenen kindlichen Denken ähnelt. Die Annahmen sind
eindimensional, global, invariabel, verabsolutierend oder irreversibel.
Zu diesen Kognitionen führen u. a. folgende »Denkfehler«
5. Willkürliche Schlussfolgerungen: Ohne sichtbaren Beweis oder sogar trotz
Gegenbeweisen werden willkürlich Schlussfolgerungen gezogen.
6. Übergeneralisierung nach dem Muster: Aufgrund eines Vorfalls wird eine
allgemeine Regel aufgestellt, die unterschiedslos auf ähnliche und unähnliche
Situationen angewendet wird.
92
7. Dichotomes Denken: Denken in Alles oder Nichts-Kategorien.
8. Personalisierung: Ereignisse werden ohne klaren Grund auf sich selbst
bezogen.
9. Selektive Abstraktion: Einige Einzelinformationen werden verwendet und
überbetont, um eine Situation zu interpretieren. Damit werden bestimmte
Informationen auf Kosten anderer überbewertet. Zum Beispiel wenn jemand,
der von allen gegrüßt wird, von jemandem nicht beachtet wird und denkt, dass
ihn keiner mag.
10.Maximieren und Minimieren: Negative Ereignisse werden übertrieben und
positive Ereignisse untertrieben. Zum Beispiel: »Dass ich einen bestimmten
Abschluss hinbekommen habe, ist nichts wert. Aber, dass der Kunde heute
noch nicht zurück gerufen hat, zeigt, dass ich ein schlechter Verkäufer bin!«
11.Katastrophisieren: Das Eintreffen oder die Bedeutung von negativen
Ereignissen wird stark überbewertet. „Meinen Kindern wird bestimmt etwas
Schlimmes passieren!"
12.Emotionale Beweisführung: Das Gefühl wird als Beweis für die Richtigkeit der
Gedanken genommen. »Ich fühle, dass ich nichts wert bin, also ist das auch
so!«
13.Etikettierung: Aus einer Handlung wird ein umfassender Sachverhalt gemacht,
z.B. »Ich habe verloren - ich bin ein absoluter Verlierer!«
14.Gedankenlesen: Man meint ohne nachzufragen, die Gedanken der anderen zu
kennen. „Die anderen denken, ich bin ein Versager!"
15.Tunnelblick (selektive Aufmerksamkeit): Jemand sieht nur einen bestimmten
Aspekt seines gegenwärtigen Lebens. »Wenn ich Stress auf der Arbeit habe,
dann ist mein Leben verpfuscht!«
Literatur
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Institute, Box 82, Concord, MA 01742, USA.
Summary:
The following speech deals with the relation between psychotherapy and meditation regarding
psychosomatic medicine.
It will be shown how psychotherapy and meditation complement and fertilize each other without mutual
replacement.
Interfaces of psychotherapy and meditation will be identified within the learning of disidentification and
the development of awareness.
In psychotherapy disidentification and awareness are used as a method to free oneself of disorder and
suffering. This inevitably leads to the development of consciousness so that effective therapy creates
the structural modification of consciousness as an outcome of effective psychotherapy.
Meditation works the other way around. Its purpose is to deepen and modify consciousness.
Ideally this leads to the riddance of suffering and disorder, usually to stress relaxation and improved
health but also to the identification with deeper and wider spaces of consciousness that transcend
personality.
Between meditation and psychotherapy there is the polarity of a disorder-based concept and the
concept of salutogenesis. In between, of course, there are a lot of transitions.
By now psychotherapy has integrated a lot of resource-based aspects and also salutogenesis in its
everyday work, while the emergence of disorders through meditation exercise that require therapeutic
intervention are not unusual.
Key words: psychotherapy and meditation, psychosomatic medicine, disidentification, development
of awareness, structural modification of consciousness, salutogenesis.
Autor:
Kurt Gemsemer: Facharzt für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie. Zunächst in verschiedenen psychiatrischen Institutionen, seit 1981 bis 2009 als
Gestalttherapeut in privater Praxis, zurzeit als Oberarzt in den Heiligenfeld Kliniken in Bad Kissingen tätig.
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Mitglied der Deutschen Vereinigung für Gestalt Therapie (DVG), Gestalt-Körpertherapiefortbildung. Fortbildung in systemischer Aufstellungsarbeit bei A. Mahr.
Langjährige Therapieerfahrung in der Arbeit mit Menschen in und nach psychotischen Krisen. Supervisionstätigkeit im sozialpsychiatrischen und psychiatrischen Bereich.
Veröffentlichungen zur Psychotherapie von Psychosen.
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