Ausschließlich bei Homo sapiens ist ein prominentes Kinn vorhanden. Homo erectus hat generell ein fliehendes Kinn, jedoch erkennt man bei einigen Fossilfunden den diskreten Ansatz einer Kinnbildung. Das Kinn von Homo rudolfensis ist fliehend, ähnlich wie das der Australopithecinen und Menschenaffen. Bei den Primaten ist die Form des Zahnbogens sehr variabel. Der moderne Mensch besitzt einen para- oder hyperbolischen Zahnbogen, in dem die Zahnreihen auseinander driften. Menschenaffen, so auch die Schimpansen, weisen meist einen Uförmigen Unterkiefer auf, in dem die Zahnreihen fast parallel zueinander stehen. Homo rudolfensis hat eine eher parabolische Zahnbogenform. Schimpanse Homo rudolfensis Homo sapiens Abbildung 40: Unterkiefer von Schimpanse, Homo rudolfensis und Homo sapiens Primaten besitzen ein heterodontes Gebiss, welches aus verschiedenen Zahntypen mit unterschiedlichen Funktionen besteht: - Schneidezähne (Incivisi) zum Abbeißen der Nahrung - Eckzähne (Canini), die vor allem bei Fleischfressern zum Greifen und Durchlöchern der Nahrung gebraucht werden - Vorbackenzähne (Prämolaren), welche die Nahrung ergreifen und festhalten - Backenzähne (Molaren) zum Zerkleinern und Zermahlen der Nahrung Höhere Säugetiere (Placentalia) haben ursprünglich pro Kieferhälfte drei Schneidezähne, einen Eckzahn, vier Vorbackenzähne und drei Backenzähne (vgl. Abb. 41). Daraus ergibt sich die Zahnformel 3.1.4.3. Keiner der heute rezenten Primaten besitzt jedoch noch diese ursprüngliche Zahnformel – die Schneidezähne wurden auf maximal zwei und die Vorbackenzähne auf maximal drei reduziert. Dabei sind bei Neuweltaffen die Prämolaren P2, P3 und P4 und bei Altweltaffen P3 und P4 erhalten geblieben. 56 Die Zahnformel des Menschen und der übrigen im Lernkoffer thematisierten Arten (Homo rudolfensis, Homo erectus/ergaster, Homo sapiens und Schimpanse) beträgt somit 2.1.2.3. Aussagen über die Ernährung früher Homininen lassen sich an den Größenverhältnissen und der Anzahl der Zähne, der Dicke des Zahnschmelzes und an der Abnutzung treffen. Dicker Zahnschmelz, wie man ihn auf den Zähnen des Unterkiefers von Homo rudolfensis findet, verlängert die Lebensdauer eines Zahnes und entstand als Anpassung an harte und trockene Nahrung. Die Australopithecinen und die ausgestorbenen Vertreter der Gattung Homo sowie der moderne Mensch selbst haben dicke Schmelzauflagen auf den Backenzähnen, während Abb. 41: Zahnformel des Menschen die afrikanischen Menschenaffen und Ardipithecus eine dünne Schmelzschicht besitzen. Im Vergleich zu ursprünglichen Säugetieren ist bei der Gattung Homo der Trend zur Reduktion der Zahnzahl deutlich erkennbar. Die Größe der Backenzähne nimmt bei Homo rudolfensis von M1 nach M3 zu, bei Homo sapiens hingegen werden die Backenzähne nach hinten hin kleiner. Bei manchen rezenten Menschen fehlt M3 („Weisheitszahn“) vollständig. Auch bei Homo erectus war der letzte Molar schon teilweise nicht mehr angelegt. Die Kronen der Backenzähne sind bei H. rudolfensis insgesamt größer als bei Homo sapiens. Homo erectus stellt eine Zwischenform dar. Die kleineren Molaren sowie das Ausbleiben von M3 bei etlichen rezenten Menschen und bei Homo erectus zeigen, dass die Backenzähne nicht mehr so intensiv für die Zerkleinerung der Nahrung gebraucht werden. Teilweise fehlen beim heutigen Menschen auch schon die oberen äußeren Schneidezähne und ein Prämolar. Die kulturelle Evolution wirkt sich also bei der Gattung Homo deutlich auf die Zahngröße und -anzahl aus. Die Eckzähne des modernen Menschen sind niedrig. Die Krone (vgl. Abb. 42) zeigt einen hohen Basisteil und einen kürzeren Spitzenteil. Bei allen nicht-menschlichen Primaten ist dieses Verhältnis umgekehrt. Die übrigen Menschenaffen besitzen stark 57