36. Reden über Trauma

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PSYCHO-NEWSLETTER NR. 36
E IN
KLEINER
L ITERATURRUNDFLUG
Im Auftrag der DGPT
von
Michael B. Buchholz und Karla Hoven-Buchholz
email: [email protected]
Mitte Oktober 2005
REDEN
M
ÜBER
TRAUMA – LITERATUR
anchmal ist es gut, sich noch einmal ältere Artikel zu einem Thema durch zu lesen.
Angesichts der weiter anschwellenden Debatte über das Trauma und die Notwendigkeit, dafür unbedingt spezielle Trauma-Therapeuten auszubilden, empfiehlt es sich erst
recht. An dieser Forderung, spezialisierte Therapeuten für eine spezialisierte Störung mit spezialisierten Ausbildungsgängen und spezialisierten Kompetenzen an spezialisierten Instituten auszubilden und alle diese Spezialisierungen anzuerkennen, wird unschwer erkennbar, wie sehr sich
inhaltliche, praktisch-klinische Perspektiven und Behandlungsstrategien mit außerklinischen Interessen von durchaus handfest ökonomischer Härte unentwirrbar verlöten. Diese Melange von
Theorie und Durchsetzungsstrategie am Markt findet man nicht nur in Verbindung mit dem
Thema „Trauma“, sondern auch in Verbindung mit der Auseinandersetzung um die Tiefenpsychologie oder früher um Gruppen- oder Familientherapie. Sie durchzieht ja auch die Auseinandersetzungen in der vergleichenden Psychotherapieforschung. Sage mir, in welcher schulischen Richtung Dein Experte ausgebildet ist und ich sage Dir, welche Ergebnisse seine Studie ausweisen wird. Ironischerweise wurde dieses Phänomen selbst wiederum recht gut von renommierten Psychotherapieforschern wie etwa Luborsky empirisch untersucht; in den PNL ist mehrfach davon die Rede gewesen.
Ach, wenn man Theorie und Durchsetzungsstrategie nur immer reinlich voneinander scheiden
könnte! Wie verhält sich das denn im Fall des Traumas? Entsetzlichkeiten, die Soldaten im Krieg
erlebt haben; Vergewaltigungen einer Frau durch entfesselte Soldateska; ein Verkehrsunfall; der
Tod eines Kindes; der frühe Verlust eines Elternteils oder beider Eltern – dies alles, so verschieden es auch ist, wird als „Trauma“ verstanden. Hinzu kommen aber noch ganz andere Erfahrungen: In einem der afrikanischen Kriege wird ein 14jähriger Junge zusammen mit seinen Eltern
gefangen genommen. Die Soldaten erklären, wenn seine Eltern ihn überreden könnten, sie zu
erschießen, dürfe er überleben; wenn nicht, würden alle drei erschossen. Die Eltern überreden
ihn, der Junge kommt auf schwierigsten Wegen in einer westlichen Klinik an – worin unterscheidet sich dies Trauma von anderen? In einer Schweizer Fallgeschichte wird beschrieben, daß ein
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Mann die Analyse wegen einer traumatischen Erfahrung aufsuche; er hatte jahrelang seine Frau
mit zahllosen anderen Frauen betrogen; als sie es ihm gleichtat, habe er, so der Fallbericht, einen
traumatischen Zusammenbruch erlitten. Es gibt auch Fallgeschichten, in denen der Tod eines
Ehegatten zum Zeitpunkt der Berentung als Trauma beschrieben wird.
Gibt es einen gemeinsamen Nenner solcher Sprachregelungen? Kann es Sinn machen, dies alles
als „Trauma“ unter einen einheitlichen Begriff zu fassen? Wir meinen ja und dieser Sinn liegt
nicht in der Erfahrung und nicht in der Theorie, sondern in der Strategie – weil so diese Menschen als Traumatisierte einer Behandlung zugeführt, weil so zusätzliche Gelder für deren Behandlung, für die Einrichtung spezialisierter Institutionen, für weitere besonders ausgebildete
Mitarbeiter rekrutiert werden können. Trauma – dieser Begriff wirkt wie eine Art sprachlicher
Staubsauger (akademischer gesagt: als „semantischer Attraktor“), der alles in sich aufnimmt, um
es am anderen Ende der Therapeutik zuweisen zu können.
Nichts jedoch ist ohne seinen Preis. Sind solche Institutionen erst einmal etabliert, entwickeln sie
eine erhebliche Eigendynamik; sie müssen auch (!) aus Selbsterhaltungsgründen ihr Klientel finden. Mehr und mehr sehen sie sich daher in einem selbst erzeugten Zwang, ihr Klientel als
Traumatisierte auszuweisen. Die Anzahl der Traumatisierten wächst so – und das erzeugt unvermeidlich Glaubwürdigkeitsprobleme. Aus dieser Logik heraus entstehen Nachweiszwänge, in die
dann neurowissenschaftliche Verfahren eingebunden werden mit der Folge, daß jene Klienten,
bei denen keine Trauma-Areale im Gehirn aufleuchten, abgewiesen oder, wenn es um Flüchtlinge
geht, ausgewiesen werden. Das bringt nicht geringe Konflikte mit dem therapeutischen Ethos der
Fürsorglichkeit mit sich. Innerhalb der therapeutischen Beziehung wird eine Art Unterscheidung
zwischen Trauma und Person nahe gelegt. Man behandelt das Trauma; betont wird in zahllosen
Publikationen, daß die Person mit Respekt behandelt wird. Das muß nicht, kann aber dazu führen,
daß Therapeuten sich einer diffusen moralischen Erpressbarkeit anheim gegeben sehen, die
schwer überhaupt nur wahrzunehmen ist. Und eine besonders schwierige Folge dürfte sein, daß
wer von „Trauma“ redet, nicht mehr die Entsetzlichkeiten in ihrer szenischen Gewalt darstellen
oder sich vergegenwärtigen muß. Man hat ja dann ein Wort dafür. Das Reden vom Trauma
könnte so in Gefahr geraten, Teil einer Empathie-Abwehr zu werden – das muß nicht, kann aber
so sein. Am sichtbarsten wird dies, wenn die Rede vom Trauma - aus den Chatrooms des Internet oder durch andere Medien - in die Selbstdeutungsmuster von Patienten eingewandert ist; sie
bilden dann verengte Opfer-Identitäten mit entsprechend regressiven Ansprüchen. Verloren sind
dann manchmal unwiederbringlich andere Entwicklungsmöglichkeiten.
Von diesen Ambivalenzen im Reden über Trauma versucht dieser PNL zu reden.
EIN BLICK
ZURÜCK – DAS TRAUMA IN DER
BEHANDLUNG
Im inzwischen 5 Jahre alte PsycheSonderheft über Trauma, Gewalt und kollektives Gedächtnis gibt Werner Bohleber
einen wohl informierten Überblick über die
Entwicklung der Trauma-Theorie in der
Psychoanalyse (Psyche 9/10, 2000). Sein
überzeugend dargebotener Schluss lautete,
die Traumatheorie brauche zu ihrer Beschreibung beide Modelle: das hermeneutisch-objektbeziehungstheoretische, wie es
von Freud, Ferenczi, Balint u.a. ebenso
vertreten wurde wie auch das psychoökonomische Modell, ebenfalls von Freud, aber
dann v.a. von Fenichel vertreten. Bohleber
zeigt uns kenntnisreich die Probleme einer
Definition des Traumas auf: es ist kein präziser, sondern ein elastischer Begriff, wie
bereits in den 80er Jahren Joseph Sandler
das Ergebnis
einer Projektgruppe am
Frankfurter
Sigmund-Freud-Institut-SFI
formuliert hatte. Dabei waren Psychoanalytiker dazu interviewt worden, wie sie den
Begriff benutzten, wie sie mit ihm arbeiteten
und mit welchem klinischen Material sie ihn
illustrierten. Die Untersuchung ergab, dass
die verschiedenen Dimensionen des Trau-
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mas und deren Wechselspiel wenig präzise
unterschieden wurden. Bohleber zieht eine
heute noch hilfreiche Schlussfolgerung: es
müsse differenziert werden zwischen dem
- Prozess der Traumatisierung,
- traumatischen Zustand und
- bleibenden pathologischen Veränderungen.
Abgesehen von massiven oder Extremtraumatisierungen wirke nicht jede traumatische
Situation auf alle Menschen gleichartig.
Im August-Heft des Int.J. Psychoanal. (2005) erinnert
Carl Nedelmann an den 1985 verstorbenen Hillel
Klein. Beide kannten einander gut, eine Beziehung,
die von großem Respekt und Freundschaftlichkeit
getragen gewesen sein muß, wie man aus Nedelmanns Darstellung persönlicher Begegnungen schließen darf. Hillel Kleins Beitrag bestand darin, daß er
Hoffnung als unverzichtbar für die Wiederannäherung
an die Geschichte der Vernichtung ansah, um wieder
frei werden zu können, einerseits; daß er andererseits
nachdrücklich davon abriet, Traumatisierte – auch
schon durch diesen Begriff – zu pathologisieren. „The
core of Klein’s contribution to research on the Holocaust therefore lies in a change that he brought about
in the assessment of the pathology of survivors. He
was opposed to the tendency to treat them as pathological.”, schreibt Nedelmann (S. 1135). Und ein
dritter Beitrag dürfte gewesen sein, daß Hillel Klein
den Antisemitismus beinah „gerochen“ zu haben
scheint, wenn man sich so ausdrücken darf. Die Empfindlichkeit dafür kann nicht als „Überempfindlichkeit“ aufgefaßt werden, so will Nedelmann vielleicht
sagen, wenn man Hillel Kleins Wendung gegen die
Pathologisierung als grundsätzlich richtig anerkennt.
Dieselbe Situation – aber höchst verschiedene Effekte? Ein „Situationsansatz“ ist deshalb nur beschränkt hilfreich. Es kann nicht
genügen, von einer bestimmten Situation zu
sagen, sie sei „traumatisch“. Das gilt sogar,
so wollen wir hier gleich vorweg einfügen,
für jene Erfahrung von Überlebenden der
KZs. Hillel Klein und Henry Krystal und
ebenso Anna Ornstein beharren darauf,
dass es gewaltige Unterschiede in der Verarbeitung der „gleichen Situation“ – etwa der
Erfahrung des KZ - gebe und mehr noch,
dass es eine Entwürdigung der Opfer bedeuten kann, diese Unterschiede, in der sich ihre
individuelle Subjektivität äußert, über einen
Kamm zu scheren. Hier müssen also situati-
ve, ethische und theoretische Aspekte subtil
auseinander gehalten werden. Denn die Annahme von der Gleichheit der Situationen
kann von Menschen auch als entwürdigend
empfunden werden. Bohleber folgert:
„Das bedeutet, dass ein Trauma, was seine Wirkung betrifft, in der Regel nur retrospektiv von
seinen seelischen Folgen her definiert werden
kann. Dabei sind auch prädisponierende Faktoren mit zu berücksichtigen. Das Trauma ist ein
Konzept, das ein äußeres Ereignis mit dessen
spezifischen Folgen für die innere Realität verknüpft, es ist insofern ein relationaler Begriff
(Fischer und Riedesser 1998). Diese doppelte
Bezogenheit macht auch die Unschärfe des Begriffs aus.“ (Bohleber S. 829)
Bohleber plädiert für eine enge Definition
des Traumabegriffes, doch finden sich Autoren, die das eine oder andere Glied der Kette
besonders akzentuieren. Cooper betont das
Ereignis,
„das die Fähigkeit des Ichs, für ein minimales
Gefühl der Sicherheit und integrativen Vollständigkeit zu sorgen, abrupt überwältigt und zu
einer überwältigenden Angst oder Hilflosigkeit
oder dazu führt, dass diese droht, und es bewirkt
eine dauerhafte Veränderung der psychischen
Organisation.“ (1986, S. 44, z. n. Bohleber S.
830)
Krystal betont das Erlebnis:
Die „Überwältigung der Abwehrfunktion und
der Ausdrucksfunktion der Angst sowie deren
Hemmung [ist] das eigentlich traumatische Ereignis.“ (S. 830)
Fischer und Riedesser sehen im Trauma
das Urvertrauen zerstört, es bewirke eine
„dauerhafte Erschütterung des Selbst- und
Weltverhältnisses“. (1998, S. 79) Eine „haltende grundlegende Objektbeziehung“
(Bohleber S. 830) breche zusammen.
Man sieht schnell, daß die verschiedenen
Akzentsetzungen durchaus ihre Schwächen
haben. Dass ein Ich hilflos reagiert, kann
auch konfliktbedingt sein; daß die Abwehrfunktion überwältigt wird, kann auch, etwa
im Fall narzisstischer Größenphantasien,
Beginn heilsamer Selbstkonfrontation sein.
Die Beschreibungen treffen das mit Trauma
Gemeinte nicht genau genug, sie treffen
dafür zu viel. Bohleber hält es deshalb für
unabdingbar, die individuelle Erfahrung und
ihre Erinnerung, ihre subjektive Verarbei-
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tung sowie die historische Realität gleichermaßen in ein integrales Traumakonzept einzuarbeiten.
Gerade in der Frage jedoch, ob die gestochen scharfen, emotionslosen Erinnerungen
an traumatische Situationen genaue Abbilder
der Ereignisse oder deren subjektive Verarbeitung seien, gibt es unterschiedliche Auffassungen.
„Vor allem in der PTSD-Forschung wird betont,
dass die primären Symptome weder symbolisch
noch das Produkt einer Abwehr sind, sondern
ihr realistischer Charakter ein Zeichen für die
Unmöglichkeit ist, diese Erfahrung zu integrieren.“ (S. 831)
Marion Michel Oliner hatte in ihrem Beitrag im November-Heft der „Psyche“ von
1999 dazu die genau gegensätzliche Position
vertreten: Die nackte Realität dieser Erinnerungen werde für Abwehrzwecke benutzt,
vor allem als Abwehr gegen Schuldgefühle.
Oliner bestreitet nicht, dass schwere Traumatisierungen abgespalten von normalen
Erinnerungen registriert werden. Weil solche
Erinnerungen nicht dem normalen Prozess
des Verblassens erlägen, erkenne man nur
schwer, dass auch sie im Dienst der verzerrten, durch das infantile Drama gefärbten
Bedeutung genutzt würden. Die Abspaltung
bedeute auch die Abschottung von Realitätskontrolle, und so finde eine Regression
zur infantilen Omnipotenz und einem archaischen Über-Ich statt. Infantile Wut aus der
traumatischen Situation werde gegen sich
selbst gewandt – eine Phantasie der eigenen
Schuld verschaffe ein übermächtiges
Schuldgefühl, aber gebe der sinnlosen Situation auch Sinn.
Klärungen dieser Gegensätzlichkeiten ergeben sich aus zwei weiteren Beiträgen durch
Franziska Henningsen über „Destruktion
und Schuld. Spaltungs- und Reintegrationsprozesse in der Analyse eines traumatisierten Patienten“ (Psyche 9/10, 2000 ) und
„Traumatisierte Flüchtlinge und der Prozess
der Begutachtung“ (Psyche 2/2003). Ein
ausführliches Fallbeispiel zusammen mit der
Behandlungstechnik ist ebenso selten wie
daß sich Psychoanalytiker mit Fragen der
Begutachtung auseinandersetzen. Beide Artikel zeigen auf unterschiedliche Weise, dass
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das traumatische Element in der Geschichte
der behandelten Patienten nicht das äußere
Ereignis, sondern die individuelle Verarbeitung auf dem Hintergrund der lebensgeschichtlichen Entwicklung der Patienten
war. Um dem Eindruck zu begegnen, hier
würde dann doch wieder alles den Betreffenden selbst aufgebürdet, soll der Fall hier
dargestellt werden:
Der erste Aufsatz behandelt eindrücklich
und ausführlich die Analyse eines Mannes,
dessen Mutter sich erhängte, als er 8 Jahre
alt war. Der Bericht lässt dabei nachvollziehen, welche verschiedenen Gefühle, Konflikte und Verarbeitungsmöglichkeiten dieses
Ereignisses eine Rolle spielten: der tödliche
Schrecken beim Entdecken der erhängten
Mutter im Keller; der Objektverlust; das
familiäre Ungleichgewicht und die Schuld:
denn der Junge hatte vom Vater die Aufgabe
zugewiesen bekommen, auf seine depressive
Mutter aufzupassen, während dieser selbst
sich in seine Arbeit stürzte; die intergenerationelle Verwicklung mit dem Täter- und
Opfer-Thema aus den Großeltern-Familien;
das Schuldgefühl, weil er den Tod der Mutter nicht verhindert hatte; die Aggression
gegen sie, die ihn nicht eingreifen ließ, als er
ihre Schritte auf der Kellertreppe hörte, die
perverse Verarbeitung von Schuld, Destruktion und Allmacht in einem „montierten
Objekt“... all das kommt in der Analyse ans
Licht und in die Übertragung, wo das ineinander Verwobene durchgearbeitet werden
kann.
Der zweite Aufsatz gibt aus der reichen Erfahrung der Autorin als Gutachterin traumatisierter Flüchtlinge praktische Anleitungen und Hilfen für solche Gutachterverfahren, die in der Regel 5–6 Sitzungen beanspruchten und oft mit Hilfe eines Dolmetschers durchgeführt werden müssen. Interessanterweise sieht Henningsen in dieser
Situation, die oft als größtes Hindernis einer
psychotherapeutischen Behandlung gilt,
auch ein positives Moment. Die Vermittlerrolle des Dolmetschers führe in der Darstellung des Traumas zu einer verzögernden
Aufteilung von Mimik, Affekt und Verständigung über die Inhalte des erzählten Traumas. Diese Verzögerung mildere die Wucht
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des Traumas, schütze alle Beteiligten vor
Reizüberflutung und erneuter Traumatisierung:
„Die Gefühle der Erschütterung und oder die
Ausdrucksstarre werden direkt vermittelt, den
erschreckenden Inhalt erfährt der Analytiker
jedoch etwas später. Er nimmt also das traumatische Ereignis in Etappen wahr, kann sich vorbereiten, sich selbst auch vor dem Erschrecken
und einer möglichen inneren Einfühlungshemmung schützen. Umgekehrt kann auch der Patient die zweiphasige Wahrnehmung des Analytikers beobachten: Während er spricht, sieht er,
wie sich der Analytiker einfühlt, später, wenn der
Übersetzer spricht, kann der Patient erkennen,
ob der Analytiker in seiner Vorahnung dessen,
was erzählt wurde, schon das wesentliche Gefühl
erfasst hat, wie viel Neues, vielleicht auch Entsetzliches hinzukommt. Es entsteht in dieser
Latenzzeit eine besondere Atmosphäre des Verarbeitens auf präverbaler Ebene. Analytiker und
Patient sind in gleicher Weise, nur in umgekehrter Wahrnehmungsrichtung, damit befasst, Emotionen und Inhalt zusammenzusetzen, auf diese
Weise können Mentalisierungsprozesse (Varvin
2000) initiiert werden.“ (S.108)
Am Anfang der Beziehung erlebe der Patient
nicht die konstruktive Möglichkeit, die in der
sukzessiven Wahrnehmung liege, sondern
eher den Kontaktabbruch, worauf er mit
Rückzug und Starre reagiere. Das ändere
sich aber, wenn seine Hoffnung auf Verstandenwerden gewachsen sei. Dann nutze
er den entstehenden Raum stückweise, was
integrative Prozesse fördere.
Hennigsen bezieht sich hier auf den sehr
lesenswerten Artikel des norwegischen Psychoanalytikers Sverre Varvin (Psyche 9/10,
2000) über die Psychotherapie von Folteropfern im Exil. Traumatisierte Flüchtlinge
stünden vor einer doppelten Anpassungsaufgabe: „an eine äußere Realität [...], die
fremd und oft verwirrend ist, und an eine
innere Realität, deren quälende Erinnerungen und überwältigende Affekte Angst machen.“ (S. 895) Varvin erachtet in der Behandlung „weniger die Konzentration auf
die Traumageschichte an sich als heilsam [...]
als vielmehr die Aufmerksamkeit auf die
Verschiebungen in den mentalen Zuständen
und deren Interpretation“ (S. 916f), was er
mit Ausschnitten aus Therapie-Transkripten
nachvollziehbar illustriert.
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Zurück zu Henningsen, die auch für die
Begutachtung zwei Fallbeispiele anführt:
Im ersten Beispiel geht es um eine Frau, die
bei einer Massenvergewaltigung in einem
Keller als einzige verschont wurde, weil der
Anführer der Täter ihr früherer Klassenkamerad gewesen war: das schuf ein geheimes
Band gemeinsamer Schuld zwischen ihr und
den Tätern.
Das zweite Beispiel handelt von einem jungen Mann, durch dessen politische Betätigung sein Vater zu Tode kam.
Ist es also Zufall, dass in beiden Beispielen
die Frage der Schuld für den traumatischen
Zusammenbruch und ständig weiter wirkenden verstörenden Schmerz der begutachteten Flüchtlinge eine so große Rolle spielte?
Bemerkenswerterweise stellten sich Schuld
und Schmerz s z e n i s c h in der Begutachtungssituation dar:
Im ersten Fall durch die von Seiten der Behörden gefallene Bemerkung, dass die Frau
„nicht vergewaltigt“ worden – also ihre
Traumatisierung zweifelhaft - sei. Im zweiten Fall durch das pubertär-provokatente
Auftreten des Flüchtlings der Gutachterin
gegenüber. Hätte sie in beiden Fällen kein
analytisches Gespür für die unbewusste Bedeutung dieses szenischen Angebots gehabt,
wären diese Flüchtlinge als „nicht traumatisiert“ abgeschoben worden.
Sinnvoll erscheint somit, die Frage der
Schuld im Zusammenhang mit dem Reden
über Trauma in jedem einzeln Fall genau zu
analysieren. Obwohl im gesellschaftlichen
Trauma-Diskurs die Schuldfrage eine kaum
zu überschätzende Rolle spielt, wird sie dort
weniger thematisiert als inszeniert. Im öffentlichen Reden über Trauma ist sofort eine
Täter-Opfer-Konstellation imaginiert: Ein
Schaden ist eingetreten, eine Wiedergutmachung auf politischer, moralischer, emotionaler oder medizinischer Ebene soll erfolgen. Die Differenz in der Behandlung der
Schuldfrage zwischen individuellem und
öffentlichem Reden über Trauma könnte
selbst nachdenklich machen.
Gertrud Reerink hat aus der KatamneseStudie der DPV (Psyche 2, 2003) trotz der
Verschiedenheit der von Patienten und Analytikern unabhängig in Interviews berichte-
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ten Behandlungen traumatisierter Patienten
gemeinsame Elemente herausgefiltert, die für
eine Traumabehandlung unerlässlich scheinen; sie aber scheinen tendenziell für alle
Behandlungen zu gelten:
- „Analytiker bemerken Zeichen und Handlungen, durch die Patienten ihren traumatisierten Zustand darstellen - und sprechen
mit ihnen darüber.“ (S.135) Patienten entwickeln so allmählich wieder ein restituiertes
Selbst-Gefühl.
- Analytiker lassen Handlungen derer, von
denen Patienten traumatisiert wurden, als
ungerecht, fragwürdig oder unberechtigt
erscheinen und machen so die Identifikation
mit dem Aggressor rückgängig. Analytiker
werden auf diese Weise manchmal nachträgliche Zeugen der Traumatisierung, indem sie
anerkannt wird.
- Sie „berücksichtigen das Ausmaß der
Abwendung der Patienten von anderen
Menschen und können ihrerseits als
menschlich wahrgenommen werden; Kriterien sind nicht Milde und ‚Zimperlichkeit’,
sondern Aufrichtigkeit, Einfühlung und die
Bereitschaft, die Gefühle der Patienten ohne
Korrektur oder gar Gegenaggression zu ertragen.“ (S. 135)
- Sie halten sich bereit, den Hass der Patienten auf ihre Traumatisierer oder die, die
ihre Traumatisierung zugelassen haben, auf
sich zu nehmen.
- Sie „verstehen aber auch, wie unverzichtbar es für einige Patienten ist, sie als
‚gutes Objekt’ sehen und erhalten zu können.“ (S. 135)
In den untersuchten Rückblicken auf Behandlungen wurde auch deutlich, dass Analytiker oft weit mehr von der negativen Übertragung wahrnahmen, als Patienten selbst
schilderten.
Manchmal, wenn eine Behandlung im
Nachhinein unvollständig erschien, war es
weniger der Analytiker, der die aggressive
Auseinandersetzung gescheut hatte, als der
Patient, der eine solche tiefere Auseinandersetzung vermieden hatte, um sich den Analytiker als gutes Objekt zu erhalten.
Dori Laub sieht die komplizierten Verhältnisse wieder andersherum, er hat ein anderes
Bild für das Trauma. Sein Thema ist „Eros
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oder Thanatos? Der Kampf um die Erzählbarkeit des Traumas“. (Psyche 9/10, 2000)
Er sieht im Trauma die Abkömmlinge des
Todestriebes in reiner Form reaktiviert, die
durch die Triebentmischung frei geworden
sind. Die vernichtende Erfahrung des Holocaust, in dem keine Liebe mehr erkennbar
ist, sondern nur Negierung der Opfer, führe
bei ihnen zu einem Streben nach Erreichen
eines leblosen Zustand. Das entspricht
Freuds Definition des Todestriebes „Das
Ziel alles Lebens ist der Tod“ (1920 g, S. 40,
z. n. Laub S. 861), aber, so möchte man hinzu fügen, dieser Todestrieb wird durch äußere Einwirkungen geschaffen: er erwächst
also einer Beziehung, wenn auch einer komplett negierenden und nähert sich so eher
Ferenczis Todestrieb-Konzept (s. weiter
unten in diesem PNL) . Das Trauma führe
zu einem „leeren Kreis“ – (andere haben es
„schwarzes Loch“ im Sinnzusammenhang
genannt), es handele sich um Objekte, die
nicht verdrängt, sondern verworfen wurden.
Laub führt hierzu ein Beispiel von Kinston
und Cohen (1986, S. 186f, z. n. Laub, S.
864) an von einer Mutter, deren Baby ihr bei
einer KZ-Rampen-Selektion weggenommen
wurde – und die sich kurze Zeit später nicht
mehr an ihr Kind erinnern konnte - es blieb
nur Leere. Laub meint, Erinnerungen und
Phantasien Überlebender und ihrer Kinder
seien oft durchmischt mit schrecklichen
Urszenen-Phantasien – aber all das werde
benutzt, um den „Rand des leeren Kreises“
zu bevölkern, damit man nicht davon aufgesogen werde. Das darf man sich wohl wie
eine manische sexualisierte Depressionsabwehr vorstellen. Laub spricht auch von der
Unmöglichkeit, das Trauma zu historisieren,
d.h. es in einen geschichtlichen Zusammenhang zu integrieren, damit es seine zeitlose
Wirkung verliere. Er sieht eine Übertragung
des „leeren Kreises“, d.h. des schrecklichen,
unbegreiflichen, sinnlosen Verlustes in die
Nachfolge-Generation, auch dort breite er
sich aus. Das erinnert an Greens Konzept
der „toten Mutter“. Doch wird damit auch
die Frage aufgeworfen, wie sich eine solche
Übertragung von dem a l l g e m e i n e r e n , e h e r sozialpsychologischen Phänomen unterscheidet, dass sich die Span-
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nung einer offenen Frage in einer Gruppe
fortsetzt? In der Intensität? Gibt es also einen qualitativen Unterschied? Laubs Beitrag
erinnert an frühere Diskussionen in der politischen Öffentlichkeit über die Darstellung
der Holocaust-Gedenkstätten. Hier war eine
der Fragen, ob sie vor allem den Schrecken,
den Verlust der Sicherheit, den Abgrund
vermitteln solle, etwa durch die unebenen
Wege im Berliner jüdischen Museum oder
indem wie im Walter-Benjamin-Memorial
von Dani Caravan in Port Bou an der französisch-spanischen Mittelmeerküste ein Weg
treppabwärts abrupt über dem Meer endet
und der Besucher nur durch eine Glasscheibe geschützt wird, hinunter zu stürzen. Oder
sollen in den Gedenkstätten die verlorenen
und getöteten Personen erinnert und dokumentiert werden? Der Streit um diese Alternativen hat selbst wiederum etwas Bestürzendes an sich, denn beides wäre doch wichtig. Schrecken allein vermittelt auch jeder
Horror-Film, Personen erinnert jeder Friedhof.
In den Fallbeispielen seines Beitrags macht
Laub auf einen wichtigen Unterschied bei
der Weitergabe von unbegreiflichem NichtWissen aufmerksam: Auch die Kinder von
Nazi-Tätern leben mit einem Nicht-Wissen,
aber nicht, weil ihre Eltern sie vor der Konfrontation mit der Grausamkeit schützen
wollen, der sie selbst ausgesetzt waren. Die
Täter schweigen vielmehr vor ihren Kindern, um eigene Schuld zu verbergen. Die
Kinder der Täter übernehmen nach Laub
das Nicht-Wissen, weil sie befürchten,
„durch weiteres Nachfragen den mörderischen
Zorn ihrer Eltern zu erregen und wegen des
Verrats an den Eltern, wegen ihrer Schwäche
und ihrer Verletzlichkeit getötet zu werden. Man
könnte sie als lebensuntauglich verurteilen und
damit als Menschenopfer der grausamen Ideologie ihrer Eltern darbringen.“ (S.890)
Angesichts dieser so wichtigen Unterscheidung zwischen dem Schweigen der Überlebenden und dem der Täter fragt man sich
aber, ob es nicht gerade hilfreich wäre, sich
hier klar zu machen, wer wen in den Tod
getrieben hat, statt auf das Konstrukt des
Todestriebes zu rekurrieren, das in gewisser
Weise diese Unterschiede verwischt und die
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Verantwortlichkeit für grausames Tun eher
unscharf verblassen läßt?
Henry Krystal befasst sich mit der psychischen Widerständigkeit, mit Anpassung und
Restitution bei Holocaust-Überlebenden.
(Psyche 9/10 , 2000). Er plädiert gegen die
„Ereignis-Betonung“ und für individuelle
Unterschiede in der Verarbeitung. Die Reizschranke, die im Trauma überflutet wird (in
einer Metaphorik der Überschwemmungskatastropen) ist für ihn weder passiv noch
konstant, sondern variabel angelegt als „Gesamtheit aller potentiell mobilisierbaren Abwehrmechanismen“. (S. 846) Auch Krystal
äußert sich über die Funktion traumatischer
Deckerinnerungen: sie seien „eine wichtige
lebenserhaltende Operation zum Schutz vor
dem Undenkbaren. (...) Informationen, die
mit dem Überleben des Ich unvereinbar
sind, werden gar nicht erst aufgezeichnet
und führen so zu einem ‚schwarzen Loch’
im Informationsverarbeitungssystem.“ (S.
850) Wir sehen also, wie unterschiedlich das
„schwarze Loch“ verstanden werden kann.
Nach Krystals Erfahrung halfen den Holocaust-Überlebenden die Stabilität innerer wie
äußerer Objektbeziehungen, das Gefühl der
Menschlichkeit aufrecht zu erhalten. Die
Fähigkeit, kurzfristige Überlebensbündnisse
einzugehen, half zu dem Gefühl, „ein guter
Mensch zu sein“. Der Glaube an ein transzendentes Wesen half. Nach der Shoa führte
der Verlust des Vertrauens in einen helfenden Gott manchmal zu der Lösung, die
Schuld für das Erfahrene bei sich selbst zu
suchen. Hier gibt es eine Gemeinsamkeit mit
der Auffassung von Oliner. Krystal schließt
seinen Artikel mit den Worten:
„Vor allem aber gibt es klare Anzeichen, dass die
psychische Widerständigkeit des einzelnen und
die Fähigkeit, die Macht der Liebe zu mobilisieren, im gleichen Verhältnis zu einander stehen
und einander bedingen. Verletzte Liebe wird als
Wut oder Hass erlebt, hilflose Liebe manifestiert
sich als Scham usw. Doch immer repräsentiert
die Liebe die Kraft des Überlebenden zur ReIntegration und Heilung des Selbst.“ (S. 856f)
Damit wird eine Selbstverantwortlichkeit auf
Seiten der Opfer angesprochen, die schnell
wieder so verstanden werden könnte, als
würden ihnen damit die Schuld aufgebürdet;
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PNL – 36
aber was Krystal wohl meint, findet sich
auch bei Tzvetan Todorov in seiner Studie
„Angesichts des Äußersten“ (1993). Dieser
nicht-psychoanalytische
Autor
findet
Formulierungen, die man fast als
methodische Hinweise für das schwierige
Thema lesen kann. Die Opfer waren weder
„Helden noch Heilige“, die Täter weder
„Monster noch Bestien“ (so seine
Kapitelführungen). Täter waren nicht
einfach Getriebene, von Kräften des Bösen
oder des Staates. Hier schreibt Todorov
einprägsam:
“Aber der Staat existiert nicht außerhalb der
Individuen, die ihn verkörpern. Die dunklen
Kräfte brauchten Menschenhände, um ihren
Willen durchsetzen zu können. Sie für so sehr
unterworfen zu halten, heißt, eine armselige
Meinung von ihnen zu haben. [...] Nein, die
Menschen waren nie vollständig der Möglichkeit
beraubt, zu wählen. Die Person war für ihre
eigenen Handlungen verantwortlich, welchem
Druck auch sie immer ausgesetzt war, sonst
verzichtete sie auf ihre Zugehörigkeit zu den
Menschen. Wenn aber der Druck wirklich groß
war, dann muß ihn das Urteil berücksichtigen. In
dem Maße, wie es keinen inneren Menschen
unabhängig von seinen äußeren Ausdrucksformen gibt, sondern der Mensch selber aus der
Gesamtheit seiner Handlungen besteht, ist es
dieser Mensch selber, den man als vom Bösen
befallen einschätzen muß, und nicht bloß seine
Handlungen“ (S. 148)
Die methodische Warnung heißt hier, daß
wer die Opfer nur hinsichtlich ihres passiven
Erleidens thematisieren kann, ihnen dadurch
Würde nimmt, die, gewählt haben zu können – natürlich nicht, ob sie sich im KZ
aufhalten oder nicht. Aber ob sie so oder so
verarbeiten. Eben diese Reduktion auf den
Nur-Opfer-Status hatte auch schon Primo
Levi zur Verzweiflung gebracht. Er wußte
aus direkter Anschauung, wer selbst unter
den Bedingungen des Lagers die kleinen
Kultivierungen aufrechterhielt, etwa sich
morgens wusch (wie dürftig das auch immer
sein mochte), wer nachts nicht einfach einnässte, sondern aufstand, wer Verse erinnerte, sprach, wer sich nicht aufgab – der überlebte eher als jene, die sich dem „Schicksal“
ergaben. Und Levi verzweifelte, weil er bei
seinen Besuchen in Deutschland, v.a. in
München merkte, daß man ihm gerne als
passives Opfer begegnete (dann konnte man
„helfen“, bedauern und sich selbst dabei edel
fühlen), nicht aber als aktives Subjekt, das
seine Geschichte verarbeitete und das Gespräch auch mit dem Volk der Täter suchte.
NEUERE ÜBERLEGUNGEN
Mathias Hirsch wendet sich in seinem
Buch „Psychoanalytische Traumatologie –
das Trauma in der Familie“ (2004) anderen
Aspekten zu. Als Antwort auf die vielfältigen
und unberechtigten Angriffe moderner
Traumatherapeuten, Psychoanalyse sei für
Traumabehandlungen ungeeignet, weist er
auf die lange Erfahrung der Psychoanalyse
mit traumatisierten Patienten hin. Die neuen
Methoden, so seine Auffassung, hätten bei
Akut-Traumatisierten durchaus ihr Gutes,
könnten aber psychoanalytische Langzeitbehandlungen nicht ersetzen. Er konzentriert
sich vor allem auf Traumatisierungen in der
Familie durch Vernachlässigung, Gewalt,
sexuellen, emotionalen und narzisstischen
Missbrauch, deren Folgen aus seiner Sicht zu
dem führen, was man Persönlichkeitsstörungen nennt. Hirsch hält es aus einer wissenschaftsgeschichtlichen Perspektive für bemerkenswert, dass solche Störungen u.a. von
Kernberg (1975) als Krankheit der übermäßigen Aggressivität verstanden wurden,
„lange Zeit aber deren Ursache in einer
besonders triebhaften Konstitution gesehen
und erst spät [...] das regelmäßige Vorkommen traumatisierender Einflüsse anerkannt“
habe (S.4).
PNL – 36
Und man sieht so: Schon die in den 70erund 80er Jahren geführte Kontroverse zwischen Kohut und Kernberg drehte sich um
die alte Frage: angeborene Destruktivität
versus Beziehungserfahrung? Sie war ursprünglich von Ferenczi in der Form aufgeworfen worden, ob der Todestrieb eines
Kindes nicht davon abhängig ist, ob es willkommen ist oder nicht? Hirsch macht deutlich, wie lange Ferenczis klinische Erfahrungen in der Behandlung familiär Traumatisierter schlicht übergangen worden sind. Vieles
aber, was uns heute als „neu“ erscheine,
könne man schon bei ihm, der immer eine
Beziehungstheorie vertreten habe, nachlesen.
Hirsch zitiert Ferenczis Arbeit von 1929
über „Das unwillkommene Kind und seinen
Todestrieb“, darüber, dass ein Kind nur
leben wolle und könne „unter den ganz besonders günstigen Bedingungen des Keimund Kinderschutzes“ – das, so möchte man
ergänzen, hat Winnicott später die „fördernde Umwelt“ genannt. Deren Fehlen resultiert in Vernachlässigung, die Schäden der
familiären Umwelt „spiegeln“ sich in der
späteren Störung. Das von Ferenczi kreierte
Bild des „gelehrten Säuglings“ sieht Hirsch
als forcierte Progression, in die Kinder
durch ihre Familien getrieben werden, ein
Vorgang, der von Familientherapeuten als
„Parentifizierung“ genau beschrieben worden ist.
In vielen Fallbeispielen aus Einzel- und
Gruppenbehandlungen zeigt Hirsch, wie
Patienten ihre familiäre Erfahrung im weiteren Leben und der Behandlung selbst reinszenieren – mal identifiziert mit dem Aggressor, mal geduckt unter der Wucht des
introjizierten elterlichen Schuldgefühls. Beide Arten der Identifikation hatte Ferenczi
schon Anfang der 1930er Jahre herausgestellt, als Reaktion auf zu strenge Erziehung
und die „Sprachverwirrung zwischen den
Erwachsenen und dem Kind“.
Es ist erfrischend und ermutigend, in
Hirschs Fallgeschichten zu lesen, wie lange
und intensiv sich der Therapeut dabei zum
Beispiel mit der „Außenwelt“ des Patienten
beschäftigt, sich auch nicht scheut, eine Zeitlang in der Rolle des Supervisors oder Coach
für dessen beruflichen Konflikte zu schlüp-
|9
In einem Beitrag des „Int.J. Psychoanal.“ vom August
2005 versucht sich Shmuel Gerzi erneut an einer
Aufklärung zweier „heillos verhedderter Konzepte“,
wie es in der deutschen Zusammenfassung schön
heißt, nämlich von Trauma und Narzißmus. Während
der Narzißmus eine triebtheoretische Formulierung
einer bestimmten Interaktion (die das Selbstgefühl
reguliert) mit dem Objekt ist und dabei einen
„Schutzschild“ aufrecht erhalte, sieht der Autor im
Trauma einen Angriff auf eben diesen Schutz, der ein
„Loch“ enthalte. Das Loch wirke wie ein Attraktor,
sauge den Patienten gleichsam in sich hinein in die
Leere von Nicht-Erinnerbarkeiten und emotionaler
Leere, während ein anderer Attraktor, die „narzisstische Hülle“ verletzt sei. Das Loch schaffe auch beim
Analytiker in der Gegenübertragung einen „empty
space“ (S. 1040). Der Beitrag basiert auf den klinischen Erfahrungen des Autors mit HolocaustÜberlebenden und ist zugleich, das darf man doch
sagen, ein Beispiel für die immense Verwirrung, die
jeder Versuch hinterlässt, hier theoretische Klarheit zu
erreichen. Das Fallbeispiel (S. 1046) etwa will zeigen,
wie elementar die Anerkennung des Traumas durch
den Therapeuten ist und wie der Therapeut den Patienten verfehlt, indem er eine platte Parallele zwischen
einem Vorkommnis im Behandlungszimmer und dem
Trauma zur Grundlage seiner Deutung nimmt. Aber
solche Empathiestörungen sind eben nicht nur durch
Traumata induziert; sie kommen vermutlich so häufig
vor, daß man diese Annahme fallen lassen muß. Die
Verwirrung bleibt deshalb sowohl theoretisch als auch
klinisch unaufgelöst – was nicht dem Autor, sondern
dem Thema zugeschrieben werden muß.
fen, um sich dann der subjektiven Verarbeitung im introjektiven (masochistischen) Modus (S.134) nach dem Motto „ich bin eben
unfähig, also selbst Schuld an meinem Außenseiterdasein“ zurück zu kehren. Die Realität des Traumas wird, entgegen mancher
Legendenbildungen, von psychoanalytischen
Therapeuten durchaus anerkannt. Hirsch
setzt sich darüber hinaus mit manchen Auffassungen der spezialisierten Traumatherapeuten auseinander, von denen einige behaupten, Psychoanalyse schade bei der Behandlung dieser Störungen, und weist umgekehrt darauf hin, daß bestimmte traumatherapeutische Techniken ihrerseits schaden
können, wenn sie einem Patienten angeboten werden, der dafür nicht „bereit“ sei oder
der an einem anderen Thema „dran“ ist.
Kurz, auch „Technik“ braucht Einbettung in
Beziehung und Kontext. Und man kann
anfügen, eine alleinige Schwerpunktsetzung
auf „richtige“ Technik wäre, wie immer auch
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PNL – 36
hier, von Übel, nämlich dann, wenn über der
Behandlung des Traumas andere Dimensionen ignoriert werden; junge Mädchen, die
missbraucht wurden, müssen nicht nur ein
Trauma aufarbeiten, sondern brauchen oft
Unterstützung in ganz anderen Bereichen,
etwa beim Aufholen von Schulabschlüssen,
ÖFFENTLICHES REDEN
THERAPEUTISCHE
Hans Keilson schuf 1979 mit der Veröffentlichung seiner großangelegten Langzeitstudie über jüdische Kriegswaisen in den
Niederlanden den Begriff der „sequenziellen
Traumatisierung“. Er gliederte die langandauernde extreme Belastungssituation der
Kinder in unterschiedliche Phasen auf:
- die feindliche Besetzung und der beginnende Terror durch die Nazis
- die einsetzende Verfolgung, Trennung
von den Eltern, Aufenthalt in Verstecken
oder KZ
- die Nachkriegsperiode.
Bei seinen Untersuchungen über die Auswirkungen dieser verschiedenen Perioden
auf die spätere Entwicklung der Kinder 25
Jahre danach kam er zu dem interessanten
Ergebnis, dass die Nachkriegsperiode, die
Zeit also, als das Schlimmste vorbei war und
die Kinder bei Pflegeeltern lebten, ungleich
größere Auswirkungen auf die spätere Entwicklung der Kinder hatte als angenommen:
Die mangelhafte Fähigkeit von Pflegeeltern,
die Bedeutung des Traumas für das Kind zu
verstehen und damit umzugehen, erwies sich
als traumatogener Faktor von großer Bedeutung! Keilson bestätigt hier die Macht der
Nachträglichkeit – der sekundären Bedeutungen, die einer Erfahrung gegeben werden.
Diese Erkenntnis darf vielleicht verallgemeinert werden; auch für die seelische Bewältigung sexueller Gewalterfahrung etwa ist die
Reaktion von Polizei, Gericht und anderen
Zeugen von immenser Bedeutung, nicht nur
die Tat selbst. Auch wenn Mütter schwer
beschädigte Kinder auf die Welt bringen, ist
die Reaktion der Ärzte und der Gebärhelfer
von entscheidender Bedeutung dafür, wie
diese Erfahrung verkraftet werden kann.
Nicht nur das Trauma selbst, sondern seine
Berufsplanung, Definition neuer Rollen in
der Familie und Stützung eigener Identität
außerhalb der Familie – kurz, in all dem, was
auch sonst in Therapien Thema ist. Das
zeigt, manche Diskussionen setzen selbst
einseitige Akzente.
ÜBER TRAUMA UND
RESONANZEN
Deutung und Verarbeitung durch andere
wirkt.
Dieses Wissen wurde erhärtet und ausgeweitet in der Behandlungen von Folteropfern:
Mangelnde Anerkennung angetanen Unrechts ist eine Fortführung der Traumatisierung - das schließt auch die politische und
gesellschaftliche Anerkennung mit ein. Das
frühere Trauma färbt nicht nur die aktuelle
Wahrnehmung ein, es wird auch von ihr
eingefärbt, bearbeitet.
Kaum jedoch gibt es hier konvergente Erkenntnisse, zeigt sich die Zwiespältigkeit an
anderer Stelle.
Seit der Einführung der PTSD in die diagnostischen Register ist „Trauma“ gesellschaftsfähig geworden. Das hat mächtige
Konsequenzen. Der sekundäre Krankheitsgewinn durch die Anerkennung als TraumaOpfer ist ausbeutbar geworden und das hat
durchaus die Öffentlichkeit erreicht. Erinnert sei an Binjamin Wilkomirski, der sich
eine falsche Identität als KZ-Opfer schuf,
darüber ein mit Preisen bedachtes Buch
schrieb und erst „aufflog“, als andere darin
haarsträubende Detailfehler entdeckten, die
deutlich machten, daß er nie in einem KZ
und nie Nazi-Verfolgter gewesen war. Andere, Psychotherapeuten und Literaturwissenschaftler machten sich nun daran, diese Täuschung selbst als Folge einer anderen Traumatisierung darzustellen – mit unterschiedlich eingeschätztem Erfolg. Wilkomirski
bildet eine Parallele zu gefälschten Identitäten der Täterseite; prominent war Ende der
1980er Jahre Hans Schwerte alias Schneider. Ein ehemaliger SS-Mann hatte sich unter so geändertem Namen eine Bilderbuchkarriere als geachteter Wissenschaftler an der
Aachener Universität und als Sozialdemokrat
PNL – 36
aufgebaut. Wie viele sich ihr Überleben
Gestern berichtete die FAZ (19.10.2005)
von einem historischen Vorläufer des Falles Willkomirski:
Im Jahre 1354 wurde der angesehene Kaufmann
Giovanni di Guccio von dem römischen Tribun
Cola die Rienzo (man darf an Wagners „Rienzi“
denken) aufs Capitol bestellt, wo ihm erklärt wurde, er, der kleinwüchsige Kaufmann sei in der Wiege mit dem König von Frankreich vertauscht worden. Mächtige dynastische Interessen spielten eine
Rolle, was Tommaso di Carpegna Falconieri, Historiker an der Universität Urbino, nun detailliert
recherchiert hat. Insbesondere der Wechsel von
den Kapetingern zum Hause Valois mit mächtigen
Auswirkungen auf den Hundertjährigen Krieg zwischen Frankreich und England spielten eine Rolle,
weil nämlich Johannes Postumus schon 1316 gestorben war und nur vier Tage regierte – man munkelte, er sei ermordet worden. Aber auch Cola di
Rienzo wurde wenige Tage nach seinem Treffen
mit dem „Re Giannino“ (= der kleine König Hans,
„Hänschen Klein“) ermordet. Der kleine König
Hans aber wurde von mächtigen Geldgebern unterstützt, versuchte mit Söldnerheeren seinen Thronanspruch geltend zu machen. Nachdem er seine
angesehen Kaufmannsexistenz aufgegeben hatte,
zog er zum Papst, um sich seinen Identitätswechsel
bestätigen und sich als König salben zu lassen –
erfolglos, und er starb doch unter ungeklärten Umständen.
Es gab Zeiten, in denen das möglich war. Die Verwüstungen durch die Pest spielten eine Rolle, die
Niederlage der französischen Ritterheere durch die
englischen Langbogenschützen 1346 in der Schlacht
bei Crécy, der weitverbreitete Glauben an mörderische Verhältnisse in den Herrschaftshäusern – kurz,
da muß einer nicht nur was erfinden, es muß auch
andere geben, die ihm das glauben und als Wirklichkeit abnehmen. Das ist die Analogie mit dem
Fall Wilkomirski.
durch öffentliche Mimikry sicherten, kann
kaum geschätzt werden; aber daß man die
Verfolgung literarisch ausbeuten kann, darin
hatte Wilkomirski neues Terrain betreten.
Marius Neukom untersucht die „Rhetorik
des Traumas“ im ersten Heft von „Psychotherapie und Sozialwissenschaft“ (2005). Er
hat sich auch bei anderen Gelegenheiten mit
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Wilkomirskis Drama beschäftigt und will
nun wissen, was ein Heer von fähigen
Literaturwissenschaftlern,
Psychotherapeuten, Historikern, aber auch
ein breites Publikum dazu gebracht haben
kann, eine falsche Geschichte so unkritisch
zu glauben; das interessante Thema ist also,
wie „Glaubwürdigkeit“ in einem solchen
literarischen Text – kommunikativ erzeugt
wird.
“Wenn von einem Trauma die Rede ist, wird in
der Regel auf Ereignisse Bezug genommen, von
denen jemand glaubt – und das kann sowohl ein
Sprecher oder Autor als auch ein Hörer oder
Leser sein – sie hätten eine traumatische Wirkung gehabt. Obschon der allgemeine Sprachgebrauch dies suggeriert, ist ein Trauma kein
objektivier- und messbares Konzept“ (S. 82,
Kursivierung i.O.)
Das ist eine klärende Feststellung und verschiebt die Frage, was ein Trauma i s t dahin, wie Erzähler und Hörer den Glauben,
daß ein Trauma vorliege, koproduktiv erzeugen. Gerade weil Wilkomirski ein Fall der
zweifelsfreien Täuschung ist, muß die Analyse die Seite des Hörers einschließen, weil
hier „spezifische Rezeptionsmechanismen“
in Gang gesetzt werden. Neukom nennt „die
Unterdrückung einer kritische Haltung“, den
„latenten Zwang, sich gegenüber dem Opfer
grundsätzlich solidarisch verhalten zu müssen“ und nach einer eingehenden Analyse
des Beginns von Wilkomirskis Buch auch
die voyeuristischen Neigungen eines Publikums. Eine Verwirrung kommt hinzu, weil
die Markierung des Textes als „authentisch“
häufig zur „Verwechslung der Tatsache der
eigenen Betroffenheit mit den Fakten der
äusseren Wirklichkeit“ (S. 84) verführt. Diese Kombination verbindet sich dazu, Leser
„davon abzuhalten, sich mit diesen Fragen
überhaupt kritisch auseinander zu setzen“ (S.
103) Auf seiten des Textes ist eine besondere Leistung zu bemerken, weil der Erzähler
seine Leser emotional und moralisch in das
Spannungsfeld der Täter-Opfer-Themen
einbezieht und sich selbst dabei auf der Seite
der Opfer positioniert, was sogleich erhebliche Sympathiegewinne abwirft. Der Leser
aber wird unter moralischen Zwang gesetzt,
der sich als Denkverbot auswirkt: Wer würde wagen zu zweifeln? Aber das wiederum
PNL – 36
darf im Text auch nicht zu „schlicht“, nicht
zu unverblümt geschehen, „denn der Autor
darf nicht offensichtlich um das Wohlwollen
des Gegenübers werben, und dieses soll sich
auch nicht vereinnahmt fühlen“. Hier ist also
eine beträchtliche kommunikative Leistung
der Leser-Steuerung zu bestaunen und dies
umso mehr, als der gleiche Text völlig anders gelesen wird, seitdem bekannt ist, daß
Wilkomirski die Geschichte erfunden hat.
“Bemerkenswert ist dabei, daß die unterschiedlichen Rezeptionsvoraussetzungen (autobiographisch/authentisch versus fiktional/gefälsch) zu
ausgesprochen gegensätzlichen Beurteilungen
ein und desselben Textes führten” (S. 88).
Neukom kann durch seine Analyse der Erzählstrategie des Buchanfangs plausibel zeigen, wie sich eine unbewußte „Szene“ zwischen Autor und Leser einstellt; der Autor
überspielt geschickt die Fragen, die sich an
seine Glaubwürdigkeit stellen und mobilisiert einerseits empathische Rettungsemotionen, andererseits Idealisierungen, weil er
sich als unschuldiges Opfer und zugleich als
„Empfänger höchster Gnade“ (S. 94) durch
die Tatsache seines Überlebens zu stilisieren
weiß. Doch – wer jetzt glaubt, man könne
solchen Texten in Zukunft das Täuschende
ansehen, wäre nur erneut getäuscht. Denn
Neukom zeigt gerade, daß der Glaube an das
Trauma hier das Entscheidende war. Ein
solcher Glaube muß sich dann als Definitionsmacht durchsetzen mittels der beschriebenen Textstrategien und kann dem Hörer/Leser durch dessen Rezeptionsbereitschaften die Definition verbindlich machen.
Es lohnt sich also durchaus, das öffentliche,
in diesem Fall literarische Reden über Trauma zu beobachten, denn was hier zwischen
Autor und Leser analysiert wird, kann natürlich auch im Behandlungszimmer geschehen.
Als Gefahr der Täuschung mit moralischer
Parteilichkeit ist das Thema gerade hier präsent und das ist von großer behandlungstechnischer Bedeutung.
Die Veränderung im öffentlichen Diskurs
kann man an Literaturbeispielen verfolgen,
die Hannes Fricke in einem Buch über
Trauma, Literatur und Empathie anführt.
Die Psychoanalyse hat längst in die Literaturwissenschaft Einzug gehalten, wo ihre
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Erkenntnisse souverän zur Freude und Erkenntnis der Leser angewandt werden – man
denke an prominentester Stelle an die hinreißenden Bücher von Peter von Matt etwa
über „Verkommene Söhne, missratene
Töchter“ oder an das Buch „Liebesverrat“.
Der Titel des Buches von Fricke „Das hört
nicht auf“ (2004) ist ein Grass-Zitat, das auf
die peinigenden Nachwirkungen, die
Schwierigkeit der Integration und „Historisierung“ traumatischer Erfahrungen und
ihre Weitergabe an die nächsten Generationen anspielt.
Mit einer Fülle von literarischen Fallbeispielen werden verschiedene Arten traumatischer Erlebnisse und ihre Verarbeitung dargestellt: das geht von Fausts Gretchen –
Opfer einer Verführung, die ihr Kind tötet -,
über die Erfahrung und Verarbeitung des
überwältigenden Momentes in der Entstehungsgeschichte von Batman weiter über
den besessenen Versuch des Kapitäns Ahab,
durch die Verfolgung von Moby Dick an der
Natur Rache zu nehmen, zum Dilemma als
traumaprovozierender Erfahrung in Arundhati Roys Roman „Der Gott der kleinen
Dinge“.
Die Folgen der Vernachlässigung – oft in
ihrer schädigenden Wirkung vernachlässigt
gegenüber dem skandalisierten sexuellen
Missbrauch („the neglect of neglect“ ist die
Formel dafür im amerikanischen Schrifttum)
- werden ebenso beschrieben wie Krieg,
Folter und organisierte Gewalt als Anlässe
für Traumatisierungen. Am Beispiel von
Wilkomirskis echter Biographie als Heimund Adoptivkind vertritt Fricke die These,
dass Vernachlässigte aus Fragmenten ihrer
erinnerten Geschichte eine zusammenhängende Phantasiewelt, eine daraus legierte
phantasmatische Identität und neue Phantasie-Geschichte entwickeln können, in die sie
sich flüchten und an die sie selber glauben.
Das können wir Dissoziation nennen oder
eine Variante vom Familienroman des Neurotikers. Wir erinnern uns an vergleichsweise harmlose literarische Beispiele. Auch in
Astrid Lindgrens Kinderbuch der 50er Jahre
„Rasmus und der Landstreicher“ erzählt ein
Waisenhausjunge, er sei „Prinz Elof von
edlem Geblüt“ und das ist eine ähnlich fikti-
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PNL – 36
onale Identitätsanmaßung wie bei Wilkomirski, hat aber nicht die gleichen sozialen
und emotionalen Resonanzen – man versteht nämlich umstandslos beim Lesen, dass
hier einer in eine andere Welt flüchtet, die er
sich selbst erschafft. In einer anderen, in
unserer heutigen Welt, in deren gesellschaftlichem Diskurs der Trauma-Begriff eine
rasante Karriere machen konnte, gilt die
Holocaust-Erfahrung als unbezweifelbares
Beispiel eines leidvollen Schicksals, das unbedingte Anteilnahme beanspruchen darf.
Hier hatte sich also jemand eine Opferbiographie geschaffen, die medial ungleich attraktiver war als die Vernachlässigung eines
herumgeschubsten Niemand. Das unterstreicht noch einmal die resonante Rolle des
lesenden/hörenden/therapeutischen
Mitspielers und macht zugleich deutlich, wie
schwierig im Grunde die Rede davon ist, ein
Therapeut könne oder solle „nachträglicher
Zeuge“ sein; das ist behandlungstechnisch oft
von ergreifender Notwendigkeit, aber in
anderen Zusammenhängen eine höchst
problematisch Redeweise.
Wir kennen die Attraktivität des „verbrieften
Opferstatus durch das Trauma“ aus der therapeutischen Praxis, über die dazu präsentierten „false memories“ hat Ursula Mayr
im „Forum der Psychoanalyse“ (März 2005)
berichtet (siehe dazu auch PNL 33).
Es ist, als ob die diskursive „Ausuferung“
der Trauma-Diskussion nun Rückwirkungen
in der Fachliteratur zeigt. Jochen Lellau
berichtet im „Forum der Psychoanalyse“
(Juni 2005) „Zum Problem des Traumabegriffes in der Psychoanalyse“. Er bringt
uns zur Kenntnis und Wiedererinnerung
Fenichels Trauma-Definition: der hatte
gesagt, das Trauma bestimme sich durch das
Verhältnis von Spannung und Ich-Stärke.
WEGWEISER
Lellau führt als „Verbündeten“ für seine
kritische Betrachtung der Traumadiskussion
den israelischen Psychoanalytiker Hillel
Klein an, der sich wie auch andere Holocaust-Überlebende (zu erwähnen sind hier
v.a. Krystal und Ornstein), massiv dagegen
wehrt, die Erfahrungen des KZ in ihren
Auswirkungen auf ihre Opfer allzu sehr pauschal zu betrachten. Imre Kertesz hatte in
seinem „Roman eines Schicksallosen“ sich
ebenso gegen diese pauschalisierende Betrachtung gewehrt, indem er das Lager literarisch sogar zu idealisieren wagte. Auch Hillel
Klein fürchtet die Ansicht, von Erfahrungen
sogleich auf „Trauma“ zu schließen, das
entwürdige die Subjektivität der Opfer. Hillel
Klein hatte sich gegen die Ausweitung des
Trauma-Begriffes gewandt: Vieles davon
gehöre, hierin ähnelt er Kertesz, einfach zur
menschlichen Erfahrung – so gibt ihn Lellau
wieder. Die lapidare Härte einer solchen
Position kann man freilich nur von jemandem akzeptieren, von dem man ahnt, was er
erlitten und geduldet haben könnte. Ist das
KZ „menschliche Erfahrung“? In einem
endgültigen Sinne fraglos Ja; aber etwas in
uns weigert sich auch, das so hinzunehmen.
Und dennoch: es könnte sein, daß die tiefe
Menschlichkeit, die aus einer solchen Anerkennung selbst spricht, es leichter zu ertragen macht als die Fortsetzung der Kämpfe
um Beseitigung von Schäden oder um moralische Bestätigung eines Opferstatus. Vielleicht, weil man dann, wenn nur endlich
echte Anerkennung des Erlittenen und des
verletzten Gerechtigkeitsgefühls erfolgt wäre, auch daran gehen kann, sich wieder freier
aufzubauen. Aber die Entscheidung über
eine solche Position kann nicht vorgegeben
werden, auch sie muß frei bleiben.
AUS DEN
Könnte Hillel Kleins Position eine Erlösung
wenigstens aus den theoretischen und schulischen Sackgassen sein? Wenn man so argumentiert, muß man einen Schutz aufbauen, um der Gefahr der Verharmlosung des
Entsetzlichen zu entgehen. Der könnte darin
bestehen, nicht mehr von Trauma zu spre-
SACKGASSEN?
chen und mit diesem Begriff eine Einheitlichkeit zu fingieren, die es nicht geben kann,
sondern statt dessen die erlebten und erlittenen Szenen zu schildern mitsamt der Art
ihrer Verarbeitung – das veranschaulicht,
schützt die Individualität der Verarbeitung
und damit die angesprochene Würde und
PNL – 36
ermöglicht durch die „szenische Darstellung
dessen was geschah“ Zuhörern und Lesern
sowohl empathischen Nachvollzug als auch
ein Urteil über das, wovon da die Rede ist.
Selbst im Stammeln und Zögern würde eine
literarische Form entwickelt, die mit zwanglosem Zwang aus der Notwendigkeit der
Darstellung resultiert: man muß erzählen
statt zu diagnostizieren. Empathie würde
möglich, wo schulischer Streit um die richtigen „Methoden“ und Spezialisierungen die
Wahrnehmung eher zu verdüstern droht.
Leon Wurmser argumentiert ähnlich in
seinem Beitrag: „Das Auge ist’s, was die
Taten verwandelt. Das neugeborene Auge
verwandelt die alte Tat“ (Forum der Psychoanalyse 2, 2005). Auch ihn treibt die Sorge,
die Ausweitung des Trauma- und DefektDiskurses führe zu einer Vernachlässigung
des Konflikt-Themas, und er zitiert Steven
Reisner (2003) wonach das „Trauma in
unserer Kultur und unserer Behandlung der
Ort geworden ist, wo dem Narzissmus die
Herrschaft überlassen wird.“ (Wurmser S.
135)
Heißt das nun: zurück zur triebökonomischen Definition des Trauma-Begriffes nach
Fenichel? Sollen wir Ferenczi wieder vergessen? Das kann fraglos nicht der einzuschlagende Weg sein. Wenn Bohleber für eine Art
„doppelter Beschreibung“ des Traumas plädiert hatte (triebökonomisch und objektbezogen-hermeneutisch), dann muss man das
aus heutiger Sicht methodisch erweitern.
Das hieße, den Begriff der Nachträglichkeit,
der Überformung des Alten durch das Aktuelle mit einzubeziehen, um die Ausbeutbarkeit des Redens über Trauma wenigstens mit
ins therapeutische Gespräch einbringen zu
können. Es macht einen erheblichen Unterschied, ob wir den Todesfall eines nahen
Angehörigen als „Trauma“ definieren oder
aber mit Hillel Klein als „menschliche Erfahrung“, die beweint und betrauert, letztlich
aber hingenommen werden muß. Wie wir
etwas definieren, sowohl innerhalb der Therapeut-Patienten-Beziehung als auch im gesellschaftlichen Diskurs über das Trauma,
bleibt nicht ohne Folgen. Die Erfahrung mit
Wilkomirski muß den Blick frei machen zu
untersuchen, wer eigentlich etwas als Trau-
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ma definiert, wie und wann es geglaubt wird,
wie sich Beteiligte auf eine solche Definition
einigen und welche Grade an Verbindlichkeit diese soziale Leistung beanspruchen
kann. Die Verengung und Ausweglosigkeit
der Debatte könnte überwunden werden,
wenn das Interesse weniger der Frage gilt,
was ein Trauma „ist“. Kurz, gerade in der
Trauma-Diskussion könnte die Verschiebung hin zu einem relationalen Paradigma
Lösungen anbieten, die sich einem nur individualistischen Blick verstellen müssen.
Eben diesen Versuch unternimmt ein Beitrag von Gisela Thoma im ersten Heft von
„Psychotherapie und Sozialwissenschaft“.
Sie zeigt, daß traumatische Erfahrungen von
sexuellen Übergriffen durchaus erzählt werden können, ja daß sich trotz des Traumas
eine geordnete lineare und kohärente Erzählstruktur auffinden läßt. Das widerspricht
dem von Brigitte Boothe im gleichen Heft
beschriebenen Topos der „Fragmentierung
im episodischen Gestaltungsprozeß“ mit
Detail-Konkretismus und dem Fehlen einer
dynamischen Erzählorganisation. Thoma
zeigt bei den von ihr untersuchten, auf Aufforderung geschriebenen (also nicht im therapeutischen Gespräch mündlich erzählten)
Geschichten von 5 Personen auf, daß sie
sich zu einem „Geschichtentypus der Opferinszenierung“ verdichten lassen und sie fügt
an, daß einseitige Parteinahmen für das Opfer eine genaue Wahrnehmung empfindlich
einschränken können.
„Die Reflexion eigener Betroffenheit und Erschütterung, die durch die Rhetorik des Traumas
ausgelöst wird, ist unumgänglich“ (S. 27).
Zu dieser kritischen Haltung gehört die Analyse der Erzählmittel, mit denen sich jemand
als Opfer inszeniert und dazu gehört auch zu
sehen, daß Holocaust-Traumatisierte die
Leistung einer kohärenten Erzählung meist
nicht zustande bringen. Bemerkenswert ist,
daß Thoma den Einfluß des Mediums –
Aufforderung zu einer schriftlichen Darstellung – durchaus kritisch sieht; erstaunlich
aber auch, daß der von Fritz Schütze in die
Diskussion gebrachte Begriff des „Gestaltschließungszwangs“ überhaupt nicht erwähnt wird. Schütze hatte als Sozialforscher
die Technik des narrativen Interviews entwi-
PNL – 36
ckelt und dabei beobachtet, daß allein die
Tatsache, daß Interviewte aufgefordert sind,
Erlebtes zu erzählen, bestimmte Zwänge mit
sich bringt: die Geschichte muß (das ist der
Zwang) zu einem Ende gebracht werden,
weil sonst der Interviewer ja keine Chance
hat, die nächste Frage zu stellen. Die Geschichte muß aber auch kohärenter erzählt
werden, weil die Darstellung einer offenen
Erzählgestalt gewissermaßen sofort die stille
Frage danach mit sich bringt, „was wirklich
los war“ (Zuhörer meinen, nicht „alles“ erfahren zu haben) oder aber Erzähler glätten
die Geschichte, weil sie fürchten, daß Unvollständigkeit und offenes Ende ihnen persönlich zugerechnet wird (Zuhörer könnten
meinen, „was ist mit dem los?“). Bekannt ist
auch, daß solche Zwänge in Interviews
durch geschickte Fragen aufgeweicht werden
können, daß sie aber bei einer schriftlichen
Form besonders zum Zuge kommen. Die
Darsteller können sich noch weniger als in
einer kommunikativen Situation an Hörersignalen orientieren, um abzuschätzen, wie
das von ihnen Dargestellte aufgenommen
wird und das erhöht den Zwang zur kohärenten Darstellung unvermeidlich.
Wie Traumata in Interviews erzählt werden,
welche „Verfahren“ bei der Darstellung
traumatischer Erlebnisse genutzt werden,
untersucht in großer Detailliertheit der Beitrag von Arnulf Deppermann und Gabriele Lucius-Hoene. Beide sind erfahrene
Sozialwissenschaftler, die sich damit beschäftigen, wie Gesprächs“objekte“ durchs
Gespräch selbst „hergestellt“ werden – welche stimmlichen, kommunikativen oder
sprachlichen Ausdrucksmittel nutzt ein Erzähler? Grundlage sind 4 Transkripte von
Traumadarstellungen, die aus einem größeren Textkorpus stammen, der zur Untersuchung von traumatischen Erlebnissen zusammengestellt wurde. Ein hier analysiertes
Beispiel ist die Darstellung der Sekretärin
Traudl Junge vom Tod ihres Führers im
Bunker der Reichskanzlei. Auch sie benutzt
dabei übrigens die Metapher vom „schwarzen Loch“, was in sich interessant ist und
| 15
gewissermaßen die verschlungenen intertextuellen Spuren der Trauma-Diskussion ahnen läßt, ohne daß man in der Lage wäre,
hier Genaueres zu formulieren.
Penibel zeichnen die Autoren jeden Seufzer,
jede Sprachverzögerung, jeden Glottisstop
auf – aber, wenn man durch Neukom aufmerksam geworden ist, dann fällt einem auf,
daß die Autoren mit ihrem Forschungssubjekt die Definition, hier handele es sich um
ein Trauma, unbefragt vorab teilen – dieser
Definition entziehen sie sich nicht. Ähnliche
Fragen stellen sich, wenn man die Schilderung von der Kriegsverwundung eines Soldaten liest; ja, hier wird erzählt, hier wird
eindrücklich, hier wird authentisch in großer
subjektiver Betroffenheit erzählt und man
kann prosodische Merkmale und stimmliche
Besonderheiten notieren – aber als Leser
und Beobachter öffentlicher Diskurse hat
man durchaus auch das Gefühl, hier wird ein
Format bedient, das man aus zahllosen
Fernsehsendungen über das Kriegsende als
auch
aus privaten Kriegsschilderungen
kennt. Erstaunlich, daß die stillschweigende
Vorab-Definition als „Trauma“ weder diskutiert noch in Frage gestellt wird; sie wird
einfach übernommen. Was würde sich ändern, wenn man mit Hillel Klein solche Erfahrungen als zum menschlichen Leben gehörig bezeichnen würde? Methodisch ist die
umstandslose Übernahme der vorgegebenen
Traumadefinitionen fragwürdig, stimmt aber
mit dem Befund genau überein: „Im gegenwärtigen Stadium unserer Untersuchung
wissen wir nicht, ob es spezifische Darstellungsformen gibt“ (S. 70). Man sollte, so
darf man vielleicht schlussfolgern, diese Erwartung gar nicht haben. Denn der methodische Individualismus, der sich hier artikuliert, könnte das Problem nicht lösen. Man
kann noch so umfangreiche Merkmalslisten
von subjektiver Agency, Betroffenheitsmarker, stimmlicher Führung und vokaler Prosodie anführen – aber der sozialen KoProduktion des Trauma-Konzepts wird man
so nicht auf die Spur kommen können.
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PNL – 36
R E L A T I O N A L I TÄ T
A
uch hier könnte sich die Umstellung auf ein relationales Paradigma als hilfreich erweisen.
Das würde einschließen, das Elend und die Verzweiflung, die Bitterkeit und die Verletztheit ohne Vorbehalte anzuerkennen und dabei aber zu bedenken, daß eine solche Anerkennung wiederum Folgen haben kann, die bedacht sein wollen. Die Lehre aus dem Fall Wilkomirski ist unabweisbar zu ziehen. Eine relationale Psychoanalyse könnte für die sozialen Rechte
und Bedürfnisse Überlebender und seelisch Versehrter vehement eintreten und dennoch zugleich
die Rolle der Definitionsmacht analysieren. Bohlebers Vorschlag wäre um eine relationale Dynamik erweitert. Die Untersuchung von Definitionsmacht gehört im Grunde in das Gebiet einer
psychoanalytischen Kulturkritik. Sie wäre kein verzichtbarer Luxus, sondern notwendige Hilfe
zur therapeutischen Wirksamkeit der Psychoanalyse. Es gibt gute Aussichten, daß sich die Wirrnisse um das Traumakonzept mit einer paradigmatischen Ausrichtung auf die sozialen Resonanzen entwirren lassen könnten.
Zugleich aber geht eine solche Orientierung nicht geringe professionseigene Risiken ein, weil
natürlich die Mitbeteiligung unserer Profession an der Produktion sozialer Resonanzen selbst zur
Diskussion stünde. Wäre es denkbar, darf man vermuten, ja überhaupt auszusprechen wagen daß die schulischen Streitigkeiten zwischen spezialisierten Traumatherapeuten und Therapeuten
anderer Orientierungen wie ein kollusiver Ehestreit dynamisiert sein könnten? Daß wir uns lautstark über das eine streiten, um das andere in gemeinsamem Interesse bedeckt halten zu können?
Zu hoffen bleibt, daß die Klärungsbedürfnisse im Umgang mit unseren Patienten hier letztlich
mit leiser Stimme sich hilfreich Gehör verschaffen werden.
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