463_503neu.qxd 498 11.09.2006 11:29 Uhr Seite 498 WISSENSCHAFT · S PECIA L: BI O-I MAGI NG Neuronale Migration Quo vadis, neuron? REINHARD W. KÖSTER GSF -FORSCHUNGSZENTRUM FÜR GESUNDHEIT UND UMWELT, INSTITUT FÜR ENTWICKLUNGSGENETIK, NEUHERBERG Die Funktion des Gehirns von Wirbeltieren hängt entscheidend von seiner Organisation und Struktur ab. Der wohlgeordnete Aufbau des Gehirns erfolgt während der Embryonalentwicklung. Dabei migrieren Nervenvorläuferzellen häufig entlang charakteristischer Pfade, mitunter über weite Distanzen, um von ihrem Entstehungsort zu ihrem finalen Funktionsort zu gelangen[1]. ó Ein charakteristisches Hirnkompartiment, in dem diese neuronale Migration besonders ausgeprägt ist, stellt das Kleinhirn oder Cerebellum dar[2]. Es ist verantwortlich für die Kontrolle von komplexen Bewegungsabläufen, die Koordination des Gleichgewichts sowie für motorisches Lernen[3, 4, 5]. Sein Aufbau ist durch eine charakteristische Schichtstruktur von hauptsächlich zwei verschiede- nen neuronalen Subtypen, den Granulär- und den Purkinjezellen gekennzeichnet, die sich durch Migration ihrer Vorläuferzellen ausbildet (Abb. 1)[6, 7, 8, 9]. Diese Organisation und neuronale Migration scheint in Vertebraten weitestgehend konserviert zu sein, sodass Studien an leicht manipulierbaren niederen Vertebratenmodellorganismen, wie Zebrafischembryonen, ˚ Abb. 1: Neuronale Schichtenstruktur des Kleinhirns. Granulär- und Purkinjezellen bilden im Ver- tebratenkleinhirn aneinander grenzende charakteristische Schichten (B) aus, die durch eine geordnete Migration von neuronalen Vorläuferzellen während der Embryonalentwicklung angelegt wird. Dieser Schichtenaufbau ist zwischen Säugern wie der Maus (A) und niederen Wirbeltieren wie dem Zebrafisch (C) hoch konserviert. Abk., IGL: Interne Granulärzellschicht, enthält Interneuronen des Kleinhirns, ML: Molekularschicht, hauptsächlich aus Neuropil bestehend, PCL: Purkinjezellschicht, enthält die einzigen efferenten Nervenzellen des Kleinhirns. ˚ Abb. 2: Neuronale Migration im sich entwickelnden Zebrafisch-Kleinhirn. (A) Bereits 24 Stunden nach der Befruchtung ist die Anlage des Kleinhirnes zu erkennen, was durch die Transparenz des Zebrafischembryos erleichtert wird. (B) Ausgehend von der vorderen Rautenlippe vollziehen die neuronalen Vorläuferzellen eine antero-ventrale Migration, die durch verschiedene charakteristische Phasen gekennzeichnet ist. Abk., Cb: Cerebellum, Hh: Hinterhirn, Mh: Mittelhirn, MHG: Mittelhirn-Hinterhirngrenze. auch für höhere Vertebraten und den Menschen von Relevanz sind. Zebrafischembryonen sind für molekulargenetische Experimente zugänglich und sind zudem nahezu transparent, was eine Beobachtung der neuronalen Migration direkt im lebenden Organismus und damit im natürlichen Kontext ermöglicht. Unsere Arbeitsgruppe kombiniert hochauflösende in vivo Zeitrafferanalysen mittels konfokaler Laserscanning-Mikroskopie[10] mit molekulargenetischen experimentellen Ansätzen, um den molekularen Grundlagen neuronaler Migration im Zebrafischkleinhirn auf den Grund zu gehen. Dieser Ansatz erfordert zunächst ein genaues Verständnis des Migrationsverhaltens neuronaler Vorläuferzellen, dem wir uns in den letzten Jahren gewidmet haben. Dabei hat sich gezeigt, dass neuronale Vorläuferzellen aus der vorderen Rautenlippe in der Tat wie in höheren Vertebraten und Säugern weite Migrationswege zurücklegen. Beginnend bei ca. 24 Stunden nach der Befruchtung ist im Zebrafischembryo bereits klar die Anlage des Kleinhirns zu erkennen (Abb. 2A, roter Kasten). Diese entsteht durch die Öffnung des Hinterhirns entlang seiner antero-posterioren Achse, um den Hinterhirnventrikel auszubilden. Da sich Zellen an der Mittelhirn-Hinterhirngrenze (MHG) dieser Ventrikularisation nicht unterziehen, ist in Zeitrafferanalysen deutlich eine Rotation der Kleinhirnanlage um fast 90 Grad zu erkennen. Durch diese Rotation wird die vordere Rautenlippe zum posterioren Abschluss des Kleinhirns[11]. Aus dieser Rautenlippe beginnen neuronale Vorläuferzellen nach anterior in einer tangentialen Migration auf die Mittelhirn-Hinterhirngrenze (MHG) zuzuwandern. Hier vollziehen sie einen Richtungswechsel und migrieren anschließend nach ventral, um sich schließlich in der ventralen Region des sich entwickelnden Kleinhirns entlang der MHG niederzulassen und zu differenzieren (Abb. 2B)[12]. Nach Aufklärung dieses markanten Migrationsweges stellt sich für uns die Frage nach den molekularen Mechanismen, welche für die Steuerung dieser Migrationsvorgänge verantwortlich sind. Dabei haben wir uns für eine konzeptionelle Unterteilung der Migration in vier verschiedene charakteristische Phasen BIOspektrum | 05.06 | 12. Jahrgang 463_503neu.qxd 11.09.2006 11:29 Uhr Seite 499 ˚ Abb. 3: Visualisierung subzellulärer Strukturen in Zebrafischzellen. Spezifisch lokali- sierte Fluoreszenzproteine unterschiedlicher Emission erlauben die gleichzeitige Darstellung des Zellkerns, des Zentrosoms und des Mikrotubuliskeletts. Diese sind entscheidend an der Koordination neuronaler Migration beteiligt, wobei mittels Hochgeschwindigkeitsmikrokoskopie die intrazelluläre Dynamik ihrer Reorganisation darstellbar ist. entschieden, welche durch ein unterschiedliches zelluläres Migrationsverhalten gekennzeichnet sind (Abb 2B). Zur Migrationsinitiation müssen Zellen motil werden, in der Lage sein, sich von ihrem Zellverbund im Neuroepithel zu lösen sowie eine Vorzugsorientierung einnehmen, um die Migration in die richtige Richtung zu beginnen. Nicht zuletzt müssen dabei parallel verlaufende Proliferationsprozesse mit migratorischem Verhalten koordiniert werden. Während der Migration in anteriore und ventrale Richtung sind Zell-Zell-Kommunikationsvorgänge von entscheidender Bedeutung. Zum einen interagieren migrierende Zellen untereinander, so genannte homotypische Interaktionen, um die Migration zu koordinieren. Zum anderen interagieren sie mit der extrazellulären Matrix oder mit nicht-motilen Zellen oder Zellstrukturen, die als stabile Grundlage fungieren, entlang der die gerichtete Migration erfolgen kann. Um Richtungsänderungen zu vollziehen, müssen neuronale Vorläuferzellen in der Lage sein richtungsweisende Faktoren zu interpretieren, die zum Beispiel von Zellen in der Nähe ihres Zielgebietes präsentiert werden. Diese Wegfindung ist im Kleinhirn von besonderer Bedeutung an der MHG, um eine ventrale Migration im Anschluss an die anteriore Wegfindung zu vollziehen. Dabei ist die zeitliche Regulation der Wegfindungsfähigkeit essenziell, um ein zu frühes Abbiegen neuronaler Vorläuferzellen zu verhindern. Derzeit favorisieren wir hier ein Modell der zeitlich präzise regulierten Expression von Wegfindungsfaktoren und ihren Rezeptoren. Schließlich muss in Umkehr der Migrationsinitiation ein Migrationsstop vollzogen werden, wenn neuronale Vorläuferzellen ihr Zielgebiet erreicht haben. Dieser sollte in einer Aufhebung der zellulären Motilität, verstärkter Adhäsion zu benachbarten Zellen der auszubildenden jeweiligen neuronalen Schicht- oder KernBIOspektrum | 05.06 | 12. Jahrgang struktur sowie in der terminalen neuronalen Differenzierung unter Ausbildung von Axon und Dendriten resultieren. Alle diese Phasen haben gemeinsam, dass sie von den migrierenden neuronalen Vorläuferzellen eine jeweilige radikale Reorganisation ihrer subzellulären Strukturen erfordern. Wir betrachten daher die Entwicklungsgenetik neuronaler Migration im engen Einklang mit zellbiologischen Fragestellungen. Aufgrund ihrer Transparenz und genetischen Manipulierbarkeit bieten Zebrafischembryonen die nahezu einzigartige Chance, Zellbiologie direkt in einem lebenden Wirbeltierorganismus durchzuführen. Dies erfordert jedoch eine räumlich und zeitlich hohe Auflösung subzellulärer Strukturen im sich entwickelnden Kleinhirn für in vivo Zeitrafferanalysen. Den Grundstein dafür haben die rasanten Fortschritte auf dem Gebiet der Fluoreszenzproteinentwicklung für unsere Fragestellungen gelegt. Immer weitere und hellere Farben ermöglichen die gleichzeitige Markierung und Beobachtung verschiedener zellulärer Organellen und Komponenten, die entscheidend an der Koordination zellulärer Migration beteiligt sind. Wir haben uns diesen Fortschritt in der Entwicklung fluoreszierender Proteine zunutze gemacht, um subzelluläre Komponenten, die entscheidend an der Koordination neuro- 463_503neu.qxd 500 11.09.2006 11:29 Uhr Seite 500 WISSENSCHAFT · S PECIA L: BI O-I MAGI NG ˚ Abb. 4: Visualisierung subzellulärer Strukturen im Zebrafischkleinhirn. Die gleichzeitige Markierung von Zellkern (rot), Mikrotu- buliskelett (grün), Zentrosom (gelb) und Membran (blau) ermöglicht die Beobachtung der Koordination dieser Zellkomponenten während der Migration. Dabei scheint das Zentrosom je nach Lokalisation der Zelle in der Rautenlippe oder auf dem Weg zur MHG eine unterschiedliche Position entweder an der Apikalmembran (gelber Pfeil) oder vor dem Zellkern (weißer Pfeil) einzunehmen. Abk.: Cb: Cerebellum, Hh: Hinterhirn, Mh: Mittelhirn. naler Migration beteiligt sind, zu visualisieren. So verwenden wir Fluoreszenzmarkierungen der Zellmembran, des Zellkerns, des Mikrotubuliskeletts sowie des Zentrosoms, um zu charakterisieren, wie Signaltransduktionsprozesse und Zell-Zell-Interaktionen in gerichtetes Migrationsverhalten umgesetzt werden (Abb. 3). Tatsächlich sind es diese zellbiologischen Mechanismen neuronaler Migration, die, wenn dereguliert, zu schweren neurologischen Erkrankungen wie Fukuyama-, Walker-Warburg-, Zellweger-, Kallmanoder Miller-Dieker-Syndrom führen. Diese werden oft als verschiedene Formen von Lissencephalie zusammengefasst, auch wenn häufig unterschiedliche Migrationsabläufe und -phasen betroffen sind[1, 16, 17, 18]. Erste Zeitrafferaufnahmen im ZebrafischKleinhirn zeigen in der Tat charakteristische subzelluläre Verhaltensweisen. So ist das Zentrosom in Zellen innerhalb der Rautenlippe strikt an der Apikalmembran lokalisiert (Abb. 4, gelber Pfeil). Hingegen scheint es sich in migrierenden Zellen, die sich von der Rautenlippe gelöst haben, vor dem Zellkern zu befinden (Abb. 4, weißer Pfeil). Dieses Charakteristikum könnte helfen, frühzeitig zwischen einer proliferierenden und einer migrierenden neuronalen Vorläuferzelle zu diskriminieren. Es ist daher unser Ziel, in vivo Zellbiologie und Entwicklungsgenetik durch Bio-ImagingMethoden in der Analyse von Wildtypfischen, Mutanten und molekulargenetisch beeinflussten neuronalen Vorläuferzellen zu verknüpfen. Wir hoffen dadurch nicht nur die molekularen Mechanismen neuronaler Migration, sondern auch die Konsequenzen von zellbiologischem Verhalten für ein Hirnkompartiment und schließlich für den Organismus selbst aufklären zu können. Diese Studien sollen einen entscheidenden Beitrag für das Verständnis der neuronalen Differenzierungsvorgänge des Vertebratenhirns leisten und so die Ursachen, die Entstehung und den Verlauf neuronaler Migrationskrankheiten aufklären helfen. Solch ein vertieftes Verständnis ist die Voraussetzung für erfolgreiche Therapieansätze der neurogenerativen Medizin und Pharmakologie. ó Förderung BioFuture-Programm des BMBF (Projekt 0311889) Literatur [1] Hatten, M. E. (1999): Central nervous system neuronal migration. Annual Review of Neuroscience 22: 511–539. [2] Goldowitz, D., and Hamre, K. (1998): The cells and molecules that make a cerebellum. Trends in Neurosciences 21: 375–382. [3] Morton, S. M., and Bastian, A. J. (2004): Cerebellar control of balance and locomotion. Neuroscientist 10: 247–259. [4] Boyden, E. S., Katoh, A., and Raymond, J. L. (2004): Cerebellum-dependent learning: the role of multiple plasticity mechanisms. Annual Reviews of Neuroscience 27: 581–609. [5] Fiez, J. A. (1996): Cerebellar contributions to cognition. Neuron 16: 13–15. [6] Voogd, J., and Glickstein, M. (1998): The anatomy of the cerebellum. Trends in Neurosciences 21: 370–375. [7] Machold, R., and Fishell, G. 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