Einführung in die Erziehungsund Sozialisationstheorien Vorlesung im SS 2004 von Prof. Dr. Sabine Walper Überblick zur Vorlesung: Einführung in die Erziehungs- und Sozialisationstheorien 19.04.2004 27.04. 04.05. 11.05. 18.05. 25.05. 01.06. 08.06. 15.06. 22.06. 29.06. 06.07. 13.07. 20.07. Einführung Psychoanalyse entfällt Bindungstheorie Lerntheorien Strukturgenetische Theorien Vorlesungsfrei: Pfingstdienstag Strukturfunktionalismus Rollen-/ Interaktionstheorien + Gesellschaftstheorien Anlage und Umwelt Erziehung im Wandel: Familie Peers Schule (Fokus: Gewaltprävention) Geschlechtstypische Sozialisation + Abschluss Zur Einführung • • • • • Pädagogik als Integrationswissenschaft Was ist „Sozialisation“? Was ist „Erziehung“? Theorien und Modelle zum Erziehungsprozess Welche Menschenbilder liegen einzelnen Theorien zugrunde? • Entwicklung und Sozialisation als selbstgesteuerter Prozess Pädagogik als Integrationswissenschaft • • Im • Schnittfeld • Von: • • • • • Psychologie Soziologie Kommunikationswissenschaften Theologie Anthropologie Philosophie Medizin Rechtswissenschaften Politikwissenschaften Drei Betrachtungsebenen pädagogischer Phänomene • Makrosoziale Ebene: Gesellschaftliche Konstitutionsbedingungen regelgeleiteten sozialen Handelns • Mikrosoziale / interpersonale Ebene: Gegenseitige Beeinflussung in Kommunikation und Interaktion • Intrapersonale Ebene: Konstitution von Regelbewusstsein, Wissen und Erkenntnis im handelnden Subjekt Was ist Sozialisation ? SOZIALISATION (Emilie Durkheim, 1907): => Vergesellschaftung des Menschen, Prägung der menschlichen Persönlichkeit durch gesellschaftliche Bedingungen. SOZIALISATION „sein wie alle anderen“ ó PERSONALISATION „sein wie kein anderer“ Fend (1976): „Sozial-Werdung“ Was ist Sozialisation ? „Sozialisation bezeichnet den Prozess des Aufbaus von Verhaltensdispositionen und der Eingliederung eines Individuums in die Gesellschaft oder in eine ihrer Gruppen über den Prozess des Lernens der Normen, Werte, Symbolsysteme und Interpretationssysteme der jeweiligen Gruppe und Gesellschaft.“ (Fend, 1977, S. 18) „... der Prozess der Entstehung und Entwicklung der Persönlichkeit in wechselseitiger Abhängigkeit von der gesellschaftlich vermittelten sozialen und materiellen Umwelt. Vorrangig thematisch ist dabei ..., wie sich der Mensch zu einem gesellschaftlich handlungsfähigen Subjekt bildet.“ (Geulen & Hurrelmann, 1980, S. 51) Was ist Sozialisation ? Die Doppelfunktion von Sozialisation: Ø Individuum handlungsfähig machen Ø Soziales System über Generationen hinweg funktions- und überlebensfähig machen 3 Perspektiven auf das Mitglied-Werden in einer Gesellschaft • Subjektbezogene Perspektive: aktive Rolle des heranwachsenden Menschen in der Auseinandersetzung mit seiner Umwelt • Institutionen-bezogene Perspektive: Zwecke, Funktionsweisen und Effekte von Institutionen im Sozialisationsprozess • Kulturbezogene Perspektive: Konstitutive Elemente von Kultur(en) und deren Vermittlung an/Aneignung durch die nachwachsende Generation Struktur der Sozialisationsbedingungen (aus Tillmann 1994, S.18) Ebene Beispielhafte Komponenten 4) Gesamtgesellschaft ökonomische, soziale, politische, kulturelle Struktur 3) Institutionen Betriebe, Massenmedien, Schulen, Universitäten, Militär, Kirchen Eltern-Kind-Beziehungen, 2) Interaktionen und Tätigkeiten schulischer Unterricht, 1) Subjekt Kommunikation Erfahrungsmuster, Einstellungen, Wissen, emotionale Strukturen, kognitive Fähigkeiten Enkulturation (M.H. Herskovits, 1947) ⇒Lernen der Kultur: „Grundlegender Lernprozess, dem jeder Mensch in jeder Gesellschaft ausgesetzt ist ..., macht das Individuum handlungsfähig.“ (Kron, 2001, S.50) „Während mit dem Begriff „Enkulturation“ auf das Lernen aller kulturellen Inhalte angespielt wird, bezeichnet Sozialisierung das Lernen einer besonderen Klasse kultureller Inhalte: Das Lernen der moralischen Ordnung einer Gesellschaft.“ (Fend, 1975, S. 47f.) Was ist »Erziehung« ? „Unter Erziehung werden soziale Handlungen verstanden, durch die Menschen versuchen, das Gefüge der psychischen Dispositionen anderer Menschen dauerhaft zu verbessern oder seine als wertvoll beurteilten Komponenten zu erhalten.“ Brezinka (1990, S. 95) Was ist Erziehung? Zu verbessern versuchen Erziehende mit sozialen Handlungen Psychische Dispositionen Zu erhalten Zu beseitigen Der Erziehungsbegriff nach Brezinka (vgl. Gudjons, 1999, S. 189) Was ist Erziehung? Erziehung • Intentionales, geplantes und normativ orientiertes Handeln • „...meint also immer nur das, was bewusst und planvoll zum Zwecke der optimalen kindlichen Entwicklung geschieht.“ (Giesecke, 1991, S.70) Was ist Erziehung? Erziehung Charakteristisch: • Kompetenzgefälle, Rollenverteilung • Intendiertes, methodisches Vorgehen • Ist gebunden an Gegenstände, Themen • Eingebettet in Institutionen (Schule, Familie) und gesellschaftlich-historisch-sozialen Kontext Was ist Erziehung? Verwendungen des Erziehungsbegriffs in der Fachsprache: • Prozess versus Produkt • Absicht versus Wirkung • Handlung versus Geschehen • Deskriptiver versus programmatischpräskriptiver Begriffsgebrauch (vgl. Gudjons, 1999, S. 188) Theorien und Modelle zum Erziehungsprozess Mollenhauer (1982): Erziehung als • • • Kommunikatives Handeln Interaktion Reproduktion 4 geläufige Modellvorstellungen • Funktional-intentionale Erziehung: Intentionale Erziehung: absichtsvolle pädagogische Einflussnahme in face-to-face Situationen funktionale Erziehung: Einfluss von gesellschaftlich wirksamen Faktoren, die nicht für Erziehungszwecke geschaffen wurden („geheime Miterzieher“) • Das pädagogische Verhältnis: Reformpädagogik: „Pädagogischer Bezug“ als „das leidenschaftliche Verhältnis des reifen Menschen zu einem werdenden Menschen, und zwar um seiner selbst willen, dass er zu seinem Leben und zu seiner Form komme.“ (Nohl, 1935, S. 169). Der Erzieher als „Anwalt des Kindes und der Kultur“. 4 geläufige Modellvorstellungen • Erziehung als Verhaltensänderung: Lerntheorie: Erlernen von gewünschtem Verhalten durch Verstärkung/Löschung und soziale Modelle • Erziehung als symbolische Interaktion: Symbolischer Interaktionismus: Konstitution der sozialen (Erziehung-)situation durch wechselseitige Sinninterpretation. Wichtig: Interaktions- und Definitionsspielräume Bis hierher Zum Verhältnis von Enkulturation, Sozialisation, Erziehung und Individuation Enkulturation (Erwerb kultureller Basisfähigkeiten) Sozialisation (= „sozial werden“) Erziehung (= „sozial machen“) Individuation (= einzigartiges Individuum werden) Quelle: Gudjons Ziele, Normen und Werte in der Erziehung ZIELE: • Konkrete Zwecke, praktische Handlungsintentionen • Beschreiben ein „Ideal“ für den Educanden und implizieren eine Handlungsaufforderung für den Erziehenden: „er solle so handeln, dass der Educand befähigt wird, dieses Ideal so weit wie möglich zu verwirklichen“ (Brezinka, 1975, S.155) • Gelten oft nur für Subgruppen, nicht für den gesamten Kulturkreis NORMEN: • Hinter den Zielen liegende Überzeugungen und Soll-Vorstellungen • Haben sich meist über einen längeren Zeitraum entwickelt • Gelten für einen größeren Kulturkreis Ziele, Normen und Werte in der Erziehung WERTE: • Liegen den Normen zugrunde („Grundwerte“): Bewertung, die über die Annahme oder Ablehnung von Normen und Zielen entscheidet. Beispiel: Ziel: Erziehung zur Friedfertigkeit Norm: Du sollst nicht töten Wert: Achtung vor dem Leben Wertewandel in der Erziehung seit den 60er Jahren: stärkere Betonung von »Selbstentfaltungswerten«: ∅Emanzipation, Autonomie, Selbstverwirklichung, Selbststeuerung, Kritikfähigkeit Gegenbewegung: Betonung der »Pflicht- und Akzeptanzwerte« („Bonner Forum“; 1978) ∅ Tüchtigkeit, Fleiß, Einordnungsbereitschaft Wertewandel in der Erziehung Zusammenhang zwischen Erziehungszielen und -praktiken Erziehung zur Mündigkeit und Partizipation ist nicht möglich, ohne zunehmende Beteiligung der Adressaten am Erziehungsprozess und der Auseinandersetzung mit dessen Zielen. ∅ „vom Befehls- zum Verhandlungshaushalt“ (De Swan; Büchner) Welche Menschenbilder liegen einzelnen Theorien zugrunde? Implizite Anthropologien von Theorien und Forschungstraditionen Eine Typologie von Entwicklungstheorien hinsichtlich des Person-Umwelt-Bezugs UMWELT AKTIV S U B J E K T PASSIV AKTIV PASSIV Quelle: Oerter & Montada, 1995, S.7 Welche Menschenbilder liegen einzelnen Theorien zugrunde? Implizite Anthropologien von Theorien und Forschungstraditionen Eine Typologie von Entwicklungstheorien hinsichtlich des Person-Umwelt-Bezugs UMWELT AKTIV S U B J E K T AKTIV PASSIV Interaktionistische SelbstgestaltungsTheorien theorien PASSIV Exogenistische Theorien Endogenistische Theorien Quelle: Oerter & Montada, 1995, S.7 Modelle des Person-Umwelt-Bezugs in „Theorienfamilien“ Endogenist. Theorien Exogenist. Theorien Selbstgestaltungstheorien Interaktionist. Theorien Subjekt passiv passiv aktiv aktiv Umwelt passiv aktiv passiv aktiv Reifung Anlage Umwelt: Konditionierung Selbstgesteuerter Konstruktionsprozess Wechselseitige Beeinflussung von Person und Umwelt Reifestand („readiness for learning“) S-R.-Modell Reorganisation psychischer Strukturen Systematische Zusammenhänge Sensible Perioden Prägung Verstärkung Erklärung der Verhaltensänderung durch: Wichtige Konzepte: Bedingte Reaktionen Shaping Stellvertretende Verstärkung Passung Entwicklungssequenz Transaktion Sachimmanente Entfaltungslogik Bilaterale bzw. retrograde Sozialisation Alternative Klassifikationen: zur Bandbreite der Interaktionstheorien Starke I.T. •Reziproke Interdependenz von Anlage und Umwelt: „Dynamischer Interaktionismus“ •Individuum als Produkt und Produzent von Entwicklung •Prototyp: Lerner („Developmental Contextualism“); Hurrelmann („Persönlichkeit als produktive Realitätsverarbeitung“) Moderate •Anlage und Umwelt als notwendige, aber voneinander I.T. unabhängige Determinaten von Entwicklung •Beide Determinanten bleiben qualitativ unverändert •Prototyp: Piaget Schwache •Betonung einer Determinante (in der Regel Anlage => Umwelt I.T. kann Reifungsplan beschleunigen, verzögern oder fixieren) •Prototyp: psychoanalytische Ansätze; psychosoziale Konzeption von Erikson Entwicklung und Sozialisation als selbstgesteuerter Prozess • Durch die Wahl der sozialen und materiellen Umwelt • Durch subjektive Wahrnehmung und Interpretation der Umwelt • Durch Modifikation der materiellen, sozialen Umwelt (Lerner & Busch-Rossnagel, 1981) Literatur • Gundjons, H. (62001). Pädagogisches Grundwissen. Bad Heilbrunn: Klinkhardt. • Krüger, H.-H. & Helsper, W. (Hrsg). Einführung in Grundbegriffe und Grundfragen der Erziehungswissenschaft. Opladen: Leske+Budrich (insbes. Kap 1). • Kron, F.W. (62001). Grundwissen Pädagogik. München: Ernst Reinhard Verlag (insbes. Kap. 2 und 4) • Hurrelmann, K. (2002). Einführung in die Sozialisationstheorien. Weinheim: Beltz