Zwischen Verstrickung und Handlungsfähigkeit _ Zur Komplexität

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Zwischen Verstrickung und Handlungsfohigkeit
Wiebke Scharathow
Fremdwahrnehmungsmuster zu reflektieren. Im Sinne einer rassismuskritischen
pädagogischen Perspektive geht es darum, eine kritische Haltung zu entwickeln,
welche dazu befähigt, das eigene Handeln sowohl im Kontext von Strukturen,
Diskursen und Dominanzverhälmissenals auch vor dem Hintergrund rassismusthe­
oretischer Implikationen beständig zu reflektieren und entsprechend widerständige
Strategien zu entwickeln sowie Handlungsalrernariven zu erarbeiten.
Rassismus wird hier verstanden als ein soziales Phänomen, das sich auf allen
Ebenen des gesellschaftlichen Zusammenlebens in mannigfaltiger Weise mani­
festiert. Vor diesem Hintergrund und in Anbetracht der Geschichte(n) des Ras­
sismus gibt es diverse Formen von Rassismen und unterschiedliche Definitionen
des Rassismusbegriffes. 1 Autoren und Autorinnen beider Bände der vorliegenden
Publikation zu Rassismuskritik benützen den Rassismusbegriff daher mit unter­
schiedlichen Akzentsetzungen bzw. nehmen in ver'ichiedener Weise Bezug auf
den Rassismusbegriff. Als Konsens bezüglich einer Definition dessen, was Ras­
sismus ist, lässt sich jedoch formulieren, dass Rassismus als machtvolles System
von Diskursen und Praxen der Unterscheidung beschrieben werden kann, mit
welchen Ungleichbehandlung und hegemoniale Machtverhälrnisse legitimiert
werden sollen. Die Unterscheidung von Menschen und ihre Kategorisierung in
soziale Gruppen sind dabei verbunden mit der sozialen Konstruktion von Bil­
dern über diese sozialen Gruppen und der Zuschreibung von Eigenschaften und
Wesensmerkmalen, welche als quasi natürlich vorgestellt werden und mit einer
hierarchisierenden Bewertung verknüpft sind. Die sich in historisch-diskursi­
ven Prozessen konstituierenden sozialen Konstruktionen über Gruppen wirken
gleichsam als ,Platzanweiser' und bestimmen damit die Positionierung sozialer
Gruppen in einer sich so etablierenden sozialen Ordnung. Rassismus ist damit
zum einen das komplexe System, welches zur Etablierung einer hegemonialen
Gesellschaftsstruktur beiträgt. Zum anderen dient es zugleich der Legitimation
der hegemonialen Ordnung. Rassismus ist also immer mit Machtverhältnissen,
dem Zugang zu Ressourcen und sich unterscheidenden Möglichkeitsräumen
verbunden und dient als "Legitimationslegende" (Birgit Rommelspacher in Band
I) der Rechtfertigung der hegemonialen Struktur und den daraus hervorgehenden
Praxen des Ausschlusses und der Ungleichbehandlung.
Als Merkmal der Unterscheidung, aufwelches die Entstehungsgeschichte der
Terminologie des Rassismus zurückzuführen ist, kann die soziale Konstrukrion
von menschlichen ,Rassen' und damit der Versuch der Klassifikation von Men­
schen und der hegemonialen Naturalisierung der so erLeugten Kategorien und
ihrer Inhalte im Kontext von Kolonialisierung - und der Rechtfertigung dieser
beschrieben werden. Im Anschluss an diesen kolonialen Rassismus entwickelte
sich nach Etienne Balibar (vgl. Balibar 1990) der ,Neo-Rassismus'; Als Merkmal
der Unterscheidung und Legitimation für Ungleichbehandlung und Macht- und
Zwischen Verstrickung und Handlungsfähigkeit _ Zur Komplexität rassismuskritischer Bildungsarbeit Im vorliegenden zweiten Band zu Rassismuskritik wird im Anschluss an den ersten
von Claus Melter und Paul Mecheril herausgegebenen Band zu Rassismustheorie
und -forschung die Notwendigkeit einer rassismuskritischen Bildungsarbeit in
einer von Heterogenität und Rassismus geprägten Einwanderungsgesellschaft
herausgearbeitet. Damit konzentrieren sich die hier versammelten Beiträge aufdie
Anforderungen, die sich unter besonderer Berücksichtigung von institutionellen
Rahmen bedingungen, historischen Entwicklungsprozessen und gesellschaftlichen
Machtverhälmissen aus Rassismustheorie und -forschung an die Bildungsarbeit
ergeben. In diesem Zusammenhang fragen die Beiträge nach den Chancen und
Möglichkeiten sowie nach den Fallstricken und Grenzen einer rassismuskritischen
Bildungsarbeit in unterschiedlichen Perspektiven, Arbeitsfeldern und Kontexten.
Anliegen des vorliegenden Bandes ist es, die Frage nach dem Beitrag zu stellen
und zu diskutieren, den eine rassismuskritische Bildungsarbeit zu einer von mehr
sozialer Gerechtigkeit geprägten Gesellschaft im Sinne von Chancengleichheit,
Partizipation, gerechtem Zugang zu Ressourcen und sozialer Anerkennung leisten
kann.
Der Begriff der rassismuskritischen Bildungsarbeit nimmt die Kritik früher
interkultureller und antirassistischer Ansätze auf und konzelHriert sich auf die
aus dieser Kritik entstandenen Weiterentwicklungen von Konzepten und Theo­
rien, die pädagogisches Handeln als eingebettet in Kontexte von Nationalstaat,
Migration, Macht- und Dominanzverhälmissen begreifen (vgL zur Entwicklung
und Kritik interkultureller und anrirassistischer Ansätze in der Pädagogik z.B.
Krüger-Potratz 2005; Auernheimer 2007 v; Hormel/Scherr 2004). Unter der an­
gestrebten Perspektive von sozialer Gerechtigkeit versucht der Begriff zu betonen,
dass das Einnehmen einer analytischen und kritischen Perspektive in einer sich
mit Rassismen und Dominanzverhältnissen auseinandersetzenden Pädagogik von
besonderer Wichtigkeit ist. Rassismuskritikals Perspektive pädagogischen Handelns
betont aber auch die Notwendigkeit, konkrete Erfahrungen sowie Selbst- und
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Wiebke Scharathow
Herrschaftsverhältnisse fungiert hier ein als statisch und essentialisierend vorge­
stellter Kulturbegriff. Nach der hier vorgestellten Definition von Rassismus kön­
nen damit also unter anderem auch antimuslimischer Rassismus, Antiziganismus
und Antisemitismus als in spezifischen soziohistorischen Kontexten entstandene
Spielarten des Rassismus, als verschiedene Rassismrn, die mit je unterschiedlichen
Imaginationen und Funktionen einhergehen, verstanden werden.
Gleichwohl erscheint es uns unangebracht, bei sämtlichen von mit Macht- und
Herrschaftsverhälmissen verknüpften Formen von Unterdrückung und Benach­
teiligung von Rassismus zu sprechen. Jedoch ist es uns insbesondere vor dem
Hintergrund zunehmender gesellschaftlicher sozialer Heterogenität ein Anliegen,
Verschränkungen und Verknüpfungen mit anderen Formen der Benachteiligung
und Marginalisierung aufzuzeigen und Rassismuskritik mit neueren Überlegungen
und Ansätzen zu Intersektionalirät und Diversity Education zu verbinden. 2 Die in
diesem Zusammenhang angestellten Überlegungen richten ihren Blick daher auch
aufdie Bedeutungen, welche eine zunehmende Diversifizierung der Gesellschaft,
Mehrfachzugehörigkeiten Einzelner und (sich überschneidende) Diskriminierungen
verschiedener sozialer Gruppen auf unterschiedlichen Ebenen für die Bildungs­
arbeit haben. Sie gründen sich auf in den letzten Jahren in zunehmendem Maße
entstandene theoretische Konzeptionalisierungen und Forschungen, die Katego­
rien wie Ethnie und ,Rasse', Geschlecht oder soziale Klasse als wirkungsmächtige
soziale Konstruktionen beschreiben, die, verbunden mit gesellschaftlichen wie
globalen Machtstrukturen mit Zuschreibungen einhergehen, welche zu Praxen des
Ein- und des Ausschlusses sowie Privilegierung und Deprivilegierung führen und
damit auch auf die soziale Positioniertheit von Menschen in sich überlagernden,
überschneidenden Feldern sozialer Kategorisierungen aufmerksam machen.
Ein zentrales Anliegen des vorliegenden zweiten Bandes zu Rassismuskritik
ist es zu betonen, dass eine gelingende diskriminierungs- und rassismuskritische
Bildungspraxis nicht auf theoretische Fundierungen und die dazu notwendigen
Forschungsergebnisse verzichten kann; genauso wenig jedoch - und auch dies
es deutlich zu machen - kann Forschung und Theoriebildung in sozialen,
gesellschaftsrelevanten Feldern losgelöst und unabhängig von Entwicklungen
und sozialen Wirklichkeiten stattfinden. Solche sozialen Wirklichkeiten und ihre
Auswirkungen auf Einzelne oder soziale Gruppen und ihre Lebenslagen, mani­
festieren sich unter anderem auch in Praxis feldern der pädagogischen (Bildungs-)
Arbeit und führen hier zu Notwendigkeiten einer veränderten und verändernden
Praxis, um sowohl gesellschaftlichen Entwicklungen als auch sich wandelnden
Lebenslagen gerecht zu werden. Forschung und Theoriebildung sollten in dieser
Hinsicht den Anspruch haben, unter Berücksichtigungsoziohistorischer Kontexte
und Entwicklungen an gesellschaftliche und differente soziale Realitäten und
daraus resultierende Herausforderungen anzuknüpfen. Dazu gehört auch, die
Zwischen Verstrickung und Handlungsßihigkeit
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Erfahrungen von pädagogischen Fachkräften ernst zu nehmen, um so Hinweise
für einen adäquaten, gut begründeten Umgang mit den zunehmend von sozialer
Heterogenität geprägten Realitäten sowie der Herausbildung einer professionellen,
rassismuskritischen Haltung zu liefern. Letzten Endes sollte Sinn und Ziel einer
jeden guten Theorie sein, zu positiven Veränderungen beizutragen, sollte Theorie
immer auch ein Mittel zum Zweck sein. Oder, um mit Smart Hall zu sprechen:
",[I]nteressanter als Theorie' ist schlicht und einfach, die Welt zu verändern. Was
wiederum nicht ohne Theorie geht. Die Welt ist kein transparenter Gegenstand,
der sich ohne intellektuelle Anstrengung erkennen lässt. (... ] (D]as Ziel besteht
darin, das dadurch gewonnene Verständnis in eine veränderte Praxis einfließen zu
lassen." (Stuart Hall im Gespräch mit Christian Höller 1999, 119)
Insbesondere in der pädagogischen Arbeit besteht die Gefahr, Rassismen als
vornehmlich auf der individuellen Ebene existierend wahrzunehmen und zu
thematisieren: Rassismen als ,falsche Einstellung' für die Menschen individuell
verantwortlich gemacht werden und die nun mit Hilfe der Pädagogik ,behandelt',
von den falschen Gedanken ,geheilt' werden sollen. In diesem Bild treten über­
spitzt formuliert - Teilnehmende an pädagogischen Maßnahmen als ,Patienten'
und ,Patientinnen' , als das Problem auf und die Pädagogen und Pädagoginnen als
die vermeintliche Lösung für dieses individuell zu verorrende Rassismusproblem:'
Dieses Bild des Rassismus als individuelles Problem, das zudem in der Regel auf
bestimmte Gruppen (7..B. benachteiligte Jugendliche) begrenzbar zu sein scheint
und das es auf individueller Ebene zu beheben gilt, ist ein weit verbreitetes, das
nicht zuletzt durch Mediendiskurse und politische Debatten oder öffentliche
Maßnahmen und Programmausschreibungen wirkmächtigen Eingang in das
allgemein gültige, soziale Alltagswissen gefunden hat. 4 Mechtild Gomolla spricht
in ihrem Artikel diesbezüglich von einem "minimalistischen" Konzept von Ras­
sismus, welches in der Bundesrepublik vorherrsche.
Allerdings ist gleichzeitig richtig, dass Rassismus sowohl intentional als auch
nichtintentional- eine nicht zu verkennende Rolle auch aufder Ebene der Inter­
aktion spielt. Formen von Rassismus, die auf interaktiver Ebene ihren Ausdruck
finden, gilt es vor allem auch in der pädagogischen Arbeit zu berücksichtigen und
zu bearbeiten. Dazu braucht es Räume der Reflexion und Auseinanderserzung,
wofür insbesondere die Artikel des dritten und des vierten Abschnittes des vorlie­
genden Buches zur rassismuskritischen Bildungsarbeit mit Kindern, Jugendlichen
und Erwachsenen Hinweise geben. Wesentlich ist es jedoch deutlich zu machen,
dass Rassismen, die sich auf individueller Ebene manifestieren nicht losgelöst
von gesellschaftlichen Verhältnissen und den darin liegenden Bedeutungen und
Begründungen für das rassistische Denken und Handeln Einzelner gesehen werden
dürfen. Die in diesem Band versammelten Beiträge betonen daher, dass Rassismen
keineswegs als ein aufdie individuelle Ebene gesellschaftlichen Zusammenlebens
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Wiebke Scharathow
zu beschränkendes Phänomen begriffen werden können, sondern immer im
Zusammenhang mit gesellschaftlichen Prozessen zu denken sind, was in päda­
gogischen Konzepten entsprechende Berücksichtigung finden muss. Rassismus
als ein System von Unterdrückungs mechanismen und Deutungen findet sich
auf allen Ebenen der Gesellschaft wieder und ist mithin zu einer einflussreichen
Normalität gesellschaftlichen Zusammenlebens geworden, das sich in der Struktur
der nationalstaatlichen Ordnung der Bundesrepublik ebenso wiederfindet wie
in Organisationsstrukturen von Institutionen. Als Mitglieder dieser Gesellschaft
bewegen wir alle uns in einem von Rassismen auf struktureller, institutioneller
und individueller Ebene durchzogenen Raum und bleiben nicht unbeeinflusst
durch die sich in diesem Raum entspinnenden, immer auch auf rassistische
Wissensbestände zurückgreifenden Diskurse und Praxen. Rassismus tritt mithin
nicht nur - wie in der (medialen) Öffentlichkeit oftmals suggeriert _ in Form
gewalttätiger Übergriffe auf, sondern ist zudem oftmals subtiler _ Bestandteil
alltäglicher Praxisformen auf verschiedensten Ebenen, die nicht als unabhängig
voneinander, sondern als miteinander verwoben und verknüpft zu denken sind.
Verstrickt in rassistische Strukturen, Diskurse und Praxen sind Individuen und
soziale Gruppen - in unterschiedlichem Maße- auch immer an der Reproduktion
der rassistischen Verhältnisse beteiligt. In Anlehnung an den aus der Geschlech­
terforschung stammenden Begriff des doing gender kann diesbezüglich von doing
racism gesprochen werden.
Nun kann bei aller Eingebundenheit in rassialisierte Strukturen und Diskurse
jedoch keineswegs davon ausgegangen werden, dass Subjekte durch die Verhältnisse
determiniert wären. Gesellschaftliche Formationen, Diskurse und Konstruktionen
verändern sich in soziohisrorischen Prozessen - und zwar durch das Wirken von
Subjekten. Diese Veränderungen wären nicht
vollkommenen Determiniertheit der Subjekte durch die gesellschaftliche!
hältnisse aus. Kritische Gedanken, widerständiges Handeln und Lebensentwürfe
der herrschenden ,Normalitäten ' sind mit Theoretisierungen, welche die
Beziehung zwischen gesellschaftlichen Verhältnissen und Individuum kausal und
deterministisch setzen, nicht denkbar. So gilt es zu berücksichtigen, dass Rassismen
nicht in allen gesellschaftlichen Konstellationen und Kontexten in gleichem Maße
wirksam sind. Auch kann nicht davon gesprochen werden, dass das Vorhandensein
rassistischer Deutungsmuster das Erleben und Deuten der sozialen Wirklichkei­
ten determiniert. Vielmehr sind solche rassistischen Deutungsmuster auch als
in Konkurrenz und im Widerspruch mit anderen bei Individuen vorhandenen
Deutungsmustern stehend zu betrachten. 5 Obgleich wir uns als Gesellschaftsmit­
glieder also keineswegs frei machen können von jedwedem Einfluss rassifizierrer
Diskurse und Strukturen, so heißt dies doch nicht, dass wir durch diese in un­
serem Denken und Handeln festgelegt oder in allen Situationen gleichermaßen
Zwischen Verstrickung und Handlungsfohigkeit
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beeinflusst wären. Vielmehr, das betont Klaus Holzkamp als Vertreter der Kri­
tischen Psychologie, können wir uns im Rahmen unserer Möglichkeiten bewusst
zu ihnen verhalten. Klaus Holzkamp spricht diesbezüglich von individuell und
situativ verschiedenen, durch gesellschaf
und soziale Positionierungen begrenzten Möglichkeitsräumen
21 f.). Diese Räume, in
Handeln von Subjekten möglich ist, gilt es zu erkennen, paaagoglscn
und gemeinsam auszuweiten.
Rassismuskritische Bildungsarbeit sollte demnach den Anspruch haben, zum
einen die Mechanismen und die hinter rassistischen Hierarchisierungen und mit
diesen verschränkte andere Formen der Unterdrückung stehende Funktionen zu
hinterfragen. Zum anderen kommt ihr die Aufgabe zu, zu kritischen Reflektionen
von Denken und Handeln anzuregen sowie Handlungsalternativen zu erarbeiten
und aufzuzeigen. Pädagoginnen und Pädagogen stehen bei diesen Prozessen
selbstverständlich nicht außerhalb des Diskurses. Daher kommen sie nicht umhin,
sich als ebenfalls im gesellschaftlichen Bedeutungsgefüge in bestimmter Weise
positioniert zu begreifen und nicht nur das eigene Tun vor diesem Hintergrund
stetig zu reflektieren, sondern dies auch in der Konzeption von Bildungsangeboten
zu berücksichtigen. Bildung ist im Kontext von Rassismuskritik immer auch als
politische Bildung zu begreifen; denn insbesondere die Berücksichtigung struk­
tureller Ungleichheiten, wie sie z.B. durch Gesetzgebungen entstehen, oder eine
kritische Aufklärung über Ursachen und Zusammenhänge von Migrations- und
Fluchtbewegungen oder eine kritische Sicht aufdie Enrwicklungsgeschichten und
Redeutune:en von Nationalstaaten spielen einezenrrale Rolle. Die Auseinander­
gebunden ist. Pädagogisches Ziel einer kritischen
über solche Zusammenhänge ist es neben der reinen Informationsvermitrlung
vor allem zu einer Bewusstseinsbildung beizutragen, um somit Prozesse der Soli­
darisierung und der Politisierung zu initiieren lind auf soziale Wissensbestände,
Haltungen und Einstellungen einzuwirken, wie Franz Hamburger, Lydia Seus
und Otta Wolter bereits 1981 in Abgrenzung zu den damaligen Konzepten der
Ausländerpädagogik formulierten (vgl. Hamburger/Seus/Wolter 1981, 165 f.;
Auernheimer 2006, 265). Rassismuskritische Bildungsarbeit möchte zu einer
Gesellschaft beitragen, die von einem Mehr an sozialer Gerechtigkeit, an gleichen
Partizipationsmöglichkeiten für alle Menschen geprägt ist. Dafür ist die professi­
onelle Auseinandersetzung in pädagogischen Settings wie Workshops, Unterricht
und Bildungsseminaren mit rassialisierten Deutungs- und Handlungsm ustern auf
individueller, institutioneller und struktureller Ebene unerlässlich; jedoch zugleich
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Wiebke Scharathow
Zwischen Verstrickung und Handlungsfiihigkeit
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nicht ausreichend.
Ebenen in allen Instltutionen pädagogischer Arbeit Berücksichtigung finden: Die
Organisationsentwick!ung und kritische Betrachtung institutioneller Strukturen
gilt es in Prozessen rassismuskritischer Betrachtungsweisen ebenso mitzudenken
wie die konkrete Bildungsarbeit in Kindertagesstätte, Schule, Außerschulischer
Jugendarbeit und in der Aus- und Weiterbildung. Insbesondere der Qualifikation
von pädagogischen Fachkräften und Multiplikatoren und Multiplikatorinnen
kommt diesbezüglich eine besondere Bedeutung zu.
Das vorliegende Buch gliedert sich in mehrere Teile:
Rassismuskritische Bildungsarbeit und Organisationsentwicldung
Im ersten Abschnitt setzen sich die Autorinnen und Autoren mit Strukturen und
institutionellen Bedingungen von rassismuskritischer Bildungsarbeit auseinander,
was - wie bereits erwähnt - insbesondere vor dem Hintergrund eines sich mehr­
heitlich mit der interaktiven Ebene auseinandersetzenden Arbeitsfeldes wie der
Pädagogik von besonderer Bedeutung ist. Annita Kalpaka macht deutlich, dass das
,Andern' (Othering) in der pädagogischen Praxis verbreitet und in institutionelle
Rahmenbindungen sowie gesellschaftliche Verhältnisse eingebettet ist und gibt
Anregungen für eine herrschaftskritische pädagogische Praxis. Mechtild Gomolla
beschäftigt sich in ihrem Beitrag mit den Herausforderungen, die Rassismus und
institutionelle Diskriminierung an Schulen und Einrichtungen der Elemental
ziehung stellen, und betont, dass hierzu mehrdimensionale Strategien notwendig
die die komplexen Ursachen von Diskriminierung wie sie u.a. auch in den pädagogischen Organisationen institutionalisiertsind _ zu berücksichtigen wissen. Andreas Foizik und Axel Pohl gehen in ihrem Artikel der Frage nach, warum das Konzept der Interkulturellen Öffnung mittlerweile zwar relativ verbreitet, aus rassismuskritischer Perspektive aber weitgehend folgenlos geblieben ist, und geben Hinweise darauf, inwiefern ein selbstreflexiver Ansatz Interkultureller Öffnung viel versprechende Perspektiven eröffnen kann.
Zur Legitimation rassismuskritischer Intervention
Im zweiten Teil geht es um die Auseinandersetzung mit der Frage nach der
Legitimation von rassismus kritischen Interventionen: Aus menschenrechdicher
Perspektive argumentiert Mona Motakef in ihrem Text. Sie stellt heraus, dass das
Menschenrecht aufBildung fur Kinderund Jugendliche mit Migrationshintergrund
nur unzureichend umgesetzt wird, und konzipiert einen menschenrechtsbasierten
Ansatz als Form der Rassismuskritik. Mark Schrödter fragt in seinem Beitrag nach
der Legitimierbarkeit von Anrirassismustrainings als pädagogischer Intervention
auf der
Ansatzes.
der universalen Regeln der Moral am
des
Rassismuskritische Bildungsarbeit mit Erwachsenen
Ein dritter Teil des vorliegenden Bandes konzentriert sich auf die Bildungsarbeit
mit Erwachsenen sowie mit Multiplikatorinnen und Multiplikatoren. Insbeson­
dere hinsichtlich der Ausbildung von (angehenden) pädagogischen Fachkräften,
die als Multiplikatorinnen und Multiplikatoren in den verschiedenen Arbeits­
feldern pädagogischer Praxis wirken, ist eine Sensibilisierung für Rassismen und
Rassismuskritik notwendig. Vor dem Hintergrund einer von rassialisierenden
Bedeutungen geprägten sozialen Wirklichkeit ist es darüber hinaus jedoch selbst­
alle anderen Arbeitsbereiche wichtig, rassialisierende und
kulturalisierende Deutungsmuster und Praxen erkennen bzw. vermeiden zu lernen:
In rassismuskritischer Perspektive setzt Anne Broden sich in ihrem Beitrag mit den
Widersprüchlichkeiten und den Gefahren des ,Verstehens' als zentralem Topos in
Konzepten interkultureller Bildung auseinander. Maureen Maisha Eggers geht vor
dem Hintergrund insbesondere der Schwarzen Frauenbewegung in Deutschland
der Frage nach, wie Theoretisierungen zu Transkulturalität und Geschlechterfor­
schung produktiv miteinander verbunden werden können, wie Zwischenräume
gestaltet werden können, damit widerständiges Handeln möglich wird. Als mit
dem Anti-Bias-Ansatz arbeitende Praktikerinnen reflektieren Bettina
Katharina Dietrich und Shantala Herde! diesen Ansatz
arbeit vor allem hinsichtlich seines sehr umfassenden Anspruches
schen Umsetzbarkeit dieses Anspruches. Leah Carola Czollek reflektiert in
Beitrag Erfahrungen, die sie mit Bildungsarbeit zum Thema Antisemitismus in
Hochschulseminaren gemacht hat, und Wiebke Scharathow fragt ausgehend von
theoretischen Überlegungen nach den Möglichkeiten und den Schwierigkeiten
einer rassismuskritischen Bildungsarbeit zum Thema ,Islam'.
Rassismuskritische Bildungsarbeit mit Kindern und Jugendlichen
Im vierten Abschnitt dieses Buches widmen wir dem Bereich der Arbeit mit
Kindern und Ju!!:endlichen in Kindertagesstätte, Schule, außerschulischer und
als einem gewichtigen und großen Arbeitsfeld, in
welchem (rassismuskritische) Bildungsarbeit stattfindet, besondere Aufmerksam­
keit. In diesem Abschnitt beschäftigen sich Petra Wagner und Annika Sulzer mit
der Notwendigkeit einer diskriminierungskritischen Bildungsarbeit, die bereits
im Elementarbereich und in der Kindertageseinrichrung beginnt, und fragen,
inwiefern schon kleine Kinder in ihrem Alltagshandeln Bezug aufgesellschaftlich
verbreitete rassialisierende, ethnisierende und kulturalisierende Deutungsmuster
nehmen. Sie thematisieren in diesem Zusammenhang auch die Strategien des
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Wl'ebke Scharathow
Umgangs mit den sich im Verhalten von Kindern zu Tage tretenden Rassismen
von Seiten der Erzieherinnen und Erzieher. Thomas Quehl konzentriert sich
in seinen Ausführungen auf die Schule als Ort des Lernens von Kindern und
Jugendlichen und stellt vor dem Hintergrund der institutionellen Bedingungen
von Schule Überlegungen dazu an, welche Anforderungen sich in der Perspek­
tive rassismuskritischer pädagogischer Ansätze an die Institution Schule auf den
verschiedenen Ebenen stellen. RudolfLeiprecht diskutiert in seinem Beitrag u.a.
Grundideen, Begriffe und Intentionen interkultureller, rassismuskritischer und
diversitätsbewusster Ansätze und fragt insbesondere vor dem Hintergrund einer
subjektorientierten Jugendarbeit, inwiefern eine Perspektive der Prävention in
Zusammenhang mit Rassismus sinnvoll ist. Maria do MarCastro Varela und Birgit
Jagusch gehen in ihrem Artikel der Frage nach, wie eine augerschulische Jugend­
arbeit, die anti rassistisch und zugleich gendersensibel arbeitet, aussehen kann. Mit
dem Thema Antisemitismus und Arbeit mit Jugendlichen befassen sich Barbara
Schäuble und Albert Scherrsowie Mirko Niehoffin ihren Artikeln. BarbaraSchäuble
und Albert Scherr argumentieren aufder Grundlage der Auseinandersetzung mit
vorliegenden Studien zu Antisemitismus bei Jugendlichen für eine anti-antisemi­
tische Bildungsarbeit, deren Aufgabe im Kern darin besteht, Jugendliche darin
zu unterstützen, ihren eigenen Anspruch, nicht antisemitisch zu sein, realisieren
zu können. Mirko Niehoff denkt in seinem Artikel darüber nach, wie eine anti­
antisemitische Bildungsarbeit mit Jugendlichen vor dem Hintergrund aktueller
Verhältnisse und Bedingungen konzipiert sein sollte und wie diese in der Schule
zu integrieren ist. Auch Michael Luttmer stellt in seinem Beitrag überlegungen
dazu an, wie eine aufAntiziganismus bezogene rassismuskritische Bildungsarbeit
in der Institution Schule verankert werden kann, und verdeutlicht dies an einem
praktischen BeispieL Marcus Meier setzt sich mit der Frage auseinander, wie Kon­
zepte gewerkschaftlicher, politischer Bildungsarbeit angelegt sein müssen, die der
zu beobachtenden Tendenz von GewerkschaftSjugendlichen, rechtsextremen und
anderen Ideologien der Ungleichheit vermehrt zuzustimmen, adäquat begegnen
können. Er betont die Norwendigkeit, gesellschaftliche Verhältnisse zu berück­
sichtigen, und setzt sich vertieft mit dem Zusammenhang zwischen ,Ideologien der Ungleichheit' und Restrukturierungsmaßnahmen in der Arbeitswelt als einem möglichen analytischen Erklärungszugang auseinander. Zur Gleichzeitigkeit der Erfithrung und Reproduktion von Rassismus
Karharina Dietrich und Zahra Deilami setzen sich im folgenden fünften Abschnitt
dieses Buches mit der Gleichzeitigkeit der Erfahrung und der Reproduktion
von Rassismus auseinander. Sofern Pädagoginnen und Pädagogen sich nicht
und Blauäugigkeit vorwerfen lassen wollen, ist es norwendig zu sehen,
dass auch Menschen mit eigener Migrationserfahrung oder -geschichte durchaus
Zwischen Verstrickung und HandLungsflihigkeit
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auf rassialisierte Praxen des Ein- und des Ausschlusses zurückgreifen. Einfache
Täter-Opfer-Schemata reichen nicht aus, die komplizierten Prozesse der Her­
ausbildung von Welt- und Selbstbildern vor dem Hintergrund von globalen und
gesellschaftlichen Machtverhältnissen und persönlichen Erfuhrungen in einer von
einer Ellenbogenmentalität geprägten Gesellschaft und die damit verbundenen
Mechanismen von Funktionalitäten von Praxen des Ein- und des Ausschlusses
und ihrer vermeintlichen Legitimierbarkeit zu erklären. Katharina Dietrich stellt
in ihrem Beitrag ihre qualitative Untersuchung zu Rassismuserfahrungen und
eigenen Rassismen junger Spätaussiedlerinnen und Spätaussiedler vor und gibt
damit Einblick in komplexe Verstrickungen in das System des Rassismus und die
subjektiven Funktionen, die Grenzziehungen entlang ethnischern kulturellen
oder nationalen Merkmalen haben. Zahra Deilami beleuchtet in ihrem Artikel
die Rolle der Migrantinnen und Migranten im (alltags-) rassistischen Diskurs und
fragt nach ihrer Selbstpositionierung in Konstruktionsprozessen des ,Eigenen' und
des ,Anderen', um so die Auseinandersetzung mit eigenen Verstrickungen in die
Reproduktion herrschender Machtverhältnisse als Mittel der Emanzipation von
Migrantinnen und Migranten anzuregen.
Zur Kritik der Unterstützung
Im abschließenden sechsten Teil des vorliegenden Bandes zu rassismuskritischer
Bildungsarbeit setzen sich die Autorinnen Claudia Machhold und Anja Weiß mit
dem Dilemma rassistischer Verstrickungen undantirassistischer Handlungsfähigkeit
in antirassistischen Unterstützer(innen)gruppen auseinander. Claudia Machold
setzt sich in ihrem Artikel in einer theoretischen Perspektive, in der Kritik als
analytischer Blick aufreproduzierende Effekte in einer durch Macht strukturierten
Realität verstanden wird, zum einen mit der Reflexion Rassismus reproduzierender
Effekte im Antirassismus und zum anderen mit einer einzuübenden kritischen
Haltung, als Möglichkeit des pädagogischen Umgangs mit Verstrickung in einer
Praxis ,gegen' Rassismus, auseinander. Anja Weiß argumentiert in ihrem
dass die gängigen in Wissenschaft und antirassistischer Bildungsarbeit vermit­
telten Modelle von Rassismus die Aktivistinnen und Aktivisten antirassistischer
Gruppen in handlungspraktische Sackgassen führen, und widmet sich vor diesem
Hintergrund der Frage, ob das vermittelte Wissen über Rassismus angemessen ist.
Abschließend gibt sie Hinweise darauf, wie ein Modell des Rassismus aussehen
kann, damit lebensweltliches antirassistisches Handeln konstruktiv und politisch
wirksam werden kann.
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Wiebke Scharathow
Anmerkungen
1 Vgl. z.B. die Beiträge im Kapitel ,Theorien, Begriffe und historische Einordnung' in
Band I.
2 Vgl. Castro-VarelafJagusch im vorliegenden Band; Leiprecht im vorliegenden Band; Leiprecht/Lutz in Band L 3 Vgl. hierzu kritisch Gomolla im vorliegenden Band. 4 VgI. das Kapitel zur sozialen Konstruktion von Differenz in Band 1. 5 Vgl. Leiprecht im vorliegenden Band. Literatur
Auernheimer. Georg (2006): Nochmals über die Unmöglichkeit, Politik durch Pädagogik zu
ersetzen. In: Badawia. TarekiLuckas. Heiga/Müller, Heim (Hrsg.): Das Soziale Gestalten.
Über Mögliches und Unmögliches in der Sozialpädagogik. Wiesbaden, S. 265-280.
Auernheimer. Georg (2007V): Einführung in die Interkulrurelle Pädagogik. Darmstadt.
Balibar, Etienne (1990): Gibt es einen .Neo-Rassismus'? In: Balibar, Etienne/Wallenstein,
Imanuell: Rasse. Klasse. Nation. Ambivalente Identitäten. Hamburg, S. 23-29.
Hall, Sruart/Höller, Christian (1999): "Ein Gefüge von Einschränkungen". Gespräch zwischen
Smart Hall und Christian Höller. In: Engelmann, Jan (Hrsg.): Die kleinen Unterschiede.
Der Cultural Studies Reader. Prankfurt/M.lNew York, S. 100-122.
Hamburger. Pranz/Seus, LydiafWolter, Otto (1981): Über die Unmöglichkeit, Politik durch
Pädagogik zu ersetzen. In: Unterrichtswissenschaft. 9. Jg.lHeft 2, S. 158-168.
Holzkamp, Klaus (1983): Grundlegung der Psychologie. Prankfurc/M.lNew York.
Horme!, Ulrike/Scherr, Albert (2004): Bildung für die Einwanderungsgesellschaft. Perspektiven
der Auseinandersetzung mit struktureller, institutioneller und interaktioneller Diskriminie­
rung. Wiesbaden.
Krüger-Potratz, Marianne (2005): Interkulturelle Bildung. Eine Einführung. Münster.
Kapitell
Rassismuskritische Bildungsarbeit
und Organisationsentwicklung
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