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BZB Dezember 15
Wissenschaft und Fortbildung
Zentrik im Fokus
Anmerkungen zur physiologischen Kondylenposition in maximaler Okklusion
E i n B e i t r a g v o n P r o f . D r. U l r i c h L o t z m a n n , M a r b u r g
Die Anfertigung von atraumatischem Zahnersatz,
der hinsichtlich der statischen und dynamischen
Okklusion im Mund des Patienten keine oder nur
geringfügige Korrekturen erforderlich macht, setzt
bekanntlich eine physiologische und reproduzierbare Relation des Unterkiefers zum Oberkiefer voraus. So steht der Behandler bei jeder definitiven
therapeutischen Maßnahme mit okklusaler Beteiligung vor der Entscheidung, entweder die bestehende maximale Interkuspidationsposition zu
übernehmen und damit zu sichern, oder die maximale Okklusion beziehungsweise das, was nach
Attrition, Karies und Zahnverlust von ihr übrig geblieben ist, in einer physiologischen Kieferrelation
zu rekonstruieren. Welcher Therapieweg dem Patienten empfohlen werden sollte, hängt im Wesentlichen von der Auswertung der speziellen Anamnese,
dem Zahnstatus sowie den Befunden der zahnärztlichen Funktionsdiagnostik ab.
Ein wesentliches Kriterium, das die korrekte zentrale
Kieferrelation auszeichnet, ist ihre Reproduzierbarkeit. Aber ist eine reproduzierbare Unterkieferposition in jedem Fall auch gleichzusetzen mit einer
physiologischen Kieferposition?
Gesunde Kiefergelenkverhältnisse vorausgesetzt,
beträgt der maximale Retrusionsweg der Kondylen aus der maximalen Interkuspidationsposition
in die forcierte Retrusionsstellung des Unterkiefers
etwa 0,8 bis 1,5 mm (Abb. 1). Diese Wegstrecke
scheint auf den ersten Blick gering und vernachlässigbar zu sein und hat in der Vergangenheit so manchen Behandler mit Bezug auf die ursprüngliche
gnathologische Lehre verleitet, den Unterkiefer bei
der Kieferrelationsbestimmung maximal nach dorsal in eine ligamentgehaltene Position zu manipulieren. Der Okklusionskontakt in dieser mandibulären Grenzlage wird als terminale, retrudierte oder
retrale Kontaktposition (RKP) bezeichnet.
RKP: Sicherer Schlüssel zur
physiologischen Kieferrelation?
Der große und verführerische Vorteil, den diese
Position bietet, besteht darin, dass der Unterkiefer
aus dieser Position heraus mit einer Amplitude von
1 bis 2 cm eine nahezu reine Rotationsbewegung
um eine stabile, die Kondylen schneidende, transversale, terminale Scharnierachse durchführen kann
und dies vor allem mit einer erstaunlichen Reproduzierbarkeit. Nimmt der Behandler in dieser forcierten Dorsallage des Unterkiefers zum Beispiel
nacheinander mehrere Zentrikregistrate, fallen
diese auch bei einem neuromuskulär inkoordinierten Patienten mit unsicherer Bisslage weitgehend
identisch aus. Man glaubte daher, mit dem Registrieren in RKP einen Schlüssel zu haben, um unabhängig von Muskelfunktion und Zahnstatus des
Patienten zu einer reproduzierbaren Kieferrelation
zu gelangen und damit eine wesentliche Voraussetzung für die Anfertigung einer okklusal präzisen Rekonstruktion zu erfüllen. Hinweise darauf,
ob die retrale Kontaktposition als reproduzierbare
Kieferrelation tatsächlich auch physiologischen
Verhältnissen entspricht, lassen sich bereits aus
kleinen Selbstversuchen ableiten.
Selbsttest: Aktivitätsverhalten der Retraktoren
Setzen Sie sich bitte aufrecht hin und halten den
Kopf gerade. Ertasten Sie mit Ihren Zeigefingern
unter kleinen Öffnungs- und Schließbewegungen
die lateralen Pole der Kondylen (Abb. 2). Verschieben Sie dann die Fingerkuppen ausgehend von den
lateralen Kondylenpolen circa 1,5 cm nach anterior.
Abb. 1: Sagittalschnitt durch ein menschliches Kiefergelenk in maximaler Interkuspidationsposition. a = Fossa, b = Eminentia, c = Diskus,
d = Kondylus, e = bilaminäre Zone, I = Kondylenposition in maximaler Okklusion, R = Kondylenposition in maximaler Retrusionsstellung.
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Abb. 2: Ertasten der lateralen Kondylenpole unter
leichter Öffnungs- und Schließbewegung
Abb. 3: Palpieren der Pars profunda des Musculus
masseters
Sie werden dort direkt unter dem Jochbogen beidseits im Musculus masseter eine kleine Mulde spüren. Lassen Sie Ihre Fingerkuppen dort unter sanftem Druck liegen (Abb. 3). Sie palpieren in dieser
Region unter der Haut direkt die Pars profunda des
Musculus masseters. Dieser unter der Pars superficialis liegende kleinere Anteil des Masseters ist
durch seine eigentümliche Faserverlaufsrichtung
prädestiniert, nicht nur Kraft beim Schließen in die
maximale Okklusion zu entwickeln, sondern als
Retraktor aktiv bei Retrusions- und gleichseitigen
Laterotrusionsbewegungen beteiligt zu sein. Die
kleine Mulde vor dem Kiefergelenk ist die einzige
Region, um die Pars profunda direkt zu ertasten.
Gehen Sie mit leichtem Kraftschluss in die maximale Okklusion. Ziehen Sie dann Ihren Unterkiefer unter leichtem Zahnkontakt maximal nach
retral und halten diese Position für maximal zehn
Sekunden. In dem Falle, dass Sie Ihren Unterkiefer
nicht willkürlich nach retral ziehen können, versuchen Sie Ihren „Oberkiefer nach vorne zu schieben“. (Diese widersinnig erscheinende Aufforderung kann Patienten dazu veranlassen, bei dem
hoffnungslosen Versuch, den Oberkiefer zu protrudieren, ihren Unterkiefer nach retral zu ziehen.)
Hilfreich kann es auch sein, die Zungenspitze für
die Dauer des Tests mittig an den Übergang vom
harten zum weichen Gaumen zu legen.
Sofern es Ihnen möglich ist, die Retrusion willkürlich auszuführen, werden Sie mit Ihren Fingerkuppen ein deutliches Anschwellen der Pars profunda
als Zeichen ihrer Aktivierung wahrnehmen. Schon
nach wenigen Sekunden in dieser muskulär gehaltenen Retrusionsstellung des Unterkiefers werden
Sie sehr wahrscheinlich ein unangenehmes Spannungs- und Druckgefühl vor dem Ohr wahrnehmen.
Beenden Sie dann bitte diesen Test. Legen Sie für die
nächste Übung einen Zeigefinger an den Mundbo-
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Abb. 4: Ertasten der suprahyoidalen Muskulatur, die
ebenfalls eine retrusive Funktion aufweist
den (Abb. 4). In der Retrusion werden Sie ebenfalls
eine deutliche Aktivitätssteigerung Ihrer suprahyoidalen Muskulatur feststellen, da diese, insbesondere
die Mm. digastrici, nicht nur zu den Mundöffnern,
sondern auch zu den Retraktoren gehören.
Für einen letzten kleinen Test zum Aktivitätsverhalten der Retraktoren in einer forciert dorsalen
Kondylenstellung legen Sie Ihre Zeigefinger unter
der Schädelbasis in Höhe des Haaransatzes in den
Nacken (Abb. 5). Ziehen Sie den Unterkiefer nun
rhythmisch in seine retrale Grenzlage. Sie werden
mit jeder Retrusionsbewegung auch eine Anspannung, das heißt Aktivitätssteigerung der Nackenmuskulatur (Musculus splenius capitis, Musculus
trapezius und andere) spüren. Das Verlagern des
Unterkiefers nach retral erfordert demnach nicht
nur mehr Aktivität einzelner Kaumuskeln, sondern führt auch zu einer Aktivitätssteigerung der
Nackenmuskulatur.
Obgleich der Retrusionsweg der Kondylen aus der
maximalen Okklusion in die retrale Kontaktposition wie bereits erwähnt circa 0,8 bis 1,5 mm be-
Abb. 5: Palpieren der Nackenmuskulatur unterhalb der Schädelbasis
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Abb. 6: Histologisch aufbereiteter Sagittalschnitt eines menschlichen Kiefergelenks.
a = Eminentia am Tuberculum articulare, b = Kondylus, c = Diskus, d = bilaminäre Zone
mit Genu vasculosum. V = Rotieren des ventro-kranialen Kraftvektors nach dorso-kranial
bei Retrusion.
trägt, müssen die Retraktoren und einzelne Nackenmuskeln auf einem unnötig hohen Aktivitätsniveau agieren, um diese scheinbar geringfügig retral liegende Unterkieferposition einnehmen und
kurzfristig halten zu können. Dies ist nicht nur unkomfortabel, sondern für die fehlbelasteten Kiefergelenke und hypervalenten Muskeln auch unphysiologisch. Dies kann über die Zeit zu irreversiblen
Gewebeschäden und Schmerzen führen. Eine Retralverlagerung der Kondylen geht mit einer Aktivitätssteigerung der Retraktoren einher. Die damit
verbundene Änderung des Kraftvektors führt zu einer stärkeren Belastung der bilaminären Zone. Ge-
rade in diesem dorsalen Gelenkbereich liegen auch
die besonders empfindlichen Gewebsstrukturen wie
zum Beispiel das Genu vasculosum, die vor einer
Überlastung geschützt werden sollten (Abb. 6).
Ein weiterer Aspekt, der gegen eine retrale Platzierung der Kondylen spricht, hängt mit dem physiologischen Kaumuster zusammen. Die Analyse von
Bewegungen des Laterotrusionskondylus beim Kauvorgang offenbart, dass der Kondylus aus seiner
Stellung in maximaler Okklusion einen retrusiven
und latero-retrusiven Bewegungsfreiraum benötigt.
Dieser Bewegungsfreiraum würde mit einer Neueinstellung der maximalen Okklusion in einer retralen Kieferposition blockiert oder zumindest massiv eingeschränkt.
Die zentrische Kondylenposition
Bereits der knöcherne Aufbau des Kiefergelenks
zeigt, dass auftretende Belastungen unter physiologischen Bedingungen nicht nach kranial oder
dorso-kranial, sondern vorwiegend nach ventrokranial gegen die Eminentia und damit gegen das
Os temporale abgeleitet werden. Besonders auffällig ist, dass die zentrale Fossa nur durch eine dünne
Knochenlamelle vom Gehirn getrennt ist. Abbildung 7 veranschaulicht am mazerierten Schädel
die Fossa und Eminentia im Gegenlicht. Die dünnen Knochenstrukturen erscheinen transluzent.
Es liegt auf der Hand, dass diese dünnen Knochenlamellen nicht dafür ausgelegt sind, exzessive Kräfte
aufzunehmen. Der ventro-kranialen Orientierung
Abb. 7: Kiefergelenkregion am Humanschädel im Gegenlicht von seitlich schräg unten betrachtet. In der Tiefe der Fossa trennt nur eine
hier transluzente und damit dünne Knochenlamelle (a) das Kiefergelenk vom Gehirn. b = Porus acusticus externus, c = Jochbogen mit Tuberculum articulare.
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Abb. 8: Okklusale Situation in muskulärer Kontaktposition bei einer 64-jährigen
Patientin
des Kondylus zur Eminentia wird auch die derzeit
gültige Definition der zentrischen Kondylenposition gerecht: „Die zentrische Kondylenposition ist
die kranio-ventrale, nicht seitenverschobene Position beider Kondylen bei physiologischer Kondylus-Diskus-Relation und physiologischer Belastung
der beteiligten Gewebestrukturen.“
Die Kondylen stehen also ventro-kranial gegen die
Eminentia orientiert – und nicht kranial im Zenit
oder dorsal in den Gelenkgruben. Die beteiligten
Gewebe sollen beim Schließen in maximaler Okklusion weder auf Zug noch auf Druck exzessiv
belastet werden. Daraus ist abzuleiten, dass die
maximale Okklusion (IP) so einzustellen ist, dass
die Seitenzähne die Gelenke beim Pressen in der
IP vor einer Fehlbelastung schützen. Hier ist anzumerken, dass aus dem Verlust der Molaren nicht
zwangsläufig eine exzessive und zerstörerische
Gelenkbelastung resultiert. Dies erscheint auf den
ersten Blick widersprüchlich. Mit der Verlagerung
der okklusalen Abstützung nach anterior, reduziert sich jedoch die willkürlich generierte maximale Muskelkraft – dies vermutlich gerade zum
Schutz von Kiefergelenken und Restbezahnung.
Ohne diese Adaptation würde eine Prämolarenokklusion langfristig nicht funktionieren.
Die Definition weist allerdings die Einschränkung
auf, dass sie keinen Bezug auf die physiologische
Vertikaldimension (Bisshöhe) nimmt, die über den
Öffnungswinkel des Unterkiefers natürlich auch
die Kondylenstellung mit festlegt. Die korrekte Vertikaldimension ist ebenfalls keine mathematisch
exakt zu definierende Unterkieferstellung, sondern in Grenzen variabel. Sie ist so zu wählen,
dass zwischen Ruhelage und maximaler Okklusion noch ein ausreichender Interokklusalabstand
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Abb. 9: Mit dem Einnehmen der maximalen Okklusion kommt es zu einer ausgeprägten Zwangsprogenie und damit einhergehend zu einer Ventralverlagerung
beider Kondylen.
besteht und der Patient ohne Zahnkontakt einen
entspannten Lippenschluss einnehmen kann. Hierbei ist allerdings zu berücksichtigen, dass bei einigen anatomischen Limitationen, zum Beispiel
einem offenen Biss, auch bei korrekter Vertikaldimension kein oder kein leichter Lippenschluss
möglich ist.
Adaptierte Kondylenposition
Strenggenommen kann man definitionsgemäß
auch nur dann von einer zentrischen Kondylenbeziehungsweise Kieferposition oder kurz „Zentrik“ sprechen, wenn der Diskus noch seine korrekte Lagebeziehung zum Kondylus aufweist. Kiefergelenke, bei denen eine partielle oder totale Diskusverlagerung oder eine Diskusperforation vorliegt, können sich jedoch über die Zeit unter progressiver Remodellation der Weich- und Hartgewebe an die veränderten Belastungsverhältnisse
angepasst haben. Man spricht dann nicht von einer zentrischen, sondern von einer adaptierten
Kondylenposition. Aus Sicht des Kiefergelenks gibt
es keinen plausiblen therapeutischen Grund, diese
adaptierte Kondylenposition zu ändern. Die Fähigkeit der Gelenkstrukturen zur Adaptation darf allerdings nicht überschätzt und überfordert werden.
Sie ist von verschiedenen Faktoren abhängig und
fällt individuell unterschiedlich aus.
Ausmaß und Richtung der Verlagerung
Neben dem Ausmaß ist insbesondere die Richtung
der Verlagerung für eine Traumatisierung der beteiligten Gewebe entscheidend. Die Abbildungen 8
und 9 zeigen die okklusale Situation einer 64-jährigen Patientin beim ersten sanften Zahnkontakt
nach dem Schließen aus der Ruhelage (MKP) und
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nach dem Schließen in maximaler Okklusion.
Der Unterkiefer wird dabei in eine ausgeprägte
Zwangsprogenie geführt. Die Patientin klagte jedoch weder über Kiefergelenkbeschwerden noch
zeigte sie objektive Anzeichen einer Gelenkdysfunktion oder Arthrose. Dieser scheinbare Widerspruch kann unter anderem damit erklärt werden:
Mit Einnahme der maximalen Okklusion erfolgt
eine Verlagerung beider Kondylen nach ventrokaudal entlang der funktionell ohnehin genutzten Gelenkflächen. Sowohl Kiefergelenke als auch
Kaumuskulatur tolerieren eher eine Verlagerung
nach anterior entlang der funktionellen Gelenkfläche (Eminentia) als eine Verlagerung nach kranial, dorso-kranial, dorso-kaudal oder/und transversal.
Steht der Unterkiefer in maximaler Okklusion allerdings in einer zu ausgeprägten Ventrallage, ergibt sich hieraus ein gravierender Nachteil: Der
retrusive Bewegungsraum, den die Kondylen aus
der Interkuspidation in die retrale Kontaktposition
durchlaufen können, wird so erweitert, dass daraus in diesem Bewegungsbereich nicht beherrschbare okklusale Störungen resultieren. So sind auch
zahnmedizinisch-orthopädische Therapiekonzepte,
die den Unterkiefer aus seiner zentralen Lage um
mehrere Millimeter nach anterior verlagern, um
damit etwa einen positiven Einfluss auf die Körperstatik des Patienten auszuüben, aus okklusionstechnischer Sicht äußerst kritisch zu bewerten.
Nicht gegen die Muskulatur behandeln
Neben der Reproduzierbarkeit besteht eine weitere,
aus meiner Sicht sogar die wesentlichste Grundbedingung für eine korrekte zentrale Kieferrelation
darin, dass der Patient die in dieser Kieferstellung
rekonstruierte maximale Okklusion mit nur geringem Energieaufwand der Kaumuskulatur einnehmen und halten kann. Die korrekte zentrale Kieferrelation ist also keine Position, die ausschließlich
vom Kiefergelenk „diktiert“ wird, sondern muss
auch mit der Muskelfunktion harmonieren. Dies
setzt allerdings voraus, dass die Muskulatur ausbalanciert ist und keine Hypervalenzen einzelner
Muskeln bestehen. In jenen Fällen, in denen dies
nicht gegeben ist, muss vor der definitiven Bestimmung der zentralen Kieferrelation eine funktionelle Vorbehandlung durchgeführt werden.
Die folgende einfach durchzuführende Übung kann
Ihnen helfen, ein Gefühl dafür zu entwickeln, ob
Sie Ihre maximale Okklusion auch unter minimalem Kraftaufwand der Kaumuskeln einnehmen
und halten können. Diesen Test wende ich auch
bei meinen Patienten nach prothetisch-restaurativen Maßnahmen zur abschließenden okklusalen Kontrolle an. Geprüft wird, ob der Patient tatsächlich wie angestrebt seine (neue) maximale
Okklusion mühelos und reproduzierbar einnehmen kann.
Selbsttest: Maximale Okklusion mit geringem
Kraftaufwand finden und halten
Setzen Sie sich bitte aufrecht hin und halten Sie
dabei den Kopf gerade. Lassen Sie Ihren Unterkiefer in die Ruhelage fallen, die Zähne haben keinen
Kontakt, Ihre Lippen liegen entspannt aufeinander. Schließen Sie nun Ihren Mund kraftlos, bis
sich Ihre Zähne leicht berühren. Wiederholen Sie
das Anheben des Unterkiefers aus der Ruhelage
mehrfach. Sie können dabei auch schnellere „Klapperbewegungen“ ausführen. Wesentlich ist nur,
dass die Öffnungs- und Schließbewegungen aus
der Ruhelage weitgehend kraftlos erfolgen. Die
Stellung des Unterkiefers zum Oberkiefer, die sich
beim Schließen aus der Ruhelage mit dem ersten
Kontakt ergibt, wird als muskuläre Kontaktposition (MKP) bezeichnet. Welche Zähne oder Zahngruppen treten hierbei zuerst in Kontakt?
Spüren Sie beim Schließen zuerst Ihre Frontzähne oder Prämolaren? Beißen Sie nun langsam fester zu und achten Sie darauf, ob sich der Unterkiefer dabei unter Zahnkontakt spürbar verschiebt.
Pressen Sie zum Schluss dieser Übung Ihre Zähne
in maximaler Okklusion für fünf Sekunden zusammen. Auf welchen Zähnen oder Zahngruppen spüren Sie beim festen Pressen den stärksten
Druck?
Sollten Sie beim lockeren Schließen oder „Klappern“ reproduzierbar mit allen Seitenzähnen weitgehend simultan aufsetzen, ist dies ein wichtiger
Hinweis auf eine Interkuspidationsposition, die von
der Kaumuskulatur mit einem minimalen Energieaufwand eingenommen und gehalten werden kann.
Eine Orthofunktion der Muskulatur (Normtonus,
muskuläre Balance) sowie eine physiologische Vertikaldimension (= Bisshöhe) vorausgesetzt, werden
die Kiefergelenke in dieser Unterkieferposition auch
beim festeren Pressen weder exzessiv auf Druck
noch auf Zug unphysiologisch belastet. Es besteht
damit eine harmonische Übereinstimmung zwischen maximaler Okklusion, Kaumuskelfunktion
und Kiefergelenkstellung. Liegt hingegen auch
beim festen Pressen der stärkste Druck im vorderen
Bereich der Zahnbögen und nehmen Sie die vor-
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handenen oder ersetzten Molaren nicht oder nur
schwach wahr, deutet dies auf einen verdeckten
posterioren Stützzonenverlust hin. Die Molaren
sind in dieser Kieferposition nicht in der Lage, die
von der Kaumuskulatur generierten Kräfte adäquat
aufzunehmen und in die Mandibula und auf den
Schädel abzuleiten.
Muskuläre Schonhaltung
und Ausweichbewegungen
Bei der Durchführung dieses Tests am Patienten ist
allerdings zu berücksichtigen, dass der Schließweg
des Unterkiefers aus einer medianen Öffnungsstellung, zum Beispiel aus der Ruhelage, gestört sein
kann und der Unterkiefer beim Anheben in die
Okklusion in eine Schonhaltung geführt wird. Der
Schließweg verläuft dann nicht auf einer bogenförmigen Bahn, sondern erfährt mit Annäherung
an die maximale Okklusion eine Richtungsänderung. Nimmt der Patient eine Schonhaltung ein,
dient diese der Entlastung und damit dem Schutz
von überlastetem und gegebenenfalls schmerzhaftem Gewebe. Hierbei kann es sich zum Beispiel
um einen okklusalen Vorkontakt, einen aufbissempfindlichen Zahn oder ein schmerzendes Kiefergelenk handeln. Der Schließweg kann auch verändert sein, wenn der Patient exzessive exzentrische
Parafunktionen ausübt und dies zu einer Hypervalenz der dabei besonders aktiven Muskeln geführt hat. Beim Versuch der muskulären Entspannung können die hypervalenten Muskeln dann
dominieren und den Unterkiefer in ihre Zugrichtung etwas versetzen. Auch eine instabile, für
den Patienten unkomfortable maximale Okklusion kann zu einem reflektorischen Versetzen des
Unterkiefers führen. Der Patient sucht dann unbewusst eine biomechanisch stabilere, für die Muskulatur leichter einzunehmende und zu haltende
Unterkieferposition. Die Abstützung wird hierbei
bevorzugt auf nahezu horizontal ausgebildeten
Schlifffacetten gesucht, zum Beispiel auf abradierten Inzisalschneiden oder Eckzahnspitzen. Auch
in diesen Fällen kann vor der definitiven Kieferrelationsbestimmung eine funktionelle Vorbehandlung ratsam sein.
Es muss ohnehin akzeptiert werden, dass bestehende Dysfunktionen und funktionelle Erkrankungen, insbesondere Schmerzen, im Einzelfall
eine definitive Registrierung der korrekten Kondylenstellung unmöglich machen können. Diese kann
bestenfalls erst nach einer erfolgreich abgeschlossenen Vorbehandlung durchgeführt werden.
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Zusammenfassung
1. Bei der physiologischen Kondylenposition handelt es sich um keine mathematisch genau definierte Position, sondern um einen umschriebenen
Bereich.
2. Hierbei stehen die Kondylen in der maximalen
Okklusion weitgehend symmetrisch und nicht
transversal verschoben im ventro-kranialen Abschnitt der Eminentia.
3. In maximaler Okklusion sollen die Gelenkstrukturen keine exzessiven, traumatisierenden Belastungen erfahren.
4. Aus dieser Stellung müssen freie Lateralbewegungen und geringfügige Retralbewegungen
(circa 1 mm) möglich sein. In Abhängigkeit von
der Vorgeschichte des Kiefergelenks und den therapeutischen Erfordernissen kann der retrusive
Bewegungsraum aus der zentralen Kieferrelation
auch größer ausfallen.
5. Bei pathologischen Kondylenstellungen, zum
Beispiel nach Diskusverlagerung, kann es unter
günstigen Belastungsverhältnissen durch progressives Remodellieren der Hart- und Weichgewebe zu einer physiologischen Anpassung des
Gelenkes an die veränderten Belastungsverhältnisse kommen (adaptierte Kondylenposition).
6. Der Patient sollte bei aufrechter Kopf- und Körperhaltung seine maximale Okklusion nur mit
geringer Muskelkraft, reproduzierbar, spontan
und ohne Abgleit- oder Suchbewegungen aus der
Ruhelage heraus einnehmen und komfortabel
halten können.
Korrespondenzadresse:
Prof. Dr. Ulrich Lotzmann
Direktor der Abteilung für Orofaziale Prothetik und Funktionslehre
am Medizinischen Zentrum für Zahn-, Mund- und Kieferheilkunde,
Philipps-Universität Marburg
Georg-Voigt-Straße 3, 35039 Marburg
[email protected]
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