58 BZB Dezember 15 Wissenschaft und Fortbildung Zentrik im Fokus Anmerkungen zur physiologischen Kondylenposition in maximaler Okklusion E i n B e i t r a g v o n P r o f . D r. U l r i c h L o t z m a n n , M a r b u r g Die Anfertigung von atraumatischem Zahnersatz, der hinsichtlich der statischen und dynamischen Okklusion im Mund des Patienten keine oder nur geringfügige Korrekturen erforderlich macht, setzt bekanntlich eine physiologische und reproduzierbare Relation des Unterkiefers zum Oberkiefer voraus. So steht der Behandler bei jeder definitiven therapeutischen Maßnahme mit okklusaler Beteiligung vor der Entscheidung, entweder die bestehende maximale Interkuspidationsposition zu übernehmen und damit zu sichern, oder die maximale Okklusion beziehungsweise das, was nach Attrition, Karies und Zahnverlust von ihr übrig geblieben ist, in einer physiologischen Kieferrelation zu rekonstruieren. Welcher Therapieweg dem Patienten empfohlen werden sollte, hängt im Wesentlichen von der Auswertung der speziellen Anamnese, dem Zahnstatus sowie den Befunden der zahnärztlichen Funktionsdiagnostik ab. Ein wesentliches Kriterium, das die korrekte zentrale Kieferrelation auszeichnet, ist ihre Reproduzierbarkeit. Aber ist eine reproduzierbare Unterkieferposition in jedem Fall auch gleichzusetzen mit einer physiologischen Kieferposition? Gesunde Kiefergelenkverhältnisse vorausgesetzt, beträgt der maximale Retrusionsweg der Kondylen aus der maximalen Interkuspidationsposition in die forcierte Retrusionsstellung des Unterkiefers etwa 0,8 bis 1,5 mm (Abb. 1). Diese Wegstrecke scheint auf den ersten Blick gering und vernachlässigbar zu sein und hat in der Vergangenheit so manchen Behandler mit Bezug auf die ursprüngliche gnathologische Lehre verleitet, den Unterkiefer bei der Kieferrelationsbestimmung maximal nach dorsal in eine ligamentgehaltene Position zu manipulieren. Der Okklusionskontakt in dieser mandibulären Grenzlage wird als terminale, retrudierte oder retrale Kontaktposition (RKP) bezeichnet. RKP: Sicherer Schlüssel zur physiologischen Kieferrelation? Der große und verführerische Vorteil, den diese Position bietet, besteht darin, dass der Unterkiefer aus dieser Position heraus mit einer Amplitude von 1 bis 2 cm eine nahezu reine Rotationsbewegung um eine stabile, die Kondylen schneidende, transversale, terminale Scharnierachse durchführen kann und dies vor allem mit einer erstaunlichen Reproduzierbarkeit. Nimmt der Behandler in dieser forcierten Dorsallage des Unterkiefers zum Beispiel nacheinander mehrere Zentrikregistrate, fallen diese auch bei einem neuromuskulär inkoordinierten Patienten mit unsicherer Bisslage weitgehend identisch aus. Man glaubte daher, mit dem Registrieren in RKP einen Schlüssel zu haben, um unabhängig von Muskelfunktion und Zahnstatus des Patienten zu einer reproduzierbaren Kieferrelation zu gelangen und damit eine wesentliche Voraussetzung für die Anfertigung einer okklusal präzisen Rekonstruktion zu erfüllen. Hinweise darauf, ob die retrale Kontaktposition als reproduzierbare Kieferrelation tatsächlich auch physiologischen Verhältnissen entspricht, lassen sich bereits aus kleinen Selbstversuchen ableiten. Selbsttest: Aktivitätsverhalten der Retraktoren Setzen Sie sich bitte aufrecht hin und halten den Kopf gerade. Ertasten Sie mit Ihren Zeigefingern unter kleinen Öffnungs- und Schließbewegungen die lateralen Pole der Kondylen (Abb. 2). Verschieben Sie dann die Fingerkuppen ausgehend von den lateralen Kondylenpolen circa 1,5 cm nach anterior. Abb. 1: Sagittalschnitt durch ein menschliches Kiefergelenk in maximaler Interkuspidationsposition. a = Fossa, b = Eminentia, c = Diskus, d = Kondylus, e = bilaminäre Zone, I = Kondylenposition in maximaler Okklusion, R = Kondylenposition in maximaler Retrusionsstellung. Wissenschaft und Fortbildung Abb. 2: Ertasten der lateralen Kondylenpole unter leichter Öffnungs- und Schließbewegung Abb. 3: Palpieren der Pars profunda des Musculus masseters Sie werden dort direkt unter dem Jochbogen beidseits im Musculus masseter eine kleine Mulde spüren. Lassen Sie Ihre Fingerkuppen dort unter sanftem Druck liegen (Abb. 3). Sie palpieren in dieser Region unter der Haut direkt die Pars profunda des Musculus masseters. Dieser unter der Pars superficialis liegende kleinere Anteil des Masseters ist durch seine eigentümliche Faserverlaufsrichtung prädestiniert, nicht nur Kraft beim Schließen in die maximale Okklusion zu entwickeln, sondern als Retraktor aktiv bei Retrusions- und gleichseitigen Laterotrusionsbewegungen beteiligt zu sein. Die kleine Mulde vor dem Kiefergelenk ist die einzige Region, um die Pars profunda direkt zu ertasten. Gehen Sie mit leichtem Kraftschluss in die maximale Okklusion. Ziehen Sie dann Ihren Unterkiefer unter leichtem Zahnkontakt maximal nach retral und halten diese Position für maximal zehn Sekunden. In dem Falle, dass Sie Ihren Unterkiefer nicht willkürlich nach retral ziehen können, versuchen Sie Ihren „Oberkiefer nach vorne zu schieben“. (Diese widersinnig erscheinende Aufforderung kann Patienten dazu veranlassen, bei dem hoffnungslosen Versuch, den Oberkiefer zu protrudieren, ihren Unterkiefer nach retral zu ziehen.) Hilfreich kann es auch sein, die Zungenspitze für die Dauer des Tests mittig an den Übergang vom harten zum weichen Gaumen zu legen. Sofern es Ihnen möglich ist, die Retrusion willkürlich auszuführen, werden Sie mit Ihren Fingerkuppen ein deutliches Anschwellen der Pars profunda als Zeichen ihrer Aktivierung wahrnehmen. Schon nach wenigen Sekunden in dieser muskulär gehaltenen Retrusionsstellung des Unterkiefers werden Sie sehr wahrscheinlich ein unangenehmes Spannungs- und Druckgefühl vor dem Ohr wahrnehmen. Beenden Sie dann bitte diesen Test. Legen Sie für die nächste Übung einen Zeigefinger an den Mundbo- BZB Dezember 15 59 Abb. 4: Ertasten der suprahyoidalen Muskulatur, die ebenfalls eine retrusive Funktion aufweist den (Abb. 4). In der Retrusion werden Sie ebenfalls eine deutliche Aktivitätssteigerung Ihrer suprahyoidalen Muskulatur feststellen, da diese, insbesondere die Mm. digastrici, nicht nur zu den Mundöffnern, sondern auch zu den Retraktoren gehören. Für einen letzten kleinen Test zum Aktivitätsverhalten der Retraktoren in einer forciert dorsalen Kondylenstellung legen Sie Ihre Zeigefinger unter der Schädelbasis in Höhe des Haaransatzes in den Nacken (Abb. 5). Ziehen Sie den Unterkiefer nun rhythmisch in seine retrale Grenzlage. Sie werden mit jeder Retrusionsbewegung auch eine Anspannung, das heißt Aktivitätssteigerung der Nackenmuskulatur (Musculus splenius capitis, Musculus trapezius und andere) spüren. Das Verlagern des Unterkiefers nach retral erfordert demnach nicht nur mehr Aktivität einzelner Kaumuskeln, sondern führt auch zu einer Aktivitätssteigerung der Nackenmuskulatur. Obgleich der Retrusionsweg der Kondylen aus der maximalen Okklusion in die retrale Kontaktposition wie bereits erwähnt circa 0,8 bis 1,5 mm be- Abb. 5: Palpieren der Nackenmuskulatur unterhalb der Schädelbasis 60 BZB Dezember 15 Wissenschaft und Fortbildung Abb. 6: Histologisch aufbereiteter Sagittalschnitt eines menschlichen Kiefergelenks. a = Eminentia am Tuberculum articulare, b = Kondylus, c = Diskus, d = bilaminäre Zone mit Genu vasculosum. V = Rotieren des ventro-kranialen Kraftvektors nach dorso-kranial bei Retrusion. trägt, müssen die Retraktoren und einzelne Nackenmuskeln auf einem unnötig hohen Aktivitätsniveau agieren, um diese scheinbar geringfügig retral liegende Unterkieferposition einnehmen und kurzfristig halten zu können. Dies ist nicht nur unkomfortabel, sondern für die fehlbelasteten Kiefergelenke und hypervalenten Muskeln auch unphysiologisch. Dies kann über die Zeit zu irreversiblen Gewebeschäden und Schmerzen führen. Eine Retralverlagerung der Kondylen geht mit einer Aktivitätssteigerung der Retraktoren einher. Die damit verbundene Änderung des Kraftvektors führt zu einer stärkeren Belastung der bilaminären Zone. Ge- rade in diesem dorsalen Gelenkbereich liegen auch die besonders empfindlichen Gewebsstrukturen wie zum Beispiel das Genu vasculosum, die vor einer Überlastung geschützt werden sollten (Abb. 6). Ein weiterer Aspekt, der gegen eine retrale Platzierung der Kondylen spricht, hängt mit dem physiologischen Kaumuster zusammen. Die Analyse von Bewegungen des Laterotrusionskondylus beim Kauvorgang offenbart, dass der Kondylus aus seiner Stellung in maximaler Okklusion einen retrusiven und latero-retrusiven Bewegungsfreiraum benötigt. Dieser Bewegungsfreiraum würde mit einer Neueinstellung der maximalen Okklusion in einer retralen Kieferposition blockiert oder zumindest massiv eingeschränkt. Die zentrische Kondylenposition Bereits der knöcherne Aufbau des Kiefergelenks zeigt, dass auftretende Belastungen unter physiologischen Bedingungen nicht nach kranial oder dorso-kranial, sondern vorwiegend nach ventrokranial gegen die Eminentia und damit gegen das Os temporale abgeleitet werden. Besonders auffällig ist, dass die zentrale Fossa nur durch eine dünne Knochenlamelle vom Gehirn getrennt ist. Abbildung 7 veranschaulicht am mazerierten Schädel die Fossa und Eminentia im Gegenlicht. Die dünnen Knochenstrukturen erscheinen transluzent. Es liegt auf der Hand, dass diese dünnen Knochenlamellen nicht dafür ausgelegt sind, exzessive Kräfte aufzunehmen. Der ventro-kranialen Orientierung Abb. 7: Kiefergelenkregion am Humanschädel im Gegenlicht von seitlich schräg unten betrachtet. In der Tiefe der Fossa trennt nur eine hier transluzente und damit dünne Knochenlamelle (a) das Kiefergelenk vom Gehirn. b = Porus acusticus externus, c = Jochbogen mit Tuberculum articulare. Wissenschaft und Fortbildung Abb. 8: Okklusale Situation in muskulärer Kontaktposition bei einer 64-jährigen Patientin des Kondylus zur Eminentia wird auch die derzeit gültige Definition der zentrischen Kondylenposition gerecht: „Die zentrische Kondylenposition ist die kranio-ventrale, nicht seitenverschobene Position beider Kondylen bei physiologischer Kondylus-Diskus-Relation und physiologischer Belastung der beteiligten Gewebestrukturen.“ Die Kondylen stehen also ventro-kranial gegen die Eminentia orientiert – und nicht kranial im Zenit oder dorsal in den Gelenkgruben. Die beteiligten Gewebe sollen beim Schließen in maximaler Okklusion weder auf Zug noch auf Druck exzessiv belastet werden. Daraus ist abzuleiten, dass die maximale Okklusion (IP) so einzustellen ist, dass die Seitenzähne die Gelenke beim Pressen in der IP vor einer Fehlbelastung schützen. Hier ist anzumerken, dass aus dem Verlust der Molaren nicht zwangsläufig eine exzessive und zerstörerische Gelenkbelastung resultiert. Dies erscheint auf den ersten Blick widersprüchlich. Mit der Verlagerung der okklusalen Abstützung nach anterior, reduziert sich jedoch die willkürlich generierte maximale Muskelkraft – dies vermutlich gerade zum Schutz von Kiefergelenken und Restbezahnung. Ohne diese Adaptation würde eine Prämolarenokklusion langfristig nicht funktionieren. Die Definition weist allerdings die Einschränkung auf, dass sie keinen Bezug auf die physiologische Vertikaldimension (Bisshöhe) nimmt, die über den Öffnungswinkel des Unterkiefers natürlich auch die Kondylenstellung mit festlegt. Die korrekte Vertikaldimension ist ebenfalls keine mathematisch exakt zu definierende Unterkieferstellung, sondern in Grenzen variabel. Sie ist so zu wählen, dass zwischen Ruhelage und maximaler Okklusion noch ein ausreichender Interokklusalabstand BZB Dezember 15 61 Abb. 9: Mit dem Einnehmen der maximalen Okklusion kommt es zu einer ausgeprägten Zwangsprogenie und damit einhergehend zu einer Ventralverlagerung beider Kondylen. besteht und der Patient ohne Zahnkontakt einen entspannten Lippenschluss einnehmen kann. Hierbei ist allerdings zu berücksichtigen, dass bei einigen anatomischen Limitationen, zum Beispiel einem offenen Biss, auch bei korrekter Vertikaldimension kein oder kein leichter Lippenschluss möglich ist. Adaptierte Kondylenposition Strenggenommen kann man definitionsgemäß auch nur dann von einer zentrischen Kondylenbeziehungsweise Kieferposition oder kurz „Zentrik“ sprechen, wenn der Diskus noch seine korrekte Lagebeziehung zum Kondylus aufweist. Kiefergelenke, bei denen eine partielle oder totale Diskusverlagerung oder eine Diskusperforation vorliegt, können sich jedoch über die Zeit unter progressiver Remodellation der Weich- und Hartgewebe an die veränderten Belastungsverhältnisse angepasst haben. Man spricht dann nicht von einer zentrischen, sondern von einer adaptierten Kondylenposition. Aus Sicht des Kiefergelenks gibt es keinen plausiblen therapeutischen Grund, diese adaptierte Kondylenposition zu ändern. Die Fähigkeit der Gelenkstrukturen zur Adaptation darf allerdings nicht überschätzt und überfordert werden. Sie ist von verschiedenen Faktoren abhängig und fällt individuell unterschiedlich aus. Ausmaß und Richtung der Verlagerung Neben dem Ausmaß ist insbesondere die Richtung der Verlagerung für eine Traumatisierung der beteiligten Gewebe entscheidend. Die Abbildungen 8 und 9 zeigen die okklusale Situation einer 64-jährigen Patientin beim ersten sanften Zahnkontakt nach dem Schließen aus der Ruhelage (MKP) und 62 BZB Dezember 15 Wissenschaft und Fortbildung nach dem Schließen in maximaler Okklusion. Der Unterkiefer wird dabei in eine ausgeprägte Zwangsprogenie geführt. Die Patientin klagte jedoch weder über Kiefergelenkbeschwerden noch zeigte sie objektive Anzeichen einer Gelenkdysfunktion oder Arthrose. Dieser scheinbare Widerspruch kann unter anderem damit erklärt werden: Mit Einnahme der maximalen Okklusion erfolgt eine Verlagerung beider Kondylen nach ventrokaudal entlang der funktionell ohnehin genutzten Gelenkflächen. Sowohl Kiefergelenke als auch Kaumuskulatur tolerieren eher eine Verlagerung nach anterior entlang der funktionellen Gelenkfläche (Eminentia) als eine Verlagerung nach kranial, dorso-kranial, dorso-kaudal oder/und transversal. Steht der Unterkiefer in maximaler Okklusion allerdings in einer zu ausgeprägten Ventrallage, ergibt sich hieraus ein gravierender Nachteil: Der retrusive Bewegungsraum, den die Kondylen aus der Interkuspidation in die retrale Kontaktposition durchlaufen können, wird so erweitert, dass daraus in diesem Bewegungsbereich nicht beherrschbare okklusale Störungen resultieren. So sind auch zahnmedizinisch-orthopädische Therapiekonzepte, die den Unterkiefer aus seiner zentralen Lage um mehrere Millimeter nach anterior verlagern, um damit etwa einen positiven Einfluss auf die Körperstatik des Patienten auszuüben, aus okklusionstechnischer Sicht äußerst kritisch zu bewerten. Nicht gegen die Muskulatur behandeln Neben der Reproduzierbarkeit besteht eine weitere, aus meiner Sicht sogar die wesentlichste Grundbedingung für eine korrekte zentrale Kieferrelation darin, dass der Patient die in dieser Kieferstellung rekonstruierte maximale Okklusion mit nur geringem Energieaufwand der Kaumuskulatur einnehmen und halten kann. Die korrekte zentrale Kieferrelation ist also keine Position, die ausschließlich vom Kiefergelenk „diktiert“ wird, sondern muss auch mit der Muskelfunktion harmonieren. Dies setzt allerdings voraus, dass die Muskulatur ausbalanciert ist und keine Hypervalenzen einzelner Muskeln bestehen. In jenen Fällen, in denen dies nicht gegeben ist, muss vor der definitiven Bestimmung der zentralen Kieferrelation eine funktionelle Vorbehandlung durchgeführt werden. Die folgende einfach durchzuführende Übung kann Ihnen helfen, ein Gefühl dafür zu entwickeln, ob Sie Ihre maximale Okklusion auch unter minimalem Kraftaufwand der Kaumuskeln einnehmen und halten können. Diesen Test wende ich auch bei meinen Patienten nach prothetisch-restaurativen Maßnahmen zur abschließenden okklusalen Kontrolle an. Geprüft wird, ob der Patient tatsächlich wie angestrebt seine (neue) maximale Okklusion mühelos und reproduzierbar einnehmen kann. Selbsttest: Maximale Okklusion mit geringem Kraftaufwand finden und halten Setzen Sie sich bitte aufrecht hin und halten Sie dabei den Kopf gerade. Lassen Sie Ihren Unterkiefer in die Ruhelage fallen, die Zähne haben keinen Kontakt, Ihre Lippen liegen entspannt aufeinander. Schließen Sie nun Ihren Mund kraftlos, bis sich Ihre Zähne leicht berühren. Wiederholen Sie das Anheben des Unterkiefers aus der Ruhelage mehrfach. Sie können dabei auch schnellere „Klapperbewegungen“ ausführen. Wesentlich ist nur, dass die Öffnungs- und Schließbewegungen aus der Ruhelage weitgehend kraftlos erfolgen. Die Stellung des Unterkiefers zum Oberkiefer, die sich beim Schließen aus der Ruhelage mit dem ersten Kontakt ergibt, wird als muskuläre Kontaktposition (MKP) bezeichnet. Welche Zähne oder Zahngruppen treten hierbei zuerst in Kontakt? Spüren Sie beim Schließen zuerst Ihre Frontzähne oder Prämolaren? Beißen Sie nun langsam fester zu und achten Sie darauf, ob sich der Unterkiefer dabei unter Zahnkontakt spürbar verschiebt. Pressen Sie zum Schluss dieser Übung Ihre Zähne in maximaler Okklusion für fünf Sekunden zusammen. Auf welchen Zähnen oder Zahngruppen spüren Sie beim festen Pressen den stärksten Druck? Sollten Sie beim lockeren Schließen oder „Klappern“ reproduzierbar mit allen Seitenzähnen weitgehend simultan aufsetzen, ist dies ein wichtiger Hinweis auf eine Interkuspidationsposition, die von der Kaumuskulatur mit einem minimalen Energieaufwand eingenommen und gehalten werden kann. Eine Orthofunktion der Muskulatur (Normtonus, muskuläre Balance) sowie eine physiologische Vertikaldimension (= Bisshöhe) vorausgesetzt, werden die Kiefergelenke in dieser Unterkieferposition auch beim festeren Pressen weder exzessiv auf Druck noch auf Zug unphysiologisch belastet. Es besteht damit eine harmonische Übereinstimmung zwischen maximaler Okklusion, Kaumuskelfunktion und Kiefergelenkstellung. Liegt hingegen auch beim festen Pressen der stärkste Druck im vorderen Bereich der Zahnbögen und nehmen Sie die vor- Wissenschaft und Fortbildung handenen oder ersetzten Molaren nicht oder nur schwach wahr, deutet dies auf einen verdeckten posterioren Stützzonenverlust hin. Die Molaren sind in dieser Kieferposition nicht in der Lage, die von der Kaumuskulatur generierten Kräfte adäquat aufzunehmen und in die Mandibula und auf den Schädel abzuleiten. Muskuläre Schonhaltung und Ausweichbewegungen Bei der Durchführung dieses Tests am Patienten ist allerdings zu berücksichtigen, dass der Schließweg des Unterkiefers aus einer medianen Öffnungsstellung, zum Beispiel aus der Ruhelage, gestört sein kann und der Unterkiefer beim Anheben in die Okklusion in eine Schonhaltung geführt wird. Der Schließweg verläuft dann nicht auf einer bogenförmigen Bahn, sondern erfährt mit Annäherung an die maximale Okklusion eine Richtungsänderung. Nimmt der Patient eine Schonhaltung ein, dient diese der Entlastung und damit dem Schutz von überlastetem und gegebenenfalls schmerzhaftem Gewebe. Hierbei kann es sich zum Beispiel um einen okklusalen Vorkontakt, einen aufbissempfindlichen Zahn oder ein schmerzendes Kiefergelenk handeln. Der Schließweg kann auch verändert sein, wenn der Patient exzessive exzentrische Parafunktionen ausübt und dies zu einer Hypervalenz der dabei besonders aktiven Muskeln geführt hat. Beim Versuch der muskulären Entspannung können die hypervalenten Muskeln dann dominieren und den Unterkiefer in ihre Zugrichtung etwas versetzen. Auch eine instabile, für den Patienten unkomfortable maximale Okklusion kann zu einem reflektorischen Versetzen des Unterkiefers führen. Der Patient sucht dann unbewusst eine biomechanisch stabilere, für die Muskulatur leichter einzunehmende und zu haltende Unterkieferposition. Die Abstützung wird hierbei bevorzugt auf nahezu horizontal ausgebildeten Schlifffacetten gesucht, zum Beispiel auf abradierten Inzisalschneiden oder Eckzahnspitzen. Auch in diesen Fällen kann vor der definitiven Kieferrelationsbestimmung eine funktionelle Vorbehandlung ratsam sein. Es muss ohnehin akzeptiert werden, dass bestehende Dysfunktionen und funktionelle Erkrankungen, insbesondere Schmerzen, im Einzelfall eine definitive Registrierung der korrekten Kondylenstellung unmöglich machen können. Diese kann bestenfalls erst nach einer erfolgreich abgeschlossenen Vorbehandlung durchgeführt werden. BZB Dezember 15 Zusammenfassung 1. Bei der physiologischen Kondylenposition handelt es sich um keine mathematisch genau definierte Position, sondern um einen umschriebenen Bereich. 2. Hierbei stehen die Kondylen in der maximalen Okklusion weitgehend symmetrisch und nicht transversal verschoben im ventro-kranialen Abschnitt der Eminentia. 3. In maximaler Okklusion sollen die Gelenkstrukturen keine exzessiven, traumatisierenden Belastungen erfahren. 4. Aus dieser Stellung müssen freie Lateralbewegungen und geringfügige Retralbewegungen (circa 1 mm) möglich sein. In Abhängigkeit von der Vorgeschichte des Kiefergelenks und den therapeutischen Erfordernissen kann der retrusive Bewegungsraum aus der zentralen Kieferrelation auch größer ausfallen. 5. Bei pathologischen Kondylenstellungen, zum Beispiel nach Diskusverlagerung, kann es unter günstigen Belastungsverhältnissen durch progressives Remodellieren der Hart- und Weichgewebe zu einer physiologischen Anpassung des Gelenkes an die veränderten Belastungsverhältnisse kommen (adaptierte Kondylenposition). 6. Der Patient sollte bei aufrechter Kopf- und Körperhaltung seine maximale Okklusion nur mit geringer Muskelkraft, reproduzierbar, spontan und ohne Abgleit- oder Suchbewegungen aus der Ruhelage heraus einnehmen und komfortabel halten können. Korrespondenzadresse: Prof. Dr. Ulrich Lotzmann Direktor der Abteilung für Orofaziale Prothetik und Funktionslehre am Medizinischen Zentrum für Zahn-, Mund- und Kieferheilkunde, Philipps-Universität Marburg Georg-Voigt-Straße 3, 35039 Marburg [email protected] Literatur beim Verfasser Anzeige Zukunft für Kinder ! WORLDVISION.DE 63