Achtsamkeit in Organisationen_15.05.2013

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Achtsamkeit in Organisationen: Vom Stressmanagement über das achtsame
Interagieren und Führen zur bewussten Gestaltung von Veränderungsprozessen
Niko Kohls1,2, Andrea Berzlanovich3, Sebastian Sauer1
1
Generation Research Program, Ludwig-Maximilians-Universität, Bad Tölz
Brain, Mind & Healing Program, Samueli Institute, USA
3
Department für Gerichtsmedizin, Medizinische Universität, Wien
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1.
Achtsamkeit – eine Einführung
Achtsamkeit (Mindfulness) ist ein zentraler Begriff in der buddhistischen
Weisheitslehre, der in psychologischer Terminologie als ein spezifischer, trainierbarer
Bewusstseinszustand beschrieben werden kann, der auf das direkte und nichtwertende Gewahrsein dessen abzielt, was in jedem Augenblick geschieht (Hayes and
Feldman, 2004, Sauer et al., 2011b, Bishop et al., 2004). Achtsamkeit beschreibt
folglich eine Bewusstseinshaltung, die sich dadurch auszeichnet, dass ein Individuum
ganz im Modus des Präsenzerlebens ist und eine Situation folglich so objektiv wie
möglich wahrnimmt, ohne sich dabei zu potentiell unbewusst ablaufenden
bewertenden Interpretationen und damit einhergehenden Verhaltensreaktionen
hinreißen zu lassen (Dunning, 2005). Obwohl die Fähigkeit, den gegenwärtigen
Moment direkt und unverfälscht in einer akzeptierenden Weise zu erleben, auf den
ersten Blick als triviale Angelegenheit erscheint, ist die Erreichung und
Aufrechterhaltung dieses Bewusstseinszustands – in der meditativen Übung und
ebenso im Alltag – nicht einfach. Um dies zu verstehen, müssen die Erkenntnisse der
neurobiologischen und psychologischen Forschung vergegenwärtigt werden, die
aufzeigen, dass Menschen das „Jetzt“ (gegenwärtiger Moment) immer als eine
flotierende phänomenale Ereignisinsel erfassen, das zwischen Vergangenem und
Zukünftigem eingebettet ist (Wittmann, 2013, Wittmann, 2011). Jedoch benutzen
Menschen zumeist ihr autobiographisches und episodisches Gedächtnis, um eine
konkrete gegenwärtige Situation auf der Basis von vergangenen Lernerfahrungen
einzuordnen und zu interpretieren, oder sie versuchen ihr Verhalten derart
auszurichten, dass ein gewünschtes Ereignis eintritt. Auf der einen Seite sind diese
kognitiv-emotionalen Rückgriffe in die Vergangenheit über das episodische
Gedächtnis sowie das antizipierende, auf einen zukünftigen Zustand bezogene
Handeln aus evolutionsbiologischer Sicht sinnvolle Mechanismen, um die
Problemlösefähigkeiten und somit letztlich auch die Wahrscheinlichkeit für das
Überleben zu erhöhen. Auf der anderen Seite führen diese Strategien aufgrund der
Optimierung der Wahrnehmungseffizienz zu einer reduzierten Genauigkeit des
Gegenwartserlebens zugunsten von effizienten Mustererkennungsprozessen. Es
werden also nur so viele sensorischer Reize verarbeitet, wie für schnelle und
hinreichend akkurate Entscheidungsprozesse notwendig sind. Herausgebildete
mentale Kategorien beschleunigen diese Vorgänge. Demnach kann Achtsamkeit als
Versuch beschrieben werden, die individuellen erlernten (und partiell angeborenen)
Stereotypen und Vorurteile bewusst unter Kontrolle zu halten. Dies führt zu einer
weniger individualistischen Sichtweise, die verhindert, dass Wahrnehmungen zu stark
„subjektiv eingefärbt“ werden.
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2.
Die Schulung von Achtsamkeit und resultierende Gesundheitseffekte
Das akzeptierende Erleben der Gegenwart kann mit Hilfe von bestimmten
körperorientierten Bewusstseinsübungen systematisch trainiert werden, die auch als
achtsamkeitsbasierte Interventionen, im englischen Sprachgebrauch als Mind-BodyVerfahren, bezeichnet werden (Walach et al., 2012). Im Kontext der westlichen
Medizin ist die Achtsamkeitsmeditation am bekanntesten. Mit deren Hilfe kann rasch
erlernt werden, den Moment wahrzunehmen, Körper-empfindungen, Gedanken,
Gefühle zu betrachten und diese zu akzeptieren, ohne sie kognitiv oder emotional zu
bewerten (Sauer et al., 2011b).
Eine einfache Übung mit einer Rosine, die in Achtsamkeitsschulungen häufig
verwendet wird, vermag die Wirkung von Achtsamkeit praktisch zu verdeutlichen:
Die Praktizierenden werden in einem ersten Schritt gebeten, eine Rosine in eine Hand
zu nehmen und diese zu betrachten, ohne dabei ihren Impulsen nachzugeben, mit der
Rosine etwas Bestimmtes tun zu wollen. Im zweiten Schritt soll die Rosine bewusst
und mit allen zusätzlichen Sinnen wahrgenommen werden: Tasten, riechen und
schließlich schmecken. Geruch und Geschmack der Rosine müssen präzise erforscht
werden und der damit einher gehende Vorgang des Zungenkontakts, Kauens und
Schluckens muss genau beobachtet und registriert werden. So wie die Rosinenübung
vielen Menschen erstmals zu einem bewussten Nachvollziehen von automatisierten
Abläufen verhilft, können durch andere Übungen überraschende körperbezogene
Selbsterfahrungen und reflexive Einsichten gewonnen werden. Denn die
achtsamkeitsbasierten Techniken zielen darauf ab, einen inneren Ort der
Aufmerksamkeit zu aktivieren, welcher erlaubt, die Empfindungen/Gedanken des
Moments wertfrei wahrzunehmen. Die Achtsamkeitsmeditation hebt sich von
anderen meditativen Praktiken ab, die auf einer Fokussierung oder willentlichen
Lenkung des Bewusstseins beruhen. Achtsamkeit kann und sollte jedoch nicht nur in
den zurückgezogen Stunden der Meditation geübt werden, sondern auch innerhalb des
Alltags. Achtsamkeit ist nicht nur eine Technik, sondern gleichfalls eine
Lebenshaltung und eine Art zu Sein.
Der amerikanische Molekularbiologe Jon Kabat-Zinn hat die Achtsamkeitsmeditation vor mehr als zwanzig Jahren von ihrem weltanschaulichen buddhistischen
Hintergrund gelöst und zu einem standardisierten Programm entwickelt. Dieses soll
helfen, besser mit Stress, Angst und Krankheiten umzugehen (Kabat-Zinn, 1998,
Kabat-Zinn, 1996). 1979 wurde die erste Mindfulness-Based Stress Reduktion
(MBSR)- Gruppe ins Leben gerufen. MBSR ist ein psycho-edukatives, auf
Selbsterfahrung aufbauendes Programm, welches verschiedene Meditationsformen
(BodyScan, formelle Meditation im Sitzen oder Gehen, Yoga Übungen) lehrt, und das
sowohl ambulant als auch stationär implementiert werden kann. Obwohl die
zugrundeliegenden Meditationstechniken vorwiegend aus der Achtsamkeits-tradition
des Buddhismus (Vipassana) stammen, sind sie völlig von ihrem buddhistischen
Kontext gelöst und somit für Personen geeignet, die keine Affinität zu spirituellreligiösen Dimensionen oder andere religiöse Orientierungen haben (Hayes and
Feldman, 2004, Bishop et al., 2004). Das standardisierte MBSR-Basistraining besteht
aus einem achtwöchigen Gruppenangebot von 1,5 Stunden Dauer pro Woche sowie
einen ganzen Tag der Achtsamkeit. Zusätzlich wird den Teilnehmer/inne/n
empfohlen, täglich 30-45 Minuten eigenständig zu praktizieren. Mittlerweile wird das
MSBR-Training in den USA an über 250 Kliniken und Gesundheitszentren zur
Behandlung unterschiedlicher Krankheiten und Symptome erfolgreich eingesetzt. In
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den letzten Jahren werden achtsamkeitsbasierte Verfahren nicht nur zur Bewältigung
von Stress und verschiedenen Krankheiten, sondern gleichfalls zur Steigerung des
Wohlbefindens herangezogen. Ergebnisse zahlreicher Evaluationsstudien belegen die
Wirksamkeit von Achtsamkeitstrainings für die Gesundheit und Leistungsfähigkeit
von Personen bereits nach einem Zeitraum von sechs bis acht Wochen systematischen
Trainings (Mars and Abbey, 2010). Das Einüben von Achtsamkeit ermöglicht zudem
konzentrierter und emotional ausgeglichener zu handeln (Heidenreich and Michalak,
2006). Achtsamkeitsbasierte Verfahren werden mittlerweile für eine Bandbreite von
psychischen und physischen Problemen und Beschwerden wie Stress, Depression,
Angst, Schmerzen, Süchten, Bluthochdruck, Tinnitus, Schuppenflechte als auch als
flankierende Maßnahmen bei malignen und chronischen Erkrankungen eingesetzt
(Gander et al., 2008, Hofmann et al., 2010, Chiesa and Serretti, 2010).
3.
Achtsamkeit für Organisationen
Obwohl Achtsamkeit in den Gesundheitswissenschaften mittlerweile als ein
zentrales Konzept etabliert ist, haben die nicht primär gesundheitsbezogenen Effekte
von Achtsamkeit im arbeits- und organisationswissenschaftlichen Zusammenhang
noch kaum Beachtung gefunden. Achtsamkeit kann durchaus der Optimierung von
Entscheidungsfindungen, Empathiefähigkeit und sozialen Interaktionen in
Organisationen dienen (Neuberger, 2002, Northouse, 2009). Erkenntnisse aus der
gesundheitswissenschaftlichen Forschung können ebenso für die Verbesserung von
Führungsverhalten genutzt werden (Mars and Abbey, 2010). Weniger gestresste
Führungskräfte sind nicht nur leistungsfähiger, sondern auch zugewandter zu ihren
Mitarbeiter/inne/n. Die Bedeutung von Achtsamkeit jenseits der stressreduzierenden
Wirkung für authentische Führungskompetenzen lässt sich aus impliziten und
expliziten Annahmen der modernen Führungsforschung ableiten. Die Studie von
Dunning et al. (2004) zeigt auf, dass Manager/innen dazu neigen, die Annahme der
selbstattribuierten Überdurchschnittlichkeit zu entwickeln, was die Kommunikationsund Interaktionsqualität mit Kolleg/inn/en und Mitarbeiter/inne/n potentiell
beeinträchtigen kann. Eine Inkongruenz von Selbst- und Fremdbild erschwert die
Ausbildung eines als authentisch wahrgenommenen Führungsverhaltens und dem
damit einhergehenden Vertrauen (Wong et al., 2010, Gardner et al., 2011). Durch die
Verzerrungseffekte der Eigenwahrnehmung wird in der Regel eine Kaskade von
negativen Folgen ausgelöst, die durch achtsamkeitsbasiertes Training verhindert oder
zumindest partiell abgeschwächt werden können.
Bislang liegen nur wenige Studien vor, die die Auswirkungen von achtsamkeitsbasierten Interventionen für spezifische, führungsrelevante Kompetenzen, Fähigkeiten
und Verhaltensweisen anhand von Stichproben mit Führungskräften empirisch oder
experimentell analysieren. Die meisten einschlägigen wissenschaftlichen Arbeiten
stammen aus dem pflegewissenschaftlichen Bereich (Zeller and Levin, 2013, Pipe,
2008). Da die Alten- und Krankenpflege ein belastungs- und stressintensives
Arbeitssetting darstellt, das zudem durch asymmetrische Kommunikations- und
Interaktionsprozesse (“Jüngere Gesündere“ pflegen „Ältere Kranke“) geprägt ist.
Darüber hinaus gibt es einige Untersuchungen, die die Bedeutung von Achtsamkeit
für wichtige organisatorische Kommunikations-, Interaktions- und Entscheidungsprozesse auf der Grundlage von theoretischen Überlegungen und deduktiven
Ableitungen aus der gesundheitswissenschaftlichen Branche beleuchten (Sauer and
Kohls, 2011a, Sauer et al., 2011a, Boyatzis and McKee, 2005).
4
4.
Potentiell förderliche Auswirkungen von Achtsamkeit
4.1 Achtsamkeit und Stressabbau
Die Effekte von Achtsamkeit wurden im arbeits- und organisationswissenschaftlichen Kontext überwiegend auf ihre stressmindernde Wirkung erforscht
(Pipe, 2007, Walach et al., 2007, Yong et al., 2010, Klatt et al., 2012), wobei die
vorliegenden Resultate darauf hindeuten, dass sich für Achtsamkeit am Arbeitsplatz –
ähnlich wie im gesundheitswissenschaftlichen Umfeld – eine stress- und
belastungsreduzierende Wirkung finden lässt. Die Arbeiten von Pipe und Yong et al.
unterstreichen, dass Achtsamkeit die psychische Gesundheit von im Pflegebereich
tätigen Führungskräften verbessern kann. Walach und Kollegen haben ebenfalls
Gesundheits- und Stressparameter in einem Arbeitssetting, das durch hohe Belastung –
einem Call-Center – gekennzeichnet ist, analysiert. Klatt und Kollegen haben die
Wirksamkeit von einer niederschwellig angebotenen achtsamkeitsbasierten
Intervention für skandinavische Bankangestellte aufgezeigt. Diese Studienergebnisse
lassen den Rückschluss zu, dass Achtsamkeit nicht nur hilfreich ist, um leichter mit
Belastungen umzugehen, sondern auch um adaptivere Strategien zur Stressregulation
zu entwickeln. Vor diesem Hintergrund kann belegt werden, dass Achtsamkeit für
Führungskräfte eine gute Maßnahme zum Abbau von Stress und zum Aufbau von
Stressresilienz bildet (Chiesa et al., 2011, Chiesa and Serretti, 2009, (Lyons and
Schneider, 2009). Dies scheint nicht nur auf achtsamkeitsbasierte Interventionen
zuzutreffen, sondern auch auf einige andere Formen von Mind-Body-Verfahren, die
im Rahmen der integrativen Medizin und Gesundheitsförderung angewandt werden
(Walach et al., 2012). Beispielsweise konnte eine rezente Studie beweisen, dass die
Effektgrößen von einer achtsamkeitsbasierten Intervention am Arbeitsplatz sich nicht
von einer Yoga-Intervention unterschieden haben (Wolever et al., 2012). Trotz dieser
Einschränkung kann der Schluss gezogen werden, dass achtsamkeitsbasierte Verfahren
zu den am meisten untersuchten und am leichtesten zu implementierenden Verfahren
zählen.
4.2
Achtsamkeit und kognitive Ressourcenallokation
Um die Wirkung von Achtsamkeit diesbezüglich zu veranschaulichen, muss
man sich vergegenwärtigen, dass es nicht selten passiert, dass man eine gut bekannte
Strecke im Auto gefahren ist und sich am Ziel nicht mehr daran erinnern kann, was
auf weiten Teile der Fahrt geschehen ist. Dieses Phänomen, das vor allem bei implizit
erlernten Handlungs- und Verhaltensweisen (beispielsweise Auto-, Motorrad- oder
Fahrradfahren) auftritt, aufgrund der durch die Lernprozesse erworbenen Routine wie
in einem kognitiven Autopiloten-Modus ausgeführt werden, wird als
„Geistesabwesenheit“ –
„mindlessness“ – bezeichnet (Langer, 1989). Diese
weitgehend „unbewusst“ ausgeführten Verhaltensweisen sind aus evolutionsbiologischer und entwicklungspsychologischer Sicht nützliche und sinnvolle
Strategien, um zu überleben. Es ist nicht sinnvoll, alle kognitiven Ressourcen auf
einmal Erlerntes zu fokussieren, weil es sonst keinen Lern- und / oder Habituationsprozess geben würde, der zu der Ausbildung von schemataartigen
Verhaltensprogrammen in Form von mentalen Skripten führt. Dennoch ist
Geistesabwesenheit eine der Hauptursachen von Unfällen im Straßenverkehr (Hanan
et al., 2010, Kass et al., 2008). Aber auch im organisationalen Kontext, wenn
Tätigkeiten monoton erscheinen (Hoyos, 1995), besteht die Gefahr, dass eine Person
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in den Autopilotenmodus verfällt und nicht mehr konzentriert genug ist. Im
Gegensatz zu Routinetätigkeiten gibt es viele komplexe Interaktionsprozesse, wie
beispielsweise in der Personalführung und Entscheidungsfindung, auf die nur durch
situations- und kontextsspezifische Modulation des Verhaltens adäquat reagiert
werden kann. Häufig wird auf solche bekannten, aber komplexen Umstände mit
automatisierten und stereotypen Verhaltensweisen reagiert, die in der Vergangenheit
erlernt wurden (vgl. Fischer et al., 2005). Hier kann Achtsamkeit helfen, um die
vermeintlich bekannte Situation noch einmal genauer zu betrachten und dadurch die
Möglichkeit zu entwickeln, auf diese individueller und weniger stereotyp einzugehen.
Denn Personen, die regelmäßig Achtsamkeitsübungen praktizieren sind nicht nur in
der Lage, ihre Gegenwartswahrnehmung zu stabilisieren (Sauer et al., 2012), sondern
können – vermutlich aufgrund verbesserter Allokation ihrer kognitiven Ressourcen
und Verbesserung der emotionalen Selbstregulationsfähigkeit – auch automatisierte
Verhaltensreaktionen bewusster reflektieren (Sauer et al., 2011d, Teper and Inzlicht,
2013). Eine Studie von Zeidan et al. weist außerdem hin, dass achtsamkeitsbasierte
Interventionen bereits nach einer kurzen Trainingsphase die kognitive Performanz
signifikant steigern können (Zeidan et al., 2010). Aufgrund der hohen
Stressbelastung, der zunehmend komplexeren Aufgaben sowie der zahlreichen
Unterbrechungen des Arbeitsprozesses, denen Menschen in Organisationen
heutzutage ausgesetzt sind (Haufe, 2009), kann eine erhöhte Konzentrationsfähigkeit
hilfreich sein, um Aufgaben und Tätigkeiten reflektierter, effektiver und weniger
fehleranfällig auszuführen. Darüber hinaus ist „Mind Wandering“, also
Gedankenabwesenheit, im Grunde ein dissoziativer Vorgang, der mit „Erfahrungsvermeidung“ einhergehen kann. Dies bedeutet, dass unangenehme Gedanken,
Erfahrungen und Erinnerungen – wie unliebsame Tätigkeiten oder unerfreuliche
Gespräche – tendentiell unterdrückt werden, wodurch es zu Verzerrungen der
Wahrnehmung und Erinnerung kommen kann. Achtsamkeits-basierte Interventionen
können bewerkstelligen, dass die Tendenz zur Erfahrungsvermeidung, welche auch
mit bestimmten psychischen Problemen und Erkrankungen sowie generell reduzierter
kognitiver Performanz in Verbindung gebracht wird, abnimmt (Chawla and Ostafin,
2007). Die mit achtsamkeitsbasierten Interventionen einhergehende Verbesserung der
emotionalen Selbstregulation und kognitiven Performanz können auch mit neuronalen
Funktionen und Strukturen in Verbindung gebracht werden. Denn die
Forschungsbefunde legen nahe, dass durch regelmäßiges Üben von Achtsamkeit auf
psychologischer Ebene nicht nur das Selbstmodell verändert wird, sondern auf
physiologischer
Ebene
morphologische
Hirnstrukturen
und
neuronale
Aktivierungsmuster beeinflusst werden, die Veränderungen im Immunsystem
bewirken können (Davidson, 2012, Davidson et al., 2003). Die Ergebnisse einer
funktionellen Magnetresonanztomographie-Studie (fMRT) deuten darauf hin, dass
durch achtsamkeitsbasierte Interventionen das Selbstmodell von Meditierenden derart
umgestellt wird, dass die Hirnareale, die für die gegenwärtige Selbst- und
Körperwahrnehmung zuständig sind, von den für ihr autobiographisches Gedächtnis
und damit für ihr biographisches Selbstbild zuständigen Arealen abgekoppelt werden
können (Farb et al., 2007). Hierbei ist es möglich, neuronale Korrelate zu finden, in
denen sich achtsamkeitsbasierte Interventionen von anderen Mind-Body-Techniken
unterscheiden. Beispielsweise wurden die Hirnaktivitäten von Teilnehmer/inne/n
einer Achtsamkeitsgruppe mit denen einer Entspannungsgruppe verglichen (Tang et
al., 2009, Tang et al., 2007). Dabei wurde bei den Personen, die in Achtsamkeit
geschult wurden, im Vergleich zu der Entspannungsgruppe, eine signifikant stärkere
Durchblutung von Teilen des limbischen Systems festgestellt, das für die
Emotionsregulierung von zentraler Bedeutung ist. Die Verbesserung der emotionalen
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Selbstregulationsfähigkeit wird durch eine Studie belegt, in der gezeigt werden
konnte, dass spezifische für Emotionen und Aufmerksamkeitsleistungen zuständige
Hirnregionen durch das Achtsamkeitstraining an Volumen zunahmen (Hölzel et al.,
2008). Trotzdem emotionale Selbstregulation für Menschen in Organisationen eine
wichtige Kompetenz ist (George, 2000, Kerr et al., 2006, Riggio and Reichard, 2008,
Lawrence et al., 2011), gibt es keine spezifischen Untersuchungen im Bereich der
Organisationswissenschaften, die die Effekte von Achtsamkeit auf die
Emotionsregulationsfähigkeit bei Führungskräften auf neuronaler Ebene
dokumentieren.
4.3 Achtsamkeit als Ressource
Organisationsaufgaben
zur
Bewältigung
von
Führungs-
und
Auf die zentrale Rolle introspektiver Kompetenzen hat der Psychologe und
Kommunikationswissenschaftler Friedemann Schulz von Thun (Schulz von Thun and
Stegemann, 2004) mit seinem Bonmot: „Willst du ein guter Führer sein, schau‘ erst in
dich selbst hinein“ hingewiesen. Die Veränderung des Führungsstils, weg von einem
autokratischen und hierarchisch strukturierten Führungsverhalten, hin zu einem
egalitaristischen und vermehrt partizipativ ausgerichteten Führungsverhalten sowie
eine damit einhergehende breitere Verteilung von Macht, Einfluss und Verantwortung
in Organisationen (Manz and Sims, 2001, Müller, 2005) spiegelt sich vor allem in den
verschiedenen Führungstheorien innerhalb der Organisationswissenschaften wider
(McGregor, 1960). Ein verändertes Rollen- und Aufgabenverständnis hat aber auch
implizite Implikationen, die den Bewusstseinszustand und somit auch das Ausmaß
von Achtsamkeit von Führungskräften betreffen. Die Theorie authentischer Führung
geht davon aus, dass Achtsamkeit mit dazu beiträgt, dass Führungskräfte
selbstkongruenter und authentischer auftreten können, wodurch sie ihr Handeln
glaubwürdiger an persönlichen Überzeugungen und transparenten Wertesystemen
ausrichten können (Avolio and Gardner, 2005). Im Kontext von Ansätzen wie „super
leadership“ (Manz and Sims, 2001) oder „Führung durch Selbstführung“ (Müller,
2005) gehört Achtsamkeit zu den Prozessen, die Führungskräfte dabei unterstützen
können, an „innerer Transparenz“ zu gewinnen und mehr durch das eigene,
authentisch gelebte Vorbild als durch Kontrolle oder Anweisung zu führen. Eine
wichtige Funktion könnte Achtsamkeit schließlich im Rahmen des an Bedeutung
gewinnenden „coachenden“ Führungsverhaltens (Hunt and Weintraub, 2006)
einnehmen, da hier nicht nur die Auswirkungen des persönlichen Kommunikationsund Interaktionsverhaltens differenziert wahrgenommen werden, sondern auch die
Bedürfnisse, Einstellungen und Vorlieben von Mitarbeiter/inne/n reflektiert werden
müssen.
Auf der Grundlage einer von Mintzberg (Mintzberg, 1990) entwickelten
Typologie von Führungsaufgaben, werden im Folgenden weitere potenziell relevante
Vorteile der Achtsamkeit für Führungsprozesse diskutiert.
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4.3.1 Verbesserung der Informationsverarbeitung durch Achtsamkeit
Menschen in Organisation müssen in der Lage sein, komplexe Informationen
schnell und effizient zu verarbeiten. Wer dabei gelernt hat, seine mentalen Ressourcen
effizient zu nutzen, kann für auftretende Probleme effektivere, innovativere und
kreativere Lösungen finden. Die Fähigkeit, bei der Lösung eines Problems nicht den
bereits etablierten mentalen Repräsentationskategorien zum Opfer zu fallen, sondern
in neuen und kreativen mentalen Kategorien zu denken, wird durch Achtsamkeit
sicherlich begünstigt. Die Psychologin Ellen Langer konnte bestätigen, dass
Achtsamkeit die Herausbildung neuer kognitiver Strukturen erleichtert (Langer and
Moldoveanu, 2000). Langer stellte fest, dass ihre Untersuchungsteilnehmer/innen
nach einem Achtsamkeitstraining in der Lage waren, „mit frischem Blick“ auf
Standard- oder Routineaufgaben zu schauen. Sie konnten durch die verbesserte
Präsenzwahrnehmung häufig subtile, aber relevante Details in vermeintlichen
Standardsituationen erkennen und dadurch neue Verständnisperspektiven entwickeln
(„thinking out of the box“). Diese Fähigkeit, Dinge genau und interessiert zu
betrachten, wie als wenn man sie das erste Mal sehen würde („beginners mind“), wird
auch von dem Entwickler, der MBSR-Programs, Jon Kabat-Zinn als zentral erachtet.
In einer Studie konnten Slagter und Kollegen die zugrundeliegenden neuronalen
Prozesse beleuchten (Lutz et al., 2008). Mit Hilfe eines bestimmten experimentellen
Versuchsaufbaus – sogenanntes „Attentional Blink“-Paradigma – wurden
Versuchspersonen in Abständen von Sekundenbruchteilen Buchstabenreihen am
Bildschirm präsentiert, zwischen denen mitunter an zwei Stellen eine Ziffer gemischt
war. Unter „attentional blink“ („Aufmerksamkeitsblinzeln“) wird dabei das Phänomen
verstanden, dass die zweite Ziffer oft nicht wahrgenommen werden kann, wenn die
Reize schnell erfolgen und die beiden Ziffern kurz hintereinander dargestellt werden
(z.B. eine halbe Sekunde Abstand). Die Aufgabe der Probanden/innen war es
dementsprechend, die beiden Ziffern korrekt zu benennen, wenn sie am Bildschirm
aufschienen. Gleichzeitig wurde mittels ereigniskorrelierter Potenziale (spezifische
Wellenformen im Elektroenzephalogramm), die mit Sinneswahrnehmungen oder mit
kognitiven Prozessen assoziiert sind bestimmt, wie viel attentionale Ressourcen die
neuronale Maschinerie der jeweiligen Versuchspersonen für das korrekte Benennen
der Ziffern benötigte. Eine höhere Amplitude des ereigniskorrelierten Potenzials
zeigte an, dass die neuronale Maschinerie mehr attentionale Ressourcen einsetzen
musste, um die Ziffern mit Hilfe von Mustererkennungsprozessen wahrzunehmen. Die
Achtsamkeitsgruppe benötigte im Vergleich zur Kontrollgruppe nicht nur weniger
attentionale Ressourcen für diese Aufgabe, es gab auch signifikant weniger
Erkennungsfehler aufgrund von Aufmerksamkeitsblinzeln. Demnach ist Achtsamkeit
für Menschen in Organisationen höchst relevant, um fehlerfreier zu arbeiten sowie
innovative Lösungen zu entwickeln.
4.3.2 Kommunikation, Interaktion und Achtsamkeit
Eine weitere zentrale Aufgabe von Menschen in Organisationen besteht darin,
mit Mitarbeiter/inne/n, Kolleg/inn/en und Kooperationspartner/inne/n zielführend zu
interagieren und zu kommunizieren. Dies geschieht normalerweise bei formellen oder
informellen Treffen und Besprechungen, Briefwechsel, Telefonaten oder beim
Austausch über elektronische Medien (Email, Video-Konferenz, Live-Chat).
Glaubwürdigkeit und Authentizität verbessern die Qualität von Kommunikation und
Interaktionsprozessen. Einer Studie der Unternehmensberatung Towers Watson
(2008) zufolge ist die wichtigste Voraussetzung für das langfristige Aufrechterhalten
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der Arbeitsmotivation von Mitarbeiter/inne/n, dass das Führungspersonal ein ehrliches
und aufrichtiges Interesse am Wohlergehen der Belegschaft hat. Beschäftigte sind vor
allem dann unmotiviert und unzufrieden, wenn Führungskräfte nicht offen und ehrlich
mit ihnen kommunizieren oder kein emotionales Interesse an ihnen haben.
Für gelungene Interaktions- und Kommunikationsprozesse ist es zentral, der
anderen Person zuzuhören und auf sie einzugehen (Hackman and Johnson, 2004).
Dazu müssen die Betreffenden in der Lage sein, zumindest zeitweilig persönliche
Interessen in den Hintergrund und die Belange der Anderen in den Vordergrund zu
stellen, um sich empathisch in das Gegenüber hineinversetzen und dessen Perspektive
einnehmen zu können („Theory of Mind“). Es überrascht nicht, dass dies vor allem
Personen mit narzisstischen und egozentrierten Tendenzen schwer fällt (vgl. Oelsnitz
and Busch, 2010). Shapiro et al. (2006) betrachten den Abbau narzisstischer
Tendenzen als den zentralen Wirkfaktor von Achtsamkeit. Achtsamkeit wirkt der
Tendenz entgegen, eine gegebene Situation automatisch im Sinne egoistischer
Bestrebungen zu interpretieren. Indem gelernt wird, das eigene Ich und seine
Relevanz zumindest temporär einen Schritt zurück treten zu lassen, trägt Achtsamkeit
dazu bei, die Fähigkeit der Perspektivenübernahme zu entwickeln, was im Sinne von
Dialogfähigkeit einen authentischen und empathischen Brückenschlag in der
Interaktion mit anderen Menschen möglich macht (Buber, 1973).
4.3.3 Entscheidungsprozesse, moralisches Verhalten und Achtsamkeit
Die Fähigkeit, Informationen zu verarbeiten und sich mit anderen Personen
auszutauschen, hat auch immer damit zu tun, Entscheidungen zu treffen. Im Zuge der
gegenwärtigen Finanz- und Wirtschaftskrise sind Entscheidungen von
Führungskräften und Firmenchefs oft heftig kritisiert worden, weil durch strategische
Fehlentscheidungen nicht nur Kapital und Arbeitsplätze vernichtet worden sind,
sondern auch Vertrauen zerstört wurde. Spektakuläre Fehlentscheidungen in Firmen –
wie beispielsweise der Zusammenbruch des Geldhauses Lehmann der SchneiderPleite oder der Zusammenbruch des Kirch-Konzerns – haben die Frage aufgeworfen,
wie es dazu kommen konnte, dass große und erfolgreich agierende Unternehmen unter
erfahrener Leitung nicht nachvollziehbare Fehlentscheidungen getroffen haben. Der
Finanzmathematiker Nassim Nicholas Taleb hat die Nachteile einer weit verbreiteten
Heuristik zur Prognose von zukünftigen Systemkonstellationen, die linearere
Extrapolationen, untersucht. Dabei hat er sich auf den Umgang mit seltenen, zumeist
unprognostizierbaren, aber wirkmächtigen Ereignissen fokussiert, die von ihm als
„Schwarze Schwäne“ bezeichnet werden (Taleb, 2009). Ursache vieler Probleme,
Krisen und Fehlentscheidungen ist seiner Ansicht nach darin zu suchen, dass auf
„Schwarze Schwan“-Szenarien üblicherweise nicht mit bewährten Strategien zur
Bewältigung bekannter Probleme adäquat reagiert werden kann. Dahinter steht
letztlich die Erkenntnis, dass komplexe Systeme den Gesetzen der nichtlinearen
Dynamik gehorchen, die durch linearere Extrapolationen nicht beschrieben werden
können. Obwohl die lineare Projektion vergangener Situationen und Problemlösungen
in die Zukunft ohne Zweifel oftmals nützlich sein kann, kann dadurch gelegentlich der
Blick auf potentielle „Schwarze Schwäne“-Szenarien versperrt werden, wenn die
Entscheidungsträger nicht das notwendige Ausmaß an Achtsamkeit mitbringen, das es
ihnen ermöglicht, Situationen und Probleme in neuem Licht zu sehen und mit
angemessenen Entscheidungen zu reagieren.
Darüber hinaus werden auch sozialpsychologische Erklärungen wie „gelernte
Sorglosigkeit“, „Konformitätsdruck“ („groupthink“) (Esser, 1998) zur Erklärung
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unternehmerischer Fehlentscheidungen herangezogen. Der Psychologe Gerd
Gigerenzer, der die zentrale Rolle der Intuition für Entscheidungsprozesse betont,
macht vor allem die Tendenz, vermehrt „defensive Entscheidungen“ zu treffen, für
Fehlentscheidungen von Managern und Unternehmern verantwortlich (Gigerenzer,
2008). Darunter wird verstanden, dass Entscheidungsträger/innen eine besser
begründbare, faktisch aber nur drittklassige Option wählen, um ihre Entscheidung im
Falle eines dadurch entstehenden Problems post-hoc besser legitimieren zu können.
Interessanterweise ist die Tendenz zu „defensiven Entscheidungen“ in
familiengeführten Unternehmen geringer als in Organisationen, die von einem
Vorstand gelenkt werden, der nur für einen begrenzten Zeitraum bestellt wird.
Sicherlich kann Achtsamkeit auch jenseits von der unternehmerischen
Organisationsstrukturen
dazu
beitragen,
Entscheidungsträger/inne/n
diese
Selbstschutztendenzen bewusster zu machen und letztlich zu einem reflektierten, weil
bewussterem Umgang zu verhelfen. Die Unentbehrlichkeit eines über den gesetzlich
vorgeschriebenen Mindeststandard der Compliance hinausgehendes moralisches und
ethisches Verhalten von Organisationen wurde in den letzten Jahren zunehmend unter
dem Begriff der unternehmerischen Sozialverantwortung („corporate social
responsibility“ [CSR]) diskutiert (Hansen and Schrader, 2005). In dem abschließenden
Projektbericht des von der Europäischen Union geförderten Forschungsprojektes
RESPONSE als Akronym für „Understanding and Responding to Societal Demands
on Corporate Responsibility“, wird die Effizienz von Maßnahmen untersucht, durch
die Führungskräfte zu einer langfristigen und systematischen Umsetzung von
unternehmerischer Sozialverantwortung gebracht werden sollen (Zollo et al., 2007).
Im entsprechenden Bericht wird darauf verwiesen, dass die konventionellen
Maßnahmen zur Verstetigung von unternehmerischer Sozialverantwortung, wie
beispielsweise geleitete Gruppendiskussionen oder Einzelfallanalysen, dazu nur wenig
geeignet sind, während Coachingprogramme für Leitungskräfte, die durch
introspektive und meditative (Mind-Body)-Techniken flankiert wurden, sich als die
wirksamsten Interventionen zur langfristigen Umsetzung von CRS erwiesen haben.
Hier eröffnen sich große Möglichkeitskorridore für Organisationen, ihren
Mitarbeiter/inne/n das Bewusstsein und die Bereitschaft unternehmerischer
Sozialverantwortung und das damit verbundene moralische und ethische Verhalten
über introspektive Bewusstseinsverfahren zu vermitteln.
5.
Achtsamkeit in Organisationen – Möglichkeiten und Grenzen
Das systematische Einüben von Achtsamkeit bietet großes Entwicklungspotential für Menschen, ihre Aufgaben in Organisationen nicht nur effizienter,
erfolgreicher und authentischer, sondern auch mit weniger Belastung und in einer
prosozialeren und kooperativeren Weise auszuführen. Daraus kann nicht geschlossen
werden, dass sich durch achtsamkeitsbasierte Interventionen in Unternehmen auch
automatisch die kognitive Performanz, intrinsische Motivation, Kommunikations- und
Interaktionsverhalten sowie Entscheidungskompetenz von Menschen in
Organisationen verbessern. Denn einerseits gehören die achtsamkeitsbasierten
Interventionen zu den Maßnahmen, die an der Person und ihrem Bewusstsein
ansetzen. Neben den intrapersonalen Faktoren bestimmen viele andere intra-, interund extrapersonalen Faktoren menschliche Erlebens- und Verhaltensweisen,
einschließlich der damit zusammenhängenden Informations-verarbeitungs-,
Interaktions- und Entscheidungsprozesse. Andererseits sind Anforderungsszenarien
vorstellbar, in denen die systematische Einübung von Achtsamkeit nachteilige
10
Konsequenzen haben könnte. Vor allem im Zusammenhang mit moralischen
Dilemmata, beispielsweise Situationen, in denen Kollektiv- und Individualinteressen
nicht mehr miteinander in Einklang gebracht werden, könnte eine achtsame Haltung
hinderlich sein. Achtsamkeit fördert die Fähigkeit zur Empathie-übernahme (BlockLerner et al., 2007, Dekeyser et al., 2008), was eine emotionale Distanzierung und
„objektive“ Haltung bei harten Entscheidungen, wie Kündigungen, behindern kann.
Darüber hinaus besteht die Möglichkeit, dass die Akzeptanzkomponente von
Achtsamkeit im Sinne einer phlegmatischen, hinnehmenden Haltung fehlinterpretiert
wird. Damit ist keinesfalls gemeint, dass alles hingenommen werden sollte, was
passiert. Eine achtsame Haltung legt nahe, vor allem unangenehme Erfahrungen und
Situationen so objektiv aufzunehmen wie sie sind, ohne dabei ins Katastrophisieren zu
verfallen. Sie schließt keineswegs aus, die nötigen Schritte durchzuführen, um
angemessen auf unangenehme und schwierige Umstände zu reagieren. Dabei sollten
zu starke Emotionen nicht die genaue Interpretation einer Situation verzerren
(„achtsame Akzeptanz“ einer Situation) (Sauer et al., 2011c). Achtsamkeit bedeutet
sich der Wahrnehmung des Moments bewusst zu sein und die wahrgenommene
Realität des Augenblicks so hinzunehmen, wie sie eben ist. Mit dieser Einstellung soll
vor allem Gelassenheit und Offenheit gegenüber schwierigen Gegebenheiten erlernt
werden. Die Einsicht, dass man beispielsweise gerade unkonzentriert, gelangweilt,
oder müde ist und sich dies auch einzugestehen, ist eine wichtige Voraussetzung für
die Herausbildung von introspektiven Fähigkeiten im Sinne einer achtsamen
Grundhaltung. Achtsamkeit erscheint für viele Menschen in Organisationen zunächst
als eigenwillige Übung, die mit einer ungewohnten Bewusstseinshaltung einhergeht.
Jedoch zeigen große Projekte bei Unternehmen wie Google, aber auch unsere eigenen
Erfahrungen in Zusammenhang mit der Einführung von Achtsamkeit in
Organisationen, dass die meisten Menschen dieser Thematik mit Offenheit und
Interesse begegnen. Es bedarf – neben der Unterstützung der Leitungsebene –
sicherlich systematischer Übung und anfangs einer fundierten Anleitung, um
Fortschritte zu machen. Obwohl achtsamkeitsbasierte Programme üblicherweise auf
Stressbewältigung abzielen (Baer, 2003; Grossman, Niemann, Schmidt, & Walach,
2004), sollten diese Interventionen nicht auf diesen spezifischen Aspekt begrenzt
werden. Die vorliegenden Befunde sprechen dafür, dass durch erfahrungsbasiertes
Lernen und introspektiv orientierte Programme nicht nur die kognitiv-emotionale
Selbstregulationsfähigkeit verbessert wird, sondern auch spezifische Aspekte wie
Informationsverarbeitungs- und Entscheidungsfindungs-prozesse, Empathiefähigkeit,
Interaktions- und Kommunikationsvorgänge und darüber hinaus die Ausbildung einer
prosozialen,
ethisch-moralischen
Verhaltensweise
gefördert
werden.
Achtsamkeitsbasierte
Interventionen
sind in erster Linie nicht als
„Trainingsprogramme zur Steigerung der persönlichen Leistungsfähigkeit“ zu
verstehen. Achtsamkeit beschreibt eine förderliche Grundhaltung gegenüber dem
Leben und der eigenen Existenz. Wird diese Grundhaltung authentisch gelebt, können
gesundheits- und leistungssteigernde Auswirkungen eintreten. Das Paradox von
Achtsamkeit ist allerdings darin zu sehen, dass diese Effekte sich nur dann
längerfristig manifestieren, wenn Achtsamkeit als authentische Grundhaltung und
nicht als „Skill“ praktiziert wird. Die Herausbildung von Achtsamkeit kann nicht in
wenigen Wochenendseminaren, sondern nur durch systematisches Praktizieren erlernt
werden, was mitunter maßgebliche Veränderungen der individuellen Lebensgewohnheiten und Einstellungen nach sich zieht.
11
6.
Zusammenfassung und Ausblick
Eine Anzahl von Studien belegt, dass Achtsamkeit das Potenzial bietet,
Gesundheit, Leistungsfähigkeit und prosoziale Verhaltensweisen von Menschen
gleichermaßen zu verbessern. Die Effekte von Achtsamkeit sind keine
psychologischen Effekte, sondern auch auf physiologischer Ebene nachweisbar.
Achtsamkeit ermöglicht einem Individuum, Situationen gewissenhafter
wahrzunehmen und kreativere Problemlösungen zu finden. Darüber hinaus kann
durch Achtsamkeit egozentrierten Handlungstendenzen entgegengewirkt werden, die
häufig ein Grund dafür sind, dass Organisationsmitglieder unzufrieden mit den
sozialen Interaktionsprozessen sind. Obwohl es erste Ansätze gibt, den
Zusammenhang von Achtsamkeit in Organisationen zu untersuchen (Sauer and Kohls,
2011b), sind empirische Studien gegenwärtig noch rar. Vor dem Hintergrund der
hohen Wirksamkeit von Achtsamkeit für den Bereich der körperlichen und
psychischen Gesundheit, ist es zielführend, die Effekte von Achtsamkeit auf
Menschen in Organisationen näher zu beforschen. Denn achtsamkeitsbasierte
Interventionen in Organisationen sind ein mächtiges Werkzeug, um komplexe
Veränderungsprozesse, wie die mittlerweile in vielen Branchen geforderte
Transformation, in der gesamten Unternehmenskultur zu realisieren.
Hinweis: Dieser Beitrag ist auf der Grundlage von zwei früheren Arbeiten entwickelt
worden (Sauer and Kohls, 2011a, Sauer et al., 2011a).
12
7.
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Zu den Autoren:
PD Dr. phil. Dr. habil. med. Niko Kohls ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am
Generation Research Program der Ludwig-Maximilians-Universität München und
Stipendiat des Samueli Institute, Alexandria, USA.
Prof.-Max-Lange-Platz 11, D- 83646 Bad Tölz
Tel: 0049-8041-79929-26 oder -0, Fax: 0049-8041-79929-11
E-Mail: [email protected]
http://www.grp.hwz.uni-muenchen.de
Prof. Dr. med. Andrea Berzlanovich ist Leiterin des Fachbereichs Forensische
Gerontologie am Department für Gerichtsmedizin der Medizinischen Universität
Wien.
Sensengasse 2, A-1090 Wien
Tel: 0043-1-40160-35660, Fax: 0043-1-401609-35603
E-Mail: [email protected]
http://www.meduniwien.ac.at/orgs/index.php?id=1373
Dr. phil. Sebastian Sauer ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Generation Research
Program der Ludwig-Maximilians-Universität München.
Prof.-Max-Lange-Platz 11, D- 83646 Bad Tölz
Tel: 0049-8041-79929-26 oder -0, Fax: 0049-8041-79929-11
E-Mail: [email protected]
http://www.grp.hwz.uni-muenchen.de
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