Ein kognitionspsychologischer Zugang zu Prozeßverlusten in Gruppen Torsten Reimer und Andrea Neuser Institut für Psychologie, Universität Potsdam Zusammenfassung In diesem Beitrag wird eine gedächtnispsychologische Erklärung von Prozeßverlusten in Gruppen vorgestellt. Dieser Ansatz geht davon aus, daß das interaktive Problemlösen in Gruppen in der Regel höhere kognitive Anforderungen an die Gruppenmitglieder stellt als das Lösen von Problemen in Einzelbedingungen. Anhand der Latenzzeiten beim Turm von Hanoi wird gezeigt, daß die Ausbildung einer problembezogenen, lokalen Gedächtnisstrategie einen wesentlichen Prädiktor der Problemlöseleistung darstellt. 1 Einleitung Die Kapazität unseres Kurzzeitgedächtnisses ist begrenzt und unsere computationalen Möglichkeiten infolgedessen beschränkt. Das gilt unabhängig davon, ob wir versuchen, ein Problem alleine oder in einer Gruppe zu lösen. Zwar bietet eine Gruppe potentiell die Möglichkeit, durch eine kluge Problemstrukturierung und Aufgabenverteilung die Kapazitätsbeschränkungen des Einzelnen zu erweitern. Solche Synergieeffekte sind jedoch eher die Ausnahme als die Regel. Vielmehr bleiben Gruppen häufig hinter ihrer potentiellen Produktivität zurück, da (1) die Kommunikation und Interaktion selbst gedächtnisbelastend ist (Baron, 1986) und (2) die individuellen Gedächtnis- oder Problemlösestrategien erst zu koordinieren sind (Basden, Basden, Bryner & Thomas III, 1997). Dieser kognitionspsychologische Ansatz zur Erklärung von Prozeßverlusten in Gruppen ist in den vergangenen Jahren -gegenüber motivational oder normorientierten Ansätzen- stärker in den Blick der sozialpsychologischen Problemlöseforschung gerückt (Hinsz, Tindale & Vollrath, 1997). Sobald das zu lösende Problem selbst gedächtnisbelastend ist, besteht die Gefahr, daß die Kommunikation und Interaktion wie ein Distraktor wirkt, der die zur Problembearbeitung nötige Aufmerksamkeit reduziert. Geht man jedoch davon aus, daß die kognitive Belastung während des Problemlöseprozesses nicht konstant ist, sondern variiert, so sollte die Gruppenleistung davon abhängen, ob es den Gruppenmitgliedern gelingt, eine problemangemessene Gedächtnisstrategie auszubilden und ihre beschränkten kognitiven Ressourcen dann auf das Problem zu richten, wenn die Aufmerksamkeitsbelastung besonders hoch ist. Um diese These zu prüfen, wurde den Probanden die Aufgabe gestellt, mehrere Turm von Hanoi-Probleme in einer Paarbedingung zu lösen, in der abwechselnd gezogen wurde. Der Turm von Hanoi eignet sich besonders gut zur Untersuchung kognitiver Prozesse beim Problemlösen, da die kognitive Belastung während des Problemlöseprozesses variiert, wie aus Untersuchungen an Einzelpersonen bekannt ist. 140 2 Methode: Der Turm von Hanoi Der Turm von Hanoi besteht aus drei Stangen, auf denen sich mehrere Scheiben in unterschiedlicher Größe befinden. Abbildung 1 zeigt den Bildschirmaufbau (Windows 3.11) für ein Vier-Scheiben-Problem. Eine Scheibe kann verlegt werden, indem auf die Scheibe und anschließend auf die Stange geklickt wird, auf die die Scheibe verschoben werden soll. Die Originalaufgabe besteht darin, den Turm mit so wenig Zügen wie möglich von der linken auf die rechte Stange zu bringen, wobei immer nur die oberste Scheibe eines Turmes verschoben und auf eine Scheibe nur eine kleinere, nicht aber eine größere Scheibe gelegt werden darf. Die Aufgabenschwierigkeit läßt sich über die Anzahl der Scheiben des Ausgangsturms variieren. Die erforderliche n Mindestanzahl an Zügen beträgt für ein Problem mit n Scheiben 2 -1. Abbildung 1: Der Turm von Hanoi Empirische Untersuchungen an Einzelpersonen belegen, daß die Problemlöseleistung wesentlich davon abhängt, ob der erste Zug des Gesamtproblems und die ersten Züge der einzelnen Teilprobleme, in die sich der Gesamtturm zerlegen läßt, korrekt gesetzt werden (vgl. Karat, 1982; Reimer, Neuser & Schmitt, 1997). Beispielsweise muß es während der Lösung des Vier-Scheiben-Problems aus Abbildung 1 einmal einen Zustand geben, in dem sich die größte Scheibe mit der Nummer 1 auf der rechten und der verbleibende Drei-Scheibenturm (mit den Scheiben 2, 3 und 4) auf einer der verbleibenden beiden Stangen befinden. An diesen Teilturmstellungen ist es besonders sinnvoll, das weitere Vorgehen zu planen. Infolgedessen sind die Teilturmzüge -einschließlich des allerersten Zuges- in der Regel besonders gedächtnisbelastend. So verwundert es nicht, daß gute Problemlöser sich dadurch auszeichnen, daß sie für die Teilturmzüge mehr Zeit aufwenden als für die verbleibenden Zwischenturmzüge, die vergleichsweise zügig ausgeführt werden, um die Ausführung der geplanten Zugsequenzen nicht zu unterbrechen. Diese lokale Gedächtnisstrategie (vgl. Klix, 1971), die den Gedächtnisanforderungen des Turms von Hanoi besonders gut angepaßt ist, läßt sich über den folgenden Strategieindex S operationalisieren: S = T / Z, mit T: durchschnittliche Zeit für Teilturmzüge und Z: durchschnittliche Zeit für Zwischenturmzüge. 141 Die lokale Strategie zeichnet sich dadurch aus, daß für die Teilturmzüge mehr Zeit aufgewandt wird als für die Zwischenturmzüge (S > 1). Ist S dagegen 1, so findet an den Teilturmstellungen keine verstärkte Planung statt. Wird der Strategieindex S schließlich kleiner als 1, so wird gerade an jenen Problempunkten ein erhöhter kognitiver Aufwand betrieben, die für eine effiziente Bildung von Teilzielen und die Planung von Zugsequenzen besonders ungeeignet sind. Das vornehmliche Ziel unserer Untersuchungen bestand darin zu prüfen, (1) ob sich die Problemlöseleistung auch in einer Paarbedingung, in der abwechselnd gezogen wird, aus dem Strategieindex vorhersagen läßt; (2) zu prüfen, ob der Einfluß der Gedächtnisstrategie auf die Problemlöseleistung durch den Koordinationsbedarf moderiert wird; (3) und zu testen, welche Faktoren (individuelle Lösungsprozeduren, Kommunikation unter den Beteiligten) die Ausbildung einer problemnahen, lokalen Gedächtnisstrategie fördern. 3 Empirische Untersuchungen: Die Ausbildung einer lokalen Gedächtnisstrategie in der Paarbedingung Zu diesem Zweck wurde den Probanden zunächst in einer Einzelbedingung eine von zwei Lösungsprozeduren beigebracht: Während die Goal-Recursion-Prozedur (R) auf der sukzessiven Zerlegung eines Turmes in einfachere Untertürme basiert, besteht die Move-Pattern-Prozedur (M) in der gleichmäßigen Ausführung eines erlernten Bewegungsmusters.1 Solange der Ausgangsturm auf der linken Stange sitzt (Originalproblem), führen beide Prozeduren zu übereinstimmenden Zügen und garantieren -bei einer konsequenten Anwendung- eine optimale Problemlösung. Besteht die Aufgabe dagegen darin, einen Turm von der mittleren Stange auf die rechte Stange zu bringen (Transferproblem), so mündet nur die allgemeinere zielrekursive Prozedur in eine optimale Problemlösung. Die Move-Pattern-Prozedur läßt sich auf diese Transferprobleme zwar ebenfalls anwenden, sie führt jedoch zu einer äußerst umständlichen Problemlösung, die die doppelte Anzahl an Schritten erfordert. Im Anschluß an die Einzelbedingung wurden Paare gebildet, in denen entweder beide Personen dieselben (Bedingungen MM / RR) oder unterschiedliche Prozeduren (Bedingung MR) gelernt hatten. Als zweiter Faktor wurden die Aufgabenanforderungen variiert, indem neben den Originalaufgaben auch mehrere Transferaufgaben vorgegeben wurden. Es wurde erwartet, daß innerhalb der Originalprobleme keine Koordinationsprobleme, sondern Konvergenzeffekte entstehen, da die unterschiedlichen Prozeduren hier zu übereinstimmenden Problemlösungen führen (Reimer, in press). Allerdings sollten durch die beiden Lösungsprozeduren unterschiedliche Gedächtnisstrategien induziert wer-den, was sich in dem Strategieindex niederschlagen sollte: Da die Goal-Recursion- im Unterschied zu der Move-Pattern-Prozedur auf der Bildung von Teilzielen beruht, war davon auszugehen, daß sich die Paare anhand ihres Strategieindexes rangordnen lassen (SRR > SMR > SMM). Für die Transferprobleme wurden dagegen massive 1 Die Move-Pattern-Prozedur beruht darauf, daß in Abhängigkeit von der Position und der Scheibennummer festgelegte Züge auszuführen sind: Bei einer ungeraden Scheibe ist von der linken auf die rechte Stange, von der Mitte nach links und von rechts in die Mitte zu ziehen. Ist die Scheibe dagegen gerade, so sind die umgekehrten Züge auszuführen. Zusätzlich ist die Regel einzuhalten, keine Scheibe zweimal hintereinander zu verlegen. Um die Anwendung der Move-Pattern-Prozedur zu erleichtern, waren die Scheiben durchgehend nummeriert (Abb. 1). 142 Koordinationsverluste in den Bedingungen MR und MM vorhergesagt, in denen mindestens eine Person über eine Prozedur verfügte, die die doppelte Zugzahl erfordert und somit äußerst umständlich ist. Geprüft werden sollte, ob sich die drei Paare auch innerhalb der Transferaufgaben anhand ihres Strategieindexes identifizieren lassen und ob der Strategieindex innerhalb der Transferaufgaben einen Prädiktor der Problemlöseleistung darstellt (Zugzahl ZRR < ZMR < ZMM). Wie den Abbildungen 2 bis 4 zu entnehmen ist, bestätigten sich diese Vorhersagen (eine ausführliche Beschreibung der Untersuchung unter Einbezug weiterer chronometrischer Maße findet sich in Reimer & Neuser, 1999). Erwartungskonform ließen sich die Bedingungen RR, MR und MM anhand ihres Strategieindexes identifizieren (Abb. 2): Unabhängig davon, ob die Original- oder die Transferprobleme zu lösen waren, wandten die uniformen Goal-Recursion-Paare (RR) in stärkerem Ausmaß eine lokale Gedächtnisstrategie an als die uniformen Move-Pattern-Paare (MM), und die gemischten Paare (MR) nahmen erwartungskonform eine Mittelstellung ein. Abbildung 2: Aufgabentyp (Original-, Transferproblem) x Paarbedingung (RR, MR, MM): Mittlerer Strategieindex 1,2 1,15 1,1 1,05 1 1,1 1,09 1,05 1,05 1,02 Originalproblem RR 1,03 Transferproblem MR MM Anmerkung: An der Untersuchung nahmen 112 Personen teil (26 Paare in der gemischten Bedingung MR und je 15 Paare in den uniformen Bedingungen RR und MM). Von jedem Paar waren 2 Original- und zwei Transferprobleme zu lösen, von denen je ein Problem aus vier und ein Problem aus fünf Scheiben bestand. Da die Zuglatenzen erwartungskonform linksgipfelig verteilt waren, wurden sie zunächst logarithmiert. In der Abbildung ist der -über das jeweilige Vier- und Fünf-Scheiben-Problem- gemittelte Strategieindex abgetragen. Was dagegen die an der Zugzahl gemessene Lösungsgüte angeht, so finden sich nur innerhalb der Transfer-, nicht aber innerhalb der Originalprobleme Unterschiede zwischen den experimentellen Paarbedingungen (Abb. 3). Schließlich ergab eine Pfadanalyse (Abb. 4), daß der Einfluß der gelernten Prozeduren auf die Problemlöseleistung innerhalb der Transferaufgaben erwartungskonform über die angewandte Gedächtnisstrategie vermittelt war: Wird der Einfluß des Strategieindexes auf die benötigte Zugzahl statistisch kontrolliert, so vermindert sich der Einfluß des Faktors Paarbedingung (RR, MR, MM) auf die Problemlöseleistung erheblich. Zu einem übereinstimmenden Ergebnis führte auch die Reanalyse einer vorangegangenen Untersuchung (vgl. Reimer et al., 1997), in der variiert wurde, ob den Beteiligten die Möglichkeit zur Kommunikation gegeben (Experimentalgruppe) oder ob die Kommunikation während der Problemlösung untersagt wurde (Kontrollgruppe). In dieser Untersuchung wurden ausschließlich Originalprobleme verwendet und den 143 Probanden vorab keine Lösungsprozeduren beigebracht. Insgesamt verbuchten die kommunizierenden Paare einen Leistungsvorteil, der sich darauf zurückführen ließ, daß in der Experimentalgruppe mehr korrekte Teilturmzüge ausgeführt wurden als in der Kontrollgruppe. Offensichtlich profitierte die Experimentalgruppe stärker in der Planungs- als in der Ausführungsphase von der Möglichkeit zu kommunizieren. Abbildung 3: Aufgabentyp (Original-, Transferproblem) x Paarbedingung (RR, MR, MM): Mittlere Zugzahl 50 40 30 20 10 0 46,8 31,7 23,5 23,8 23,5 23,6 Originalproblem Transferproblem RR MR MM Anmerkung: In der Abbildung ist die mittlere Zugzahl abgetragen. Da die Mindestanzahl an Zügen für ein Vier-Scheiben-Problem 15 Züge und für ein Fünf-Scheiben-Problem 31 Züge beträgt, liegt das Minimum innerhalb jeder der sechs Bedingungen bei 23 Zügen. Abbildung 4: Pfadanalyse - Untersuchung 1 F = 38,12** Paarbedingung F = 17,18** F = 20,0** Strategieindex F = 57,5** Zugzahl Anmerkung: Die Pfadanalyse bezieht sich ausschließlich auf die Transferprobleme, da sich die Paarbedingungen in der Problemlöseleistung der Originalprobleme erwartungskonform nicht unterschieden (Abb. 3). Die Paarbedingung hat einen direkten Einfluß auf den Strategieindex (F=17,18**; Abb. 2) und die Anzahl der benötigten Züge (F=38,12**; Abb. 3). Der Strategieindex seinerseits eignet sich ebenfalls als Prädiktor der Problemlöseleistung (F=57,5**): Je stärker nach der lokalen Strategie gespielt wurde, umso weniger Züge wurden benötigt. Wird nun der Einfluß des Strategieindexes auf die benötigte Zugzahl statistisch kontrolliert, so vermindert sich der Einfluß der Paarbedingung auf die Problemlöseleistung erheblich (F=20,0**). Infolgedessen ist davon auszugehen, daß der Einfluß des Faktors Paarbedingung auf die benötigte Zugzahl zumindest partiell über den Strategieindex vermittelt ist (* p < .05; ** p < .01). Um nachträglich die These testen zu können, daß das Ausmaß, in dem eine lokale Gedächtnisstrategie befolgt wird, auch in dieser Untersuchung für den Leistungsunterschied der experimentellen Gruppen verantwortlich ist, wurde für die beiden Bedingungen mit vs. ohne Kommunikation erneut der Strategieindex bestimmt und eine Pfadanalyse durchgeführt (Abb. 5). Wie erwartet, ist der Einfluß der Kommunikation 144 auf die Problemlöseleistung auch hier -sogar fast vollständig- über das Ausmaß, in dem die lokale Gedächtnisstrategie angewandt wurde, vermittelt: Die kommunizierenden Paare hatten insgesamt einen Leistungsvorteil und befolgten in stärkerem Maße die lokale Gedächtnisstrategie als die Kontrollgruppe. Wird der Einfluß des Strategieindexes auf die Problemlöseleistung dagegen kontrolliert, so finden sich keine signifikanten Unterschiede mehr zwischen den beiden experimentellen Bedingungen mit vs. ohne Kommunikation. Abbildung 5: Pfadanalyse - Untersuchung 2 F = 4,35* Kommunikation F = 13,94** F = 0,73 Strategieindex F = 6,28* Zugzahl Zusammenfassend belegen diese Untersuchungen, daß der problemangemessene Einsatz beschränkter kognitiver Ressourcen bei einem hohen Koordinationsbedarf einen wesentlichen Prädiktor der Problemlöseleistung darstellt. Dabei ist allerdings zu beachten, daß der Koordinationsbedarf im vorliegenden Setting sowohl von den gelernten Prozeduren (Personmerkmal), als auch von der Zusammensetzung der Dyaden (Gruppenmerkmal) und den Aufgabenanforderungen abhängt (Situationsmerkmal). Literatur Baron, R. S. (1986). Distraction-conflict theory: Progress and problems. Advances in Experimental Social Psychology, 19, 1-40. Basden, B. H., Basden, D. R., Bryner, S. & Thomas III, R. L. (1997). A comparison of group and individual remembering: Does collaboration disrupt retrieval strategies? Journal of Experimental Psychology: Learning, Memory, and Cognition, 23, 1176-1189. Hinsz, V. B., Tindale, R. S. & Vollrath, D. A. (1997). The emerging conceptualization of groups as information processors. Psychological Bulletin, 121, 43-64. Karat, J. (1982). A model of problem solving with incomplete constraint knowledge. Cognitive Psychology, 14, 538-559. Klix, F. (1971). Information und Verhalten. Berlin: Dt. Verlag der Wissenschaften. Reimer, T. (in press). Attributions of poor group performance as a predictor of perspective taking and group achievement: A process model. Group Processes and Intergroup Relations. Reimer, T. & Neuser, A. (1999). Eine gedächtnispsychologische Erklärung von Prozeßverlusten in Kleingruppen. Manuskript, vorgestellt auf der 7. Tagung der Fachgruppe Sozialpsychologie der Deutschen Gesellschaft für Psychologie, Kassel. Reimer, T., Neuser, A. & Schmitt, C. (1997). Unter welchen Bedingungen erhöht die Kommunikation zwischen den Gruppenmitgliedern die Koordinationsleistung in einer Kleingruppe? Zeitschrift für experimentelle Psychologie, 3, 495-518. 145