52 BZB März 12 Wissenschaft und Fortbildung Fehlende Breitenentwicklung des Oberkiefers Zusammenhänge zwischen chronischen Atemwegsinfektionen und Störungen der Gebissentwicklung bei Kindern E i n B e i t r a g v o n D r. B r i g i t t e S c h n e l l , S c h o n g a u Bei Kindern werden anlässlich hals-nasen-ohrenärztlicher Untersuchungen häufig vergrößerte Adenoide (Polypen) und Tonsillae palatinae (Gaumenmandeln) festgestellt. Der Atemweg durch die Nase ist stark eingeengt und die Atmung findet vorwiegend durch den Mund statt. Damit kann die Nase nicht mehr ihre Aufgaben der Befeuchtung, Filterung und Erwärmung der Atemluft erfüllen. Vor allem im Winter kommt es durch das Einatmen kalter Luft zu chronischen Atemwegsinfektionen, die mit hypertrophierten Tonsillen und Adenoiden einhergehen. Bei Mundatmung muss die Zunge während des Schluckens ihre natürliche Lage am Gaumen (somatisches Schluckmuster) verlassen. Sie liegt nun schlaff im Mundboden und drückt eher gegen die Schneidezähne. Dieses viszerale Schluckmuster ist erforderlich, damit der Atemweg durch den Mund freigehalten wird. Normalerweise schluckt der Mensch im Wachzustand etwa zweimal in der Minute und einmal pro Minute während des Schlafens, also etwa 2000 Mal pro Tag. Fehlt beim Schlucken der Druck der Zunge gegen den Gaumen, kann sich das Gaumengewölbe, das gleichzeitig den Nasenboden bildet, nicht weiter ausformen. Der Oberkiefer bleibt in seiner transversalen Entwicklung zurück und wird auch im Vergleich zum Unterkiefer zu schmal. Dies wird noch dadurch verstärkt, dass der Unterkiefer eher nach vorne geschoben wird, um der durch die hypertrophierten Tonsillen verursachten Einengung des Rachenraums entgegenzuwirken. In diesem Zusammenhang kann sich auch ein frontaler Kreuzbiss entwickeln. Das durch die vergrößerten Tonsillen und die dadurch bedingte Mundatmung ausgelöste Schnarchen führt zu unruhigem Schlaf und dies wiederum zu Konzentrationsstörungen beim Kind. Im Bereich der Frontzähne sind häufig Gingivahyperplasien und Entkalkungen sichtbar, die Lippen sind trocken und rissig. Weitere negative Auswirkungen der Mundatmung wie etwa auf das HerzKreislauf-System und die Lunge sind bekannt. Fehlende Breitenentwicklung des Oberkiefers Der aufgrund der fehlenden Breitenentwicklung des Oberkiefers erzeugte Platzmangel für die oberen seitlichen Schneidezähne und die oberen Eckzähne ist gravierend. Häufig kommt es zur Ausbildung eines seitlichen Kreuzbisses. Aber nicht alle Kinder entwickeln bei zu schmalem Oberkiefer einen Kreuzbiss im Seitenzahnbereich. Bei manchen kommt es durch Parafunktionen auch zur Abrasion der Milchmolaren und der Sechsjahrmolaren und zwar so lange, bis eine „gesicherte“ HöckerHöckerverzahnung entsteht. Kinder, die ständig knirschen, leiden häufig an chronischen Kopfschmerzen und Blockaden im Bereich des Kopfes beziehungsweise der Halswirbelsäule. In der Regel wird die seitliche Höcker-Höckerverzahnung umgangen, indem sich der kleine Patient eine Lieblingsseite aussucht, zu welcher der Unterkiefer geschoben wird. Kommen die Patienten in einer sehr frühen Phase, in der die Seite noch nicht fixiert ist, nehmen sie den Kreuzbiss wechselweise rechts oder links ein. Leider werden die Kinder nur selten rechtzeitig genug dem Zahnarzt oder dem Kieferorthopäden vorgestellt. In der Regel ist der Kreuzbiss schon auf eine Seite fixiert. Bei den kleinen Patienten kann man bereits von extraoral an der asymmetrischen Unterlippe erkennen, wo der Kreuzbiss ist. Je länger dieser besteht, desto stärker wird die Gesichtsasymmetrie. Therapie durch Gaumennahterweiterung Aus dem Circulus vitiosus (fehlende Nasenatmung, Mundatmung, kalte Luft fördert die Hypertrophie der Tonsillen) kommen die Patienten von alleine nicht mehr heraus. Die Therapie besteht in der möglichst frühzeitigen Behebung der oben dargestellten Kieferanomalie. Wir führen hierzu die forcierte Gaumennahterweiterung (GNE) durch. Die für die Erweiterung der Gaumennaht verwendete Apparatur besteht aus einer mit vier Bändern über kräftige Drähte verlöteten GNE-Schraube. Beidseitig bebändert werden – je nach Alter des Kindes – die Wissenschaft und Fortbildung oberen Milchmolaren beziehungsweise die ersten Milchmolaren und der erste bleibende Molar (s. Abb. 8 bis 10 und 17). Diese Apparatur erlaubt – im Gegensatz zur einzementierten Kunststoffplatte – die Reinigung der Zähne. Zudem akzeptieren die Patienten diejenige Apparatur am ehesten, die den Zungenraum möglichst wenig einengt. Die Schraube wird je nach dem Alter der Patienten und dem Ausmaß der erforderlichen transversalen Erweiterung über einen Zeitraum von vier bis zwölf Tagen zwei- bis dreimal pro Tag gedreht, wobei der Kiefer pro Umdrehung um 0,2 mm erweitert wird. Durch diese rasche Aktivierung wird erreicht, dass die applizierte Kraft nicht zu einer orthodontischen Knochenresorption in den Druckzonen der belasteten Zähne und zu einer Zahnbewegung durch die bukkale Knochenlamelle hindurch führt. Eine Knochenresorption kommt erst etwa zwei bis drei Wochen nach Beginn der Kraftapplikation in Gang und bis dahin ist die erwünschte Erweiterung der Gaumennaht schon längst erreicht. Die Kraft wirkt auf die bei Kindern noch offene Sutura palatina. Sie ist yförmig und verschließt sich erst im zweiten Lebensjahrzehnt von nasal und dorsal nach ventral. Behandlungszeitpunkt Der Kreuzbiss sollte behoben werden, sobald er auftritt. Dies ist bereits bei kleinen Patienten im Alter von vier Jahren möglich. In den ersten zwei bis drei Tagen geben die Kinder ein Druckgefühl im Bereich der Gaumennaht an. Da bei Vier- bis Sechsjährigen alle Knochenstrukturen noch sehr weich sind, leiden sie weniger unter einer solchen Therapie als ältere Kinder und Teenager. Bereits nach circa drei Tagen ist die Gaumennaht offen. Man erkennt dies an dem größerwerdenden Diastema mediale, das sich spontan innerhalb von vier Wochen wieder schließt. Ab diesem Zeitpunkt ist das Drehen an der Dehnschraube für den Patienten druckfrei möglich. Ziel dieser Frühbehandlung ist es, den Kreuzbiss zu beheben, damit die erste Wechselgebissphase ungestört ablaufen kann. Auswirkungen der Gaumennahterweiterung Die forcierte Gaumennahterweiterung führt auch zu einer Bewegung des Oberkiefers nach vorne und unten. So wird der gesamte Nasenraum über die Gesamtlänge des Oberkieferkomplexes von der Apertura piriformis bis zur Choane vergrößert und die Luftpassage durch die Nase wird erheblich verbessert. Oft sagen die Mütter, dass das Kind nun nachts nicht mehr schnarcht. Durch die Kippbewe- BZB März 12 gung der Molaren kann der Biss frontal vorübergehend aufgehen. Jedoch schließt sich der frontal offene Biss, wenn sich der Schluckakt wieder normalisiert hat. In der Regel stellt sich bei frühem Behandlungsbeginn bereits nach einer bis zwei Wochen die Unterkiefermittellinie spontan ein. Zudem kann ein frontaler Kreuzbiss durch die Oberkieferschwenkung verschwinden. Ein großer Vorteil der Gaumennahterweiterung ist auch der Platzgewinn im Frontzahnbereich, wodurch eine Extraktionstherapie vermieden werden kann. Wenn genügend Platz für die oberen Eckzähne vorhanden ist, brechen diese von alleine regelrecht durch. Behandlungsablauf Um einen optimalen Sitz der Apparatur zu erhalten, hat sich die Eingliederung der fertigen GNE-Apparatur am selben Vormittag wie die Anpassung der Bänder bewährt. Vormittags lassen sich die Kinder leichter behandeln als am Nachmittag nach dem Kindergarten. Die Bänder werden ausgesucht und angepasst. Es erfolgt ein Abdruck über die Bänder, die in die Abformung reponiert werden, damit die Apparatur auf dem Modell fertiggestellt werden kann. Nach Eingliederung der Apparatur übt die Mutter das Drehen der Dehnschraube noch in der Praxis und sie wird über die Anzahl der Umdrehungen informiert. Nach ein bis zwei Kontrollsitzungen innerhalb von sieben bis 14 Tagen ist die Gaumennaht ausreichend geöffnet. Die Apparatur verbleibt dann zur Stabilisierung des Behandlungsergebnisses für neun Monate passiv im Mund. Danach kann es indiziert sein, logopädische Übungen zu verordnen. Da die Zunge jetzt viel Platz am Gaumen hat, haben die Kinder die Möglichkeit, den somatischen Schluckakt zu trainieren. Besonders bei Klasse-3-Patienten unterstützt eine Nachbehandlung mittels Funktionsregler die Erlangung eines guten Lippenschlusses. Nach ein bis zwei Jahren kann der kleine Patient entlassen werden. Danach wird der Zahnwechsel regelmäßig überwacht. Nach Durchbruch aller bleibenden Zähne kann zur Feineinstellung eine Multibandapparatur erforderlich werden. Nur bei Patienten mit einem progenen Wachstumsmuster sind längere Behandlungsphasen erforderlich. In diesen Fällen kann die GNE-Apparatur mit einer Delaire-Maske kombiniert werden. Dabei handelt es sich um ein extraorales Gerät zur Behandlung der Progenie bei Kindern. Auf der Stirn und auf dem Kinn aufliegende Pelotten sind durch kräftige 53 54 BZB März 12 Wissenschaft und Fortbildung Abb. 1 und 2: Ausgangsbefund bei einem vierjährigen Mädchen. Es besteht ein frontal offener Biss mit Zungenhabit bei ungenügender Breitenentwicklung des Oberkiefers, die kleine Patientin beißt hier mittig. Abb. 3 und 4: Unterkiefer nach rechts beziehungsweise links verschoben, mit rechtsseitigem beziehungsweise linksseitigem Kreuzbiss Abb. 5 und 6: Seitenansicht rechts (ohne Kreuzbiss) und links (mit Kreuzbiss) Drähte verbunden. Die Vorrichtung wird durch Elastikzüge in die im Oberkiefer fest eingesetzte Apparatur eingehängt. Damit sollen der Oberkiefer und die oberen Zähne nach anterior bewegt und das Wachstum des Unterkiefers gehemmt werden. Fallbeispiele Das erste Fallbeispiel betrifft ein kleines Mädchen, das im Alter von vier Jahren in die Praxis kam. Sie hatte einen frontal offenen Biss und eine offene Lippenhaltung. Nachts nahm sie noch den Schnuller. Der Oberkiefer war transversal eng. Sie schloss die Zähne beliebig rechts oder links in einer HöckerHöckerverzahnung. Schnell schob sie den Unterkie- fer nach rechts, um einen rechtsseitigen Kreuzbiss einzunehmen. Das galt auch für die linke Seite. Sie war so frühzeitig gekommen, dass sich der Biss noch nicht auf einer Seite fixiert hatte (Abb. 1 bis 6). Die Therapie bestand aus einer Gaumennahterweiterung (Abb. 7) und aus Lippenschlussübungen. Der Kreuzbiss konnte nach zwei Wochen korrigiert werden. Bereits nach drei Monaten konnte man erkennen, dass der frontal offene Biss zugeht (Abb. 8 bis 10). Nach sieben Monaten hatte sich der offene Biss noch deutlicher geschlossen. Die GNE-Apparatur wurde nach neun Monaten entfernt (Abb. 11 und 12) und die Behandlung mit einem Funktionsregler fortgesetzt. Wissenschaft und Fortbildung Abb. 7: Die zur Gaumennahterweiterung benutzte Apparatur BZB März 12 Abb. 8: Zustand nach sieben Monaten Behandlungszeit. Der frontal offene Biss hat sich geschlossen. Abb. 9 und 10: Zustand nach sieben Monaten Behandlungszeit. Der Kreuzbiss ist überstellt. Abb. 11 und 12: Zustand elf Monate nach Behandlungsbeginn und zwei Monate nach Behandlung mit einem Funktionsregler-3 Das zweite Fallbeispiel handelt von einem Jungen, der sich im Alter von sieben Jahren vorstellte. Extraoral fiel das sehr gerade Profil auf, das für Kinder untypisch ist (Abb. 13). Er hatte eine Progenie mit einem frontalen Kreuzbiss sowie einen Kreuzbiss bei 63,64/73,74. Die Unterkiefermitte war mandibulär nach links verschoben (Abb. 14 bis 16). Als Therapie wurde eine Gaumennahterweiterung in Kombination mit einer Delaire-Maske durchgeführt. Diese wurde mittels Elastikzügen an die GNE-Apparatur gehängt und tagsüber (z.B. Fernsehen, Hausaufgaben) sowie nachts getragen. Bereits nach drei Monaten war der Oberkiefer so weit nach ventral entwickelt, dass eine Kopfbiss- situation vorlag. Der seitliche Kreuzbiss ist korrigiert (Abb. 17 bis 20). Nach 14 Monaten waren die mittleren Schneidezähne im Oberkiefer durchgebrochen und es hatte sich eine regelrechte Frontzahnbeziehung eingestellt. Da der Patient einen guten vertikalen Überbiss hatte, konnte der Unterkiefer in seinem Wachstum den Oberkiefer mitnehmen. Durch die transversale Dehnung war nun genügend Platz für die seitlichen Schneidezähne vorhanden (Abb. 21 bis 23). Um den vertikalen Überbiss zu vertiefen und weiterhin den Oberkiefer in seinem Wachstum zu fördern, trug der Junge noch für 17 Monate einen Funktionsregler-3. 55 56 BZB März 12 Wissenschaft und Fortbildung 13 14 15 16 Abb. 13 bis 16: Ausgangsbefund bei einem siebenjährigen Jungen mit ungenügender Breitenentwicklung des Oberkiefers. Es besteht ein umgekehrter frontaler Überbiss. Abb. 17: Die zur Gaumennahterweiterung benutzte Apparatur (Zustand nach zwei Monaten) Abb. 18: Zustand nach drei Monaten Abb. 19 und 20: Bereits nach drei Monaten (Gaumennahterweiterung in Kombination mit Delaire-Maske) konnte ein frontaler Kopfbiss erreicht werden. Die Bilder 24 bis 27 zeigen den Patienten ein Jahr nach Abschluss der Frühbehandlung im Alter von elf Jahren. Der frontale Überbiss hat sich weiter normalisiert. Es ist auch zu erwarten, dass ausreichend Platz für die Eckzähne im Oberkiefer vor- handen sein wird. Da die Sechsjahrmolaren jedoch fast in einer Klasse-1-Relation stehen, sollte der Leeway im Unterkiefer (Platzgewinn bei Verlust der zweiten Milchmolaren im Unterkiefer) gehalten werden. Das bedeutet, dass sobald sich die Zähne Wissenschaft und Fortbildung BZB März 12 Abb. 21 bis 23: Zustand nach 13 Monaten Behandlung 24 25 26 27 Abb. 24 bis 27: Zustand nach Nachbehandlung mit einem Funktionsregler-3 für ein Jahr 75 oder 85 lockern, ein Lingualbogen eingesetzt wird. Dieser soll verhindern, dass die unteren Sechsjahrmolaren nach mesial wandern. Der so gewonnene Platz steht zur Distalisation der unteren Prämolaren zur Verfügung. Die unteren Schneidezähne gewinnen Platz und können einen bukkalen Kronentorque erhalten. Zusammenfassung Bei Kindern wirkt sich die frühzeitige Behandlung einer fehlenden Breitenentwicklung des Oberkiefers mit Kreuzbiss positiv auf die weitere Gebissentwicklung aus. Dadurch werden Abrasionen verhindert, Gesichtsasymmetrien wird vorgebeugt und der offene Biss wird geschlossen. Gleichzeitig wirkt sich die Behandlung durch die Behebung der Mundatmung positiv auf die Atemwege aus. Somit kann durch einen kleinen Eingriff einer großen Fehlentwicklung vorgebeugt werden. Korrespondenzadresse: Dr. Brigitte Schnell Jugendheimweg 1 86956 Schongau [email protected] www.nicetheeth4u.de Literatur bei der Verfasserin 57