Wolfgang Wippermann Faschismus

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Wolfgang Wippermann
Faschismus
1
WOLFGANG WIPPERMANN
Faschismus
Eine Weltgeschichte
vom 19. Jahrhundert bis heute
3
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© 2009 by Primus Verlag, Darmstadt
Die Herausgabe des Werkes wurde durch die Vereinsmitglieder der
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Gedruckt auf säurefreiem und alterungsbeständigem Papier
Redaktion: Rainer Wieland, Berlin
Einbandgestaltung: Jutta Schneider, Frankfurt
Layout und Satz: Satzpunkt Ursula Ewert GmbH, Bayreuth
Printed in Germany
www.primusverlag.de
ISBN: 978-3-89678-367-7
Inhalt
„Faschismus wäre Bündlertum“ –
Einleitung
7
WESTEUROPA
„Weder rechts noch links“ –
Bonapartismus und Faschismus in Frankreich
16
„Risorgimento“ –
Bonapartismus und Faschismus in Italien
34
„Deutsche Katastrophe“ –
Bonapartismus, und Faschismus in Deutschland
50
„Ständestaat“ –
Bonapartismus, Fundamentalismus und Faschismus in Österreich
69
„Cruzada“ –
Bonapartismus, Fundamentalismus und Faschismus in Spanien
84
„Kein Exportartikel“ –
Faschismus in anderen nord- und westeuropäischen Staaten
101
OSTEUROPA
„Zone der Gegenrevolution“ –
Bonapartismus, Fundamentalismus und Faschismus in Osteuropa 128
„Königsdiktaturen“ –
Bonapartismus, Fundamentalismus und Faschismus in
Südosteuropa
146
„Fruchtbarer Schoß“ –
Faschismus in Russland
168
AMERIKA
„All men are created equal“–
Fundamentalismus und Faschismus in den USA
182
„Dependencia“ –
Bonapartismus und Faschismus in Lateinamerika
203
5
6
Inhalt
AFRIKA
„Rassegesellschaft“ –
Fundamentalismus und Faschismus in Südafrika
218
„Herz der Finsternis“ –
Bonapartismus und Faschismus in Schwarzafrika
227
FERNER UND NAHER OSTEN
„Himmlischer Souverän“ –
Bonapartismus, Fundamentalismus und Faschismus in Japan
248
„Wiedergeburt“ –
Bonapartismus und Faschismus in Ägypten, Syrien und dem Irak
256
„Dschihad“ –
Fundamentalismus und Faschismus in Ägypten, Palästina
und Persien
266
„Hat es Faschismus überhaupt gegeben?“ –
Zusammenfassung und Ausblick
282
ANHANG
Anmerkungen
Bibliographischer Essay
Literatur
Namenregister
296
323
328
331
„Faschismus wäre Bündlertum“
Einleitung
„Ein fascio ist ein Verein, ein Bund, Faschisten sind Bündler und Faschismus wäre Bündlertum“.1 Mit diesen Worten hat der deutsche Sozialdemokrat Fritz Schotthöfer schon 1924 auf einen wichtigen, aber viel zu
wenig beachteten Sachverhalt verwiesen. Der aus dem italienischen
Wort für Bund – fascio – abgeleitete Begriff Faschismus ist gewissermaßen inhaltsleer. Er sagt so gut wie nichts über das Wesen dessen aus, was
faschistisch ist oder sein soll. Darin unterscheidet sich dieser „Ismus“
ganz entscheidend von anderen „Ismen“ wie Konservativismus, Liberalismus, Sozialismus et cetera.2
Was Faschismus ist oder sein soll wurde vornehmlich von seinen Gegnern bestimmt, die Theorien des oder besser: über den Faschismus entwickelt haben.3 Kommunisten suchten das Wesen des Faschismus mit dem
Hinweis auf seine kapitalistische soziale Funktion zu erklären und definierten ihn als „Diktatur einiger Elemente des Finanzkapitals“. Sie konnten diese instrumentalistische Deutung jedoch empirisch nicht beweisen
und waren sich zudem uneinig darüber, ob der Faschismus nun das Produkt des hoch oder des unterentwickelten Kapitalismus sei. Schließlich
vermochten sie nicht zu erklären, warum eine dezidiert prokapitalistische
Erscheinung wie der Faschismus von sozialen Schichten gewählt und unterstützt wurde, die vom Kapitalismus nichts Gutes zu erwarten hatten.
Hier setzten verschiedene sozialdemokratische Autoren an und behaupteten, dass das Wesen des Faschismus durch seine kleinbürgerliche
soziale Basis geprägt werde. Empirische Belege für diese These fehlen
jedoch, haben sich die bisherigen bekannten faschistischen Bewegungen
doch nachweislich aus Angehörigen aller sozialen Schichten rekrutiert,
weshalb sie mehr den Charakter von Volks- denn von Mittelstandsparteien hatten. Außerdem war es nicht die soziale Herkunft allein, die viele
Menschen bewogen hat, zu Faschisten zu werden.
Waren es ganz überwiegend psychologische Motive, und wenn ja, welche? Innerhalb der sozialpsychologischen Faschismustheorien gibt es
8
Einleitung
dafür verschiedene, sich teilweise völlig widersprechende Vermutungen
– sollen es doch sowohl Gefühle der Angst wie der Aggression gewesen
sein, die für den Faschismus anfällig gemacht haben. Wirklich bewiesen
wurde weder das eine noch das andere.
Der entscheidende Einwand, der sowohl gegen die sozialen wie die
sozialpsychologischen Theorien erhoben wurde, ist aber, dass sich die
wie auch immer gearteten sozialen Interessen und psychologischen
Merkmale ihrer Mitglieder kaum auf die Politik der faschistischen Parteien und so gut wie gar nicht auf die der faschistischen Staaten ausgewirkt haben. Denn dabei handelte es sich um Diktaturen, die eine Politik betreiben konnten, die keineswegs immer und vollständig im Interesse ihrer Anhänger und finanziellen Gönner war.
Andererseits ist es auch nicht möglich, die Politik dieser Diktaturen
einzig und allein auf den Willen ihrer Führer zurückzuführen. Die faschistischen Führer vermochten viel, aber eben nicht alles. Die Politik
der faschistischen Staaten hing auch von den politischen und sozioökonomischen Voraussetzungen des jeweiligen Landes ab. Diese waren wiederum sehr unterschiedlich, weshalb der Faschismus an der Macht sowohl als Produkt der Moderne wie als eine Wirtschaft und Gesellschaft
modernisierende Entwicklungsdiktatur definiert wurde.
Insgesamt konnte keine dieser ebenso globalen wie monokausalen
Faschismustheorien hinreichend bewiesen und empirisch abgesichert
werden – weder die über die soziale Funktion noch die über die soziale
Basis des Faschismus und die sozialpsychologischen Motive seiner Anhänger. Überhaupt keine Einigkeit konnte über die Frage der – fortgeschrittenen oder rückständigen – sozioökonomischen Voraussetzungen
und die Frage der – modernen oder reaktionären – Ziele der faschistischen Staaten erzielt werden.
Die bisher entwickelten Faschismustheorien sind daher allenfalls als
Theorien „mittlerer Reichweite“ anzusehen, mit denen nur einzelne
Phasen in der Geschichte des Faschismus beziehungsweise der Faschismen erklärt werden können. Und es sieht nicht so aus, als ob die Suche
nach einer alles umfassenden und erklärenden Theorie des Faschismus
jemals erfolgreich sein wird.
Hinzu kommt der Doppelcharakter des Faschismus als politische
Theorie und als politischer Kampfbegriff, der ziemlich wahl- und unterschiedslos auf alle möglichen politischen Phänomene und Personen
angewandt wurde – und heute immer noch wird. Diese missbräuchliche
„Faschismus wäre Bündlertum“
9
Anwendung wurde durch einige der monokausalen Theorien begünstigt. Das gilt insbesondere für die instrumentalistischen: Denn wenn
Faschismus nur mit dem Hinweis auf seine prokapitalistische und antikommunistische Funktion definiert wurde, dann lag es nahe, auch andere politische Phänomene als „faschistisch“ zu bezeichnen, denen zu
Recht oder zu Unrecht eine prokapitalistische und antikommunistische Haltung und Politik unterstellt wurde. Aus kommunistischer Sicht
traf dies in erster Linie auf die Sozialdemokraten zu, die folglich ebenfalls als „Faschisten“ beziehungsweise „Sozialfaschisten“ bezeichnet
und bekämpft wurden.4
Die ebenso falsche wie politisch gefährliche Sozialfaschismusthese
ist zwar revidiert worden, doch nicht die ihr zugrunde liegende Reduktion des Faschismus auf seine soziale Funktion. An ihr beziehungsweise
an der sogenannten (aber gar nicht von diesem entwickelten) DimitroffDefinition hat man in den kommunistischen Staaten bis zum Schluss
wie an einem Dogma festgehalten oder auf Anordnung der jeweiligen
Partei- und Staatsführungen festhalten müssen. „Faschismus“ war hier
wirklich „nur ein Schlagwort“5, das während des Kalten Krieges wie eine
Waffe gegen die demokratischen Staaten des Westens eingesetzt
wurde.
Umso erstaunlicher und eigentlich unentschuldbar war, dass dies
den Beifall zwar nicht aller, aber einiger „Neuer Linker“ im Westen
fand, welche die westlichen Demokratien, allen voran die USA sowie die
Bundesrepublik, als „faschistisch“ oder, wie das neue und unsinnige
Modewort lautete, als „faschistoid“ attackierten. Einige von ihnen nicht
nur verbal, sondern mit gewaltsamen und terroristischen Methoden.
Verständlich war daher, dass diese missbräuchliche und inflationäre
Verwendung des Faschismusbegriffs auf scharfe Kritik stieß. Diese war
aber häufig ebenfalls politisch motiviert, weil ernsthaft befürchtet
wurde, dass die Anwendung des Faschismusbegriffs generell (und keineswegs nur des marxistischen) zu einer Unterhöhlung des westlichen
demokratischen Systems führe. Dem als antidemokratisch angesehenen
Faschismuskonzept wurde daher das demokratische Totalitarismuskonzept entgegengestellt.6 Überzeugend war und ist dies nicht.
Anders verhält es sich mit einer anderen Kritik an der Verwendung
eines generischen, das heißt nicht allein auf Italien bezogenen Faschismusbegriffs. Gemeint ist der Hinweis auf die fundamentalen Unterschiede zwischen den Faschismen. Sie sind nämlich ohne Zweifel vor-
10
Einleitung
handen. Dennoch gibt es auch unverkennbare Gemeinsamkeiten. Unterschiede wie Gemeinsamkeiten weisen zudem auch andere generische
Phänomene wie Absolutismus, Konservativismus und Liberalismus
auf. Dennoch hat kaum jemand die Legitimität dieser generischen Begriffe und die Existenz von Absolutismus, Konservativismus und Liberalismus infrage gestellt. Warum soll das beim Faschismus anders sein?
Hier wird mit zweierlei Maß gemessen.
An keinem Maß gemessen wird ein weiteres Argument gegen die Verwendung eines allgemeinen und auch den Nationalsozialismus einbeziehenden Faschismusbegriffs. Dies ist der Hinweis auf die absolute
Singularität des Holocaust, worunter nur der Rassenmord an den Juden
und nicht etwa auch der an den Sinti und Roma und anderer Opfer des
nationalsozialistischen „Rassenstaates“ verstanden wird. Damit wird
eine Hierarchisierung der Opfer nicht nur des deutschen, sondern auch
der übrigen Faschismen vorgenommen, die unter wissenschaftlichen
wie moralischen Gesichtspunkten fragwürdig ist. Schließlich haben
auch andere Faschismen rassistisch motivierte Morde verübt und andere Gewalttaten begangen. Man denke nur an den Rassenkrieg des faschistischen Italien in Abessinien, die rassistisch geprägte Ermordung
von Juden, Roma und Serben durch die faschistische Ustascha in Kroatien und die Verbrechen des Franco-Regimes in Spanien. Auch angesichts der deutschen Megaverbrechen dürfen die der anderen faschistischen Staaten nicht relativiert werden. Doch hier wird es schwierig,
weil moralisch und philosophisch. Daher sollte man die geschichtswissenschaftlichen von den geschichtsphilosophischen Argumenten trennen und auf jeden Fall beides nicht für geschichtspolitische Zwecke
ausnutzen.
Anders als bei uns in Deutschland, wo die gesamte von Ernst Nolte
begonnene Faschismusforschung noch vor einigen Jahren vor einem
„Scherbenhaufen“ stand,7 hat man dies im westlichen Ausland auch erkannt und die Diskussion über den Sinn und Nutzen eines generischen
Faschismusbegriffs unbeirrt fortgeführt. Gekennzeichnet ist sie einmal
durch den Abschied von den erwähnten Globaltheorien des Faschismus
und zum anderen durch die Entwicklung eines faschistischen Idealtypus. Diese Versuche basieren, auch wenn dies nicht immer zugegeben
wird, auf der „historisch-phänomenologischen“ Faschismusdefinition
Ernst Noltes,8 der in seinen späteren Arbeiten so etwas wie ein „faschistisches Minimum“ entwickelt hat, wozu er neben dem Antimarxismus
„Faschismus wäre Bündlertum“
11
auch den Antiliberalismus, das Führerprinzip und den Totalitätsanspruch des, auf eine Parteiarmee gestützten, Faschismus gezählt hat.9
Daran hat der amerikanische Historiker Stanley Payne angeknüpft
und neben der nationalistischen, antikommunistischen, antiliberalen
und tendenziell auch antikonservativen Ideologie den auf Massenmobilisierung und Führerprinzip basierenden politischen Stil zum
„faschistischen Minimum“ gerechnet.10
Andere Autoren haben sich bei der Bestimmung des „faschistischen
Minimums“ auf die Ideologie des Faschismus beschränkt. Roger Eatwell wies in diesem Zusammenhang auf sowohl rechte wie linke Elemente hin.11 Damit bekräftigte er die von Zeev Sternhell schon früher
betonte allgemeine Ambivalenz des Faschismus, der „weder links noch
rechts“ gewesen sei.12
Roger Griffin schließlich reduzierte die, wiederum idealtypisch verstandene, faschistische Ideologie auf den Nationalismus und definierte
Faschismus kurz und bündig als „palingenetischen (das heißt auf
Wiedergeburt abzielenden) Ultranationalismus“.13 Diese Zauberformel
bezeichnete Griffin selber als „new consensus“,14 womit er viel Aufmerksamkeit erhielt, aber auch beträchtliche Kritik hervorrief.15
Einen etwas anderen Weg hat Robert O. Paxton beschritten.16 Er definiert Faschismus praxeologisch17 als Form eines spezifischen „politischen Verhaltens“, das durch Ideologie (in deren Zentrum wiederum
der Nationalismus steht) geprägt gewesen sei, und das in insgesamt
fünf idealtypischen Stadien unterschiedliche Formen angenommen
habe. Das Stadium der Machtergreifung hätten nur solche faschistischen Bewegungen erreicht, denen es gelungen sei, mit den „traditionellen Eliten“ ein Bündnis abzuschließen.
Im Anschluss an einige zeitgenössische Theoretiker und spätere Forscher wie Wolfgang Schieder habe ich dagegen vorgeschlagen, anstatt
einen faschistischen Idealtypus zu konstruieren, von einem Realtypus
auszugehen, der vom italienischen Faschismus geprägt und repräsentiert wird.18 Aufgrund dieser realtypischen Definition könnten solche
Bewegungen und Regime als faschistisch bezeichnet werden, die wesentliche Gemeinsamkeiten mit dem namen- und stilbildenden italienischen Faschismus aufweisen. Dies gilt für das Erscheinungsbild der
faschistischen Parteien und ihren politischen Stil sowie ihre Ideologie
und die Form der Machtergreifung und Machtfestigung. Dies führte zu
folgender Definition:
12
Einleitung
Faschistische Parteien waren hierarchisch nach dem Führerprinzip
gegliedert, verfügten über uniformierte und bewaffnete Abteilungen
und wandten einen damals neuartigen und spezifischen politischen Stil
an, wobei man auf Massenaufmärschen und -kundgebungen den jugendlichen und zugleich männlichen Charakter betonte und ihn mit
pseudoreligiösen und gewaltbetonten Riten und Ritualen feierte. Im
Mittelpunkt stand jedoch das Bekenntnis zur und die Ausübung von
schrankenloser Gewalt gegen verschiedene und durchaus austauschbare „Feinde“. In der Regel waren dies Kommunisten und Sozialisten
sowie Juden und andere rassistisch stigmatisierte Minderheiten.
Diese Gewaltausübung wurde mit dem Hinweis auf eine Ideologie
begründet, die mehr war als bloß verschleiernde Propaganda, sondern
einen programmatischen Charakter hatte. Die faschistische Ideologie
setzte sich aus einem rassistischen Kern zusammen, um den sich weitere
antisemitische, antimarxistische, antidemokratische, antifeministische
und vor allem nationalistische Elemente gruppierten.
Zur Macht gelangten diese Parteien in der Situation eines politischen
und sozialen Gleichgewichts durch einen Putsch oder ein Bündnis mit
den konservativen Kräften, in dem sich die Faschisten aber gegenüber
ihren konservativen Partnern durchsetzen und, gestützt auf ihre Parteiarmee und im Besitz der Exekutive, einen weitgehend totalen Staat errichten konnten.
Das Problem an dieser vorgeblich realtypischen Definition des Faschismus ist einmal, dass sie von den erwähnten idealtypischen kaum
zu trennen ist.19 Andererseits ist sie wieder sehr eng am italienischen
Faschismus orientiert, weshalb sie einige andere Varianten des Faschismus nicht erfassen kann.20 Das gilt einmal für faschistische Regime, die
nicht von unten durch die Machtergreifung einer faschistischen Partei,
sondern von oben gebildet worden sind. In der Forschung hat man in
diesem Zusammenhang von „Faschismus von oben“ gesprochen. Ebenfalls nicht erfasst werden Bewegungen und Regime, die keinen religionsfeindlichen, sondern einen fundamentalistisch religiösen Charakter
hatten, weshalb sie verschiedentlich auch als „klerikalfaschistisch“ eingeschätzt worden sind.
Ein weiteres Manko der realtypischen Faschismusdefinition ist, dass
sie nur unter großen Schwierigkeiten auf solche faschistischen Bewegungen und Regime angewandt werden kann, die in einem anderen
Raum- und Zeitkontext entstanden sind als der italienische Faschismus
„Faschismus wäre Bündlertum“
13
zwischen 1922 und 1945. Gemeint sind die „präfaschistischen“ und die
„neofaschistischen“ Bewegungen und Regime innerhalb und außerhalb
Europas. Wenn es sich beim Faschismus um ein generisches Phänomen
gehandelt hat, woran meines Erachtens nicht mehr gezweifelt werden
kann, dann ist eine Eingrenzung auf eine Epoche und einen Kontinent
weder möglich noch notwendig. Ähnlich wie Konservativismus, Liberalismus und Sozialismus ist Faschismus ein epochenübergreifendes und
zugleich globales Phänomen.
„Faschismus global“ soll mit der folgenden „Dreiecksdefinition“ bestimmt werden:
Faschismus
Bonapartismus
Fundamentalismus
Faschistisch im engeren beziehungsweise klassischen Sinne sind Parteien, die sich durch ihr Erscheinungsbild (uniformierte und bewaffnete und nach dem Führerprinzip aufgebaute Partei), ihren politischen
Stil (Terror und Propaganda) und ihre Ideologie (Nationalismus, Rassismus, Antidemokratismus, Antikommunismus, Antisemitismus,
Führerkult) von anderen rechten und linken Parteien sowohl unterscheiden wie ihnen gleichen, das heißt „weder rechts noch links“ sind.
Bonapartistisch sind Regime, die in der Situation eines politischen,
von rechten und linken Parteien gebildeten, oder eines Klassengleichgewichts entstanden sind und sich auf Polizei und Armee, aber nicht oder
kaum auf eine Partei stützten.21 Derartige Regime können sich zu bonapartistisch-faschistischen entwickeln, wenn sie sich mit faschistischen Parteien verbünden oder selber Einheits- beziehungsweise Staatsparteien aufbauen, welche die Funktionen der „klassischen“ faschistischen Parteien übernehmen, das heißt die Bevölkerung sowohl
kontrollieren wie mobilisieren. Diese Variante des Faschismus ist auch
als „Faschismus von oben“ bezeichnet worden.
Fundamentalistisch ist eine nach der amerikanischen protestantischen Schriftenreihe The Fundamentals. A Testimony of Truth, Chicago
1910–1915, benannte Ideologie, wonach die Religion die Politik prägen
soll und zur politisierten Religion beziehungsweise „politischen Religion“ wird. Fundamentalistische Ideologien haben sowohl Parteien wie
(diktatorische) Regime beeinflusst und sie zu fundamentalistisch-faschistischen gemacht, wenn sie eine Verbindung mit anderen spezifisch
14
Einleitung
faschistischen Ideologemen eingegangen sind, vor allem mit Antisemitismus und Antikommunismus, Nationalismus und Rassismus. Dabei
werden diese faschistischen Ideologeme religiös begründet und religiöse
Glaubenssätze zur Rechtfertigung faschistischer Politikbereiche benutzt. Betroffen sind vor allem die jeweiligen Gegner und Feinde, die im
wörtlichen religiösen und übertragenen politischen Sinne dämonisiert
werden, um gegen sie einen „Heiligen Krieg“ führen zu können.22
Katholisch fundamentalistische Bewegungen und Regime sind bisher auch als „klerikalfaschistisch“ bezeichnet worden. Für islamischfundamentalistische scheint sich dagegen der Begriff „Islamofaschismus“ einzubürgern. Beide Begriffe sind problematisch, weil sie ganze
Religionsgemeinschaften und keineswegs nur ihre fundamentalistischen Ausprägungen in die Nähe des Faschismus rücken.
Faschismus im generischen, nicht allein in Italien anzutreffenden
Sinne ist folglich die Bezeichnung für ein globales, das heißt weltweites
Phänomen, das über eine klassische, bonapartistische und fundamentalistische Variante verfügt und sowohl im 19. wie im 20. Jahrhundert
anzutreffen war – und bis heute anzutreffen ist.
Seine Geschichte wird in den folgenden insgesamt 16 Kapiteln behandelt. Dabei beschränke ich mich nicht auf Italien, Deutschland und
einige andere westeuropäische Länder, sondern beziehe auch das in vieler Hinsicht andersartige Osteuropa mit ein. Danach wird untersucht,
ob es auch in anderen Teilen der Welt Faschismus gegeben hat und
immer noch gibt: in Nord- und Südamerika, Afrika und Asien.23
In fast jedem der insgesamt 16 Kapitel ist ein biographischer Zugriff gewählt, weil alle drei Varianten des Faschismus ohne „Führer“
nicht denkbar sind. Die Geschichte der einzelnen Bewegungen und
Regime ist zwar nicht mit der Biographie der jeweiligen Führer identisch, aber ohne sie auch nicht zu begreifen. Daher muss beides berücksichtigt werden.
Doch zunächst und vor allem wird die jeweilige Geschichte erzählt –
in bewusst knapper Form und in einer allgemein verständlichen Sprache.24 Wendet sich das vorliegende Buch doch keineswegs nur an die
Spezialisten, sondern an alle, die sich für die Geschichte des Faschismus
interessieren, die sich nicht nur bei uns in Europa ereignet hat und mit
dem Untergang des europäischen Faschismus auch keineswegs zu Ende
gegangen ist. Faschismus global ist nicht Vergangenheit, er stellt eine
gegenwärtige und weltweite Gefahr dar.
WESTEUROPA
„Weder rechts noch links“ –
Bonapartismus und Faschismus in Frankreich
„Weder rechts noch links“ soll der (klassische) Faschismus nach der
Meinung des israelischen Historikers Zeev Sternhell gewesen sein.1
Wenn dies zutrifft, dann liegen seine Ursprünge nicht in Italien, sondern in Frankreich. Dies ist keine neue These, und Sternhell ist keineswegs der Einzige, der sie vertritt. Schon Ernst Nolte hat die „Action
française“ von Charles Maurras zu den drei Hauptvarianten beziehungsweise, wie es in der englischen Übersetzung hieß, faces (Gesichter)
des Faschismus gezählt, mit der er sein Standardwerk über die Epoche des
Faschismus begonnen hat.2 Noltes These wird inzwischen auch von einigen anderen Historikern geteilt. Neben dem schon genannten Sternhell
trifft dies auch auf Michel Winock, Jean François Sirinelli, Pierre Milza
und andere zu.3
Ich meine dagegen, dass man noch weiter zurückgreifen und mit dem
Mann beginnen sollte, der das erste Regime geschaffen hat, das „weder
rechts noch links“ war und zum Vorbild und Ausgangspunkt des späteren Faschismus wurde – mit dem Bonapartismus Louis Bonapartes. 4
Bonaparte und der Bonapartismus
Louis Bonaparte wurde am 20. April 1808 geboren, sein Vater war der
König von Holland und Bruder Napoleons I. Dieser hieß ebenfalls
Louis mit Vornamen und war mit der Stieftochter Napoleons, Hortense de Beauharnais, verheiratet. Nach dem Untergang des ersten
französischen Kaiserreichs ging Hortense mit ihren Kindern ins Exil
nach Deutschland. Hier, genauer gesagt am Bodensee, wuchs Louis
Bonaparte auf, bevor er sich in der Schweiz zum Artillerieoffizier ausbilden ließ. Vorbild war natürlich sein großer Onkel, der seine militärische Karriere auch als Offizier der Artillerie begonnen hatte. Sonst
hatten beide Bonapartes wenig gemeinsam. Dies änderte sich, als Napoleons einziger Sohn, den er mit der österreichischen Kaisertochter
Marie Louise hatte, starb. In der bonapartistischen Thronfolge, die
„Weder rechts noch links“
17
freilich ohne praktische Bedeutung war, rückte Louis Bonaparte damit
auf, weshalb er von den Bonapartisten als Napoleon III. tituliert
wurde. Natürlich war dies nicht mehr als Schall und Rauch, aber es
spornte Louis Bonaparte an, es seinem großen Onkel gleichzutun und
den Anspruch auf den Thron zu erheben. Doch zunächst waren alle
Anstrengungen vergeblich.
1836 scheiterte sein Versuch, ein Straßburger Regiment zum Putsch
gegen den „Bürgerkönig“ Louis Philippe zu überreden, kläglich. Louis
Bonaparte wurde aus Frankreich ausgewiesen und ging zunächst in die
Vereinigten Staaten, dann nach England. Von hier aus startete er 1840
einen erneuen Putschversuch. Mit nur 60 Gefolgsleuten fuhr er nach
Boulogne, um die dortige Garnison zum Marsch auf Paris zu bewegen.
Alles endete mit einem Desaster und der Verurteilung Louis Bonapartes
zu lebenslanger Festungshaft. Diese verbrachte er sehr kommod mit
dem Studium der Lehren der Frühsozialisten, was ihn veranlasste, selber eine Broschüre über nichts Geringeres als die „Ausrottung der
Volksarmut“ zu schreiben. Ein löbliches Unterfangen, zu dem Louis Bonaparte aber alle Voraussetzungen fehlten. Zunächst die seiner Freiheit.
Sie erlangte er 1846 wieder – durch den Ausbruch aus dem Gefängnis
und seine Flucht nach England. Zwei Jahre später konnte er auch nach
Frankreich zurückkehren.
Hier war nämlich im Februar 1848 die Revolution ausgebrochen.
Nach dem Willen vieler Revolutionäre sollte aus der politischen Umwälzung eine soziale werden, sie schlug aber stattdessen den Rückwärtsgang ein. Die Linken konnten von dem von ihnen eingeführten allgemeinen (Männer-)Wahlrecht nicht profitieren, erzielten sie doch bei
den im April 1848 durchgeführten Wahlen zur Nationalversammlung
nur 200 von insgesamt 900 Sitzen. Sieger waren die von Ledru-Rollin
angeführten liberalen Republikaner mit 350 Sitzen, die sich weigerten,
die Sozialisten unter der Führung Auguste Blanquis in die fünfköpfige
Exekutivkommission aufzunehmen. Blanqui und seine Genossen protestierten dagegen ergebnislos. Deren Niederlage nahm die neue Regierung zum Anlass, um im Juni 1848 die Nationalwerkstätten wieder zu
schließen, die gerade von den Linken mit dem Ziel eingerichtet worden
waren, die Arbeitslosigkeit durch staatliche Arbeitsbeschaffung zu bekämpfen.
Der daraufhin von Blanqui angezettelte Aufstand wurde von dem
neuen Kriegsminister (und faktischen Diktator) Eugène Cavaignac nie-
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