Lippen-Kiefer- Gaumenspalten

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M E D I Z I N
ZUR FORTBILDUNG
Norbert
Schwenzer1
Ralf Arold2
Lippen-KieferGaumenspalten
ZUSAMMENFASSUNG
Schlüsselwörter: Lippen-Kiefer-Gaumenspalten,
Kieferorthopädie, Phoniatrie, Logopädie
Bei der Behandlung von Lippen-Kiefer-Gaumenspalten
sind in Abhängigkeit vom Schweregrad der Spaltbildung,
insbesondere bei Totalspalten, mehrere Fachgebiete beteiligt. Heute wird die Herstellung einer normalen Atmungs-,
Sprech- und Kaufunktion bis zum Schuleintritt angestrebt.
Hierzu ist eine kieferorthopädische, eine operative, eine
phoniatrisch-pädaudiologische und
logopädische Therapie erforderlich.
Bei Totalspalten wird im Hinblick auf die Herstellung einer
ungestörten Tubenfunktion der Verschluß des Gaumensegels bereits ab dem dritten Lebensmonat vorgenommen.
Regelmäßige gemeinsame Sprechstunden, in denen das
Procedere abgestimmt wird, haben sich als äußerst effektiv
erwiesen.
Key words: Gnathopalatoschisis, orthodentics,
phoniatrics, logopedics
The treatment of cleft lip and palate calls for multidisciplinary management. A number of specialities may be involved
depending on severity. Modern management is aimed at
establishing normal breathing, speech, and
chewing by school age. This requires orthodentic, audiological, and speech therapy input. By complete
clefts, the soft palate is closed at the age of three months in
order to restore a normal tube function.
M
ißbildungen des Gesichtes
reichen von der totalen
Dysontogenese über Teilaplasien und Defekte bis zu peripheren Störungen, zu denen auch Lippen-Kiefer-Gaumenspalten gehören.
Statistiken vieler Länder zeigen
übereinstimmend, daß bei 500 Geburten mit einer Spaltbildung zu
rechnen ist, wobei es sich vorwiegend
um Lippen-Kiefer-Gaumenspalten,
seltener um atypische Spaltformen
im Bereich der Wange, der Nase und
des Unterkiefers handelt. Zu den
Entwicklungsstörungen, die unter
dem Begriff der Lippen-Kiefer-Gaumenspalten zusammengefaßt werden, gehören nach der internationalen Klassifikation (Rom 1967) drei
Gruppen (16):
« Spalten des vorderen embryonalen Gaumens: die Lippen- und Lippen-Kieferspalten rechts und/oder
links
¬ Spalten des vorderen und hinteren embryonalen Gaumens: die
Lippen-Kiefer-Gaumenspalten rechts
und/oder links (Abbildungen 1 bis 3)
­ Spalten des hinteren embryonalen Gaumens: die isolierten Gaumenspalten, harter Gaumen rechts
und/oder links, weicher Gaumen
(Mitte).
Sämtliche Gewebsabschnitte der
Oberlippe, des Kiefers und des Gaumens können von der Andeutung einer Spalte über partielle Spalten bis
zur breiten Totalspalte getrennt sein.
Im Bereich der Lippe, des Alveolarfortsatzes und des Gaumens treten
Spalten sowohl einseitig als auch doppelseitig auf.
Spaltentstehung
und Ursachen
Nach den gegenwärtigen Auffassungen werden die Spaltbildungen in
den für die Kopfregion verantwortlichen übergeordneten Organisationszentren, dem Vorderkopf- und Hinterkopforganisator, ausgelöst. Die embryonale Gesichtsentwicklung vollzieht sich bereits in den ersten Lebenswochen und ist spätestens mit der achten Woche abgeschlossen. Bei den
Lippen- und Lippen-Kieferspalten
handelt es sich um Störungen in der
Bildung der primitiven Nase zwischen
dem 36. und 42. Tag des Embryonallebens, also zwischen der fünften und
sechsten Woche. Dabei unterbleibt
die Verwachsung der Nasenwülste
(primäre LK-Spalte) oder die noch
nicht substituierte Epithelmauer reißt
1
Klinik und Poliklinik für Mund-, Kiefer- und
Gesichtschirurgie (Ehem. Direktor: Prof. Dr.
med. Dr. med. dent. Norbert Schwenzer),
Eberhard-Karls-Universität Tübingen
2 Abteilung für Phoniatrie und Pädaudiologie
(Direktor: Prof. Dr. med. Ralf Arold), HNOKlinik der Eberhard-Karls-Universität Tübingen
A-2262 (46) Deutsches Ärzteblatt 95, Heft 37, 11. September 1998
SUMMARY
ein (sekundäre Spaltbildung [14]). Die
Gaumenspalten, die als Hemmungsmißbildungen zu betrachten sind, entstehen in der achten Embryonalwoche, wobei sich die seitlichen Gaumenfortsätze nicht vereinigen. Der Pathogenese liegt ein multifaktorielles Geschehen mit additiver Polygenie und
Exogenie zugrunde. Als exogene Noxen werden Sauerstoffmangel, Vitaminmangel, Mangelernährung, Nikotin, Kortikosteroide, Überdosen von
Vitamin A und E sowie ionisierende
Strahlung angenommen. Die erbliche
Komponente liegt zwischen 15 und 30
Prozent.
Spaltprognosen
Gesunde Eltern mit einem Spaltkind müssen in vier Prozent der Fälle
mit der Geburt eines zweiten Spaltkindes (Lippen-Kiefer-Gaumenspalte)
rechnen. Das Auftreten einer isolierten
Gaumenspalte ist in zwei Prozent der
Fälle zu erwarten. Falls ein Elternteil
Spaltträger ist und ein gesundes Kind
vorhanden ist, wird beim nächsten
Kind in etwa zwei Prozent eine LippenKiefer-Spaltform zu erwarten sein,
während eine isolierte Gaumenspalte
eine Wahrscheinlichkeit von sieben
Prozent hat. Hat ein Kind, dessen Vater
oder Mutter Spaltträger ist, bereits eine
Spalte, ist die Wahrscheinlichkeit,
daß eine Lippen-Kiefer-Gaumenspalte
beim nächsten Kind auftritt, zehn Pro-
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zent. Für das Auftreten einer isolierten
Gaumenspalte liegt die Wahrscheinlichkeit sogar bei 15 Prozent.
Diverse Spaltformen
Am häufigsten treten Lippen-Kiefer-Gaumenspalten auf (40 bis 65 Prozent), wobei die linke Seite zweimal so
häufig befallen ist wie die rechte. Lippen- und Lippen-Kieferspalten werden
mit 20 bis 25 Prozent, isolierte Gaumenspalten mit 30 Prozent der Fälle
angegeben. Das Verhältnis männlich zu
weiblich ist 3 : 2, wie sich auch aus dem
Krankengut des Tübinger Spaltzentrums ergab (6). Neben den vorgenannten Lippen-Kiefer-Gaumenspalten gibt
es noch sogenannte seltene Gesichtsspalten, die zwischen ein- bis fünfmal
pro 100 000 Geburten auftreten. Wir
unterscheiden mediane, schräge und
quere Gesichtsspalten (oro-auricular)
sowie Spalten der Unterlippe, des Unterkiefers und der Zunge, deren erste
zusammenfassende Darstellung auf
Schwalbe (1909) zurückgeht (23).
Sämtliche Spaltbildungen können auch
mit anderen Mißbildungen kombiniert
sein (25). Inzwischen sind 400 mit Lippen-Kiefer-Gaumenspalten assoziierte
Syndrome bekannt (28).
ter HNO-Facharzt an, ein Anästhesist
mit besonderen Erfahrungen auf dem
Gebiet der Säuglingsanästhesie, sowie
ein Kieferorthopäde als Zahnarzt mit
einer speziellen Ausbildung zur Behandlung von Zahn- und Kieferanomalien. Er behandelt die spaltbedingten
Entwicklungsstörungen des Gebisses
und beginnt je nach Form der Spaltbildung bereits nach der Geburt mit einer
präoperativen Vorbehandlung. Er begleitet in der Regel das Spaltkind, bis
die bleibende Gebißentwicklung abgeschlossen ist.
Der Hals-Nasen-Ohren-Arzt (Phoniater-Pädaudiologe) behandelt die bei
Spaltbildungen des Gaumens häufig
auftretenden Erkrankungen des Mittelohrs und der oberen Luftwege. Er
trifft die Entscheidung, ob und wann
Paukenröhrchen zur Vermeidung eines
Mittelohrergusses eingelegt werden
müssen. Inbesondere führt er bis zum
wiesen, eine regelmäßige Überwachung der Spaltpatienten in einer speziellen Sprechstunde vorzunehmen, an
der Vertreter der vorgenannten Fachgebiete beteiligt sind.
Historischer Rückblick
Seit es Spaltbildungen gibt, finden
sich Berichte über operative Behandlungsmethoden, wobei vor allem
zunächst das äußere sichtbare Zeichen
einer Spaltbildung, die Lippe, verschlossen wurde. Lorber wies nach, daß
nach dem 14. Jahrhundert zahlreiche
bekannte Chirurgen sich mit Lippenspaltchirurgie befaßten (11). Im 19.
Jahrhundert entstanden Operationsmethoden, die mit den Namen Graefe
(1820), von Langenbeck (1862) und
Hagedorn (1892) verbunden sind und
deren Prinzipien teilweise auch heute
Interdisziplinäre Therapie
Die Therapie besteht nicht nur in
dem operativen Verschluß der Spalte,
sondern es muß auch gewährleistet
sein, daß die operierten Kiefer- und
Gesichtsbereiche eine normale Entwicklung nehmen und das Gaumensegel eine normale Sprechfunktion ermöglicht. Diese wiederum ist abhängig
von einem guten Gehör. In der Tübinger Universitätsklinik besteht seit 1984
ein interdisziplinäres Zentrum für Lippen-Kiefer-Gaumenspalten und kraniofaziale Anomalien (Spaltzentrum),
dem folgende Disziplinen angehören:
ein Facharzt für Mund-Kiefer-Gesichtschirurgie, der auch die zahnärztliche Approbation besitzt und mit der
Gebiß- und Kieferentwicklung vertraut
ist, so daß er den operativen Verschluß
der Spalte so vornehmen kann, daß das
Wachstum des Gesichtsskelettes so wenig wie möglich beeinträchtigt wird.
Außerdem gehören dem Spaltzentrum
ein mit der Spaltproblematik vertrau-
a
b
Abbildung 1: a) Rechtsseitige Lippen-Kiefer-Gaumenspalte; b) Patient 19 Jahre später
Erwachsenenalter Vorsorgeuntersuchungen zur Früherkennung eines
Cholesteatoms durch. Er stellt die Indikation zu einer Sprachheilbehandlung,
die der Logopäde vornimmt.
Der Zahnarzt betreibt Kariesprophylaxe, behandelt kariös geschädigte Zähne und führt nach abgeschlossener Gebißentwicklung die prothetische Versorgung durch. Weitere mitbehandelnde Disziplinen sind die Kinderheilkunde, insbesondere die Neonatologie, sowie die Neurochirurgie bei
Spaltbildungen, die mit Mißbildungen
des Schädels und der Schädelbasis einhergehen. Es hat sich als unerläßlich er-
noch zur Anwendung kommen (4, 5,
10). So hat Hagedorn (1892) eine ZPlastik zum Verschluß der Lippe angegeben. Langenbeck publizierte im Archiv für klinische Chirurgie eine Methode zum Verschluß der Gaumenspalte, die im Prinzip auch heute noch in
Form der Brückenlappenplastik benutzt wird. In diesem Jahrhundert haben vor allem Ernst (1925), Rosenthal
(1924), Veau (1936), Axhausen (1936),
Wassmund (1939), Schrudde und Stellmach (1958) sowie Schuchardt (1960)
mit seinen Schülern die Spalttherapie
maßgeblich beeinflußt (1, 3, 21, 22, 30,
31). Während die Lippe schon recht
Deutsches Ärzteblatt 95, Heft 37, 11. September 1998 (47) A-2263
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früh im Alter von drei bis vier Monaten abnehmbaren Plattenapparat, der nach
verschlossen wurde, hat man im Hin- Abdrucknahme individuell hergestellt
blick auf ein ungestörtes Oberkiefer- wurde (7, 18). Hierdurch gelang es, die
wachstum den Verschluß des harten Kiefersegmente so zu positionieren,
und weichen Gaumens relativ spät, das daß bereits im Milchgebiß eine normaheißt nach Durchbruch des Milchgebis- le Okklusion entsteht. Allerdings
ses, vorgenommen, wobei die Reihen- konnten auch vor der Einführung der
folge, zunächst harter, dann weicher präoperativen kieferorthopädischen
Gaumen, in der Regel eingehalten wurde. Das umgekehrte
Vorgehen, zunächst Verschluß
des Weichgaumens, empfahl
H. Schweckendiek (1955) unter bewußter Belassung einer
Restöffnung im harten Gaumen, ein Vorgehen, das wir
heute wieder aufgegriffen haben (24). Eine richtungweisena
de Beeinflussung der Spaltchirurgie erfolgte zweifellos
durch die sogenannte Osteoplastik mit Rippenknochen.
Sie sollte einen Kollaps der
Kieferstümpfe verhindern und
bei doppelseitigen Spalten den
mobilen Zwischenkiefer fixieren. Weiterhin glaubte man,
daß die kieferorthopädische
b
Einordnung durchbrechender
Zähne erleichtert würde (13,
20, 21). Es kam jedoch zu
Oberkieferwachstumsstörungen und auch nicht zum Einwachsen von Zähnen in das
Transplantat. Aufgrund dieser
Ergebnisse wurde auch in der
Tübinger Klinik die sogenannte primäre Osteoplastik verlassen. An ihre Stelle trat
c
seit 1985 die sogenannte
sekundäre Osteoplastik mit Abbildung 2: a) Intraoraler Befund des in Abbildung 1 gezeigten
Beckenknochenspongiosa, die Patienten mit breiter Hart- und Weichgaumenspalte; b) Intraorasich in der Regel vor Durch- ler Befund nach Gaumenverschluß und kieferorthopädischer Bebruch des bleibenden Eckzah- handlung; c) Regelrechte Okklusion.
nes als zweckmäßig erwies.
Die kieferorthopädische Einstellung Behandlung, wenn auch mit größerem
spaltnaher Zähne wurde dadurch in kieferorthopädischem Aufwand, zuvielen Fällen erst möglich (2, 26). Eine friedenstellende Ergebnisse erzielt
grundlegende Verbesserung des Thera- werden (Abbildungen 1 bis 3).
piekonzepts ergab sich jedoch aus der
präoperativen kieferorthopädischen
Behandlung, das heißt, einer sofort
Heutiges Therapiekonzept
nach der Geburt einsetzenden SteueMan unterscheidet grundsätzlich
rung des Kieferwachstums mit dem
Ziel, die Kieferstümpfe so einzustellen, eine Primärbehandlung und eine Sedaß sie vor allem beim Verschluß der kundärbehandlung. Das Ziel der
Lippe in regelrechter Position standen. Primärbehandlung ist die Herstellung
Diese von Hotz (1960) sowie Rosen- einer normalen Form sowie einer norstein und Jacobson (1967) inaugurierte malen Atmungs-, Sprech- und KauBehandlungstechnik erfolgt mit einem funktion bis zum Schuleintritt. Zur ErA-2264 (48) Deutsches Ärzteblatt 95, Heft 37, 11. September 1998
reichung dieses Zieles ist eine kieferorthopädische, eine chirurgische, eine
phoniatrisch-pädaudiologische und eine logopädische Therapie erforderlich.
Es sei besonders hervorgehoben, daß je
nach Art und Schweregrad der Spaltbildung die vorgenannten Fachgebiete
vielfach den Patienten bis zum Abschluß der Kiefer- und Gesichtsentwicklung überwachen und therapeutisch begleiten.
Die chirurgische Primärbehandlung beinhaltet die funktionsgerechte
Vereinigung der gespaltenen Weichteile einschließlich der Auffüllung der
Kieferspalte mit Knochen. Bei isolierten Lippen- und Lippen-Kieferspalten
erfolgt der Verschluß der Lippe, bei
Lippen-Kieferspalten auch des Nasenbodens, im Alter von zirka drei Monaten, wobei das Kind mindestens 5 Kilogramm wiegen sollte. Der Lippenverschluß kann nach der Technik von Tennisson (1958) beziehungsweise Randall
(1959) erfolgen (17, 29). Als weitere
Methoden kommen das Wellenschnittverfahren (Pfeifer 1970) sowie der Lippenverschluß nach Millard (1964) zur
Anwendung, Techniken, die in jedem
Fall die Vereinigung der Lippenmuskulatur beinhalten (12, 15).
Bei isolierten Spaltbildungen des
weichen Gaumens ist je nach Entwicklungsstand des Kindes ein Verschluß zwischen dem dritten und
sechsten Lebensmonat, spätestens jedoch innerhalb des ersten Lebensjahres sinnvoll. Hier kommt sowohl die
Stiellappen- als auch die Brückenlappenplastik in Betracht. Das Wesentliche ist die regelrechte Vereinigung
der Velummuskulatur. Hier ist auch
die sogenannte intravelare Muskelplastik von Kriens (1969) hervorzuheben (8). Bei durchgehenden Spalten und Spalten des harten und weichen Gaumens wird die kieferorthopädische Behandlung unmittelbar
nach der Geburt durch Eingliedern
einer Gaumenplatte eingeleitet. Sie
trennt Mund- und Nasenhöhle, begrenzt dadurch den Mundraum auf
seine normale Größe und erleichtert
das Trinken. Zungenlage und Zungenfunktion werden weitgehend normalisiert, was sich auch günstig auf
die Sprachentwicklung auswirkt.
Gleichzeitig wird mit der Gaumenplatte die Dislokation der Kiefersegmente beeinflußt. Dies schafft eine
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günstige Voraussetzung für die Primäroperation, das heißt, den Verschluß der Lippe und der Kieferspalte.
Bei durchgehenden Spalten werden nach kieferorthopädischer Vorbehandlung heute bereits mit drei bis vier
Monaten die Lippe und der weiche
Gaumen (Gaumensegel) verschlossen,
wobei eine sogenannte Lippenadhäsion zunächst die Annäherung der Kieferstümpfe und auch die richtige Einstellung der spaltseitigen Nasenflügelbasis ermöglicht. In einer zweiten Operation erfolgt dann zirka sechs bis acht
Wochen später der endgültige Lippenverschluß. Nachdem auf diese Weise
Gaumensegel und Lippe sowie vorderer Anteil des Nasenbodens verschlossen sind, bleibt im Hartgaumen eine
Spalte zurück, die sich meist verschmälert und günstigenfalls etwa mit
18 Monaten geschlossen wird.
Die größten Probleme ergeben
sich bei doppelseitigen Lippen-KieferGaumenspalten mit vorstehendem
Zwischenkiefer. Hier ist eine kieferorthopädische Vorbehandlung unerläßlich. In besonderen Fällen kann auch
eine forcierte kieferorthopädische Segmenteinstellung mit Hilfe einer Latham-Apparatur (1980) in Betracht gezogen werden (9). Das chirurgische
Vorgehen ist das gleiche wie bei einseitigen Spalten, wobei jedoch der Verschluß der Lippe auf beiden Seiten heute in einem Operationsakt erfolgt. Die
letzte chirurgische Maßnahme im Rahmen der Primärbehandlung ist die sogenannte Osteoplastik, das heißt, die
Auffüllung der Kieferspalte mit Spongiosa aus dem Beckenkamm, um dem
durchtretenden spaltnahen seitlichen
Schneide- und Eckzahn das Einwachsen zu ermöglichen. Die in der Milchgebißphase begonnene kieferorthopädische Behandlung wird vielfach auch im
Wechselgebiß fortgesetzt und endet
erst nach Herstellung einer normalen
Verzahnung im bleibenden Gebiß.
Die Sekundärbehandlung beinhaltet Korrekturoperationen nach erfolgtem Spaltverschluß, wie Lippenverlängerungen, zum Beispiel durch ZPlastiken oder Narbenexzisionen. Weiterhin ist der Verschluß von Restöffnungen im Bereich des Gaumens zu
nennen. Bei einer Rhinophonie bietet
sich neben Reoperationen vor allem
die Velopharyngoplastik an. Ihr Prinzip
besteht darin, daß ein kranial gestielter
Schleimhaut-Muskellappen von der
Rachenhinterwand in den weichen
Gaumen eingenäht wird. Bei sachgemäßer primärer Operationstechnik
können heute Restperforationen und
Segelverkürzungen weitgehend vermieden werden. Daher ist in unserem
Krankengut nur bei etwa 2 von 100 Velumspalten eine Velopharyngoplastik
reich des vorderen Nasenbodens ist eine Osteoplastik angezeigt. Sie wird als
tertiäre Osteoplastik (Osteoplastik im
bleibenden Gebiß) bezeichnet und
dient der Herstellung eines geschlossenen Alveolarfortsatzes, in den beim Jugendlichen unter Umständen noch
spaltrandnahe Zähne, meist unter Verwendung festsitzender Apparaturen,
kieferorthopädisch eingestellt werden
können. Jedoch besteht auch die Möglichkeit, fehlende Zähne durch dentale
Implantate, die in das Knochentransplantat eingebracht werden, zu ersetzen (27).
Hörstörungen, Sprechund Sprachentwicklung
Die Schwerpunkte der Therapie
betreffen Hörstörungen sowie Störungen des Sprechens und der Sprachentwicklung. Hierzu müssen folgende Voraussetzungen erfüllt sein:
« Die erforderlichen Maßnahmen zur Beseitigung von Hör-, Sprechund Sprachstörungen müssen rechtzeitig erfolgen, das heißt, mit Beginn der
sensitiven Phasen der Hör- und Sprachentwicklung ab dem 5. beziehungsweise 12. Lebensmonat.
¬ Früherfassung und Therapie
einschließlich Nachsorge erfordern eine enge Kooperation der beteiligten
Fachdisziplinen des Spaltzentrums.
a
Therapie von Hörstörungen
b
Abbildung 3: a) Doppelseitige Lippen-Kiefer-Gaumenspalte; b) Patient im Alter von 17 Jahren
erforderlich. Besonders funktionell
und ästhetisch bedeutsam ist die Korrektur der Nase. Wir unterscheiden
hier die Verlängerung des Nasenstegs
(Columella), die insbesondere bei doppelseitigen Spalten notwendig werden
kann, die Stellungskorrektur des spaltseitigen Nasenflügels sowie die Beseitigung der oft vorhandenen Septumdeviation.
Bei Knochenlücken im Kieferbereich und Restperforationen im Be-
Etwa 95 Prozent aller Kinder, die
innerhalb des ersten Lebensjahres vor
dem operativen Gaumenverschluß
pädaudiologisch untersucht werden,
leiden an chronischer Tubenfunktionsstörung. Die Ursache dürfte in erster
Linie in einer muskulär bedingten
Störung des Tubenöffnungsmechanismus zu suchen sein. Sie ist Wegbereiter
für die Entstehung von Paukenergüssen. Zunächst entwickelt sich auf dem
Boden einer Mittelohrminderbelüftung ein Transudat in die Mittelohrräume mit dem klinischen Bild des Serotympanons. Im weiteren Verlauf und
ohne therapeutische Maßnahmen erfährt das flache Epithel des Mukoperiosts eine Metaplasie in Ziliar- und Becherzellen mit Übergang des Serotympanons in ein Mukotympanon. Je nach
Art und Ausmaß des Paukenergusses
Deutsches Ärzteblatt 95, Heft 37, 11. September 1998 (49) A-2265
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resultiert eine Schalleitungsschwer- Paukenergusses und der Schalleitungshörigkeit, die in der Regel einen mittel- schwerhörigkeit frühzeitig Paukengradigen Schweregrad von 50 dB röhrchen einzusetzen. Anhaltende
nicht überschreitet. Tubenventilations- Paukenergüsse nach Veloplastik könstörungen mit beginnendem Paukener- nen wiederholte Behandlungen bis in
guß können mit einem normalen Hör- das Schulalter hinein erfordern.
vermögen einhergehen. Ein frühzeitiDa die transtympanale Paukenger Velumverschluß kann sich hier si- drainage mit konventionellen Paukencher positiv auf die Herstellung des röhrchen eine symptomatische Maßmuskulären Tubenöffnungsmechanismus auswirken.
Der Anteil von bisher 60
Prozent chronischer Tubenventilationsstörungen
nach
Velumverschluß ist hoch. Vermutlich sind es neben muskulärer Öffnungsinsuffizienz
weitere Faktoren, die für anhaltende Funktionsstörungen
der Tuben bei Kindern mit
operierten
Gaumenspalten
verantwortlich zu machen
sind, wie zum Beispiel kom- Abbildung 5: Kindgerechtes Tubenfunktionstraining durch nasales
pensatorische Hyperplasie der Aufblasen eines Ballons
Rachenmandel, verdickte hintere Muschelenden, Septumpolster, nahme zur Paukenbelüftung darstellt,
spaltbedingte Nasendeformationen, entwickeln sich nach Abstoßung der
chronische Infektionen des Nasenra- Paukenröhrchen häufig Rezidivergüschenraumes einschließlich der Tuben. se, so daß in etwa 50 bis 55 Prozent der
Erst im Schulalter ist mit einer allmäh- Fälle Paukenröhrchen wiederholt einlichen spontanen Besserung der Tu- gesetzt werden müssen. Dies kann
benfunktion bis hin zur Normalisierung durch Einsetzen von Tuben mit langer
im 16. bis 18. Lebensjahr zu rechnen.
Verweildauer vermieden werden (AbDaher bedürfen die Kinder einer bildung 4). Liegt eine stark behinderte
engmaschigen
pädaudiologischen Nasenatmung mit chronisch-rezidivierenden Otitiden vor, so sind je nach individuellem Befund partielle Adenotomie, Nasenmuschelverkleinerungen,
eventuell Tonsillektomie oder plastische Septumkorrekturen indiziert.
Medikamentöse und physikalische Behandlungsmaßnahmen kommen in Frage bei Fällen von postinfektiösen akuten Verschlechterungen der
Hör- und Tubenfunktion. Zur AnwenAbbildung 4: T-Röhrchen, konventionelles Pauken- dung können kommen:
röhrchen
l Alpha-Sympathikomimetika
l Sekretolytika
Überwachung mit dem Ziel, durch
l Kombinationsbehandlung mit
frühzeitige Interventionen die Pauken- Steroiden und Antibiotika (zum Beibelüftung zu normalisieren bezie- spiel Trimethoprim Sulfamethoxazol
hungsweise Komplikationen, wie rezi- 5 mg/kg, 30 Tage. Prednison 0,5 mg bis
divierenden Mittelohrentzündungen, 1 mg/kg, 7 Tage)
Trommelfellperforationen, Cholesteal Eine Rotlichtbestrahlung der
tomen und Adhäsivprozessen, vorzu- Ohren
beugen. In komplizierten Fällen ist es
l Kindgerechtes Tubenöffnungszweckmäßig, die primäre Veloplastik in training durch Autoinsufflation von
den ersten zwölf Lebensmonaten mit Luft mittels nasalen Aufblasens eieiner Parazentese zu verbinden und in nes Ballons (Otobar, Otovent) (AbbilAbhängigkeit vom Schweregrad des dung 5).
A-2266 (50) Deutsches Ärzteblatt 95, Heft 37, 11. September 1998
Probleme der Behandlung
von Tubenfunktionsstörungen
Komplikationen bei Paukenergüssen lassen sich trotz frühzeitiger
Erfassung von Spaltpatienten nicht
immer vermeiden. Es sind vor allem
Komplikationen in Verbindung mit
Paukenröhrchen, wie vorzeitiges Abstoßen, Lumenverlegungen, entzündliche Komplikationen mit eitrigen Sekretionen aus den Röhrchen, die eine
vorzeitige
Paukenröhrchenentfernung erfordern. Auf dem Boden derartiger schwer therapierbarer Tubenbelüftungsstörungen können sich insbesondere Adhäsivprozesse entwickeln. In fortgeschrittenen Fällen
entstehen breitflächige narbige Verwachsungen zwischen Trommelfell
und medialer Paukenwand (Abbildung 6). Da durch eine Paukendrainage eine Verbesserung des Hörvermögens nicht mehr möglich ist, müssen diese Kinder vielfach mit Hörgeräten versorgt werden. Die Indikation zu einer operativen Lösung der
Adhäsionen muß sehr sorgfältig gestellt werden, da die funktionellen
Operationsergebnisse bei ausgedehn-
Abbildung 6: Otologischer Befund bei Adhäsivprozeß
ten Verwachsungen meist nicht befriedigend sind.
Langzeituntersuchungen im Tübinger Spaltzentrum ergaben 2 Prozent Cholesteatome, 4 Prozent Adhäsivprozesse, 4 Prozent Trommelfellperforationen, 6 Prozent Retraktionen, 30 Prozent geringe Schalleitungsschwerhörigkeit, 6 Prozent ausgeprägte Schalleitungsschwerhörigkeit.
Da Cholesteatome potentiell lebensbedrohliche Entzündungen sind, ist
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Tabelle
Logopädische Therapie nach dem Konzept des Tübinger Spaltzentrums
Häufigkeit
Neugeborenes
nach Bedarf
variabel
Elternberatung,
optimales Saugen,
Muskelstimulation,
Handling
Vorstellung alle
2–3 Monate
oder kurze Therapieserien (6–10) in
Abständen von
3 Monaten
Therapieblöcke
(6–10) oder
Vorstellung in
halbjährlichen
Abständen
1. Lebensjahr
2.–3. Lebensjahr
Saugen/Kauen/
Schlucken,
Velumübungen,
sensomotorische
Entwicklung:
Förderung des
Stützens der Hände
und Füße
visuelle und auditive
Wahrnehmung,
Nachahmung/nonverbale
Kommunikation
Hörtraining,
Erlernen von
Einzelphonemen,
Koordination von
Sprechen und
Velumfunktion
Kontrolle in
größeren Abständen,
Therapie bei Bedarf
eine jahrelange ohrmikroskopische
Kontrolle zur Früherkennung des
Cholesteatoms erforderlich.
Therapie der
Gaumenspaltensprache
Unter dem Begriff „Gaumenspaltensprache“ sind Störungen des
Sprachklanges (Rhinophonie) und der
Artikulation (Palatolalie), die als Folge der verschiedenen Formen von
Spaltbildungen im harten und weichen Gaumen auftreten können, zusammengefaßt. Velopharyngeale Verschlußinsuffizienzen infolge verkürzter, beziehungsweise schlecht beweglicher Gaumensegel nach Spaltoperationen führen zum offenen Näseln
(Rhinophonia aperta) unterschiedlicher Schweregrade mit Nasalität von
Vokalen und oralen Konsonanten
(Explosivlaute, Reibelaute). Die Bildung von Konsonanten kann abgeschwächt sein oder völlig versagen, da
der für Konsonantenbildung erforderliche Druckanstieg in den Artikulationszonen der Mundhöhle beeinträchtigt ist. Störende Begleiterscheinungen können blasende und pfeifende
Nasengeräusche sowie Weiterbildung
weiterer
Entwicklungsverlauf
korrektes Schluckmuster,
muskuläres Gleichgewicht
im orofazialen Komplex
von Konsonanten sein. Zirka 65 Prozent unbehandelter Spaltkinder entwickeln eine unverständliche Umgangssprache.
Ohne adäquate Betreuung können sich bereits im zweiten Lebensjahr
Artikulationsstörungen
entwickeln
und zunehmend fixieren. Bei unzureichendem Gaumenschluß können Ersatzlautbildungen entstehen wie zum
Beispiel K zu G, T zu D, Ersatz von
Lippenlauten B und P durch Nasallaute (Palatolalie). Schließlich sind automatische kompensatorische Vorgänge,
die zur Rückverlagerung der Lautbildung in die vierte und fünfte Artikulationszone mit der Bildung von pharyngealen und laryngealen Ersatzlauten
führen können. Zahnstellungsanomalien verursachen weitere Beeinträchtigung der Artikulation beziehungsweise der Sprachverständlichkeit. Eine
weitere Folge der veränderten artikulatorischen neuromuskulären Steuerungssysteme sind Tonuserhöhungen
mit Phonationsapparat. Es resultieren Hyperfunktionen der Stimme mit
gepreßt heiserer Phonation oder harten Stimmeinsätzen bis hin zur Bildung von Phonationsverdickungen der
Stimmlippen.
Dennoch ist ein gutes Operationsergebnis kein Garant für eine
richtungsweisende Verbesserung der
Sprachentwicklung und Aufklärung
über funktionelle Zusammenhänge.
Wichtiger ist eine gute und belastungsfreie Eltern-Kind-Beziehung.
Zeitpunkt und Art der begleitenden
logopädischen Betreuung sind aus der
Tabelle zu entnehmen.
Abschließend ist hervorzuheben,
daß durch eine auf den Einzelfall abgestimmte Zusammenarbeit aller an
der Spaltbehandlung beteiligten Fachgebiete optimale ästhetische und funktionelle Ergebnisse zu erzielen sind.
Zitierweise dieses Beitrags:
Dt Ärztebl 1998; 95: A-2262–2267
[Heft 37]
Die Zahlen in Klammern beziehen sich auf das Literaturverzeichnis, das über den Sonderdruck
beim Verfasser und über die Internetseiten (unter
http://www.aerzteblatt.de) erhältlich ist.
Anschrift für die Verfasser
Prof. Dr. med. Dr. med. dent.
Norbert Schwenzer
Solitude Privatklinik
Solitudestraße 24 · 71638 Ludwigsburg
Deutsches Ärzteblatt 95, Heft 37, 11. September 1998 (51) A-2267
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