Einführung in die Soziolinguistik

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Prüfungsthemen Soziolinguistik
Mády Katalin
Literatur:
Dittmar, Norbert (1997): Grundlagen der Soziolinguistik: ein Arbeitsbuch mit Aufgaben.
Tübingen: Niemeyer.
A. Jászó, Anna & Bódi, Zoltán (2002): Szociolingvisztikai szöveggyűjtemény. Budapest: Tinta.
König, Werner (1978): dtv-Atlas zur deutschen Sprache. München: Deutscher Taschenbuch
Verlag.
Réger, Zita (1990): Utak a nyelvhez. Budapest: Akadémiai.
http://mek.oszk.hu/04000/04046/04046.pdf
Wardhaugh, Ronald (1995): Szociolingvisztika. Budapest: Osiris-Századvég.
Die Zahlen neben den Autoren geben das entsprechende Kapitel bzw. die Seitenzahlen an.
1.
Varietäten im sozialen Kontext (Dittmar, 1, Wardhaugh, 2, A. Jászó & Bódi, S. 100–104)
Dialektale, soziale und funktionelle Varietäten
Architektur der Varietäten (Coșeriu)
2.
Sprachliche Relativität (Dittmar, 2.4, Wardhaugh, 9, A. Jászó & Bódi, S. 62–71)
3.
Forschungsrichtungen in der Soziolinguistik (Dittmar, 2.1, Wardhaugh, 6–7)
Begriffsbildung und Definitionen
Die vier Richtungen im Vergleich: Sprachsoziologie, Varietätenlinguistik, Ethnographie der
Kommunikation, Ethnomethodologie/Interaktionale Soziolinguistik
4.
Untersuchungsmethoden (Dittmar, 2.5, Wardhaugh, 7)
Räumliche Varietäten (Gilliéron, Wenker)
Soziale Varietäten (Labov), Erforschung des Sprachwandels
Sprachsoziologie (Fishman)
Ethnographie der Kommunikation (Hymes, Gumperz)
1
Interaktionale Soziolinguistik/Ethnomethodologie: formale Konversationsanalyse (Linke,
Nussbaumer & Portmann, 7), interpretativ-kognitive Konversationsanalyse, ethnographische
Konversationsanalyse
5.
Sprachgemeinschaft (Dittmar, 3.4)
Definitionsversuche
6.
Diglossie (Dittmar, 3.6, Wardhaugh, 4)
H- und L-Sprache
Diglossie und Bilingualität
7.
Sprachkontakt (Dittmar, 4.3.7. Wardhaugh, 3)
Pidgin, Kreolsprachen
8.
Höflichkeitsformen, Anredeformen, Verwandtschaftsbezeichnungen (Wardhaugh, 11, A.
Jászó & Bódi, 72–82)
9.
Sprache und Geschlecht (Wardhaugh, 13, Dittmar, 4.3.6.2.1)
Manifestierung, Problematische Bereiche, Ursachen
10.
Sprachliche Norm (Dittmar, 3.8)
Definitionen, Normkonzepte
11.
Sprachplanung, Sprachpolitik (Wardhaugh, 15)
Statusplanung vs. Korpusplanung, Motivation
12.
Sprachliche Sozialisierung, Sprachliche Benachteiligung (Wardaugh, 14, Réger, entsprechende
Kapitel)
2
1. Vorlesung
Varietäten im sozialen Kontext
Soziolekt ist eine Varietät, die den Aspekt der sozialen Schichtung zum Ausdruck bringt
durch sozialsymbolische Formen der Aussprache, die Organisation von Parataxe und
Hypotaxe, eine gewisse Nachlässigkeit in der formalen Organisation der Sprache, durch
bestimmte Gliederungssignale und Gesprächswörter. Der Soziolekt verweist auf die soziale
Identität und ist stark mit Einstellungen, Stereotypen, Prestige vs. negativer Bewertung
verbunden.
Aus: Dittmar, Norbert (1997): Grundlagen der Soziolinguistik: ein Arbeitsbuch mit Aufgaben.
Tübingen, Niemeyer, S. 10.
Dialogbeispiele und ihre Interpretationen finden sich in Dittmar (1997).
3
2. Vorlesung
Coșeriu, Sprachliche Relativität
Folie 1
Architektur der Sprache
Eugenio Coșeriu (1988):
1.
räumliche Unterschiede: diatopisch, Einheitlichkeit: syntopisch
2.
soziokulturelle Unterschiede: diastratisch, synstratisch (lat. stratum = Schicht)
3.
Unterschiede in Expressivität: diaphasisch, synphasisch
historische Sprache
Gesamtheit aller Sprachformen unter einem Namen zusammengefasst (Französisch, Deutsch
usw.)
funktionelle Sprache
eine durch alle drei Aspekte genau definierte Varietät: diese Varietät funktioniert beim
Sprechen.
Abweichungen davon werden gleich erkannt und können als Stilmittel eingesetzt werden.
***************************************
Folie 2
Prinzip der sprachlichen Relativität
Edward Sapir (1929):
Enger Zusammenhang zwischen Sprache und Kultur, ihr Verständnis bedingt einander.
Weltbild wird im Wesentlichen durch die Sprache beeinflusst.
Die Welten zweier unterschiedlichen Sprachgemeinschaften sind zwei unterschiedliche
Welten.
Kategorisierung der eigenen Umgebung entlang sprachlicher Kategorien (Linien: krumm,
gerade, zackig, Farbwahrnehmung).
Wahrnehmung durch die Sprache, die die die Interpretation vorgibt.
Lebensumstände machen sich am Lautinventar nicht bemerkbar! Kaukasische Völker:
unangenehme Laute ↔ Eskimo: wohlklingend.
Morphologie: Zusammenhang manchmal eindeutig, z. B. eigene Zahlwörter für verschiedene
Objekte ← Besitz ist für dieses Volk wichtig ~ Personenendungen im Japanischen
←komplexe Hierarchie.
Aber: inklusives/exklusives wir, grammatikalisches Geschlecht: kommt bei Völkern mit sehr
unterschiedlichen Umgebungen vor!
4
Zusammenhang am auffälligsten im Lexikon (= Wortschatz), im Lautinventar gar nicht
vorhanden. Zusammenhang zwischen Morphologie und Umgebung war anfangs direkt, ist
jedoch meistens verloren gegangen.
Grund: Sprache ist konservativer als Kultur und entwickelt sich langsamer.
***********************************************
Folie 3
Beispiele für Zusammenhang zwischen Sprache und Kultur
Das Vorhandensein eines eigenen Wortes für einen Begriff lässt vermuten, dass dieses
Objekt/Wesen länger in der Umgebung eines Volkes vorhanden ist (Schnecke vs. Elefant) ~
transparente Namen deuten auf einen neuen Ort hin (Dunaújváros), etymologisch unklare auf
einen alten (Vönöck). Aber: ung. medve...
Wichtige Elemente, die dem Überleben dienen, werden differenziert benannt. Unwichtige
Elemente werden mit einem Oberbegriff bezeichnet.
Pflanzen:
Europa: Unkraut ↔ Indianer, die von Wildpflanzen leben, benennen jede Pflanze und Wurzel
einzeln.
Tiere:
Primitive Völker an der Küste ~ funktionelle Sprache von Fischern aus Kulturvölkern:
differenzierte Bezeichnungen für Wassertiere mit und ohne Wirbel.
Ungarisch: Fisch ↔ Huhn, Schwein, Rind (nicht einfach Fleisch).
Kontinentale Bewohner: Hund, Katze, Vogel und nicht Säugetier.
(*Vor meinem Fenster hat die ganze Nacht ein Säugetier gebellt.)
aber: Wurm, Käfer, Fliege: keine Spezifikation notwendig.
Naturobjekte:
Indianersprachen: Sonne – Mond: ein Begriff (Unterschied unwichtig).
Wüstenbewohner: ausführliche Bezeichnungen für ‚runde Eintiefung, flaches Land zwischen
Bergen von Felsen umgeben, Schlucht ohne Bach, Schlucht mit Bach, sonnenbestrahlter
Hang/Hang ohne Sonne, glatter Sand’ usw. ← genaue Angaben überlebenswichtig, da wenig
Nahrung vorhanden ~ Schneebezeichnungen bei Eskimos.
5
********************************
Folie 4
Benjamin Lee Whorf (1956)
Hopi
Standard Average European (SAE)
Vorgang, Prozess
Aufteilung der Wirklichkeit
Unterscheidung zwischen zählbar und unzählbar
ist das Eintreten eines
Teilung der Zeit in Vergangenheit,
Ereignisses sicher?
Gegenwart, Zukunft
„Unterschiedliche grammatische Kategorien geben unterschiedliche Denkweisen vor.“
→ Whorf geht viel weiter als Sapir!
Bally (1944):
Französisch
Deutsch
wenig Flexion
komplexes Flexionssystem
Denkadäquate Wortfolge
Disjunktion von Zusammengehörigem
wenig Wortstellungsfreiheit
große Wortstellungsfreiheit
leichterer Wortartenwechsel
schwierigerer Wortartenwechsel
einfache, klare Phoneme
komplexe Phoneme und Phonemgruppen
→
Folgerungen bezüglich der Mentalität der Deutschen und der Franzosen.
***************************************
Folie 5
Mark Twain
Schachtelsätze im Deutschen Ausdruck eines guten sprachlichen Umgangs, im Englischen
schlechte Planung.
6
Karácsony Sándor (1985):
Unterordnung in indogermanischen Sprachen = Ziel, alle Elemente in einem wichtigsten
Begriff zu vereinen, Abhängigkeit zwischen Teilsätzen zu verstärken. Ungarisch: viele
nebengeordnete Sätze = Ungarn ist das Land der kleinen Autonomien, jeder Mensch ist
gleichwertig.
Argumente gegen die Hypothese der Sprachlichen Relativität
Piaget, Vygotski: sprachliche Entwicklung folgt der kognitiven Entwicklung und nicht
andersherum.
Zweisprachigkeit: Wahrnehmung ist konstant für dieselbe Person.
*****************************************
Folie 6
Überprüfung der Sapir-Whorf-Hypothese
Iwar Werlen (1989):
Eine Hypothese muss überprüft werden! Sapir und Whorf haben nur Prinzipien aufgestellt.
Rolle der Sprache und Sprechfähigkeit in folgenden Bereichen:
Sozialisation des Individuums,
gesellschaftliche Wirklichkeitskonstruktion,
Kategorisierung der Welt,
Wahrnehmung der Welt,
Verarbeitung der wahrgenommenen Informationen,
Speicherung der wahrgenommenen Informationen,
Problemlösen,
Imaginieren, Konstruieren und Entwerfen,
Agieren und Handeln in der Welt.
7
3. Vorlesung
Soziolinguistik: Ursprünge, Begriffsbildung, Forschungsrichtungen
Folie 1
Ursprung der Soziolinguistik: Dialektforschung
Methodik
Auf Karte Netz von Quadraten, an jedem Schnittpunkt 3–5 Erhebungen.
Auswahl des Sprechers nach qualitativen Gesichtspunkten (perfekter Sprecher des Dialekts)
ältere Sprecher
Dialekte werden als homogen angenommen, keine Berücksichtigung sozialer Faktoren
sprachgeographische Karten für Ausspracheregeln und lexikalische Varianten
Vergleichbarkeit (Welches Wort benutzen Sie für Brötchen: Semmel, Schrippe, Weck)
Wenker: Fragebogen ↔ Gilliéron: Erfassen vor Ort
***********************************
Folie 2
Begriff der Soziolinguistik
Erstmals: 1949 bei Haver C. Currie, Notwendigkeit: wegen „innerer Sprachwissenschaft“
Trudgill: Funktion von Sprache: soziale Verhältnisse zu schaffen und Information über den
Sprecher zu vermitteln (1974).
Fischmann: Gegenstand der Soziolinguistik ist die Interaktion zwischen sprachlichem
Verhalten und der sozialen Organisation des Verhaltens. Dies umfasst nicht nur den
Sprachgebrauch an sich, sondern die Einstellung zur Sprache und zu den Sprachbenutzern
(1972).
Sprachsoziologie:
deskriptiv: wer benutzt welche Sprache oder Varietät mit wem, wann, zu welchem Zweck?
Normen des Sprachgebrauchs, allgemein akzeptierte soziale Muster des Sprachgebrauchs
und der Einstellung zur Sprache innerhalb eines bestimmten sprachlichen Netzwerks oder
einer Sprachgemeinschaft.
dynamisch: wie sind Veränderungen in der sozialen Struktur der Sprache und der Einstellung
gegenüber der Sprache zu begründen? Warum haben sich die Strukturen von ehemals gleich
organisierter Sprachgemeinschaften mit der Zeit auseinander entwickelt?
8
************************************************
Folie 3
Heutige Richtungen der Soziolinguistik
1.
Sprachsoziologie
Untersuchung der sprachlichen Kodes (Deutsch, Baskisch, Spanisch) und der Subkodes
(Varietäten wie Pfälzisch, Plattdeutsch, Bayrisch) unter einem primär soziologischen
Gesichtspunkt.
Wichtigste Vertreter: Joshua Fishman, Klaus Mattheier, Ulrich Ammon
Organe: International Journal of the Sociology of Language, Sociolinguistica
Arbeitsmethoden: Hypothesenbildung, statistische Verfahren
***********************************************
Folie 4
2.
Variationslinguistik/soziale Dialektologie
Alternative Strukturen des Sprachgebrauchssystems, Verwendung koexistierender
sprachlicher Varianten in Sprachgemeinschaften.
Wichtigste Vertreter: William Labov, Uriel Weinreich, Dell Hymes
Organe: Language in Society, Linguistic Variation and Change
Arbeitsmethoden: kulturanthropologische Konzepte, einfache statistische Methoden,
klassische Soziologie
******************************************
Folie 5
3.
Ethnographie der Kommunikation
Kulturelle Verschiedenheit und Sprache, angemessene Verwendung sprachlicher Ausdrücke,
kommunikative Kompetenz zu adäquatem Sprach- und Interaktionsverhalten
Wichtigste Vertreter: Conklin, Hymes, Erickson, Kallmeyer
9
Organe: American Anthropologist, Language in Society
Arbeitsmethoden: teilnehmende Beobachtung
*****************************
Folie 6
4.
verbale Interaktion (Ethnomethodologie, soziale und interaktive Pragmatik)
Handlungs- und interaktionsorientierte Sprachverwendung. Herstellung von sozialer
Ordnung im Prozess der verbalen und nonverbalen Interaktion. Sprache: Handlungspotential.
Wichtigste Vertreter: Alfred Schütz, Harold Garfinkel, Harvey Sacks
Organe: Language in Society, Journal of Pragmatics, Discourse Processes, Discourse and
Society
Arbeitsmethoden: Konversationsanalyse (Sprecherwechsel, Redekorrekturen usw.),
Bedeutungskonstitution in verbalen Interaktionen, semantische Organisation von Diskursen
*********************************
Folie 6
Gemeinsamkeiten
Linguistik des Sprechverhaltens
sozialer Bezug der Sprache
Kernpunkte:
1.
soziale Dimension (Alter, Geschlecht, Schichtzugehörigkeit, ethnischer Hintergrund,
Familienstand)
2.
sprachliche Dimension: welche sprachlichen Systeme, Register und Stile werden von
den Interaktionspartnern verwendet? Was wird wie mitgeteilt? Welche expressiven Mittel
werden verwendet, um referentielle oder emotionale Botschaften zu vermitteln?
3.
interaktive Dimension: welche Absichten verfolgen die Interaktionspartner? Wie wird
die Interaktion mit verbalen und nonverbalen Zeichen organisiert? Wie trägt der Prozess der
Interaktion zur Entstehung einer sozialen Ordnung bei?
4.
Kontextdimension: unter welchen kontextuellen Bedingungen wird die Interaktion
initiiert, fortgeführt und vollendet?
5.
evaluative Dimension: wie effektiv werden bestimmte sprachliche Mittel eingesetzt?
6.
historische Dimension: regionale und soziokulturelle Geschichte der
Sprachgemeinschaft
7.
biographische Dimension: individuelle Geschichte der Sprecher
10
4. Vorlesung
Variationslinguistik, Sprachsoziologie
Folie 1
Untersuchungsmethoden in der sozialen Dialektologie
Uriel Weinreich:
theoretischer Hintergrund: Notwendigkeit eines breiten Ansatzes in Sprachtheorie- und
Beschreibung, Kombination von linguistischer und sozialwissenschaftlicher Ausrichtung.
William Labov:
empirische Umsetzung.
Methodik:
induktiv, empirische Erhebung von Korpusdaten
•
soziologisch geschichtet
repräsentative Erhebung (Stichprobenzusammenstellung)
authentische Dokumentation natürlichen Sprachverhaltens (Beobachterparadoxon)
Zielsetzung: Korrelation bestimmter sprachlicher Variablen mit außersprachlichen Variablen
Æ Erklärung von Mechanismen des Sprachwandels (Mega-Korpus) durch eine synchrone
Beschreibung.
Prinzip: alle Varietäten sind ebenbürtig, sie entsprechen gleichwertigen kommunikativen
Funktionen und Normen.
Beschreibungsapparat: strukturalistische + generative Transformationsgrammatik (kein
eigenes System).
Feldforschung (Datensammlung aus natürlicher Umgebung)
verdeckte Befragung (begrenzter Korpus)
Einzelinterviews, Spiele (wegen Beobachter nicht ganz natürlich)
„Insider“ (zuverlässig, aber zeitaufwendig)
************************************
11
Folie 2: Tabelle, Grafik Wardhaugh: S. 142–143
*************************************
Folie 3
Methodik
Definition soziolinguistischer Variablen
genaue Präzisierung der sprachlichen Form (bis auf phonologische Umgebung)
Vorkommenshäufigkeit
Korrelation mit sozialen Merkmalen
Soziolinguistische Variablen drücken das Gleiche aus, verraten aber etwas über soziale
Identität/Hintergrund: verschiedene Ausprägungen.
Ergebnis der Untersuchung: quantitativ.
Soziolinguistische Variablen: unterschiedliche Formen, aber semantisch gleiche Bedeutungen.
z. B. -ba/-ban
verschiedene [r]-Realisierungen
aber nicht: Suppe bitte und Würdest du mir die Suppe reichen, da diese Einheiten nicht
unbewusst verwendet werden.
Sozialer Indikator: eine Variable, die Unterschiede über einen sozialen Parameter indiziert.
Soziolinguistischer Marker: indiziert zusätzlich Unterschiede im Sprechstil.
**********************************
Folie 4
Sprachwandel
Motive
Ökonomie ⇔ Dinstinktivität
grundlegende Fragen des Sprachwandels:
auslösende Faktoren
Übergänge: kontinuierlich, abrupt oder wellenförmig
Einbettung
Bewertung des Phänomens (Prestige und Stigmatisierung)
12
Einbettung (wichtigster Aspekt für Labov)
Unregelmäßiger Sprachgebrauch bestimmter Varianten in einer subkulturellen Gruppe.
Distinktive Identität der Gruppe gefährdet
Æ unbewusste Verwendung sozialer Indikatoren
Indikator wird von anderen Gruppen der Sprachgemeinschaft übernommen
Æ Werte der Ausgangsgruppe werden mit akzeptiert
Æ Gruppe: Fokus der sozialen Aufmerksamkeit
Wandel von unten: 1. Bedeutung: unbewusst
2. Bedeutung: Indikator aus sozial niedriger Varietät wird von Oberschicht übernommen Æ
Prestige
Wandel von oben: 1. Bedeutung: bewusst
2. Bedeutung: prestigebesetzte Indikatoren werden von sozial niedrigeren Schichten
übernommen.
Mittelschicht will aufstreben
Æ benutzt sprachliche Merkmale der Oberschicht
Ergebnis: Oberschicht benutzt diese nicht mehr.
*********************************
Folie 5
Sprachsoziologie
Definition von Joshua Fishman:
Wann, zu welchem Zweck spricht wer welche Sprache oder Varietät mit wem unter
welchen sozialen Umständen und mit welchen sozialen Konsequenzen?
Beschreibung des Sprachgebrauchs innerhalb einer Sprachgemeinschaft
Richtungen
deskriptive Sprachsoziologie: Normen des Sprachgebrauchs
dynamische Sprachsoziologie: warum wird Sprache in unterschiedlichen Situationen
unterschiedlich eingesetzt?
13
Charakterisierung
systemlinguistische Eigenschaften unwichtig, eher Sprechersoziologie oder
Gebrauchssoziologie von Sprachen/Varietäten
ursprünglicher Schwerpunkt: Gemeinschaften mit zwei parallel existierenden Sprachen
später: Varietäten
Methoden der Sprachsoziologie
•
Fragebogen
strukturierte Interviews
•
Selbstbeobachtungen
Tagebuchaufzeichnungen
Sprachtests
Einstellungsmessungen
demographische Erhebungen
14
5. Vorlesung
Ethnographie der Kommunikation
Konversationsanalyse
Folie 1
Ethnographie der Kommunikation
Vertreter: Hymes, Auer
Ziel: Werte und Normen von Gruppen in einer Sprachgemeinschaft herausfinden
ich/wir, du/ihr, Stereotypen, Umgangsformen, Sozialisationsmuster Æ soziale Territorien,
soziale Identität von Gruppen Å Identifikation durch sprachliche Muster, die soziokulturelle
Erfahrungen im Alltag verkörpern
Zielsetzung genau entgegengesetzt zur Varietätenlinguistik!
Schlüsselwort: Dokumentation natürlicher Alltagssituationen, Vergleich zwischen Kulturen
Fokus sozial: ethnisch verschiedene Gruppen in unterschiedlichen Kontexten
linguistisch: soziale Bedeutung im sprachlichen Handeln
Methoden: teilnehmende Beobachtung, Tiefeninterviews, Selbstaufnahmen.
Qualitative Arbeitsweise in Anlehnung an die Anthropologie, holistische Beschreibung des
gesamten Lebenswegs von Individuen.
Grundlegende Beobachtungseinheit: Situation
Bestandteile: Sprechereignisse (Witz, Beratung, Vorstellungsgespräch)
stark vs. schwach strukturiert (formlastig wie temporale Struktur in Erzählungen vs.
inhaltsschwer wie in Problemlösungsdiskussionen)
********************************
Folie 2
SPEAKING: Buchstaben: mögliche Komponenten der Kommunikation
Datenanalyse:
1.
Auffindung rekurrenter Muster und Themen (typische Register, spezielle narrative
Techniken)
2.
abweichende Strukturen
3.
Identifizierung von Veränderungen
Registermerkmale, Tonhöhenverläufe, semantische Formen usw.
15
Sprachvarietät: funktional angemessene Systeme, die eigenständige kommunikative
Leistungen aufweisen.
ökologisches Prinzip: Sprache, um mit der Umwelt umzugehen
Sprecher + Stimuli der äußeren Umgebung Æ kommunikative Normen
Umstrukturierung durch soziale und situative Einschränkungen
Verhaltensnormen Æ angemessener sprachlicher Kode
Kontext besteht aus Sprechereignis (größer) oder Sprechakt nach Searle
**************************************
Folie 3
Interaktionale Soziolinguistik/Ethnomethodologie
Pragmatik der verbalen Interaktion, Konversationsanalyse (KA), genannt auch auch
Gesprächsanalyse, Diskursanalyse
Herstellung sozialer Ordnung in verbaler Interaktion
1.
formale KA
2.
interpretativ-kognitive KA
3.
ethnographische KA
1. Formale KA
Vertreter: Sacks, Schegloff & Jefferson (1978), Brinker, Sager
Organisation + Wechsel von Redebeiträgen Æ Regeln
1.
Lokalisierung des Verhaltens im Korpus
2.
strukturellen Merkmale
3.
interaktive Organisation erfassen
Beschreibung: kategorisch, keine Variablen, keine Statistik
Regeln: kontextfrei (universal) + kontextsensitiv (partikularistisch: lokale Variationen je nach
Kontext)
16
**************************************
Folie 4
Beispiel für Regeln:
Sprecher wählt einen neuen Sprecher
neuer Sprecher wählt sich selbst aus
Sprecher kann weitersprechen
********************************
Folie 5: Analysebeispiel in LNP: 277
********************************
Folie 6:
2. Interpretativ-kognitive KA
Vertreter: Circourel
Basisregeln zur Idealisierung der Verhaltensweisen von Interaktionspartnern
„Finde heraus, dass das hier ein Streit ist und dass A B beleidigt hat.“
nicht formal, sondern inhaltlich Æ um interaktiven Verständnisprozess zu rekonstruieren
wesentliches Untersuchungsmittel: Deixis: Personendeixis, Zeitdeixis, Raumdeixis,
Diskursdeixis (Anapher: der Witz, den), Sozialdeixis (Höflichkeitsformen)
*************************************
Folie 7
3. Ethnographische KA
Vertreter: John J. Gumperz
Wichtigster Untersuchungsbereich: Mehrsprachigkeit
situativer Sprachwechsel (definiert durch Rechte und Pflichten der Teilnehmer)
metaphorischer (themengebundener) Sprachwechsel
Verständnis in Konversation nicht über Grammatikregeln, sondern wegen des geteilten
gemeinsamen Wissens
Missverständnisse in interkultureller Kommunikation: wegen unterschiedlichen
Konventionen, Interferenzen
17
6. Vorlesung
Konversationsanalyse II
Folie 1
Parameter für die Konstitution eines Dialogs
kommunikativ-soziale Symmetrie/Asymmetrie
handlungstheoretisch-interaktionele Kategorien (Gruppenbildung, Beziehungsverhalten,
Solidarisierung usw.)
linguistische Kategorien (Varietäten, Kodewahl, Kodewechsel, metasprachliches Verhalten)
psycholinguistische Kategorien (Spracheinschätzung, Partnereinschätzung)
sozio-kulturelle Kategorien (lokale, regionale, nationale Identität, kulturspezifische
Gesprächsregeln)
(Quelle: Löffler, Hinrich (1994): Soziolinguistische Kommunikationsanalyse. In: G. Fritz & F.
Hundsnurscher (Hrsg.), Handbuch der Dialoganalyse. Tübingen: Niemeyer, 37–50.
*************************************
Folie 2
Beschreibungsebenen des Dialogs
Makro-Bereich:
Zahl und Art von Teilnehmern, Themenwahl, Gliederung des Gesprächs
Meso-Bereich:
Themenebene: Themenwechsel, Themenwahl, Kodeebene
Konsens/Konfrontation
intersoziales Verstehen, kulturell/sozial bedingtes Gesprächsverhalten
Mikro-Bereich:
Äußerungsebene: Sprechakte, soziale und intentionale Beziehungen
Einzelelemente (Hörersignale, Konsens-/Dissens-Marker, Abtönungen)
Weitere Aspekte
Gruppenzugehörigkeit, Status & Rolle der Partner (Art-Patient)
Lokalisierung: institutioneller Rahmen, Land, Ort
18
Kodewahl (Fachsprache, Dialekt, Alltagssprache)
Beziehungspflege: konsentisch-kooperativ oder dissentisch-antagonistisch
******************************************
Folie 5
Begriffe zum Mikro-Bereich
Turn/Redebeitrag (eine Redeeinheit)
Sprecherwechsel
Übergangsphase, -punkt (Möglichkeit eines Sprecherwechsels)
Unterbrechung (Abbrechen eines Redebeitrags)
Frühstart (Beginn kurz vor Ende des vorherigen Redebeitrags)
Fehlstart (erfolgloser Versuch einer Übernahme des Rederechts)
Simultansequenz (gleichzeitiges Sprechen)
Einschub (syntaktisch-intonatorisch abgeschlossene Einheit, keine Intention einer
Turnübernahme)
Hörersignale/Interjektionen (hm, ah, oh)
Reparaturen/Korrekturen (selbstinitiiert, fremdinitiiert)
19
7. Vorlesung
Sprachgemeinschaft, Diglossie, Bilingualität, Sprachkontakt
Folie 1
Sprachgemeinschaft
Ausgangshypothese:
Soziale, geographische und kulturelle Räume, in denen Menschen leben, lassen sich mittels
sprachlicher Normen in sozialen Kontexten unterscheiden.
Definitionen
1.
Interaktion:
Gruppe von Menschen, die untereinander eine bestimmte Sprache zum Kommunizieren
verwenden. Gruppe, die gemeinsame sprachliche Regeln miteinander teilt. (Bloomfield,
Gumperz, Hockett, Lyons)
2.
sprachliches Verhalten:
Gruppe, die ein gemeinsames Wissen über sprachliches Verhalten und die Interpretation von
Sprechen teilt. (Hymes) Gruppe, deren Mitglieder mindestens eine Sprachvarietät
miteinander teilen und die Normen für ihre Verwendung kennen (Fishman).
3.
soziale Identität (stark):
Gruppe, die der Sprache gegenüber gleich eingestellt ist (Labov). Gruppe von Menschen, die
behaupten, dieselbe Sprache zu benutzen (Halliday, McIntosh & Strevens).
sozialpsychologischer Ansatz (schwach):
jedes Individuum erstellt das System seines verbalen Verhaltens so, dass sie der Gruppe
ähneln, mit der es identifiziert werden möchte (LePage).
20
*****************************
Folie 2
Diglossie
Begriff stammt von Ferguson
regionaler Dialekt – L (low) vs.
überlagernde Sprachvariante – H (high)
H: schriftlich, formale Situationen, erworben durch Ausbildung, hohes Prestige
L: informell, alltägliche Konversation, erworben als Muttersprache, nicht normiert
Verteilung: komplementär
Unterschiede zwischen H und L
Grammatik: L grammatisch weniger komplex, weniger grammatische Kategorien als in H
Lexikon: komplementär, aber Übernahmen aus H in L charakteristisch.
Phonologie: auf der Basis des Lautsystems von L.
H und L nicht gleichzusetzen mit Dialekt und Hochsprache:
Standard ist oft die Varietät einer regionalen oder sozial höher gestellten Gruppe.
H wird in Alltagskommunikation nicht benutzt. (Deutsch – Schweizerdeutsch, klassisches
und umgangssprachliches Arabisch, Katharevousa und Demotike in Griechenland.)
***********************************************
Folie 3: Dittmar: 140, Tabelle 3–1
********************************
Folie 4
Kontaktvarietäten
(Weinreich 1953: Sprachen im Kontakt)
erhebliche Divergenzen in der kommunikativen Kompetenz
sozialer Druck zur Verständigung
sprachliche, kommunikative und Wissenskompetenzen ungleich verteilt (Macht)
beide Interaktionspartner im Lernverhältnis
eingeschränkte Themen- und Kommunikationsbereiche
instabil
gesprochene Varietät
21
*****************************
Folie 5
Pidgin
Herkunft des Wortes ungeklärt:
business (that´s your business Æ de? ju pidn) (Englisch an chinesischer Küste), oder:
Entlehnung aus Portugiesischem
Sprecher haben eigene Muttersprache
Verwendung in speziellen Kontaktsituationen
inhaltlich beschränkt
reduzierter Wortschatz
Tendenz zu Umschreibungen, ausgedehnte Metaphorik
verändertes Phoneminventar (zu beiden Ausgangssprachen)
Flexionsverlust
starke syntaktische Reduktion: Genusdifferenzierung, Vielfalt von Präpositionen, Artikeln,
Konjunktionen, Konjugationsmuster, Tempus- und Modussystem fallen weg oder werden
vereinfacht
wird von Angehörigen der unteren sozialen Schichten gesprochen
Übergangsvarietät
22
8. Vorlesung
Höflichkeitsformen, Anredeformen
Folie 1
Anrede Sie
Machtsymbol:
Mensch zu Tier
Herr/Herrin zum Dienstpersonal
Eltern zu Kindern
Pfarrer zum Gläubigen
Offizier zum Infanteristen
Gott zu seinen Engeln
Verwendung von du/Sie gekoppelt an soziale Einstellung (Brown & Gilman, 1975):
männlicher Student in Frankreich
Wenn du mit Kommilitoninnen
sozialistische Einstellung
wenig moralische Bindung
nicht nationalistisch oder religiös
gilt auch für italienische Jugendliche aus der Oberschicht
***************************************
Folie 2
Anredeformen
Titel (sehr offiziell)
Nachname
Vorname
Kosename (intim)
Herr/Frau (offiziell)
Funktion (offiziell, unpersönlich: Herr Ober, General, Doktor)
Kombination (weniger unpersönlich, trotzdem offiziell: Herr Doktor Schmidt)
Wahl der Anrede abhängig von
Situation
23
gesellschaftlicher Status
Geschlecht und Alter
Familienverhältnis
Berufshierarchie
Interaktionstyp
Rasse
Grad der Intimität
24
9. Vorlesung
Sprache und Geschlecht, Sprachliche Norm
Folie 1
Sprache und Geschlecht
z. T. unterschiedliche Grammatik (bei den Karibischen Indianern)
Russisch: ja tschital/tschitala ’ich las’, ja rad/rada ’ich freue mich’
Japanisch: Frauenpartikel: ne, ich-Formen anders: wasi, ore (männlich) vs. watasi, atasi
(weiblich)
oft Unterschiede in der Aussprache (auf Ungarisch: Intonation, gut artikulierte Vibranten,
Nasalität)
Jukagir: Frauen + Kinder /ts, dz/ vs. Männer /tj, dj/, alte Leute /t/j, /d/
allgemeine Beobachtung: Sprachgebrauch von Frauen konservativer + gebildeter
Englisch: differenziertere Farbenbezeichnungen und bestimmte Adjektive bei Frauen.
************************************
Folie 2
Feministische Herangehensweise
Jemand, der, der Mensch, der Student: bezeichnen nur männliche Personen
Ergebnis: Neutralisierung von Miss und Mrs. im Englischen: Ms., Nennung beider Formen im
Deutschen
Bezeichnungen für Mann/Frau rufen sehr unterschiedliche Assoziationen hervor:
Er/Sie macht es professionell ’Er ist ein Profi/sie ist eine Prostituierte.’
neutrale Umschreibung oft schwierig – Sprachstruktur hat hier aber nichts mit Emanzipation
zu tun! Im Gegenteil...
Grund für Unterschiede: manche Wörter oder Begriffe sind für Frauen ein Tabu – wg.
Ritualen, Jagd usw.
Intonation: bei Frauen Überraschung und Höflichkeit häufiger, oft eine steigende Intonation –
Unsicherheit, Rückfragen (oder?)
25
Folie 3
Die wichtigsten Charakteristika von Frauen- und Männersprache
Quelle: Examensarbeit von Mészáros Erzsébet, Herbst 2005
Frauensprache
Männersprache
Neben Information auch Austausch /
Bestätigung von Bindung und Nähe
Information + Interaktion
Austausch / Vermittlung von Informationen
steht im Mittelpunkt
Kritik als Verunsicherung
Kritik als Motivation
Vermutungen und Begründungen
Behauptungen
Auch Gesprächsklima und Weg zum
Ergebnis zählen
Ergebnisorientiert, Zahlen, Daten und
Fakten sind wichtig
Besprechen
Entscheiden
Persönliche ebene, emotional, Gebrauch
von parenthetischen Verben
Sachebene, sachliche Sprache
Diminutiva und Euphemismen
Abschwächung und Verharmlosungen,
Selbstabwertung,
Betonung von Stärken
(unnötige) Entschuldigungen
Konjunktive
Imperative, Feststellungen
„Unschärfemakierer“ wie irgendwie; oder
so; es scheint; ich glaube; ist es nicht so,
dass;…
Sichere Sprache
Unsicher, unschlüssig, gefühlsbetont,
rücksichtsvoll, affirmativ, bejahend,
bestätigend
Dominant, aggressiv
Probleme (mit-) teilen, besprechen
Probleme lösen
Frage = Interesse
Frage = Unwissen, daher eher
Behauptungen
Umfassend, ausführlich
Knapp
Informieren, Entscheidungsmöglichkeiten
aufzeigen
Entscheidungen treffen
Korrekterer Gebrauch der Standardsprache
Kürzere elliptische Sätze
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26
Folie 3
Norm: lat. norma: ‚Winkelmaß’, Richtschnur’, ‚Regel’
geisteswissenschaftliche Bedeutung:
Grundlagen/Voraussetzungen menschlichen Handelns
Muster, Vorbild
beruht auf Konventionen
ihre Befolgung Æ Regelmäßigkeiten im Sozialverhalten
Orientierungshilfe
präskriptiv (vorschreibend)
Nichtbefolgung wird sanktioniert, Befolgung ist sozialer Zwang
kann kodiert oder als unbewusstes Normwissen tradiert sein
Bewertungskriterium: Angemessenheit/Adäquatheit
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Folie 4
Linguistische Normkonzepte
innerlinguistisch:
grammatisch korrekt, semantisch interpretierbar
Norm = Regel
Standardvarietät: verbindlich, kodifiziert, strenge grammatisch-semantische Vorschriften
Nichtverwendung der Normen: z. T. objektive Folgen (z. B. Rückschlüsse auf Intelligenz)
soziolinguistisch:
Koexistenz verschiedener Normen
Normen sprachlichen Handelns
anfangs gleichwertige Varianten Æ Norm, verbindliche Vorschrift
Mechanismen der Herausbildung der Standardvarietät
Deskription vs. Präskription, Sprachsystem vs. Sprachverwendung (langue vs. parole nach de
Saussure)
Hermann Paul (1880): ‚Gemeinsprache’: statistische Durchschnittsbildung aus individueller
Sprechtätigkeit
27
10. Vorlesung
Sprachplanung, Sprachpolitik
Folie 1
Statusveränderung Æ Sprachplanung
willkürliche Einmischung in die Entwicklung einer Sprache oder Varietät
1.
Statusplanung: Veränderung im Vergleich zu anderen Sprachen oder Varietäten
2.
Korpusplanung: Veränderungen am inneren Zustand der Sprache
Statusplanung: Veränderung in Funktion einer Sprache Æ Rechte der Sprecher (Unterricht,
offizielle Sprache)
Status: relativer Begriff
Veränderung: sehr langsam, oft wird für sie oder gegen sie gekämpft
Korpusplanung: Standardisierung einer Sprache oder Varietät:
Orthographie, Erweiterung des Wortschatzes, Erstellen von Wörterbüchern, Schaffung einer
nationalen Literatur, bewusste Förderung der Verwendung der Sprache (Regierung,
Unterricht, Handel)
zwei Planungstypen gehen oft zusammen
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Folie 2
Cobarrubias (1983): Motivation zur Sprachplanung
sprachliche Assimilation (jeder muss die dominante Sprache erlernen: Frankreich, USA,
Griechenland, Sowjetunion)
sprachlicher Pluralismus: Anerkennung mehrerer Sprachen (Belgien, Kanada, Singapur, SüdAfrika, Schweiz)
Vernakularisierung: Rekonstruktion oder Erfindung einer Sprache für die Eingeborenen
(Indonesien: Bahasa Indonesia, Papua Neuguinea: tok pisin, Israel: Hebräisch, Philippinen:
Tagalog, Peru: kechua)
Internationalismus: Übernahme einer nicht regionalen Sprache für die überregionale
Kommunikation (Indien, Singapur, Philippinen, Papua Neuguinea: Englisch.)
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Verschiedene Formen möglich:
eine Sprache (offiziell oder nicht)
zwei Sprachen (Kanada, Belgien)
offiziell in einer bestimmten Region (Niger: Igbo, Joruba, Hausa, Sowjetunion: Ukrainisch,
Spanien: Katalanisch)
geförderte Sprache ohne offiziellen Status (Spanisch in manchen US-Staaten)
geduldete Sprache ohne Förderung und Einschränkung (Frankreich: Baskisch)
verbotene Sprachen (Spanien unter Franco: Baskisch, Katalanisch)
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11. Vorlesung
Sprachliche Sozialisierung, sprachliche Benachteiligung
Folie 1 (11)
Sprachliche Benachteiligung
Grundsatz: alle Varietäten sind gleich gut oder schlecht
außer Pidgin (da Übergangsvarietät mit beschränkter Verwendung)
Bevorzugung vs. Benachteiligung einer Varietät: Zufall (gutes Ungarisch: aus Budapest, gutes
Englisch: aus Oxford usw.)
Alltagsmenschen: „manche Sprachen/Dialekte sind objektiv betrachtet schöner als andere“,
entsprechend sind Menschen, die sie verwenden, besser/klüger als andere. (Von Lehrern
auch oft vertreten!)
Basil Bernstein (Erziehungswissenschaftler):
Forschungsthema:
•
Sozialisierung eines Kindes
•
Aneignung einer kulturellen Identität
•
Rolle der Sprache darin.
•
Starker Einfluss von Whorf.
Hintergrund: 50er Jahre in Großbritannien: Labour Party, Offenheit für soziale Gleichstellung
Grundgedanke:
starker Zusammenhang zwischen der Entstehung und Aufrechterhaltung der sozialen
Struktur und der Verwendung von Sprache in dieser Kultur. Individuum eignet sich seine
gesellschaftliche Rolle durch Kommunikation an.
Veränderungen sind kaum möglich, da dies von Generation zu Generation vererbt wird
Kreislauf von gesellschaftlichen und sprachlichen Strukturen.
Individuum eignet sich seine gesellschaftliche Rolle durch Kommunikation an.
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Folie 2 (11)
Elaborierter Kode und
restringierter Kode
EK
RK
präzise Grammatik und Syntax
Sätze oft unvollständig, syntaktisch arm
zusammengesetzte Sätze
kurze, einfache Sätze
Neben- und untergeordnete Sätze
wenige einfache Konjuktionen, kaum Hypotaxe
Präpositionen mit logischem
und temporärem Inhalt
oft verworrene Sätze, Vermischung von Ursache
und Folge
häufige Verwendung von ich
oft allgemeine Formen (man), Rückkopplung
diverse Attribute und Adverbien
steife Verwendung von Attributen und Adverbien
deutet auf begriffliche
Hierarchie der Empirie hin
viele Klischees, feste Wendungen und implizite
Aussagen
RK wird von jedem Sprecher angeeignet: es ist die Sprache der Intimität
EK nicht für
alle Schichten erreichbar. Kinder aus Unterschicht sind in EK nicht geübt, wenn sie in die
Schule kommen --> schwerwiegende Folgen: Missachtung des abweichenden kulturellen
Hintergrundes der US-Kinder, was zur Katastrophe führt.
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Folie 3 (11)
Positionsorientierte vs. personenorientierte Familie
positionsorientiert: enger körperlicher Kontakt zwischen Familienmitgliedern, gemeinsame
Vorannahmen, implizite Bedeutungen.
personenorientiert: explizit, weniger kontextabhängig.
Positionsorientiert.: führt zur starken gesellschaftlichen Identität <--> personenorientiert
persönliche Autonomie auf Kosten der gesellschaftlichen Identität.
Kritik an Bernstein:
•
oft uneindeutig, schwammig
•
Schlüsselbegriffe schlecht definiert (Kode, Klasse, ausgearbeitet usw.)
•
kleine Datenmenge, eher Hypothese als bewiesene Tatsachen
•
Argumentation zirkulär
•
Labov (1972): kein Beweis, dass die beiden Kodes zu kognitiven und intellektuellen
Unterschieden führen würden. Es ist nicht so wichtig, welche Mittel eingesetzt
werden, wichtiger ist, wie sie eingesetzt werden.
•
Frage: können Forscher aus der MS den Kode der US überhaupt zuverlässig
erforschen, wenn sie ihn nicht eingehend kennen? US-Kinder können den EC
schriftlich in jedem Fall anwenden. Untersuchung evtl. nicht zuverlässig, da MS-Kinder
stärker bemüht sind, den Untersucher zu „befriedigen“ als US-Kinder.
Bernstein: EC nicht nur vorteilhaft: schränkt Kreativität ein, verschafft Hemmungen. Kinder
können oft nur nach Regeln spielen und wollen denen um jeden Preis entsprechen.
32
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Folie 4 (11)
Überprüfung der Bernstein-Hypothese:
Mutter-Kind-Dialog
Henderson (1972)
100 Mütter mit ihren 7 Jahre alten Kindern
Mittelschicht:
abstrakte und ausführliche Definitionen, Weitergabe von Wissen, mit Sprache werden
moralische Prinzipien und Gefühle kommuniziert. Orientierung an Prinzipien und deren
Verhältnis zu Gegenständen und Personen, Strategien zur Aneignung von Wissen.
Unterschied:
keine symbolischen Ausdrucksweisen: Schlucht zwischen Erwartungen der Schule und
bisherigen Erfahrungen.
Weitere Untersuchungen
Unterschicht: viele Anweisungen und Befehle, Hinweis auf Authorität („Weil ich das sage,
weil ich deine Mutter bin“, Hinweis auf autoritäre oder gefährliche Personen (Polizist, böser
Onkel), um Kindern Angst einzujagen. Viele Pseudoantworten Warum gehen wir jetzt? Weil
wir gehen.
Mittelschicht: Folgen von Taten, besonders emotional für Mutter (jetzt wird Mama sehr traurig
sein). Auf Fragen werden echte Antworten gegeben.
Untersuchung von Hess & Shipman (1965): Anweisungen oder Helfen beim Bauspiel oder
Puzzle für US-Mütter viel schwieriger: meist geben sie ja Anweisungen ohne eine Erklärung
zu geben oder ein Beispiel zu zeigen + Strafe und Lob meist inkonsequent (und Strafe oft
intensiver).
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Folie 5 (11)
Spracherwerb in einer kindorientierten Familie
Vorsprachliche und Lallphase: Mutter spricht zu Kind, z. T. ganze Dialoge (sog.
Protodialoge) in dessen Namen. Jede (oft willkürliche) Äußerung des Kindes wird in den
„Dialog“ eingebunden.
Motherese: höhere Stimmlage, größere Intonationskurven, singende Melodie, regelmäßiger
Rhythmus. Ziel: Aufmerksamkeit des Kindes auf sich lenken.
Einwortphase: mit mehr Möglichkeiten des Kindes wählt Mutter Reize aus und reagiert
vor allem auf verbale Äußerungen des Kindes. Viele Diminutivformen (cica, dádá, csücsül).
Häufige Wiederholungen.
Zweiwortphase + später: komplexe Strukturen fördern die Sprache mehr (z. B.
semantische Erweiterungen wie Papa weg? Ja, Papa ist nicht zu Hause, er ist in der Arbeit.
Bestrebung der Mutter: grammatische Fehler sind tolerabel, Wahrheit muss aber stimmen.
Paradoxon des Spracherwerbs (Roger Brown): Kinder lernen später grammatisch richtig
sprechen und nicht die Wahrheit sagen...
Komplexität stets an Bedürfnisse des Kindes angepasst --> Interaktion zwischen Mutter und
Kind!
Experiment: Mutter kann in Abwesenheit des Kindes viel weniger mit ihm kommunizieren.
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Folie 6 (11)
Beispiel für fehlende Kinderorientierung
Samoa-Inseln in der Pazifik (beschrieben von Elinor Ochs)
Ethnographischer Hintergrund: stark hierarchischer Aufbau, Beziehung zueinander durch
Status vorgegeben (Position, Alter usw.). Status immer relativ zu den Anwesenden.
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Vertreter des höheren Status bewegen sich im Beisein von Niedriggestellten möglichst
wenig: sie sitzen auf einem Teppich, und die Niedriggestellten bedienen sie und bringen ihnen
auf Aufforderung Gegenstände. Statusreiche ignorieren das Geschehen um sich herum und
mischen sich nicht ein. Sie gehen langsam und sprechen verworren.
Kinder wachsen in Großfamilien auf und werden von verschiedenen Personen mit
verschiedenem Status erzogen. Mutter (hoch!) nur in ersten Monaten, danach ältere
Geschwister (füttern, waschen und bringen das Kind zur Mutter zum Stillen).
Kind kein Gesprächspartner, ihre Signale geben Auskunft von ihrem Zustand, keine
Kommunikationssignale. Vorsprachliche Phase: Ältere singen den Kindern und sprechen zu
ihnen.
Krabbelalter: Beginn einer restriktiven Zeit mit Einschränkungen und Verboten. Grund: Kind
kennt kein Gesetz und keine Ordnung, schafft Probleme und ist destruktiv. Sprachlich: alle
Mütter behaupten, das erste Wort des Kindes wäre tae (Scheiße). Lallen: „tierische
Sprache“, „Chinesisch“.
Kind hat den niedrigsten Status in Gesellschaft, keiner kümmert sich um es.
Kind muss die
Sprache ganz allein erwerben, ohne Unterstützung. Ältere geben sich keine Mühe, um es zu
verstehen. Wichtigste Aufgabe: Bote (sie bringen den Älteren Nachrichten über alles).
Erziehung zum Beobachten und zum Berichten (Beispiel Réger).
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Folie 7 (11)
Untersuchung von Zita Réger (80er Jahre)
Aufbau:
Kinder zwischen 12 und 36 Monaten
je 18 Familien (a: Mütter max. acht Klassen, b. Mütter mit Fachhochschul- oder Uniabschluss)
zwei Typen von Wohnort (große oder kleine Siedlung, Zentrum oder Peripherie von
Budapest)
Durchführung: Studentinnen, die die Familien gut kannten bzw. kennen gelernt haben.
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Untersuchte Aspekte:
strukturelle Einheiten (Häufigkeit von einzelnen Wortklassen, Einbettungen)
grammatische Elemente (Deklinationssuffixe)
Bezug auf Äußerung des Kindes
Fragen, Aufforderungen und deren Proportion.
Ergebnisse:
geschulte Mütter
ungeschulte Mütter
Satzlänge
>
Aufforderungssätze
<
Attribute
<
Vergangenheit & Futur
>
Substantive
>
Demonstrativpronomen
>
Deklinationssuffixe
> (Unterschied wurde später
geringer)
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Folie 8 (11)
Folgerungen
Entscheidend: referenzieller Gehalt (Hinweisen auf etwas, Präzisieren von Sachverhalten
oder Gegenständen). Bei gebildeten Müttern gleich vorhanden, bei ungeschulten erst später.
Problem: Referenz in ersten zwei Lebensjahren am wichtigsten! Später nicht mehr
ungeschulte Mutter sind in Verzug und können aktuelle Bedürfnisse ihrer Kinder nicht
befriedigen.
Stereotypen viel häufiger bei ungeschulten Müttern. Wiederholungen – nicht hilfreich beim
Spracherwerb!
Verhältnis von echten und Testfragen (echte Frage: Mutter kennt die Antwort nicht,
Testfrage: die Antwort ist der Mutter bekannt)
Viel mehr Testfragen bei gebildeten Müttern! Sie akzeptieren ihre Kinder als
Gesprächspartner.
Max Weber: Intellektueller: wer danach fragt, warum die Dinge gerade so sind, wie sie
sind“. Fragen nach dem Unbekannten, nach den Ursachen. Diese Einstellung ist möglich, weil
wir es als Kinder gelernt haben, nach Antworten zu suchen.
Ungeschulte Mütter: direkte Anweisungen, keine Freiheit zum eigenständigen Überlegen
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