Radikuläre Syndrome

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T. Magnus, T.N. Witt, C. Bischoff, H.C. Diener
Radikuläre
Syndrome
ISBN 978-3-17-024517-4
Kapitel J3 aus
T. Brandt, H.C. Diener, C. Gerloff (Hrsg.)
Therapie und Verlauf
neurologischer Erkrankungen
6., vollständig überarbeitete und erweiterte Auflage 2012
Kohlhammer
BDG_neu.book Seite 1258 Mittwoch, 15. August 2012 9:16 09
J3
Radikuläre Syndrome
von T. Magnus, T. N. Witt, C. Bischoff und H. C. Diener*
Die motorischen Vorder- und die sensiblen Hinterwurzeln bilden den innerhalb des Spinalkanals gelegenen Anteil der peripheren Nerven. Sie fusionieren
unmittelbar distal des sensiblen Spinalganglions
und bilden die segmentalen Spinalnerven. Distal des
Foramen intervertebrale teilt sich der Spinalnerv in
den Ramus dorsalis, der mit motorischen Fasern die
autochthone segmentale Rückenmuskulatur innerviert, und in den deutlich stärkeren Ramus ventralis,
die Fortsetzung des Spinalnerven zum Plexus.
Die segmentale sensible Innervation der Wirbelsäule
und der im Spinalkanal gelegenen schmerzempfindlichen Gewebestrukturen erfolgt durch den Ramus
meningeus (N. sinuvertebralis) des Spinalnerven
und durch Äste des Ramus dorsalis. Der Ramus
meningeus gelangt rückläufig durch den Canalis
intervertebralis in den Spinalkanal und versorgt die
äußeren Schichten des Anulus fibrosus, hinteres
Längsband und Ligamentum flavum, Wirbelperiost
und Dura mater von Duralsack und Nervenwurzel.
Die Innervation des Wirbelgelenkes erfolgt über Äste
des Ramus dorsalis aus zwei Segmenten. Unterschiedliche nozizeptive Reize (mechanisch, entzündlich, toxisch) in den genannten anatomischen
Strukturen erzeugen relativ uniform lokale Schmerzsyndrome im Sinne der Zervikalgie bzw. Lumbalgie.
Eine Schmerzprojektion in die Extremität mit nicht
segmentaler Begrenzung wird als pseudoradikulärer
Schmerz bezeichnet. Ausgangspunkte sind überwiegend die mit Nozizeptoren und vegetativen Fasern
dicht besetzten Wirbelgelenke. Pseudoradikuläre
Schmerzen projizieren in der Regel nicht distal des
Ellenbogen- bzw. Kniegelenkes. Demgegenüber sind
radikuläre Schmerzen streifenförmig, von schneidender oder stechender Qualität, halten sich initial
an die Grenzen der Dermatome und sind teilweise
begleitet von radikulären neurologischen Ausfällen
(Mumenthaler et al. 2007).
Ätiologisch umfassen die verschiedenen Schädigungsmöglichkeiten der Nervenwurzeln degenerative, traumatische, neoplastische, infektiöse und
rheumatische Krankheitsbilder (Tab. J 3.1). Aufgrund der engen topographischen Beziehung zu den
Wirbelkörpern, Bandscheiben und Wirbelgelenken
stehen zahlenmäßig mechanische, durch Druckund
Zugwirkung bedingte radikuläre Läsionen als Folge
degenerativer Wirbelsäulenveränderungen im Sinne
der Spondylose, Spondylarthrose und der Bandscheibenprotrusion bzw. des Bandscheibenprolapses an der Spitze. Die unteren zervikalen und
lumbalen Segmente, vor allem das lumbosakrale
Übergangssegment, sind wegen der vergleichsweise
hohen Mobilität und statischen Belastung besonders
häufig von radikulären Kompressions-Syndromen
betroffen. In Analogie zu den druckbedingten Läsionen peripherer Nerven führt leichte, kurzzeitige
Druckwirkung zur segmentalen Demyelinisierung
mit funktionellem Leitungsblock und der Möglichkeit der raschen klinischen Restitution, schwere,
lang anhaltende Kompression statt dessen zur axonalen Degeneration mit Denervierung in segmentaler Verteilung (Dermatom/Myotom). Pathophysiologisch liegen häufig kombinierte Läsionsmuster
mit Leitungsblock und partieller Axonotmesis vor.
Tab. J 3.1:
Degenerativ
Bandscheibenprotrusion
-prolaps
Spondylarthrose
Unkarthrose (HWS)
Spondylose
Spinalkanalstenose
Spondylolisthesis
Traumatisch
HWS-Akzelerationstrauma
Wirbelkörperfraktur mit Dislokation
Wurzelausriss zervikal, selten lumbosakral
epidurales Hämatom
Neoplastisch
Karzinommetastasen (Lunge, Mamma, Prostata,
Niere, Schilddrüse)
Retikulumzellsarkom
multiples Myelom
malignes Lymphom
Meningeosis carcinomatosa
sarcomatosa
leucaemica
Abtropfmetastasen primärer ZNS-Tumoren
(Medulloblastom)
Kaudaependymom
primäre Wurzeltumoren:
Neurinom
Schwannom
Meningeom
Synovialzysten (Ganglien)
Infektiös
Herpes zoster, Herpes simplex 2
Meningoradikulitis bei Lyme-Borreliose
Epiduraler Abszess
eitrige Osteomyelitis, Diszitis
Spondylitis tuberculosa
Rheumatisch
Rheumatoide Arthritis (nur HWS)
Spondylarthritis ankylopoetica (M. Bechterew)
Immunologisch
Fokale (multifokale) Immunneuropathien
(idiopathisch oder bei Gammopathien)
Diabetische Polyradikulopathie
Ostitis deformans (M. Paget)
* Autoren dieses Kapitels in der 4. Auflage: T. N. Witt und M. Stöhr.
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Ursachen radikulärer Syndrome
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Radikuläre Syndrome
Bei schweren Wurzelschäden ist mit einem bleibenden funktionellen Defizit zu rechnen, da die Reinnervation infolge der meist großen Distanz zwischen Spinalwurzel und Zielmuskulatur in der Regel
ungenügend ist.
Gemeinsame klinische Hauptmerkmale radikulärer
Syndrome sind ein Vertebralsyndrom, Dehnungsschmerzen, segmental ausstrahlende Schmerzen
von schneidender oder stechender Qualität (Brachialgie, Ischialgie), Störungen insbesondere des
Schmerzempfindens, schlaffe Paresen der Kennmuskeln und Abschwächung bzw. Ausfall der segmentalen Muskeldehnungsreflexe. Infolge der stets
polyradikulären segmentalen Innervation der Extremitätenmuskeln ist eine komplette Lähmung
(Plegie) von Muskeln im Myotom bei monoradikulärer Läsion nicht zu erwarten. Da die sudorisekretorischen Efferenzen das Rückenmark nur in den
Segmenten Th 3–L 2 verlassen, fehlen Störungen der
Schweißsekretion bei zervikalen, sakralen und den
lumbalen Wurzelläsionen L 3–L 5 (Schiffter 1985).
Den klinischen Befund ergänzende diagnostische
Methoden zur Artdiagnose, Ausdehnung und Höhenlokalisation umfassen radiologische, elektrodiagnostische, laborchemische und Liquoruntersuchungen. Die bildgebenden Verfahren liefern
Hinweise auf anatomische Variationen, Anlageanomalien und morphologische Veränderungen sowie
auf die Ausdehnung eines Krankheitsprozesses
(Tab. J 3.2). Welches der modernen Schnittbildverfahren, Magnetresonanztomographie (MRT) oder
Computertomographie (CT), an erster Stelle der diagnostischen Reihe zum Einsatz kommt, ist abhänTab. J 3.2:
gig von der vermuteten Pathologie. Vorteile der
MRT sind die fehlende Strahlenbelastung, die
direkte Darstellung des Rückenmarks und Subarachnoidalraums in sagittaler, transversaler und
koronarer Ebene über mehrere Segmente mit
nichtinvasiver Festlegung der kranio-kaudalen Ausdehnung intraspinaler raumfordernder Prozesse.
Ergänzend zur MRT können native Funktionsaufnahmen der HWS oder LWS sinnvoll sein, um eine
Instabilität oder Wirbelgleiten auszuschließen. Die
CT bietet Vorteile bei älteren Patienten mit degenerativen knöchernen Veränderungen (spondylotische Anbauten, hypertrophe Spondylarthrose, ossifizierte Bänder und Bandscheiben) bei zervikaler
und lumbaler Spinalkanalstenose. Gasansammlungen (Vakuumphänomen) in Synovialzysten, Gelenken und Bandscheiben werden mit der CT spezifisch erfasst (Stäbler 2005). Eine CT nach
intrathekaler Kontrastmittelinstillation ist besonders geeignet zur Darstellung knöcherner Einengungen des Subarachnoidalraums einschließlich der
Wurzeltaschen und liefert wichtige Zusatzinformationen zur Operationsplanung speziell bei degenerativ erworbener knöcherner lumbaler Spinalkanalstenose.
MRT und CT erfassen zuverlässig auch extrem lateral gelegene Bandscheibenvorfälle, die sich dem myelographischen Nachweis entziehen. Die Myelographie ist heute präoperativ nur noch den Patienten
vorbehalten, die mit der MRT nicht untersucht werden können. Patienten, bei denen eine funktionsabhängige Störung vermutet wird, können myelographisch oder in der HWS auch MR-tomographisch in
Bildgebende Verfahren zur Diagnostik radikulärer Syndrome
Methode
Fragestellung
Röntgen-Nativdiagnostik a.p.,
seitlicher, schräger Strahlengang
Osteochondrose, Spondylose, Uncovertebralarthrose (HWS)
Osteoporose, Osteolysen: Tumor, Spondylodiszitis
Anlageanomalie, Fehlstellung, Traumafolgen;
Spondylolisthesis, Spondylolyse, Segmentinstabilität
Funktionsaufnahmen
Magnetresonanztomographie
Bandscheibendegeneration
-protrusion,
-prolaps,
Bandscheibensequester
Spinalkanalstenose (zervikal und lumbal)
Zervikale Myelopathie
Differenzierung Rezidivprolaps vs. Narbe (mit GD-DTPA)
Spondylodiszitis
Epiduraler Abszess
Syringomyelie
Ausdehnung spinaler raumfordernder Prozesse
J
3
Computertomographie
Bandscheibenprotrusion,
-prolaps
-sequester
knöcherne Wirbelsäulenveränderungen: Spondylarthrose, Spondylose
Differenzierung »weicher Prolaps« versus Osteophyt;
ligamentäre Ossifikationen
Spinalkanalstenose; Recessusstenose; Neuroforamenstenose
Osteodestruktion
Myelographie
Direkte Kontrastierung des Subarachnoidalraumes
Wurzeltaschendarstellung: Wurzeltaschenamputation
Ausdehnung spinaler raumfordernder Prozesse
CT-Myelographie
Darstellung umschriebener Einengungen von Myelon, Wurzeln und kaudalem
Duralsack
Beziehung Subarachnoidalraum zu knöchernem Spinalkanal
Liquordiagnostik
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Muskulatur und peripheres Nervensystem
Funktionsstellungen (Flexion/Extension) untersucht werden. Es muss betont werden, dass die
Ergebnisse der sehr sensitiven modernen bildgebenden Verfahren stets in Korrelation mit dem klinischen und elektrodiagnostischen Befund interpretiert werden müssen. Für die CT fanden sich in bis
zu 40 % und mit der MRT 52 % pathologische Befunde bei Untersuchungen an asymptomatischen
Probanden. In 27 % der Untersuchten ohne Kreuzschmerzen und Ischialgien zeigte sich eine Bandscheibenprotrusion (Jensen et al. 1994). Radiologische Befunde der Schnittbilddiagnostik (MRT, CT)
korrelieren nur schwach mit dem klinischen Status!
Elektrodiagnostische Techniken sind hilfreich in der
Objektivierung, Lokalisierung, Bestimmung von
Schweregrad, Ausdehnung und Abschätzung der
Prognose sowie zur Erfassung subklinischer axonaler radikulärer Läsionen. Die aussagekräftigste Einzeluntersuchung ist die Elektromyographie (Wilbourn und Aminoff 1998).
J 3.1
Zervikale radikuläre
Syndrome
J 3.1.1
Akuter zervikaler
Bandscheibenprolaps (BSP)
J 3.1.1.1 Klinik
Die Bandscheibenprotrusion bei intaktem Anulus
fibrosus sowie der Bandscheibenprolaps (BSP) bei
Vorfall des Nucleus pulposus durch den perforierten Faserring sind Folge regressiver Veränderungen
des Bandscheibengewebes. Der BSP entwickelt sich
wegen des schwachen hinteren Längsbandes stets
nach posterior. Die medio-posteriore Ausbreitung
führt zur Rückenmarkkompression mit spastischer
Paraparese, Hinterstrang-Syndrom und Blasenstörungen, der häufigere postero-laterale BSP verursacht eine isolierte Wurzelkompression. Aufgrund
des horizontalen Verlaufs der Nervenwurzeln durch
den Subarachnoidalraum erreicht ein lateraler BSP
zervikal in der Regel nur eine Wurzel. Fast alle Patienten zeigen eine schmerzhafte eingeschränkte
Beweglichkeit der Halswirbelsäule (HWS), paravertebralen Muskelhartspann und bewegungsabhängige Verstärkung des radikulären Schmerzes bei
Kopfwendung zur betroffenen Seite und Überstreckung der HWS (Dehnung der Wurzel). Der radikuläre Schmerz tritt akut auf und projiziert in das
periphere Dermatom der komprimierten Wurzel.
Missempfindungen und Sensibilitätsstörung (Hypalgesie) halten sich an die Dermatomgrenzen: Das
motorische Defizit umfasst die Kennmuskeln des
Myotoms. Komplette Paresen sind bei monoradikulären Syndromen nicht zu erwarten, da die jeweiligen Kennmuskeln stets von benachbarten Wurzeln
mit innerviert werden. Eine Besonderheit der linksseitigen C7-Wurzelkompression sind Schmerzen
im Brustbereich (M. pectoralis major), die primär
an eine Angina-pectoris-Symptomatik denken lassen.
Mit der MRT und CT gelingt es auch extrem lateral
– im Canalis intervertebralis und extraforaminal –
gelegene Bandscheibensequester zu erfassen, die
sich dem myelographischen Nachweis entziehen
(Wilson et al. 1991).
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Differentialdiagnostisch ist das C6- und C7-Wurzelkompressionssyndrom vom Karpaltunnelsyndrom
(Bizeps-und Trizepsreflex unauffällig, lokale motorische und sensible Leitungsverzögerung des N. medianus am Handgelenk), das C8-Syndrom von der
Ulnarisparese (mediale Begrenzung der Sensibilitätsstörung am vierten Finger, nicht im distalen
Unterarmdrittel, erniedrigtes sensibles Nervenaktionspotenzial), einer unteren Armplexusläsion
bei neurovaskulärem Kompressions-Syndrom der
oberen Thoraxapertur (EMG-Befund über das Myotom C 8 hinausgehend, mitunter positives AdsonManöver) und dem Pancoast-Syndrom (ipsilaterales
Horner-Syndrom, Anhidrose im oberen Quadranten) abzugrenzen (Mumenthaler et al. 2007). Bei
der neuralgischen Schulteramyotrophie sind die
Schmerzen im Gegensatz zur C5- oder C6-Radikulopathie diffus im Schulter-/Oberarmbereich lokalisiert und halten sich nicht an Dermatomgrenzen.
Das motorische Defizit steht ganz im Vordergrund,
das Verteilungsmuster lässt sich nicht monoradikulär eingrenzen und ähnelt dem einer oberen Armplexusläsion. Sensibilitätsstörungen sind meist nicht
vorhanden. Elektromyographisch fehlt in der Regel
eine pathologische Spontanaktivität in der Paravertebralmuskulatur.
J 3.1.1.2 Verlauf
Bandscheibenvorfälle der Halswirbelsäule sind im
Vergleich zu denen der Lendenwirbelsäule selten.
Der Altersgipfel liegt in der vierten und fünften Dekade, Männer überwiegen bei den operativ bestätigten Fällen deutlich im Verhältnis von 2–2,6 : 1 (Scoville et al. 1976, Lunsford et al. 1980a). Häufigste
Lokalisationen sind die Bandscheibenfächer HWK
5/6 und HWK 6/7 mit monoradikulärem Syndrom
C 6 bzw. C 7. Die Mehrzahl der Fälle manifestiert
sich akut mit Nacken-/Schulterblattschmerzen ohne
vorausgehendes relevantes Trauma häufig erstmals
morgens nach dem Aufwachen. Innerhalb von Stunden bis Tagen folgen typische radikuläre Schmerzen,
Paresen und Sensibilitätsstörungen.
Für das zervikale Wurzelkompressionssyndrom
existiert nur eine prospektive randomisierte und
kontrollierte Studie mit 81 Patienten, die ein Jahr
nach der Behandlung (konservativ oder operativ)
keinen signifikanten Unterschied der Ergebnisse
feststellte (Persson et al. 1997). Eine prospektive Studie zur konservativen Behandlung, durchgeführt
von der British Association of Physical Medicine
(1966), beschreibt in der Mehrzahl (60 %) Patienten,
die keine objektiven radikulären Symptome aufwiesen. In der retrospektiven Studie von Lunsford et al.
(1980a) zum operativen Ergebnis hatten hingegen
41 % der Patienten radikuläre Paresen. Ergebnisse
zum Spontanverlauf unter konservativer Therapie
bei MRT-/CT-bestätigtem BSP fehlen ebenso wie
vergleichende Langzeitstudien operative versus
konservative Therapie (Fouyas et al. 2010).
Unter konservativer Therapie werden 75 % der Patienten mit radikulärem zervikalem Schmerzsyndrom im Zeitraum von vier Wochen beschwerdefrei oder erheblich gebessert (British Association of
Physical Medicine, 1966). In der Serie von Lees und
Turner (1963) wurden 22 von 51 Patienten innerhalb weniger Monate beschwerdefrei, weitere 15
hatten geringfügige, intermittierende Symptome,
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Radikuläre Syndrome
zehn wurden als »mäßig behindert« beschrieben.
Nur ein Patient hatte ein schweres Rezidiv der
radikulären Symptomatik. Der Beobachtungszeitraum dieser retrospektiven Studie betrug zwei bis
19 Jahre.
Die chirurgischen Behandlungsverfahren bleiben
den schweren radikulären Syndromen mit funktionell bedeutsamer Parese oder den über Wochen therapieresistenten radikulären Schmerzsyndromen
und mit der betroffenen Wurzel übereinstimmendem MRT-Befund vorbehalten. Die Notwendigkeit
eines chirurgischen Vorgehens wird auf 0,3–12 %
der Fälle eingeschätzt (Hunt 1980). Es besteht keine
Korrelation zwischen den präoperativen anamnestischen Daten (Dauer der Vorgeschichte, Trauma),
dem Schweregrad des radikulären Syndroms und
dem postoperativen Ergebnis (Gregorius et al. 1976,
Lunsford et al. 1980a).
Der mediale zervikale BSP kann als besondere Verlaufsform ein schmerzloses, progredientes Halsmarkkompressions-Syndrom verursachen, das nach
Klinik und Verlauf primär intramedullären Erkrankungen wie z. B. der funikulären Spinalerkrankung
und der spinalen Form der Multiplen Sklerose
ähnlich sein kann. Eine sichere Abgrenzung ist nur
mithilfe der MRT und der Liquorimmundiagnostik
möglich. Als Sonderform der medialen Halsmarkkompression wurden umschriebene atrophische Paresen einer Hand beobachtet, die auf eine vaskuläre
Schädigung von ein bis zwei Vorderhornsegmenten
zurückgeführt wurden (Stöhr und Scheglmann
1999).
Nach segmentaler Fusion werden die proximal und
distal benachbarten Bewegungssegmente (Bandscheiben) verstärkt belastet. Dies macht bei 25 % der
Patienten einen Zweiteingriff innerhalb eines Jahrzehnts notwendig.
Zur Einschätzung der Bedeutung künstlicher Bandscheiben, die allerdings nur bei erhaltener segmentaler Beweglichkeit sinnvoll eingesetzt werden können, kann derzeit noch keine endgültige Stellung
bezogen werden, da keine Langzeitergebnisse vorliegen. Eine Überlegenheit der Ergebnisse im Vergleich
zu den Fusionstechniken ist nicht zu erkennen.
Studien, die die künstliche Bandscheibenchirurgie
und konservative Interventionen vergleichen, gibt
es nicht (aktuelle Übersicht bei Zechmeister und
Winkler 2010).
Sogenannte minimalinvasive OP-Techniken wie
perkutane und endoskopische Verfahren konnten
bisher beim Fehlen kontrollierter Langzeitergebnisse Vorteile gegenüber den mikrochirurgischen
Verfahren nicht belegen.
J 3.1.1.4 Pragmatische Therapie
Da es zur Therapie zervikaler radikulärer Syndrome
keine verwertbaren prospektiven randomisierten
Studien gibt, entfällt die Kodierung der Evidenzstärke.
Die Indikation zur chirurgischen Dekompression ist
bei folgenden Situationen gegeben:
앫
J 3.1.1.3 Therapeutische Prinzipien
Die Mehrzahl der Patienten spricht gut auf konsequente konservative Therapie an (Lees und Turner
1963, Rothman und Marvel 1975), wobei es hierfür
bislang keine aussagekräftigen prospektiven Studien gibt. Die Behandlung zielt im Akutstadium auf
die primäre mechanische Wurzeldekompression
und auf sekundäre Folgen wie Muskelverspannung
und Haltungsfehler ab, wobei insbesondere der Circulus vitiosus Schmerz-Muskelverspannung-Fehlhaltung-Schmerzverstärkung zu durchbrechen ist.
Grundprinzipien der Therapie sind Entlastung und
eventuell Traktion der HWS, wobei hier die Ergebnisse nicht eindeutig für deren Anwendung sprechen (Gross et al. 2004, Harte et al. 2004), Myotonolyse, Analgesie (Kryotherapie, medikamentös) und
nach Abklingen der akuten radikulären Symptomatik muskuläre Stabilisation und Mobilisation der
HWS Zur operativen Dekompression der Nervenwurzel sind im Wesentlichen zwei Techniken verbreitet:
앫
앫
Offene Diskektomie mit interkorporaler Spondylodese in mikrochirurgischer Technik über ventralen Zugang (unterschiedliche Techniken der interkorporalen Spondylodese: Schmieder 2009).
Dorsolateraler Zugang über eine Foraminotomie
(nach Frykholm) mit Sequesterektomie.
Der ventrale Zugang kommt sowohl bei medialen
als auch medio-lateralen Bandscheibenvorfällen zur
Anwendung, der dorsolaterale Zugang eignet sich
insbesondere als selektiver Eingriff beim lateralen
intraforaminalen Prolaps.
앫
앫
앫
Akuter medialer BSP mit neurologischen Symptomen der Rückenmarkkompression (absolute Indikation) (A)
Lateraler BSP mit funktionell bedeutsamer und
zunehmender radikulärer Parese (Muskeltestwert
3 und weniger) (A)
Lateraler BSP mit funktionell bedeutsamer radikulärer Parese (Muskeltestwert 4 und weniger)
ohne Rückbildungstendenz im Zeitraum von
3 Wochen und pathologischer Spontanaktivität
im EMG (B)
Therapieresistentes schweres radikuläres Schmerzsyndrom bei korrespondierendem BSP in der MRT
oder CT nach frühestens 6–8 Wochen intensiver
konservativer Therapie (B)
3
In der Akutphase:
앫
앫
앫
앫
앫
앫
J
Entlastung der HWS durch Vermeiden von
schwerem Heben und Tragen sowie übermäßigem Muskeltraining und von Zwangshaltungen.
Eine Halskrawatte (Schanz’-Krawattenverband)
ist nicht indiziert. Durch längere Tragedauer
kommt es zu einer Schwächung der entlastenden
Halte- und Stützmuskulatur der HWS.
Vorsichtige Traktion zur Erweiterung des Zwischenwirbelraums manuell oder apparativ (Prinzip der Glissonschlinge in Rückenlage).
Wärme- oder Kryotherapie der Paravertebralmuskulatur, Langzeitanwendung über 10–20 Minuten zwei- bis dreimal täglich.
Medikamenteöse Therapie (Tab. J 3.3).
Muskelrelaxanzien z. B. Tolperison 3 × tgl. 50–
100 mg (C).
Analgetika wie z. B. Paracetamol 500–1 000 mg
Supp. 1–0–1.
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