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BZB Januar/Februar 13
Wissenschaft und Fortbildung
Die Bestimmung des Kariesrisikos
Warum, wie und welche therapeutischen Konsequenzen ergeben sich?
E i n B e i t r a g v o n D r. L u t z L a u r i s c h , K o r s c h e n b r o i c h
Kariesprävention darf nicht wahllos und ohne entsprechende Risikodiagnostik vorgenommen werden.
Erst die Bestimmung des individuellen Kariesrisikos
und damit der individuellen Gefährdung des Patienten ermöglicht eine gezielte Auswahl präventiver
Leistungen. Die individuelle diagnostische Gewichtung einzelner Risikoparameter ist altersbezogen
und macht unterschiedliche präventive Maßnahmen in den einzelnen Altersklassen erforderlich.
Die Schonung der gesunden Zahnsubstanz bei restaurativen Maßnahmen ist ein etabliertes Vorgehen. Die Gesunderhaltung der bei der Präparation
erhaltenen Zahnanteile sollte dabei zu den Zielen
präventiver Bemühungen gehören. Die lange Zeit
gültigen „Black’schen Präparationsregeln“ bezogen
die potenziell kariesgefährdeten Zahnflächen in die
Restauration ein; adäquate Präventionsstrategien
waren zu jener Zeit noch nicht bekannt. So wurde
gesunde Zahnsubstanz innerhalb von Sekunden
durch Bohrer zerstört. Heute kann diese über Jahre,
wenn nicht sogar lebenslänglich, erhalten werden.
Voraussetzung sind Kenntnisse über die individuelle Kariesgefährdung des Patienten.
Mit der Einführung des Begriffs „individuelles Kariesrisiko“ [17,23] hat sich die Prävention entscheidend verändert. Bis dato wurde die Indikation für
präventive Leistungen aufgrund einer Veränderung
des klinischen Erscheinungsbildes gestellt – zum
Beispiel eine verfärbte Fissur oder eine oberflächliche Läsion. Die damaligen Präventionsstrategien
hatten das Ziel einer Schadensbegrenzung und ergaben sich aus initialkariösen klinischen Veränderungen. Die Kariesrisikobestimmung hat das Ziel,
schon im Vorfeld eines möglicherweise eintretenden Schadens das Risiko zu erkennen und mit einer geeigneten präventiven Maßnahme darauf zu
reagieren.
Mit präventiven Maßnahmen wird nicht die Karies
als solche behandelt, sondern das Risiko, an ihr zu
erkranken. Eine umfassende Diagnostik ist hierfür
nötig, aus welcher sich dann die präventiven Leistungen ergeben. Durch die wiederholte Ermittlung
kariogener Risikofaktoren kann sowohl der Erfolg
präventiver Maßnahmen beurteilt als auch die
Compliance des Patienten überprüft werden. Wissenschaftliche Erkenntnisse und pharmakologische
Neuerungen haben uns ein breites Spektrum präventiver Behandlungsmöglichkeiten eröffnet. Auf
der Seite der Kariesrisikobestimmung gab es in den
vergangenen Jahren nur unwesentliche Veränderungen. Grundsätzliche Diagnosebestandteile sind
[5,6,8,9,16,17,21,28]:
· Klinischer Befund: Karieserfahrung und Plaquesituation (Initialläsionen, Hygieneprobleme, morphologische Schwachstellen)
· Subklinischer Befund: mikrobiologische und funktionelle Speichelparameter
· Ernährungsanamnese beziehungsweise Ermittlung der Anzahl der Zuckerimpulse pro Tag (Ernährungssorgfalt, kariogenes Potenzial, kariogene
Wirksamkeit)
Für eine zuverlässige Risikodiagnostik müssen diese
Faktoren unbedingt berücksichtigt werden. Nur bei
einer korrekten Erhebung aller am Kariesgeschehen
beteiligten klinischen und subklinischen Parameter kann eine Prognose über die zukünftige Kariesentwicklung abgegeben werden. Der von Laurisch
[22] 1988 veröffentlichte und später modifizierte
Anamnesebogen (www.dr-laurisch.de/download)
ermittelt die Parameter und erlaubt eine umfassende Aufnahme der Risikofaktoren. Im Cariogramm
[8,9] wurden die Faktoren mit einer Fluoridanamnese modifiziert. Ein Computerprogramm bewertet
die Parameter entsprechend ihrer Bedeutung und
teilt die Risiken entsprechend der Gewichtung unterschiedlichen Flächenanteilen eines Kreises zu.
So werden im Cariogramm folgende Faktoren erhoben:
1. Ernährung: Frequenz der Nahrungsaufnahme
und Zusammensetzung der Nahrung (die Fläche ist im Cariogramm dunkelblau dargestellt)
2. Bakterien: Plaquemenge und qualitative Zusammensetzung der Plaque (Anzahl MutansStreptokokken/Laktobazillen; die Fläche ist im
Cariogramm rot dargestellt)
3. Empfänglichkeit: Resistenz der Zahnsubstanz
(Fluoridierung) und Qualität des Speichels (Sekretionsrate, Pufferkapazität, Speichel-pH-Wert;
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Abb. 1a: Die Parameter des Cariogramms
Abb. 1b: Beispiel für ein hohes Kariesrisiko
Abb. 2: Das Risiko wird von 0 (geringes Risiko) bis 4 (hohes Risiko) eingeteilt. Bewertet werden die Bedeutung der Plaquemenge und der darin enthaltenen Mikroorganismen (Streptococcus mutans und Laktobazillen) für Karies und Erosionen. Die Säurebildner haben für das Kariesgeschehen eine entscheidende Wichtigkeit, die Bedeutung
von gram-negativen, beweglichen Stäbchen ist von untergeordneter Bedeutung (im
Gegensatz zu den parodontalen Risikofaktoren).
die Fläche ist im Cariogramm hellblau dargestellt)
4. Umstände: kariöse Zahnschäden in der Vergangenheit und genereller Gesundheitszustand (die
Fläche ist im Cariogramm gelb dargestellt)
Das Computerprogramm berechnet die Wahrscheinlichkeit, neue Karies in Zukunft zu vermeiden. Nachdem alle zu ermittelnden Daten aufgenommen sind, ergeben sich unterschiedliche grafische Darstellungen eines Kariesrisikos. Dieses
Cariogramm ist im Internet unter www.mah.se
frei verfügbar und kann als Anwendung heruntergeladen werden (Abb. 1a bis c). König [16] veranschaulichte die Zusammenhänge. Er gab jedem
der vier Risikofaktoren eine unterschiedliche Gewichtung für die Bedeutung des Kariesrisikos und
für Erosionen. Auch hier beinhaltet die Diagnosefindung sowohl klinische als auch subklinische
Parameter (Abb. 2).
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Abb. 1c: Beispiel für ein geringes Kariesrisiko
Kariesrisikobestimmung bei Kleinkindern
Der Schlüssel zur Interpretation der bei der Risikoermittlung erhobenen Daten ist das Alter des Patienten [1-4,6,13,15,18-20,25-31]. Bis zu einem Alter von vier bis sechs Jahren haben die subklinischen Parameter, hier insbesondere die Anzahl an
Streptococcus mutans, eine hohe Bedeutung in der
Kariesvorhersage. Die wissenschaftliche Datenlage
lässt sich folgendermaßen zusammenfassen:
· Im zahnlosen Kindermund sind keine Mutansstreptokokken nachweisbar.
· Je früher Mutansstreptokokken nachweisbar sind,
umso größer ist die Karieshäufigkeit, insbesondere
im Approximalbereich.
· Hohe Streptococcus-mutans(SM)-Zahlen bei zweijährigen Kindern verursachen Karies mit einem
positiven Vorhersagewert von bis zu 92 Prozent in
den nächsten 2,7 Jahren.
Thenisch [31] fasste in einer Übersichtsarbeit 2006
die wissenschaftlichen Ergebnisse nochmals zusammen: Der Nachweis von SM im Speichel bei zweijährigen Kindern verdoppelt das Kariesrisiko; wird
SM im Plaqueabstrich nachgewiesen, vervierfacht
sich das Kariesrisiko. Gleiches wies Powell [27] mit
ihrer Arbeit „Caries prediction: a review of the literature“ nach: Die SM-Zahl im Speichel ist der beste
Prädiktor einer Kariesgefährdung für das Milchgebiss. Daraus lässt sich ableiten, dass ein klinisch
gesundes Gebiss bei zwei Jahre alten Kindern einer
intensiven Betreuung bedarf, wenn SM nachgewiesen wird. Das gesunde klinische Erscheinungsbild bedeutet also nicht zwangsläufig, dass kein
Kariesrisiko vorliegt.
Ziele für die frühkindliche Prophylaxe:
1. Etablierung gesunder Mundhöhlenverhältnisse
2. Verhinderung der Übertragung kariogener Keime
(Vermeidung unnötiger Speichelkontakte)
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Abb. 3: Abstrich von Plaque an den Milchschneidezähnen. Eine deutliche Plaquebildung an dieser Stelle korreliert oft mit einem hohen
Kariesrisiko.
Abb. 4: Bebrütungsmuster auf dem CRT zum Nachweis von SM beim
Kleinkind. Das Bewuchsmuster zeigt eine massive Kolonisation eines
Kleinkindes im Alter von zwei Jahren.
3. Stärkung der Abwehr des Kindes gegenüber kariogenen Keimen (Etablierung adäquater Mundhygienetechniken, Fluoridierungskonzept)
4. Verhinderung der dauerhaften übermäßigen Kolonisation bei einmal stattgefundener Übertragung (Ernährungssorgfalt, Hygieneintensivierung,
Kontrolle subklinischer Parameter)
2. Berücksichtigung der frühkindlichen Zuckerzufuhr: Die Ernährungsberatung muss deutlich
machen, dass eine Kolonisation mit kariogenen
Keimen nicht erfolgen kann, wenn das dazu nötige Substrat (Kohlenhydrate vor allem in Form
von Einfach- und Zweifachzuckern) nicht zugeführt wird.
3. Verhaltenshinweise zum Gebrauch von Saugflaschen zur Vermeidung von frühkindlichen
Zahnschäden
4. Hinweise zur Anwendung von Fluoriden: Die
wissenschaftlichen Erkenntnisse haben in den
vergangenen Jahren zu einer veränderten Sichtweise geführt.
· Die lokale Applikation von Fluoriden ist der
systemischen Darreichung überlegen.
· Vor dem ersten Zahndurchbruch ist diese Fluoridzufuhr nicht notwendig.
· Spezielle Kinderzahnpasten sollten ab dem
sechsten Lebensmonat verwendet werden.
Die subklinischen Parameter können beim Kind mithilfe eines Abstrichs von den Zähnen oder von der
Zunge mittels des CRT (Ivoclar Vivadent) ausgewertet werden (Abb. 3 und 4).
Beratungsinhalte für ein präventives Konzept:
1. Aufklärung zum Übertragungsrisiko und den Übertragungswegen kariogener Keime: Die Beratung
soll die Zusammenhänge bei der Entstehung von
Karies beim Kleinkind aufzeigen [3,28]. Diese erfolgt auf indirektem Weg (Schnuller, Milchflasche,
Löffel) oder über Gegenstände des täglichen Gebrauchs (z. B. Spielsachen). Potenzielle Kontaktpersonen können die Eltern, Tagesmutter, Kindergärtnerin, Spielkameraden oder Geschwister sein.
Dabei ist ein einmaliger Speichelkontakt nicht
das Problem; jedoch die wiederholte Inokulation
von Fremdspeichel in Verbindung mit günstigen
Kolonisationsparametern in der kindlichen Mundhöhle (Vorhandensein von Zähnen, ausreichende
Substratzufuhr zur Vermehrung kariogener Keime). Das kann dazu führen, mittelfristig ein kariogenes Biotop in der Mundhöhle des Kindes zu
etablieren [13,6,25]. Entgegen den Untersuchungen von Caufield [6] konnte Lindquist [25] nachweisen, dass eine Keimübertragung jederzeit
erfolgen kann und nicht an ein entsprechendes
Zeitfenster gebunden ist. Für die präventiven
Maßnahmen bedeutet dies, dass jeder Zeitpunkt
richtig ist, ideal wäre ein frühzeitiger Beginn, am
besten während der Schwangerschaft.
Praktische Maßnahmen:
1. Die Bestimmung der mütterlichen Zahngesundheit: Hier ist insbesondere der Anteil an aktiver
Karies im Mund der Mutter wichtig. Das Vorhandensein von aktiver Karies ist in der Regel mit erhöhten Keimzahlen kariesrelevanter Keime verbunden. Diese Keimzahlen haben maßgeblichen
Einfluss auf das Übertragungsrisiko. Eine regelmäßige professionelle Betreuung der Mutter in
Verbindung mit einer zahnärztlichen Sanierung
reduziert das Keimniveau und senkt damit das
Übertragungsrisiko. Ferner konnte gezeigt werden, dass eine regelmäßige Xylitzufuhr bei der
Mutter eine signifikante Reduktion der Wahrscheinlichkeit der Keimübertragung bewirkt [13].
2. Bestimmung des kindlichen Keimniveaus im
Alter von zwei Jahren: Hierzu eignet sich zum
Beispiel der CRT (Ivoclar Vivadent) [14,21]. Der
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Abb. 5: Bebrütungsmuster auf dem CRT von Laktobazillen bei einem
erwachsenen Patienten. Geringe Besiedelungsdichte bedeutet eine
geringe Zuckeraufnahme und geringes Kariesrisiko.
Nachweis von Streptococcus mutans sollte eine
umfangreiche präventive Behandlung auslösen.
Die Keimzahlen müssen unter die Nachweisgrenze sinken, hierzu gehören folgende Maßnahmen:
2.1. Kontrolle der Ernährungssituation. Die Frequenz der Zuckeraufnahme ist zu reduzieren.
Empfehlenswert sind xylithaltige Produkte
oder Süßigkeiten mit dem Zahnmännchensymbol, die süß schmecken, aber kein kariogenes Potenzial besitzen.
2.2. Professionelle (altersentsprechende) Reinigung der Zähne, insbesondere der Kauflächen und der Zahnzwischenräume [33]
2.3. Applikation von CHX-Gel oder -Lack
2.4. Einmal wöchentlich Zähneputzen mit 0,2%
CHX-Gel für zwölf Wochen (Alter ab zehn
Monaten) [34]
2.5. Kauflächen durchbrechender Milchmolaren
mit CHX-Gel reinigen [2]
2.6. Kontrollabstrich aus der Kaufläche. So wird
kontrolliert, ob noch kariogene Keime im Kauflächensystem nachgewiesen werden können.
2.7. Hilfsweiser, temporärer Verschluss tiefer Fissuren mit dünnfließendem Glasionomerzement. Dieser wird auf die zuvor getrocknete
Kaufläche mit Sonde oder Kugelstopfer aufgetragen und fließt in das Fissurensystem. Um
eine speichelfreie Aushärtung zu begünstigen
und die Belastung der kleinen Patienten möglichst gering zu halten, kann die Kaufläche
mit Vaseline abgedeckt werden [21,22].
Kariesrisiko bei Erwachsenen
Der bei Kindern vorherrschende Risikoparameter
des Nachweises an Streptococcus mutans verliert
im Hinblick auf die Kariesvorhersage mit zunehmendem Alter des Patienten seine dominierende Bedeutung bei der Vorhersage über die Entwicklung
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Abb. 6: Demineraliserte Flächen sind Prädiktoren für ein hohes
Kariesrisiko.
des Kariesrisikos. Eine Aussage über das Kariesrisiko
kann nur noch – wie auch von Bratthall und König
geschildert – aus einer Gesamtrisikodiagnostik resultieren. Aufgrund der Tatsache, dass eine Karies
bei Abwesenheit der beiden Leitkeime Streptococcus mutans und Laktobazillen (LB) wenig wahrscheinlich ist, bekommen die subklinischen bakteriologischen Parameter beim älteren Patienten ihre
Bedeutung in der Gesundheitsvorhersage und in
der komplexen Beurteilung der erfolgten Risikodiagnostik. Ein umfassendes präventives Betreuungskonzept gewährleistet eine Risikominimierung und einen Substratmangel für kariogene Keime. Diese können sich aufgrund des Substratentzugs nicht mehr in der gewohnten Art und Weise
vermehren. Diese Verringerung der Risikofaktoren
schlägt sich im subklinischen Befund in einer Verminderung der Zahl kariesrelevanter Keime nieder. Somit steht ein objektivierbarer Parameter zur
Verfügung, mit dem sich sowohl die Qualität unserer präventiven Bemühungen als auch die Compliance des Patienten überprüfen lassen. Die Kenntnis subklinischer Parameter ist eine wichtige Detailinformation für die Beurteilung der oralen Gesundheit oder Krankheit eines Patienten (Abb. 5
und 6). Liegen aufgrund des Alters des Patienten
oder parodontaler Erkrankungen die Zahnhälse
frei, so bekommen die subklinischen funktionellen
Speichelparameter eine hohe Gewichtung: Freiliegender Wurzelzement demineralisiert nicht wie
Zahnschmelz bei einem pH-Wert von 5,5, sondern
bereits bei einem pH-Wert von 6,7 [10,24]. Dieser
liegt knapp unterhalb des normalen Ruhe-pHWerts von 7,0.
Mithin wird zwangsläufig jede Zufuhr saurer Nahrungsmittel bei ungenügender Sekretionsrate und
Pufferkapazität des Speichels zu einer Demineralisation der Wurzeloberfläche führen – eine bakterielle
Aktivität ist hierfür erst einmal nicht notwendig.
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Abb. 7:
Gingivitis und
mangelhafte Mundhygienetechniken
fördern Glattflächenund Wurzelkaries.
Abb. 8: Freiliegende Wurzeloberflächen sind insbesondere bei
geringem Speichelfluss kariesgefährdet.
Ermittlung des individuellen Kariesrisikos:
1. Allgemeine Anamnese (Krankheiten/Lebensbedingungen, die ein erhöhtes Kariesrisiko bedingen können)
· Sozial benachteiligte Patienten mit geringer
Inanspruchnahme zahnärztlicher Betreuungsmaßnahmen
· Patienten mit Allgemeinleiden und chronischer
Medikamention, die individuelle Abwehrfaktoren in der Mundhöhle (z.B. Sekretionsrate) beeinflussen können (z.B. Antidepressiva, Rheumamittel, Diuretika, Tranquilizer)
· Allgemeinerkrankungen, die direkte Auswirkungen auf die Zähne haben können (z.B. Diabetes,
Kalziummangelerkrankungen)
· Andauernde Einnahme von Medikamenten mit
einem erhöhten Zuckeranteil
· Ältere Patienten mit reduziertem Allgemeinbefund
· Patienten mit körperlicher oder geistiger Behinderung
· Berufsbedingte Risikofaktoren (z.B. Konditor)
2. Spezielle Anamnese (Untersuchung der Mundsituation auf bisherige Karieserfahrung und aktive Karies)
· Demineralisierte Bereiche sind der deutlichste Prädiktor für eine hohe Kariesgefährdung
(vgl. Abb. 6).
· Die Hygienesituation des Patienten ist zu evaluieren. Freiliegende Zahnhälse und Gingivitis
sind erhöhte Risikofaktoren für Glattflächenkaries beziehungsweise Wurzelkaries (Abb. 7
und 8).
· Beurteilung der bisherigen restaurativen Maßnahmen
3. Untersuchung auf Rückzugsnischen für kariogene Keime wie Drehstände, Kippstände, Engstände oder andere für die häusliche Reinigung
schwer zugängliche Stellen. Hier ist oft eine Röntgenaufnahme oder eine diaphanoskopische Untersuchung eine wertvolle Hilfe. Widerstands-
messungen oder Laserreflexionsmethoden stellen derzeit die beste Methode dar, Fissurenkaries
oder auch Approximalkaries zu entdecken. Der
„Diagnodent Pen“ (KaVo) misst den Reflexionsgrad von ausgesandten Laserstrahlen. Je tiefer
die Kavitation ist, umso weniger Laserstrahlen
werden reflektiert. Dies gestattet nicht nur eine
Einschätzung der Progredienz, sondern ermöglicht gleichzeitig bei beginnenden Verfärbungen
des Kauflächensystems oder auch des Approximalraumes eine Verlaufskontrolle. Das VistaProof (Dürr Dental) macht diese Schmelzveränderung sichtbar. Ein Computerprogramm berechnet die Tiefe der Läsion und gibt eindeutige
Hinweise auf das therapeutische Vorgehen.
4. Art und Ausmaß der bakteriellen Besiedelung
beziehungsweise Kolonisation der Mundhöhle
mit kariesrelevanten Keimen (SM und LB) und
die auf dieses Keimspektrum einwirkenden weiteren Speichelparameter. Hier werden mit zunehmendem Alter des Patienten die funktionellen Speichelparameter wichtiger:
· Sekretionsrate: Die Bestimmung der Speichelfließrate gibt Informationen darüber, ob ausreichend Speichel vorhanden ist. Die natürliche
Schutzfunktion des Speichels, die Spülfunktion,
der Verdünnungseffekt bei einer Zuckeraufnahme, der Abtransport und die Verfügbarkeit
von Mineralien für die Remineralisation sowie
die Clearance-Rate hängen von der verfügbaren Speichelmenge ab. Die Sekretionsrate sollte
für durch Kauen stimulierten Speichelfluss bei
etwa 1,0 ml/Minute liegen. Werte darunter vermindern die Clearance-Rate und das Remineralisationspotenzial und sind somit kariesbegünstigend.
· pH-Wert: Der Ruhe-pH-Wert des Speichels kann
mit Indikator-Testpapier, zum Beispiel Neutralit
(Merck), ermittelt werden. Der Ruhe-pH sollte
höher oder gleich pH 7 liegen, vor allem wenn
Wurzeloberflächen freiliegen, da hier die De-
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mineralisation schon bei einem pH-Wert von
6,7 einsetzt.
· Pufferkapazität: Speichel enthält mehrere Puffersysteme zum Schutz der Zahnhartsubstanzen gegen einen Säureangriff. Die Pufferkapazität stellt einen entscheidenden Schutzmechanismus der Mundhöhle gegenüber Nahrungsund Plaquesäuren dar und steht in Beziehung
zur Speichelfließrate. So zeigen sich bei verringerter Speichelfließrate reduzierte Pufferkapazitäten in Verbindung mit einem entsprechenden Kariesbefund. Hohe Speichelfließraten bewirken aufgrund des erhöhten Natriumbikarbonatgehaltes gute Pufferkapazitäten.
Eine einfache Methode zur Ermittlung der
Pufferkapazität ist der CRT-Buffer (Ivoclar
Vivadent). Eine Pufferkapazität über dem pHWert 6 ist optimal. Der Bereich zwischen dem
pH-Wert 6 und 5 ist normal und akzeptabel,
ein Wert unter 5 ist schlecht. Sekretionsrate
und Pufferkapazität werden durch die individuelle Kauaktivität mitbestimmt, sind aber
auch von Allgemeinerkrankungen abhängig.
Bei älteren Patienten etablieren sie sich oft als
Nebenwirkung eines notwendigen Tablettenkonsums.
5. Ernährungsgewohnheiten (Frequenz und Menge
der Aufnahme von Zucker und Kohlehydraten):
Da jeder Kontakt zwischen Zucker und Plaque
zu einer Stoffwechselaktivität in der kariogenen Plaque und damit zu einer pH-Wert-Absenkung auf der besiedelten Zahnoberfläche führt,
kommt es bei der Ernährungsanamnese des Patienten darauf an, die Häufigkeit der Zuckerzufuhr zu bestimmen. Der Zuckergehalt eines
Nahrungsmittels ist für die Kariesentwicklung
nicht unbedingt entscheidend. Man unterscheidet zwischen kariogenem Potenzial und kariogener Wirksamkeit. Das kariogene Potenzial
wird durch den Zuckergehalt (Menge und Art)
und die Form des Nahrungsmittels (physikalische oder chemische Beschaffenheit) determiniert. Die kariogene Wirksamkeit wird durch die
Art (Anzahl der Zuckerimpulse) und Weise (Lutschen, Kauen) der Nahrungsaufnahme beeinflusst. Hierbei spielen individuelle Ernährungsgewohnheiten ebenso wie andere körpereigene
Abwehrfaktoren (pH-Wert des Speichels, Pufferkapazität, Sekretionsrate, antibakterielle Speichelfaktoren) eine Rolle. Beim primär oder sekundär gesunden Patienten lässt sich durch Kontrolle der Laktobazillenzahl indirekt die Zucker-
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aufnahme kontrollieren. Erhöhter Zuckerkonsum
geht einher mit einer erhöhten Laktobazillenzahl.
6. Individuelles Fluoridierungskonzept
Die Ergebnisse der Untersuchung lassen die Risikofaktoren erkennen. Durch die Analyse und
die Wertung der einzelnen Befunde kann im Anschluss für jeden Patienten ein individuelles Kariesrisiko ermittelt werden. Auf einem entsprechenden Formblatt kann der Befund dokumentiert
werden. Auf dieser Grundlage baut eine tatsächlich individuelle Prophylaxebetreuung auf. Hierbei erfolgen wiederholt die präventiv relevanten
Untersuchungen, sodass eine Verlaufskontrolle
möglich wird. So können Schwankungen bei der
Patientencompliance, Erfolge und Misserfolge der
Präventivmaßnahmen gemessen und dokumentiert werden.
Kariesrisiko und individuelle Maßnahmen
Axelsson [5] beschrieb 1990 die unterschiedlichen
Risikofaktoren, die die Diagnose „kein Kariesrisiko“
und „hohes Kariesrisiko“ auslösen können. Auch
hier ist zu sehen, dass eine Diagnose des individuellen Kariesrisikos nur durch die Kombination klinischer (Belagsbildung, DMF-T, initiale Karies, Ernährung) und subklinischer Parameter (Anzahl
Mutans-Streptococcen/Laktobazillen und funktionelle Speichelparameter) gestellt werden kann [14].
Eine Beurteilung aufgrund dieses Vorgehens hat
den Vorteil, dass eine Datenverarbeitungsanlage
nicht notwendig ist.
Kein Kariesrisiko:
· Streptococcus mutans negativ
· Mundhygienegewohnheiten hervorragend
· Niedrige Laktobazillenwerte
· Sehr niedriger DMF- beziehungsweise DMF-TIndex
· Keine aktive initiale Karies
· Ausreichende Speichelsekretion
· Geringer Konsum klebriger, zuckerhaltiger Produkte
Geringes Kariesrisiko:
· Streptococcus mutans positiv
· Mundhygienegewohnheiten gut
· Niedrige Laktobazillenwerte
· Niedriger DMF- beziehungsweise DMF-T-Index
· Wenig initiale Karies
· Speichelsekretionsrate > 1 ml/min
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· Geringer Konsum klebriger, zuckerhaltiger Produkte
Kariesrisiko:
· Streptococcus mutans positiv
· Mundhygienegewohnheiten schlecht
· Hohe Laktobazillenwerte
· Hoher approximaler DMF
· Viel initiale Karies
· Speichelsekretionsrate 1ml/min
· Hoher Konsum klebriger, zuckerhaltiger Produkte
Hohes Kariesrisiko:
· Mutanswerte von > 500 000 ml/min
· Mundhygienegewohnheiten sehr schlecht
· Laktobazillenwerte > 100 000 ml/min
· Sehr hoher DMF-T-Wert, mit bukkalen/lingualen
DFS
· Sehr viel initiale Karies
· Speichelsekretionsrate < 0,7 ml/min
· Hoher Konsum klebriger, zuckerhaltiger Produkte
· Pufferkapazität < pH 4
Präventive Hilfsmittel
Entsprechend dem individuellen Risiko stehen umfangreiche präventive Hilfsmittel zur Verfügung,
die hier exemplarisch aufgezählt werden:
1. Mineralisationsmaßnahmen (Fluorid, Aminfluoride, Duraphat-Zahncreme)
· Regelmäßige tägliche Fluoridzufuhr ist wichtig,
eventuell kombiniert mit Gelapplikation.
· Applikationshilfen verbessern die Wirksamkeit
und verlängern die Applikationsdauer.
· Duraphat-Zahncreme bei vorliegendem Wurzelkariesrisiko
· Fluoridhaltige Lacke
· Fluoridspülungen bei Risikopatienten
· Cave: Ungenügende Mundhygiene kann nicht
durch verstärkte Fluoridzufuhr ausgeglichen
werden!
2. Versiegelungsmaßnahmen
· Fluoride wirken auf der Kaufläche nur begrenzt.
· Fissurenversiegelung bei plaqueretentiven Fissurensystemen und vorhandenem Kariesrisiko
· Beeinflussung des oralen Biotops durch Elimination einer ökologischen Rückzugsnische für
kariesrelevante Keime
3. Mundhygienemaßnahmen
· Regelmäßiges Zähneputzen und Zwischenraumhygiene reduzieren das Kariesrisiko.
· Professionelle Betreuung in der Praxis baut auf
der individuellen, häuslichen Hygiene auf.
4. Speichelfluss stimulierende Maßnahmen (kauaktive Ernährung, Kaugummi, Modifikation der
Speichelzusammensetzung durch entsprechende
Zufuhr von Ca/Phosphaten, Bicarbonate)
· Kauaktivität und gesunde Ernährung fördern
Sekretionsrate und Pufferkapazität.
· Hoher Mineral- und Fluoridgehalt fördert Remineralisation.
5. Ernährungsbeeinflussung (Reduktion zuckerhaltiger Zwischenmahlzeiten, Verwendung zuckerfreier Süßigkeiten, xylithaltige Produkte)
· Maximal drei Zuckerimpulse täglich neben
den Hauptmahlzeiten
· Zuckeraustauschstoffe reduzieren die Zuckerimpulse.
· Xylithaltiger Kaugummi fördert die Mundgesundheit.
· Zuckerarme Ernährung beeinflusst die Anzahl
von Laktobazillen im Speichel.
6. Keimmodulation (CHX-haltige Präparate, Zinnfluoride (wirken auch in der Anfangsphase antibakteriell), probiotische Keime (Wirksamkeit noch
nicht eindeutig belegt)
· CHX-haltige Präparate reduzieren die Anzahl
kariogener Keime, stellen aber keine Dauertherapie dar.
· Zinnfluoride wirken bakteriostatisch.
· Die Rekolonisation mit kariesrelevanten Keimen
ist abhängig vom Zuckerkonsum und von der
Anzahl verbliebener Retentionsnischen.
Fazit
Eine exakte Diagnostik des individuellen Kariesrisikos hat die entsprechende Therapie des für die
Krankheitsentwicklung entscheidenden Risikoparameters zur Folge. Hierzu stehen ausreichende
präventive Hilfsmittel für die unterschiedlichen Altersklassen zur Verfügung. Dreh- und Angelpunkt
ist jedoch die kontinuierliche zahnärztlich-präventive Betreuung, die bei regelmäßiger Reevaluation
der individuellen Kariesgefährdung mit einer präventiven Leistung auf eine Veränderung des Kariesrisikos reagieren kann.
Korrespondenzadresse:
Dr. Lutz Laurisch
Arndtstraße 25
41352 Korschenbroich
www.dr-laurisch.de
Literatur beim Verfasser
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