von Gerda Kneifel Kieferorthopädie in der Diskussion Zu unserem Artikel „Auf den Zahn gefühlt – Kieferorthopädische Behandlung richtet nicht nur die Zähne“ aus Heft 6/2008 gab es sehr unterschiedliche Reaktionen. Um unseren Lesern die verschiedenen Einschätzungen zum Nutzen der Kieferorthopädie und der Kooperation mit den Kinderärzten nicht vorzuenthalten, veröffentlichen wir hier zwei gegensätzliche Stellungnahmen. Für die Inhalte zeichnet die Redaktion nicht verantwortlich. Kieferorthopädie realistisch einordnen Stellungnahme von Dr. Henning Madsen, Kieferorthopäde aus Ludwigshafen Der Berufsverband der deutschen Kieferorthopäden wie auch die befragten Experten argumentieren für die gesundheitliche Bedeutung ihres Fachs und möchten Pädiater für Screeninguntersuchungen im Vorschulalter und als Überweiser gewinnen. Leider werden dabei doch einige Nebelkerzen gezündet. Internationale Studien zeichnen ein eher kritisches Bild Zwei weltweit renommierte Wissenschaftler haben die gesundheitliche Bedeutung der Kieferorthopädie in einem in 2003 im Swedish Dental Journal publizierten Übersichtsartikel auf der Grundlage epidemiologischer Daten diskutiert [1]. Angesprochen wurden dabei mit Zahnfehlstellungen verbundene Risikoerhöhungen für Karies, Parodontitis, Kiefergelenkserkrankungen sowie Sprachstörungen, Atmung, Kaufunktion und psychisches Wohlbefinden. Auch wenn in dem einen oder anderen Punkt – meist schwache – Zusammenhänge gefunden wurden, kamen die Wissenschaftler zu dem Ergebnis, dass die Wirkung der Kieferorthopädie sich überwiegend auf ästhetische Verbesserung beschränke. Dazu verwiesen sie auf mögliche Schäden durch kieferorthopädische Behandlung und auf die oft nicht gegebene Langzeitstabilität der Ergebnisse und schlossen daraus, dass Patienten über diese Aspekte informiert sein müssen, um eine aufgeklärte Entscheidung für eine Behandlung treffen zu können. Medizinisch begründbare Indikationen für kieferorthopädische Behandlungen sahen sie bei syndromalen Missbildungen und Behinderungen, darüber hinaus vor allem bei sehr ausgeprägten Befunden wie Kreuzbissen, ektopisch durchbrechenden Zähnen und dem stark vergrößerten Überbiss der Frontzähne. Gerade diese Befunde sind oft schon für Laien auffällig und führen in der Regel zur Überweisung zum Kieferorthopäden durch den Zahnarzt. Interessant ist in diesem Zusammenhang auch eine 2008 publizierte, systematische Übersichtsarbeit über die parodontalen Langzeitfolgen kieferorthopädischer Behandlung [2]. Das für die Kieferorthopädie enttäuschende Resultat war keine Verbesserung, sondern eine leichte, klinisch nicht signifikante Verschlechterung. In einem Editorial in einer hochrangigen wissenschaftlichen Fachzeitschrift [3] bezeichnete der Autor den größeren Teil der kieferorthopädischen Behandlungen nicht als Therapie, sondern als „enhancement“ (Verbesserung). Screeningmaßnahmen im GesundheitswePädiatrix 1/2009 25 Keine offensive Rekrutierung von Patienten Ausgeprägte kieferorthopädische Befunde wie der schmale Oberkiefer und der vergrößerte Überbiss mit insuffizientem Mundschluss können ohne Zweifel zu obstruktiven schlafbezogenen Atmungsstörungen beitragen. Es ist richtig, darauf hinzuweisen, dass eine kieferorthopädische Behandlung in solchen Fällen gesundheitliche Bedeutung hat und weit über die ästhetische Verbesserung hinausgeht. Die in dem Artikel angegebene Vergrößerung des Pharynxlumens muss jedoch zurückgewiesen werden, denn eine dauerhafte Veränderung der Lage von Ober- und Unterkiefer ist mit konservativer kieferorthopädischer Behandlung nicht in klinisch bedeutsamem Umfang möglich [5–8). Der im Artikel zitierte HTA-Bericht stellt zu Recht fest, dass für den gesundheitlichen Nutzen der Kieferorthopädie kaum epidemiologische Daten vorliegen. Auch wenn das Fehlen von Evidenz kein Nachweis von Nutzlosigkeit Pädiatrix 1/2009 ist, besteht im Bereich der Kieferorthopädie doch wenig Anlass, über die genannten medizinischen Indikationen hinaus offensiv Patienten für Behandlungen zu rekrutieren. Menschen, die unter einer Behinderung wesentlicher oraler Funktionen oder unter ästhetischen Nachteilen leiden, wird es ohnehin ohne jede ärztliche Veranlassung in die kieferorthopädischen Praxen ziehen. Zusammenfassend möchte ich feststellen, dass außerhalb der recht eng zu fassenden medizinischen Indikationen das Gros der kieferorthopädischen Behandlungen vor allem ästhetische Effekte bewirken und das psychosoziale Wohlbefinden verbessern können. Auch das gehört zur Gesundheit und sollte nicht vernachlässigt werden – nichtsdestotrotz sollten wir Kieferorthopäden den HTA-Bericht trotz all seiner Schwächen zum Anlass nehmen, kritischer über unser Fach nachzudenken und fehlende Evidenz für den Nutzen unseres Tuns zu liefern, wo das möglich ist. Mein Eindruck ist, dass einige der für den Artikel hinzugezogenen Experten weniger mit wissenschaftlicher Objektivität als mit der durchaus legitimen, aber in der Sache nicht immer weiterführenden Verve des Berufsvertreters angetreten sind. Eine wissenschaftlich angemessene Bewertung der Kieferorthopädie kann so nicht gelingen. Literatur 1. Mohlin B, Kurol J: To what extent do deviations from an ideal occlusion constitute a health risk? Swed Dent J. 2003; 27: 1-10 2. Bollen AM et al.: The effects of orthodontic therapy on periodontal health: a systematic review of controlled evidence. J Am Dent Assoc. 2008; 139: 413-422 3. Ackerman MB: Orthodontics and its discontents. Orthod Craniofac Res. 2004; 7: 187-188 4. King GJ et al.: Comparison of peer assessment ratings (PAR) from 1-phase and 2-phase treatment protocols for Class II malocclusions. Am J Orthod Dentofacial Orthop. 2003; 123: 489-496 5. Tulloch JF et al.:Outcomes in a 2-phase randomized clinical trial of early Class II treatment. Am J Orthod Dentofacial Orthop. 2004; 125: 657-667 6. Aelbers CM et al.: Orthopedics in orthodontics: Part I, Fiction or reality – a review of the literature. Am J Orthod Dentofacial Orthop. 1996; 110: 513-519 7. Dermaut LR et al.: Orthopedics in orthodontics: Fiction or reality. A review of the literature--Part II. Am J Orthod Dentofacial Orthop. 1996; 110: 667-671 Praxis im Fokus sen sind nicht per se sinnvoll, sondern müssen ein gutes Verhältnis von Aufwand und Nutzen aufweisen. Ob das für ein pädiatrisches Screening von Zahn- und Kieferfehlstellungen gilt, ist vor diesem Hintergrund doch fragwürdig. Ebenso kritisch ist die Tendenz zu sehen, den Behandlungsbeginn immer früher, im Extremfall schon im Vorschulalter anzusetzen. Tatsächlich können die meisten kieferorthopädischen Behandlungen am einfachsten im frühen bleibenden Gebiss mit etwa elf bis zwölf Jahren durchgeführt werden. In diesem Alter wird in einer einzigen Behandlungsphase mit festsitzenden Apparaturen die größte Behandlungseffizienz erreicht. In mehreren hochklassigen Studien konnte gezeigt werden, dass ein früherer Behandlungsbeginn regelmäßig zu höheren Kosten, längerer Behandlungszeit und größerer Belastung der Patienten führt, ohne dass ein besseres Ergebnis erreicht würde [4, 5]. Da es kaum solide Daten gibt, die für den Sinn sehr früher Interventionen im Vorschulalter sprechen, wäre hier größte Zurückhaltung angebracht – natürlich mit der Ausnahme der Syndrome, der Behinderungen und einiger seltener Extrembefunde. Die von Seiten einiger Kieferorthopäden propagierte Frühbehandlung erscheint vor diesem Hintergrund im Regelfall als wenig sinnvoll und eher wirtschaftlich motiviert. 26 Praxis im Fokus 8. Johnston LE: Growing jaws for fun and profit: a modest proposal. In: McNamara JA, editor: Growth Modification: what works, what doesn‘t, and why. Ann Arbor: Center for Human Growth and Development, University of Michigan 1999; 63-86 Kieferorthopädie zwischen medizinischer Notwendigkeit, wünschenswerter Behandlung und ästhetischem Anspruch Stellungnahme von Dr. Gundi Mindermann, Bundesvorsitzende des Bundesverbandes der Deutschen Kieferorthopäden Die Diskussion um die Sinnhaftigkeit kieferorthopädischer Behandlungen sowohl im frühkindlichen als auch im jugendlichen Alter zeigt immer öfter unterschiedliche Standpunkte. Und manche verwundern. Hintergrund für die unterschiedliche Bewertung sind in der Regel die verschiedenen Behandlungsmethoden und damit automatisch die jeweils entsprechenden Kosten. Es hat sicher einen Grund, warum im Zentrum der Diskussionen rund um die Kieferorthopädie in der Regel nicht der Nutzen für die Patienten steht. Warum das so ist, wird an einem noch folgenden Beispiel deutlich. Kieferorthopädie ist kein neues Verfahren – und man darf voraussetzen, dass es sich nicht ständig weiterentwickelt und professionalisiert hätte, wenn es nicht Bedarf und Erfolge gegeben hätte. Bereits zu Beginn des vorigen Jahrhunderts hatte die Funktionskieferorthopädie („Spangen“) einen hohen Stellenwert in Deutschland. Das Ziel der damaligen Behandlungen mit nahezu ausschließlich herausnehmbaren Geräten war unter anderem die Harmonisierung der Gesichtsentwicklung sowie die Herstellung einer gesicherten Bisslage – hinter beiden Zielen stand (und steht heute mehr denn je) eine funktionell gesicherte Kopf- und Ganzkörperhaltung. Schon damals war bekannt, dass der Kiefer nicht ein Solitär im Körper ist, sondern über sein Gelenk ein Bereich mit en- gem Bezug zur Wirbelsäule bei gegenseitigem Einfluss. Mitte der siebziger Jahre erfuhr dann die sogenannte feste Zahnspange (Bracket-System) in Deutschland eine weite Verbreitung. Heute gehört sie zum üblichen Behandlungsspektrum. Mit den technischen Möglichkeiten der festen Zahnspange lassen sich auch extremste Zahnfehlstellungen korrigieren. Den Erfolg dauerhaft zu erhalten, erfordert wie in allen vergleichbaren Bereichen der Medizin eine gewisse Compliance der Patienten. Die Korrektur einer orthopädischen Fehlstellung ist keine Heilung, sondern bleibt – bei „Heilung“ der gesundheitlichen Probleme – eine Korrektur der Biologie, die über mehr oder weniger lange Zeit einer nachhaltigen Erhaltungsunterstützung bedarf. Die Zusammenarbeit mit Kinderärzten ist notwendig Die kontroverse Diskussion „um den Nutzen und Schaden einer kieferorthopädischen Behandlung“ wird vom erlebbaren Nutzen schlicht ad absurdum geführt. Die Erfolge der Therapie sind sogar für Laien auf den ersten Blick erkennbar. Rein fachlich geht im Hinblick auf die Okklusion, das Erreichen eines regelgerechten Zusammenspiels der Zähne und der Kiefer, ohne Kieferorthopädie fast gar nichts. Eine gestörte Okklusion kann zum Beispiel Ausgangslage für chronische Kopfschmerzen sein, Kieferorthopäden werden immer öfter zu interdisziplinärer Diagnostik hinzugezogen. Die Fachärzte und Fachzahnärzte wissen, warum sich dies so dynamisch entwickelt – die Kooperation dient der Optimierung von Diagnose und Therapie und reduziert Misserfolge. Interdisziplinäre Zusammenarbeit von Kinderärzten und Kieferorthopäden verhindert in der Frühphase die Etablierung von Fehlfunktionen und Fehlstellungen und verhilft den Kindern zu einem erheblich verbesserten Start in ihre gesundheitliche Entwicklung. Ein prägnantes Beispiel folgt weiter unten. Die von Kritikern in der Regel zitierten Studien zum nicht evidenzbasierten Nutzen einer Behandlungsmethode sind gerade in der Medizin sehr kritisch zu betrachten. Dies wird besonders deutlich an der vom Bundesministerium für Gesundheit in Auftrag gegebenen HTA-Studie (Health-Technology-AssessmentBericht). Dieser Bericht wurde ausschließlich von fachfremden Autoren erstellt, selbst die Pädiatrix 1/2009 27 Gesund beginnt im Mund Kommen wir zum angekündigten Beispiel, das für sich spricht, denn die kieferorthopädische Frühbehandlung ist für die Sprachentwicklung, den gesicherten Mundschluss und die muskulär ausbalancierte Entwicklung des Gesichtes von entscheidender Bedeutung. Man erinnere sich an die vielen kleinen Kinder mit ständig offenem Mund. Gerade an diesem häufigen Beispiel des offenen Mundes wird deutlich, wie wichtig eine frühzeitige Therapie ist: Die bei offenem Mund typische Zungenlagerung im Unterkiefer (statt normalerweise im Oberkiefer) führt zu einer funktionell verstärkten Entwicklung des Unterkiefers, der Zusammenbiss entwickelt sich dadurch meist nachteilig, die Zähne stehen nicht in der biologisch vorgesehenen Stellung zueinander, beispielsweise stehen die Zähne im Unterkiefer vor denen im Oberkiefer statt dahinter. Bei ständig offener Lippenhaltung trocknet die Gingiva aus, dies erhöht das Entzündungsrisiko. Die Selbstreinigung der Zähne durch den Speichelfluss ist eingeschränkt und der bakteriell angereicherte Zahnbelag kann sich verstärken. Eine eingeschränkte Nasenatmung durch ständige Mundatmung führt zu den damit verbundenen bekannten Problemen. Mit einfachen therapeutischen Maßnahmen ist hier in den meisten Fällen die Herstellung eines gesicherten Mundschlusses und damit einer weiteren ungestörten Mund- und Gesichtsentwicklung gewährleistet. Nicht grundlos stand dieses Jahr beim Tag der Zahngesundheit das Mundmilieu im Mittelpunkt. Dies zeigt, dass eine Frühbehandlung nicht nur in Extremfällen für die kleinen Patienten einen Vorteil bringt, sondern in einer Vielzahl von Fällen den Kindern helfen kann, einen gesunden Start ins Leben zu haben. Gesund beginnt im Mund – genau dies ist der Grund, schon frühzeitig präventionsorientiert kieferorthopädisch zu arbeiten. Impressum Herausgeber PD Dr. Klaus Hartmann Praxis für Kinderheilkunde, Pädiatrische Endokrinologie und Diabetologie, Frankfurt/Main Redaktion Dr. Corinna Volz-Zang, E-Mail: [email protected] Gerda Kneifel, E-Mail: [email protected] Lektorat Kirsten Külker, E-Mail: [email protected] Bildredaktion /Grafik Anke Burkhardt, E-Mail: [email protected] Layout Kirsten Külker Anzeigen & Vertrieb Petra Kling, E-Mail: [email protected] Verlag biomedpark Medien GmbH Sofienstr. 5–7, 69115 Heidelberg Tel.: +49 (0)62 21/13 747 0, Fax: +49 (0)62 21/13 747 77 www.biomedpark.de www.paediatrix.com Druck Müllerdruck GmbH & Co. KG Markircher Str. 10, 68229 Mannheim Pädiatrix 1/2009 ISSN-Nummer ISSN 1611 – 9258 Copyright Das Magazin „Pädiatrix“ und alle veröffentlichten Beiträge sind urheberrechtlich geschützt. 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Praxis im Fokus Terminologie ist in weiten Teilen falsch. Einen solchen Bericht zum Anlass zu nehmen, den Nutzen – wie in diesem Fall – der kieferorthopädischen Frühbehandlung in Frage zu stellen, ist absurd. Nichtsdestotrotz arbeitet die Wissenschaft auch in der Kieferorthopädie daran, dem verständlichen Anspruch gerecht zu werden, den Nutzen der Therapie noch fundierter nachweisen zu können.