Harninkontinenz im Alter

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MEDIZIN
ÜBERSICHTSARBEIT
Harninkontinenz im Alter
Teil 3 der Serie Inkontinenz
Mark Goepel, Ruth Kirschner-Hermanns, Annette Welz-Barth,
Klaus-Christian Steinwachs, Herbert Rübben
ZUSAMMENFASSUNG
Hintergrund: Harninkontinenz ist im Alter ein häufiges und
belastendes Symptom. Ursachen sind unter anderem Veränderungen in der Struktur des Blasenmuskels, Störungen
der neurogenen Steuerung sowie alterskorrelierte Veränderungen der Anatomie des unteren Harntraktes. Weitere
Auslöser können medikamentöse Nebenwirkungen sein.
Methode: Eine selektive Literaturanalyse in PubMed unter
den Stichworten „urinary incontinence“ und „elderly“
führte zu den zitierten Daten. Erfasst wurden vor allem
Arbeiten, die einen hohen Evidenzgrad aufweisen.
Ergebnisse: Eine dem einzelnen Patienten angepasste
Diagnostik, die in der Regel nicht invasiv sein sollte, zeigt
Formen der Belastungsinkontinenz, der Dranginkontinenz
und Mischformen. Therapeutisch stehen im Alter medikamentöse Therapien im Vordergrund, zum Beispiel Antimuskarinika, Alpha-Rezeptorenblocker, Serotonin-Noradrenalin-Wiederaufnahmehemmer, außerdem Verhaltensmodifikationen wie beispielsweise Blasentraining, geändertes
Trinkverhalten und Beckenbodenkontraktion. Bei grundsätzlich gegebener Operabilität kommen aber auch verschiedene minimalinvasive Operationsverfahren zum Einsatz, die jedoch der Gesamtsituation des Betroffenen angepasst sein müssen.
Schlussfolgerung: Harninkontinenz im Alter ist leicht zu
untersuchen und mit den heute gegebenen Mitteln häufig
mit geringem Aufwand für Patienten und Ärzte erfolgreich
zu behandeln.
Zitierweise: Dtsch Arztebl Int 2010; 107(30): 531–6
DOI: 10.3238/arztebl.2010.0531
Klinik für Urologie und Kinderurologie, Klinikum Niederberg Velbert:
Prof. Dr. med. Goepel
Urologische Klinik, Universitätsklinikum Aachen:
PD Dr. med. Kirschner-Hermanns
Klinik für Geriatrische Rehabilitation, Kliniken St. Antonius Wuppertal:
PD Dr. med. Welz-Barth
Neuropsychiatrische Praxis, Nürnberg:
PD Dr. med. Steinwachs
Urologische Klinik, Universitätsklinikum Essen:
Prof. Dr. med. Dr. h. c. Rübben
Deutsches Ärzteblatt | Jg. 107 | Heft 30 | 30. Juli 2010
arninkontinenz im Alter wird ein immer größeres medizinisches und sozioökonomisches
Problem. Gründe dafür sind die demografische Entwicklung, die Zunahme von Patienten mit chronischen Erkrankungen wie Diabetes mellitus, Morbus
Parkinson und demenziellen Syndromen wie Morbus
Alzheimer. Die Betroffenen sind psychisch sehr belastet und durch die Inanspruchnahme der Personen
aus ihrer Umgebung entsteht ein soziales und pflegerisches Problem. Von den in Deutschland mit einer
behandlungs- oder versorgungsgedürftigen Harninkontinenz lebenden Menschen sind mehr als zwei
Millionen älter als 60 Jahre (11 Prozent dieser Altersgruppe), bei den über 80-Jährigen sind es nahezu
30 Prozent (1). Bei Erwachsenen rechnet man mit einer Prävalenz von Hantraktsymptomen bei etwa 17
Prozent, bei über 80-Jährigen mit mehr als 75 Prozent (2).
Im Alter sind von einer Dranginkontinenz oder
von Drangsymptomen („overactive bladder“, [OAB])
fast ebenso viele Männer wie Frauen betroffen. Die
Dranginkontinenz hat eine hohe Bedeutung für die
Lebensqualität (zum Beispiel Depression, Stürze,
Hautkomplikationen, soziale Isolierung, Krankenhauseinweisungen, Pflegeheimaufnahmen) und für
die Mortalität (3) der Betroffenen. Zahlreiche neue
Erkenntnisse, insbesondere über die zentrale Steuerund über Blasenfunktion der Speicher- und der Miktionsfunktion der Blase, lassen das Bild der Harninkontinenz im Alter als wesentlich komplexer erscheinen als noch vor Jahren gedacht. Während ein
Mensch mit einer Blasenfunktionsstörung im Alter
bis etwa 65 Jahre Funktionsverluste an der Blase,
dem Blasenauslass oder im Beckenboden hat, wird
das Kontinenzvermögen im Alter ganz wesentlich
durch die veränderte neurogene Steuerung sowie
durch nachlassende Kompensationsmechanismen
beeinflusst (4).
Die hier vorgestellte Übersichtsarbeit beruht zum
einen auf der fachspezifischen Expertise der verschiedenen Autoren, zum anderen auf einer strukturierten Literaturrecherche in PubMed unter den
Stichworten „urinary incontinence“ und „elderly“.
In diesem Artikel werden Häufigkeit, Ursachen,
Formen, Untersuchungstechnik und Behandlungsstrategie von Harninkontinenz im Alter untersucht
und dargestellt.
H
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KASTEN 1
Nichtinvasive Diagnostik bei
Harninkontinenz im Alter
● Anamnese
● körperliche Untersuchung
● Urinuntersuchung (Schnelltest)
● Trink- und Miktionsprotokoll (möglichst zwei Tage/Nächte)
● Windeln-Wiegetest
● Restharnmessung
KASTEN 2
Erweiterte Diagnostik bei
Harninkontinenz im Alter
● Uroflowmetrie
● Sonographie des Harntraktes
● Perineal- oder Introitus-Sonographie
● Urethrozystoskopie
● gynäkologische Untersuchung und
Harnröhren-Kalibrierung
● urodynamische Untersuchung und
Miktions-Zyst-Urethrogramm (MCU) oder
video-urodynamische Untersuchung
Pathogenese
Überaktive Blase
Die im Alter häufig anzutreffende überaktive Blase ist
durch die Symptome imperativer Harndrang, Pollakisurie
und bei Auftreten von unwillkürlichem Urinverlust zudem von Dranginkontinenz gekennzeichnet. Als Ursache
dieser Blasenfunktionsstörung gelten unwillkürliche, über
Muskarinrezeptoren vermittelte Detrusorkontraktionen,
die sich urodynamisch bereits während der Füllungsphase
nachweisen lassen. Strukturelle Veränderungen der Blase
mit Verlust der Elastizität des Detrusors werden durch
kollagenen Umbau ausgelöst (5–8). Der Detrusormuskel
unterliegt so einem regelrechten Alterungsprozess.
Belastungsinkontinenz
Sie ist die Folge einer Insuffizienz des Sphinktermechanismus am Blasenauslass. Beweisend für diese
Diagnose ist der unwillkürliche Urinabgang bei passiver intravesikaler Druckerhöhung durch physikalische
Reize wie Husten, Niesen oder Betätigung der Bauchpresse, ohne dass urodynamisch Detrusorkontraktionen
nachweisbar sind.
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In der täglichen Praxis werden häufig Symptome der
Drang- und der Belastungsinkontinenz kombiniert in
Form der sogenannten Mischinkontinenz beobachtet.
Diabetes mellitus
Diabetes mellitus ist mit einem erhöhten Risiko verbunden, Harninkontinenz zu entwickeln. Die Prävalenz des Diabetes mellitus hat in den letzten Jahren
deutlich zugenommen. Fast 25 Prozent der über
75-Jährigen leiden heute unter dieser Erkrankung (9).
Das Risiko steigt mit der Länge der Diabeteserkrankung und das Risiko für schwerwiegende Inkontinenzsymptome ist fast doppelt so hoch wie bei Probanden
ohne Diabetes mellitus Typ 2 (10). Urodynamische
Untersuchungen an Älteren mit Typ-2-Diabetes zeigen
bei 79 Prozent der Männer und 59 Prozent der Frauen
pathologische Befunde (reduzierte Sensorik, Detrusorhypokontraktilität, Restharnbildung, erhöhte Blasenkapazität) (11). Neben den zentralen und peripheren
polyneuropathischen Veränderungen werden bei der
Genese von Harninkontinenz die verschiedenen durch
den Diabetes bedingten Funktionseinschränkungen
wirksam:
● Veränderung der Sensorik durch Polyneuropathie
● Reduktion der Mobilität durch den diabetischen
Fuß
● Einschränkung der Sehfähigkeit durch diabetische Retinopathie
● Veränderung der Flüssigkeitsaufnahme durch diabetogene Nephropathie.
Diagnostik
Bei den meisten inkontinenten älteren Menschen kann
mit Hilfe einer nichtinvasiven Diagnostik eine Verdachtsdiagnose der zugrunde liegenden Funktionsstörung gestellt und mit einer konservativen Therapie
begonnen werden. Auf der Basis einer ausführlichen
Anamnese, eines Trink- und Miktionsprotokolls über
zwei Tage, möglichst mit begleitendem WindelnWiegetest, einer klinischen Untersuchung, einer
Urin-(Schnelltest-)Diagnostik und einer Restharnbestimmung nach einer Willkürmiktion kann eine Einschätzung der Blasenfunktionsstörung vorgenommen
werden. Der Umfang der primären Untersuchung
muss dem einzelnen Patienten angepasst sein.
Lässt die genannte Diagnostik keine schlüssige Beurteilung der Situation zu oder ist ein konservativer
Therapieversuch fehlgeschlagen, sollte die Diagnostik
erweitert werden, wenn dies für den Patienten zumutbar erscheint und therapeutische Konsequenzen haben
kann. Eine Uroflowmetrie (Urinflussmessung) mit
nachfolgender Restharnmessung lässt Rückschlüsse
auf die vorliegende Fehlfunktion zu. Eine perinealsonographische und endoskopische Beurteilung des unteren Harntraktes sowie eine gynäkologische Untersuchung bei Frauen schließen sich an. Die urodynamische
Untersuchung ist immer dann notwendig, wenn sie eine
therapeutische Konsequenz haben könnte, wenn die
Primärtherapie erfolglos war oder ein operativer Eingriff geplant ist (Kasten 1, 2).
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Therapeutische Optionen
GRAFIK 1
Beckenbodengymnastik, Blasenmanagement
Physikalische Maßnahmen und Verhaltensinterventionen spielen im Alter neben einer die Risiken und Nebenwirkungen berücksichtigenden medikamentösen
Therapie eine wichtige Rolle.
In einer Cochrane-Analyse aus 13 randomisierten Studien mit 714 Frauen wurde der Wert der Beckenbodengymnastik gegenüber Placebo bei weiblicher Belastungsinkontinenz untersucht. Die Wahrscheinlichkeit, wieder
kontinent zu werden, war in der Verumgruppe 17-mal
und damit signifikant erhöht (12, Evidenzlevel 1A).
Zum Blasenmanagement gehört das Miktions-, das
Toiletten- und das Beckenbodentraining. Für die Inkontinenz des Älteren haben insbesondere das Toilettenund Beckenbodentraining Bedeutung. Diese Therapiemaßnahmen müssten jedoch unter Berücksichtigung der
Mobilität, Motivation und auch der Kognition des Betreffenden individuell konzipiert werden. Unter einer
professionellen Betreuung und Therapieanleitung werden die größten Erfolge erzielt. Man sollte auch immer
Kombinationen aus medikamentöser Therapie mit verhaltenstherapeutischen Maßnahmen in Erwägung ziehen. Aktive Maßnahmen wie das funktionelle Beckenbodentraining werden unterstützt von passiven Anwendungen in Form zum Beispiel von Elektrotherapie. Des
Weiteren ergänzen kognitive Ansätze im Sinne einer
Konditionierung der Verhaltensweisen und Aufschubstrategien das Behandlungskonzept. Auch Entspannungsverfahren können zu einer Drangreduzierung beitragen.
Eine Magnetstimulationsbehandlung kann eine sinnvolle Ergänzung sowohl eines Beckenbodentrainings
als auch eines Blasentrainings im Alter sein.
Medikamentöse Therapie
Veränderungen des Acetylcholinstoffechsels erschweren
eine medikamentöse Therapie der überaktiven Blase im
Alter. Zentrale cholinerge Transmittersysteme verbinden
die Hirnrinde als Informationsspeicher mit dem Hippocampus als primärer Region für die Lern- und Speicherfunktion (13). Vergleicht man die altersabhängige Muskarinrezeptorbindung im Gehirn zwischen dem beidseitigen frontalen Cortex und dem Kleinhirn, so zeigt sich eine altersabhängige Abnahme von circa 8 Prozent pro Dekade (14). Patienten mit einem altersunabhängig erhöhten Risiko für kognitive Beeinträchtigungen finden sich
bei Alzheimer- und anderen Demenzformen, Morbus
Parkinson, Diabetes Typ 2 des Erwachsenen, Multipler
Sklerose und bei chronischem Alkoholismus.
Anticholinergika
Zur Behandlung der Dranginkontinenz oder von
Drangsymptomen stehen in Deutschland unterschiedliche Anticholinergika zur Verfügung, die sich ihrem Selektivitätsprofil zum Teil unterscheiden. In-vitro-Daten
belegen, dass Propiverin, Tolterodin, Fesoterodin und
Trospiumchlorid eine ähnlich ausgeprägte Affinität zu
allen Muscarin-Rezeptorsubtypen aufweisen. Darifenacin und Solifenacin sind relativ selektiv für M3-Rezeptoren. Alle im Handel befindlichen Substanzen sind
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Hauptwirkungen zugelassener Anticholinergika, dargestellt anhand der
jeweiligen Zulassungsstudien
a) Häufigkeit der Miktionsfrequenz,
b) Häufigkeit der Inkontinenz-Episoden.
aus: Goepel M, Steinwachs KC: Wie beeinflussen Medikamente zur
Therapie der Harninkontinenz die Gehirnfunktion beim älteren Menschen,
Der Urologe A 2007; 46(4): 387–92. Mit freundlicher Genehmigung des Springer Verlags.
signifikant wirksam gegen die Hauptsymptome der
Überaktiven Blase und der Dranginkontinenz (Evidenzlevel 1A).
Entscheidend für die zentralnervösen Nebenwirkungen ist neben der Passage der Blut-Hirn-Schranke die
relative Bindungskapazität an den M1-Rezeptor, während die Blockade der M3-Rezeptoren in der glatten
Muskulatur des Detrusors eine zentrale Voraussetzung
für die klinische Wirksamkeit ist.
Die spezifische Wirkung der verschiedenen Anticholinergika auf die kognitive Leistung älterer Menschen
ist für einige Substanzen untersucht. Parameter wie
Worterkennung und Erinnerungsfähigkeit sowie gene-
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Nebenwirkungen der zugelassenen Anticholinergika,
dargestellt anhand der Zulassungsstudien
a) trockener Mund,
b) Verstopfung.
aus: Goepel M, Steinwachs KC:
Wie beeinflussen Medikamente zur Therapie der Harninkontinenz
die Gehirnfunktion beim älteren Menschen,
Der Urologe A 2007; 46(4): 387–92.
Mit freundlicher Genehmigung des Springer Verlags.
GRAFIK 2
relle Reaktionszeiten wurden überprüft. In den Endpunkten zur kognitiven Funktion zeigten sich keine
signifikanten Unterschiede zwischen Darifenacin und
Placebo (16, Evidenzlevel 2A). Die Ergebnisse einer
Vergleichsstudie, bei der Darifenacin und retardiertes
Oxybutynin verglichen wurden, erbrachten ähnliche
Befunde (17, Evidenzlevel 2A). Auch für retardiertes
Tolterodin im Vergleich zu retardiertem Oxybutynin
wurden für Tolterodin keine messbaren Veränderungen
in den angewendeten Testverfahren gefunden (18, Evidenzlevel 2A). Für Trospiumchlorid liegen Untersuchungen im Vergleich zu Oxybutynin 20 mg mit Hilfe
des Multikanal-EEGs vor. Hierbei fanden sich keine
signifikanten EEG-Veränderungen nach Trospiumchlorid (19, Evidenzlevel 2B) (Grafik 1, 2, 3) (Kasten 3).
Co-Medikationen mit anticholinergen
Wirkungen oder Nebenwirkungen
Prävalenz von
Harntraktsymptomen in der
Allgemeinbevölkerung in Relation
zum Alter
modifiziert nach (2)
534
GRAFIK 3
Der typische ältere Patient mit Harninkontinenz ist oftmals auch wegen anderer Erkrankungen in pharmakologischer Therapie. Aus diesem Grund sind vor Therapiebeginn einer Dranginkontinenz oder von Drangsymptomen die bereits bestehende Medikation auf anticholinerge Nebeneffekte zu prüfen und die vorgesehene
Dranginkontinenz-Therapie gegebenenfalls anzupassen
(Kasten 4, nach [20]). Häufig verordnete Pharmaka mit
anticholinergen Wirkungen sind zum Beispiel Furosemid, Digoxin, Theophyllin, Nifedipin, Prednisolon und
Cimetidin (Kasten 4).
Duloxetin
Duloxetin wurde zur medikamentösen Therapie der
weiblichen Belastungsinkontinenz zugelassen. Wirksamkeit und Verträglichkeit von Duloxetin bei Belastungsinkontinenz wurden in vier randomisierten, placebokontrollierten und doppelblind konzipierten Studien der Phase 2 und 3 mit mehr als 1 900 Patientinnen dokumentiert
(21, Evidenzlevel 2A). Die tägliche Einnahme von 2 × 40
mg Duloxetin senkte die Häufigkeit der Inkontinenzepisoden signifikant um mehr als 50 Prozent. Der Wirkmechanismus beruht auf der Stimulation von Motoneuronen
des Nervus pudendus, die im sakral gelegenen Onuf-Nucleus entspringen. Duloxetin stärkt so die Kontraktilität
des Sphinkters, ohne das koordinierte Zusammenwirken
von Blase und Harnröhre zu beeinträchtigen. Die HauptDeutsches Ärzteblatt | Jg. 107 | Heft 30 | 30. Juli 2010
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KASTEN 3
KASTEN 4
Metaanalyse zu Anticholinergika*1
● basiert auf 83 Studien aus 1 118 Publikationen
● alle Anticholinergika sind signifikant wirksam gegenüber Placebo
● kein Präparat hat schwere Nebenwirkungen
● häufigste Nebenwirkungen:
Häufig verordnete, anticholinerg
wirkende Substanzen*1
● Anticholinergika
– trockener Mund 29,6 %
– Juckreiz 15,5 %
– Obstipation (M3)
● signifikante Steigerung der gesundheitsbezogenen Lebensqualität
(„relative health related quality of life“)
– Darifenacin
– Fesoterodin
– Oxy transdermal
– Propiverin ER
– Solifenacin
– Tolterodin sofortwirkend (immediate release [IR])
und verzögert wirkend (extended release [ER])
– Trospium
Antiemetika/Antivertigo
Anti-Parkinson
Spasmolytika (Gastrointestinaltrakt)
Spasmolytika (Urogenitaltrakt)
Migränemedikamente
Bronchodilatoren
Prä-Anästhetika
Mydriatika
Medikamente mit anticholinerger Nebenwirkung
– Antiarrhythmika
– Antidiarrhöika
– Antihistaminika
– Muskelrelaxanzien
– Ulkusmedikamente
– Antidepressiva
– Antipsychotika
– pflanzliche Mittel
*1 modifiziert nach (15)
nebenwirkung ist Übelkeit, die bei circa 25 Prozent der
Patientinnen auftrat. Eine einschleichende Dosierung soll
dem entgegenwirken. Die Indikation zum Einsatz bei älteren Patienten wird derzeit eher selten gestellt. Obwohl
Duloxetin bei der Post-Prostatektomie-Inkontinenz des
Mannes regelmäßig Wirksamkeit zeigt, fehlt bis heute eine entsprechende Zulassungsstudie.
–
–
–
–
–
–
–
–
*1 modifiziert nach (20)
Depot-Injektionen
Bei älteren Patientinnen wurden periurethrale Kollageninjektionen untersucht. Zehn Monate waren postoperativ noch 83 Prozent der Patientinnen geheilt, während
danach die Erfolgsrate mit zunehmendem Abstand zur
Maßnahme rapide bis auf etwa 20 Prozent abnahm. Es
traten zusätzlich De-novo-Detrusorinstabilitäten bei etwa 40 Prozent der Patientinnen auf (21, Evidenzlevel 3).
Operative Therapie
Operationsindikationen ergeben sich auch bei älteren
Menschen bei allgemeiner Operabilität und Inkompetenz des Blasensphinkters und Versagen konservativer
Behandlungsmaßnahmen.
Prostatatherapie
Die transurethrale Resektion der Prostata ist bei Vorliegen einer altersbedingten Vergrößerung (benign prostatic enlargement [BPE]) mit entsprechender Symptomatik („lower urinary tract symptoms“; LUTS) und
ungenügendem Erfolg einer medikamentösen Therapie
(alpha-Rezeptorenblocker, Antimuskarinika, 5-alphaRedukatsehemmer) eine sichere und erfolgreiche Methode der Symptomreduktion. Allerdings stehen hier
zahlreiche minimalinvasive alternative OP-Techniken
zur Verfügung, die ebenfalls eine signifikante Symptomreduktion ermöglichen (Thermotherapie [TUMT],
Nadelablation [TUNA], Laserverfahren). Welches Verfahren beim einzelnen älteren Patienten gewählt wird
oder ob als ultima ratio harnableitende Techniken zum
Einsatz kommen (Dauerkatheter, intraprostatische
Stents), ist vor allem vom Gesamtzustand des Betroffenen und seinen weiteren Erkrankungen abhängig.
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Offene oder laparoskopische Kolposuspension
Bei etwa 60 Prozent der älteren Patientinnen kann eine
Kolposuspension aufgrund des Allgemeinzustandes
empfohlen werden. Dabei wurden etwa 75 Prozent der
Patientinnen geheilt (22, Evidenzlevel 3). Die laparoskopischen Verfahren können heute als äquieffektiv angesehen werden, sind aber gegenüber dem offenen Vorgehen weniger belastend.
Schlingensuspension der Harnröhre (TVT/TOT)
Das von Ulmsten beschriebene „tension free vaginaltape“ sowie die weiteren daraus resultierenden Entwicklungen wie die transobturatorischen Bänder werden zu den minimalinvasiven Therapieverfahren bei
weiblicher Belastungsinkontinenz gerechnet, so dass
hier eine Anwendung auch bei älteren Patientinnen
möglich ist. Langzeitergebnisse der TVT-Methode
über elf Jahre zeigen eine persistierende Kontinenzrate
von mehr als 80 Prozent, so dass diese Methode der
offenen Burch-Kolposuspension ebenbürtig ist (Evidenzlevel 2A [23]). Komplikationen sind eher selten
(TVT, Blasenperforation; TOT, Schmerzen im Oberschenkel).
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Fazit
Harninkontinenz als Symptom einer Blasenfunktionsstörung ist im Alter häufig und stellt eine starke Belastung
für den betroffenen Patienten und seine soziale Umgebung dar. Eine nicht invasive Basisdiagnostik kann erste
Hinweise zur Therapie geben. Schwerwiegende und therapieresistente Fälle müssen bei entsprechender Konsequenz auch invasiv untersucht werden. Eine operative Intervention beim älteren Harninkontinenz-Patienten wird
immer dann zu erwägen sein, wenn grundsätzlich Operationsfähigkeit gegeben ist, eine Belastungsinkontinenz
oder Mischinkontinenz mit hohem Belastungsanteil vorliegt und konservative Therapieansätze nur eine ungenügende Symptomreduktion bewirkt haben. Die Therapie
der symptomatischen überaktiven Blase bei älteren Menschen besteht in der Gabe von Anticholinergika. Die am
Markt vorhandenen Substanzen unterscheiden sich in ihrer Affinität zu den Muscarinrezeptoren M1 bis M5 sowie
in der Pharmakokinetik und -dynamik, während sie in
den Hauptwirkungen sowie im primären Nebenwirkungsprofil vergleichbar erscheinen. Bei Koinzidenz einer determinierenden Erkrankung oder Komedikation
mit anderen anticholinerg wirksamen Pharmaka sollten
aber Substanzen ohne oder mit nur geringen zentralen
Nebenwirkungen bevorzugt werden.
Interessenkonflikt
Die Autoren erklären, dass kein Interessenkonflikt im Sinne der Richtlinien des
International Committee of Medical Journal Editors besteht.
Manuskriptdaten
eingereicht: 23. 12. 2008, revidierte Fassung angenommen: 2. 11. 2009
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Anschrift für die Verfasser
Prof. Dr. med. Mark Goepel
Urologie, Klinikum Niederberg
Robert-Koch-Straße 2, 42549 Velbert
E-Mail: [email protected]
SUMMARY
Urinary Incontinence in the Elderly — Part 3 of a Series of Articles
on Incontinence
Background: Urinary incontinence is a common and distressing complaint
in the elderly. Its causes include structural changes in vesical muscle as
well as impaired neural control and age-related changes of the lower urinary tract. Incontinence can also be a side effect of medication.
Methods: The PubMed database was selectively searched for publications
containing the terms “urinary incontinence” and “elderly.” Studies with a
high level of evidence were chosen as the main basis for this review.
Results: The individualized diagnostic evaluation of the incontinent elderly
patient should generally be non-invasive. The evaluation may reveal urinary
incontinence of several different types: stress incontinence, overactive
bladder, and mixed incontinence. The treatment generally involves medication, such as anti-muscarinic agents, alpha-receptor blockers, and/or serotonin/noradrenalin reuptake inhibitors, combined with modifications of personal behavior, such as bladder training, altered fluid intake, and pelvic
floor contraction. A number of minimally invasive surgical techniques can
be useful for patients in operable condition, whenever such an operation
seems reasonable in view of the patient’s overall situation.
Conclusion: Urinary incontinence in the elderly can be readily evaluated,
and the currently available forms of treatment often bring satisfactory relief
with an economical use of medical resources and with little or no additional discomfort for the patient.
Zitierweise: Dtsch Arztebl Int 2010; 107(30): 531–6
DOI: 10.3238/arztebl.2010.0531
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The English version of this article is available online:
www.aerzteblatt-international.de
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