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Profilveränderung nach Extraktionstherapie
- eine computergestützte Auswertung
Catharina Weyrich und Jörg A. Lisson
Kieferorthopädie
Als Camouflage-Behandlung bezeichnet man
die symmetrische Extraktion von zwei Prämolaren nur im Oberkiefer, die bei Patienten
mit einer Angle-Klasse II,1 und spätem Behandlungsbeginn angewendet wird. Nach der
Extraktion von zwei Prämolaren im Oberkiefer entsteht in diesem Fall eine Distalokklusion im Molarenbereich und eine Neutralokklusion im Eckzahnbereich. Durch diese Therapie
wird jedoch nicht die Fehlstellung der Kieferbasen zueinander behoben, sondern lediglich die sagittale Frontzahnstufe durch Retrusion der oberen Schneidezähne „getarnt“
(frz. camouflage: Tarnung).
Die Extraktion von Zähnen aus kieferorthopädischen Gründen ist meistens dann indiziert,
wenn ein Missverhältnis zwischen Zahn- und Kiefergröße zu ungunsten der Kiefergröße vorliegt. Wenn im Kiefer keine ausreichenden Platzverhältnisse bestehen, werden meistens
Prämolaren extrahiert, die sich zwischen Eckzahn und den Backenzähnen befinden. In der
Vergangenheit wurde dieser Therapieform immer wieder nachgesagt, sie wirke sich ungünstig auf das Gesichtsprofil der Patienten aus. Dies soll in der vorliegenden Studie bei Patienten, die zusätzlich eine Unterkiefer-Rücklage (Angle-Klasse II,1) aufweisen, untersucht
werden. Vor allem sollen Unterschiede zwischen Patienten, bei denen vier Prämolaren extrahiert wurden, und Patienten, denen im Rahmen einer Camouflage-Behandlung nur zwei
Prämolaren im Oberkiefer entfernt wurden, ermittelt werden.
Obwohl sich die Extraktionstherapie mittlerweile in der kieferorthopädischen Behandlung etabliert hat, werden die Vor- und Nach-
teile dieser Therapieform in der Literatur
immer wieder kontrovers diskutiert [1, 2, 10,
11, 15]. So besteht immer noch Unklarheit
darüber, ob sich eine Therapie mit Extraktion
von Zähnen negativ auf das Gesichtsprofil
auswirkt.
Einige Autoren [10, 15] warnen vor einer Profilabflachung beziehungsweise einer Verstärkung der Gesichtskonkavität nach Extraktionstherapie, was im angloamerikanischen
Sprachraum auch zu der Bezeichnung „Dish
face“ (Schüsselgesicht) geführt hat.
Abb. 1: Schematische Anordnung einer Fernröntgenseitenaufnahme [7]. Das Fernröntgenseitenbild
gehört heute neben der Panorama-Schichtaufnahme und der Modellanalyse zum wichtigsten diagnostischen Hilfsmittel in der kieferorthopädischen Behandlung.
Abb. 2: Multibracketapparatur in situ.
10
Es wurden laterale Fernröntgenseitenaufnahmen (Abb. 1) von [n=103] Patienten mit
einer unbehandelten Angle-Klasse II,1 aus
dem Patientengut der Klinik für Kieferorthopädie der Universität des Saarlandes ausgewertet. Bei 34 Patienten wurden zwei Prämolaren im Oberkiefer extrahiert (OK-EXGruppe), bei 37 Patienten wurden je zwei
Prämolaren in Ober- und Unterkiefer extrahiert (OK-UK-Ex-Gruppe) und bei 32 Patienten wurden keine Prämolaren extrahiert
(Non-Ex-Gruppe). Eine geschlechtsspezifische
Unterscheidung fand nicht statt. Alle Patienten wurden mit einer Multibracketapparatur
(Abb. 2) behandelt. Die nach Behandlungsende aufgenommenen Fernröntgenseitenbilder
wurden digitalisiert und mit Hilfe der Software Onyx Ceph® Version 2.7.19 (Image
Instruments® GmbH, Chemnitz) ausgewertet (Abb. 3).
Am Ende der Behandlung zeigen Patienten
der OK-Ex-Gruppe signifikant retrudiertere
obere Schneidezähne als Patienten der OK-
Universität des Saarlandes
UK-Ex-Gruppe und hoch signifikant retrudiertere Schneidezähne als Patienten der NonEx-Gruppe.
Patienten mit Extraktionen nur im Oberkiefer
haben gering signifikant protrudiertere untere Schneidezähne als Patienten der OK-UKEx-Gruppe.
dingte Effekte ist dabei die Homogenität der
Gruppen zu Behandlungsbeginn. Aus diesem
Grund wurden die kephalometrischen Parameter aller Gruppen bereits zu Behandlungsbeginn auf signifikante Differenzen untersucht, wobei kein Patient zum Zeitpunkt der
Anfertigung des ersten Fernröntgenseitenbildes kieferorthopädisch vorbehandelt war.
Während der Behandlung verstärkt sich die
Gesichtskonkavität bei allen Untersuchungsgruppen höchst signifikant. Es bestehen allerdings auch hier keine signifikanten Unterschiede zwischen den verschiedenen Gruppen. Bezüglich des Nasolabialwinkels zeigen
sich sowohl zwischen Behandlungsbeginn
und Behandlungsende als auch zwischen
den verschiedenen Untersuchungsgruppen
keine signifikanten Unterschiede.
Alle Fernröntgenseitenbilder wurden von
einer Person eingescannt und ausgewertet.
Das Einscannen erfolgte dabei immer mit
denselben Geräten und derselben Software.
Zahlreiche Studien [4, 5, 6, 13] belegen, dass
bezüglich der Genauigkeit beim Auswerten
keine Unterschiede zwischen konventionell
ausgewerteten und digitalisiert und computergestützt ausgewerteten Röntgenbildern
bestehen.
Diskussion
Gemäß den Auswahlkriterien einer AngleKlasse II,1 zeigten die Patienten aller Untersuchungsgruppen zu Behandlungsbeginn
protrudierte obere Schneidezähne, wobei Patienten der Non-Ex-Gruppe die höchsten
Grundlegende Voraussetzung für eine vergleichende Gegenüberstellung der verschiedenen Gruppen im Bezug auf therapiebe-
Werte aufwiesen. Patienten der OK-Ex-Gruppe hatten kaum proklinierte, teilweise auch
regelrecht stehende Schneidezähne. Dies
lässt vermuten, dass das Maß der Proklination der Oberkiefer-Schneidezähne die Entscheidung zur Extraktion von Prämolaren
nicht wesentlich beeinflusst. Letzteres steht
im Gegensatz zu den Ergebnissen von Ong
und Woods [14].
Nach der Behandlung bestehen höchst signifikante Unterschiede zwischen der Non-Exund der OK-Ex-Gruppe. Patienten ohne Prämolaranextraktionen haben stärker protrudierte Oberkiefer-Schneidezähne als Patienten, bei denen zwei Prämolaren im Oberkiefer extrahiert wurden. Auch Patienten mit
Prämolarenextraktionen in beiden Kiefern
haben nach der Behandlung prokliniertere
Schneidezähne als Patienten der OK-Ex-Gruppe. Im Vergleich zur Non-Ex-Gruppe zeigen sie
allerdings keine signifikanten Unterschiede.
Bishara [1] stellt fest, dass bei Patienten mit
Prämolarenxtraktionen in beiden Kiefern die
oberen mittleren Schneidezähne stärker
Abb. 3: Benutzeroberfläche des digitalen Auswertungsprogrammes Onyx Ceph®.
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Jörg A. LISSON arbeitete nach seinem Studium der Zahnmedizin
und der Promotion von 1997 - 2001 als Oberarzt an der Poliklinik
für Kieferorthopädie der Medizinischen Hochschule Hannover.
Nach seiner Habilitation im Jahr 2001 war er dort ein Jahr lang
kommissarischer Leiter der Poliklinik. Seit Mai 2002 ist er Professor und Direktor der Klinik für Kieferorthopädie an der Universität
des Saarlandes in Homburg/Saar
Catharina WEYRICH studierte Zahnmedizin an der Universität
des Saarlandes und promovierte (2008) im Fach Kieferorthopädie. Seit Oktober 2007 ist sie als Assistenzärztin und wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Klinik für Kieferorthopädie in
Homburg/Saar beschäftigt.
retrahiert waren als bei Patienten ohne Prämolarenextraktionen.
Am Ende der Behandlung haben Patienten
mit Extraktionen in beiden Kiefern signifikant retrudiertere untere Schneidezähne als
Patienten der OK-Ex- oder der Non-Ex-Gruppe.
Dies war auch zu erwarten, da nur in der OKUK-Ex-Gruppe Prämolaren im Unterkiefer extrahiert wurden, wodurch eine stärkere
Retraktion der Frontzähne erreicht werden
konnte. Diese Ergebnisse stimmen mit den
Studien von Bishara [2], Finnöy [9] und Paquette [15] überein. Auch hier stellten die Autoren fest, dass Patienten nach Prämolarenextraktionen in beiden Kiefern retrudiertere
untere Schneidezähne hatten als Patienten
ohne Extraktionen. Zwischen Patienten mit
Extraktionen nur im Oberkiefer und Patienten ohne Extraktionen konnten in diesem Fall
keine signifikanten Unterschiede festgestellt
werden.
Zu Behandlungsbeginn weisen alle Patienten
deutlich über den Richtwert protrudierte
Ober- und Unterlippen auf. Patienten ohne
Prämolarenextraktionen zeigen dabei genau
so stark protrudierte Oberlippen wie Patienten der OK-UK-Ex-Gruppe und sogar noch
protrudiertere Oberlippen als Patienten der
OK-Ex-Gruppe. Dies zeigt, dass das Maß der
Lippenprotrusion zu Behandlungsbeginn
nicht unbedingt ausschlaggebend für eine
Extraktion war. Bishara [1] sieht eine protrudierte Stellung der Ober- und Unterlippen als
entscheidenden Faktor bei der Extraktionsentscheidung an. In der vorliegenden Studie
war das Lippenprofil in den Extraktionsgrup-
12
pen am Anfang der Behandlung zwar deutlich protrudiert, jedoch nicht stärker als bei
Patienten, bei denen man sich gegen eine
Extraktion entschied.
Im Behandlungsverlauf vergrößert sich der
Abstand von Ober- und Unterlippe zur Esthetic-Line bei allen Untersuchungsgruppen
höchst signifikant, das heißt, das Lippenprofil
wird konkaver. Dies stimmt mit den Studien
von Bravo [3] und James [12] überein.
Bezüglich des Nasolabialwinkels lassen sich
zwischen Behandlungsbeginn und Behandlungsende bei keiner Gruppe signifikante Unterschiede feststellen. Alle Gruppen zeigen
am Ende der Behandlung zwar geringfügige
Vergrößerungen des Winkels, die jedoch keine Signifikanz aufweisen.
Drobocky [8] stellt zwar eine signifikante Vergrößerung des Nasolabialwinkels in den Extraktionsgruppen fest, sieht es aber auch als
erwiesen an, dass die Extraktion von Prämolaren in beiden Kiefern nicht zu einem so genannten „dished in“-Profil führt. Zu den gleichen Ergebnissen kommen Bishara [1, 2] und
Kokadereli [12]. Auch sie konstatieren, dass
es trotz Verminderung der Gesichtskonvexität nicht zu einer Profilverschlechterung nach
Extraktionen gekommen ist.
Schlussfolgerung
Therapeutische Prämolarenextraktionen wirken sich also bei korrekter Indikationsstellung
nicht nachteilig auf das Gesichtsprofil aus. Ein
direkter Zusammenhang zwischen Schneidezahnstellung und Lippenprofil konnte nicht
nachgewiesen werden.
Literaturverzeichnis
[1] Bishara SE et al. Dentofacial and soft tissue changes in Class II division 1 cases
treated with and without extractions. Am
J Orthod Dentofacial Orthop 1995;107:2837
[2] Bishara SE et al. Treatment and posttreatment changes in patients with Class II,
division 1 malocclusion after extraction
and nonextraction treatment. Am J
Orthod Dentofacial Orthop 1997;111:1827
[3] Bravo LA. Soft tissue facial profile changes
after orthodontic treatment with four premolars extracted. Angle Orthod 1994;
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[5] Chen Y et al. Comparison of Landmark
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[7] Diedrich P. Kieferorthopädie I. München:
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[8] Drobocky OB. Changes in facial profile
during orthodontic treatment with extraction of four first premolars. Am J Orthod
Dentofacial Orthop 1989;95:220-230
[9] Finnöy JP. Changes in soft tissue profile
during and after orthodontic treatment.
Eur J Orthod 1987;9:68-78
[10] Harzer W. Lehrbuch der Kieferorthopädie. München: Carl Hanser Verlag, 1999
[11] James RD. A comparative study of facial
profile in extraction and nonextraction
treatment. Am J Orthod Dentofacial
Orthop 1998;
[12] Kokadereli I. Changes in soft tissue profile after orthodontic treatment with and
without extractions. Am J Orthod Dentofacial Orthop 2002;122:67-72
[13] Korkmaz S et al. An evaluation of the
errors in cephalometric measurements
on scanned cephalometric images and
conventional tracings. Eur J Orthod 2007;
29:105-108
[14] Ong HB, Woods MG. An occlusal and
cephalometric Analysis of maxillary first
and second Premolar extraction Effects.
Angle Orthod 2001;71:90-102
[15] Paquette DE et al. A long-term comparison of non-extraction and premolar
extraction edgewise therapy in borderline Class II patients. Am J Orthod Dentofacial Orthop 1992;102:1-14
Universität des Saarlandes
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