MEDIZIN Regulationsmedizin Eine Einführung in die Neuraltherapie Das erste Erlebnis mit der Neuraltherapie hatte ich während meiner Ausbildungszeit in den 60er-Jahren des vergangenen Jahrhunderts, als es mir zu meiner größten Überraschung gelang, an mir selbst ein Sekundenphänomen auszulösen. Diese Erfahrung war so einschneidend, dass ich mir vornahm, in meinem Beruf die Zusammenhänge der Neuraltherapie tiefer zu ergründen. Das hat bis heute mein ärztliches Handeln geprägt. Die erste asiatische Grippewelle in Deutschland hatte mich erfasst. Es war das Jahr 1958. Das Abitur stand vor der Tür, meine Mutter war im Krankenhaus, der Vater hatte eine Praxis mit Arbeitszeiten bis in die Nacht. Noch dazu waren wir beim Hausbau. Ich musste unbedingt noch den Haushalt erledigen, einkaufen, kochen und waschen. Ich fühlte mich elend und hatte mich mit schlechtem Gewissen hingelegt. Am Abend kam meine Schwester heim, sie erkannte sofort, dass ich Fieber hatte. Fast 42 Grad, Schüttelfrost, Herzrasen, dann Herzaussetzer, wieder Puls über 120 und Herzschmerzen: das klinische Bild einer Grippemyokarditis. Nach einer Woche Bettruhe hatte mein Herz wieder ein normale Schlagfrequenz, aber immer noch traten präkordiale Schmerzsensationen auf. Nach damaliger Auffassung des Internisten, des HNO-Arztes und meines Vaters als erfahrenem Arzt konnte nur die sofortige Tonsillektomie 16 helfen. Nach dem operativen Eingriff war zwar das EKG wieder normal, doch die Herzschmerzen waren immer noch da und nahmen bei Belastungen, aber auch nachts in Ruhe massiv zu. Die behandelnden Ärzte diagnostizierten bei mir eine rein psychische Fixation mit neurotischer Entwicklung, doch auch Psychotherapie, Autogenes Training und Psychoanalyse halfen nichts – der Herzschmerz blieb. Während meiner Ausbildungszeit wurde ich zu einem Vortrag über „Neuraltherapie“ eingeladen. Keiner wusste, was das war. Das Verfahren stand aber unter dem Zeichen der okkulten Medizin und wurde von Prof. Otto Prokop und seinen Anhängern bekämpft. Dennoch besuchte in den Vortrag. Ein Herr Dr. Becke (der spätere Präsident der DGfAN) hielt einen Vortrag über Störfelder, Fernwirkungen, Durch die Injektion von Procain an das reizauslösende Tonsillengebiet wurden meine „psychogenen“ Herzschmerzen gelöscht. zeitliche Ordnungen und Injektionstechniken mit Procain. Ich geriet ins Grübeln: Sollte mein postmyokarditischer, psychogener Herzschmerz etwa durch das Störfeld Tonsille ausgelöst und durch die nachfolgende Operation fixiert worden sein? Unglaublich, aber nach seinen Aussagen möglich. Aber es gibt keinen Nerv, der von der Tonsille ins Herz zieht – oder doch? Also bat ich meine Kollegen im Krankenhaus, mir meine Tonsillennarben mit Procain zu infiltrieren. Ich erntete nur Gelächter. Also selbst ist der Mann – vor dem Spiegel injizierte ich mir das Lokalanästhetikum mit zitternder Hand in die Narbengebiete. Zu meiner größten Überraschung waren die Herz- Mauritius Rainer Wander Die Verbindung Tonsille-Herz Die chronisch entzündete Tonsille oder die Tonsillennarbe irritieren das Segment C4. Dies erzeugt aufsteigend Funktionsstörungen der Kopfgelenke, die wiederum absteigend die Stellung der Wirbelsäule negativ beeinflussen – eine Funktionskette mit Reizungen der Segmente O/C1, C4, Th 4, Th 10 und Becken/ISG, Hüfte, Knie und Fuß. Die den Segmenten angeschlossenen Organe, bei mir das virusgeschädigte Herz, werden zusätzlich gereizt, was zu Schmerzen im Herzsegment Th 4 führt. Auch der N. accessorius hat eine Verbindung zum Segment C4 und verfügt über Rami pharyngici, laryngici und cardiaci. Bei Reizzuständen des Rachens (des Segments C4) können diese Herzsensationen unterhalten. Dem Segment C4 entspringt zudem der N. phrenicus, der Einfluss auf das Pericard hat. 3/2008 für Allgemeinärzte MEDIZIN schmerzen sofort verschwunden. Ich hatte an mir ein Sekundenphänomen ausgelöst! Heute weiß ich: Durch die Injektion von Procain an das reizauslösende Tonsillengebiet wurden alle Reizüberflutungen und somit meine „nicht beeinflussbaren, psychogenen“ Herzschmerzen gelöscht (siehe Kasten). Durch Neuraltherapie werden Fehlfunktionen im Organismus ausgeschaltet. Der Körper kann sich wieder selbst regulieren. dikamentes. Meistens werden nur wenige Milliliter des Lokalanästhetikums benötigt. Grundlagen der Neuraltherapie Erweiterte Segmenttherapie Die Neuraltherapie ist eine Regulationsund Umstimmungstherapie. Ihr Ziel ist es, gestörte biokybernetische Regelkreise des Organismus zu reorganisieren, indem Fehlinformationen ausgeschaltet und Regulationsprozesse normalisiert werden. Hierzu werden Lokalanästhetika, bevorzugt Procain, gezielt in erkrankte oder schmerzhafte Körperregionen und sogenannte Störfelder injiziert. Dadurch wird die Durchblutung verbessert; auch Schmerzen werden ausgeschaltet und Störfelder beseitigt. Damit entfällt der negative Einfluss der Störfelder auf entfernt liegende Organe. Die Hautareale, in die injiziert wird und die in nervaler Beziehung zu bestimmten inneren Organen stehen, werden als Reflexzonen oder Headsche Zonen bezeichnet. Es hat sich bewährt, Neuraltherapie und Manuelle Therapie zu kombinieren. Nach einer ausführlichen Anamnese folgt eine klassische Diagnostik. Nach Sichtung der bisherigen Therapieversuche wird entschieden, ob die Neuraltherapie Erfolg verspricht. Wird diese Frage bejaht, geht man nach einem bestimmten Therapieschema vor: als Erstes die Segmenttherapie, bei fehlendem Therapieerfolg anschließend die erweiterte Segmenttherapie und schließlich die Störfeldsuche (Abb. 1). Segmenttherapie Bei der Segmenttherapie werden in der Haut Quaddeln gesetzt oder Triggerpoints in der Muskulatur infiltriert. für Allgemeinärzte 3/2008 Mauritiu s Vorgehensweise bei der Neuraltherapie Zudem können Periostpunkte oder Gelenkkapseln, insbesondere die der Wirbelsäulengelenke, umflutet werden. Auch das Spritzen in und an Gefäße ist möglich. So können innere Organe in ihrer Funktion beeinflusst werden. Voraussetzung für die Behandlung ist die genaue Kenntnis der Anatomie und Neurophysiologie mit Dermatom, Myotom, Osteotom, Viscerotom und Angiotom. Für die Wirkung ist der Ort der Injektion entscheidend, nicht die Menge des Me- Bringen die segmentalen Injektionen keinen Therapieerfolg, müssen die sympathischen oder parasympathischen Schaltstellen, d.h. die Ganglien, in ihrer efferenten und afferenten Reizleitung durch eine erweiterte Segmenttherapie mit Procain unterbrochen werden. Die sympathischen Ganglien liegen im Grenzstrang, also außerhalb des Wirbelkanals. Sie sind mit guter anatomischer Kenntnis gut erreichbar. Bei der Behandlung sollte eine genau definierte Injektionstechnik angewendet werden. Besondere Sicherheitsvorkehrungen sind zu beachten. Die cranialen parasympathischen Ganglien (Ggl. ciliare, sphenopalatinum, oticum) sind im Kopfbereich durch eine Injektion gut und ungefährlich zugängig. Ihre Bahnen benutzen als Leitschiene die Trigeminusäste. Die trigeminalen Reizzustände aus Nasennebenhöhlen, anderen Entzündungsherden im Kopfbereich, Zähnen, Tonsillen und Ohr werden in die muskulären Steuerungen der Kopfgelenke eingeleitet. So wird vom HNO-Bereich aus die gesamte Wirbelsäulenstatik beeinflusst. Diese trigeminal-parasympathischen, afferenten Reize beeinflussen die obere Halswirbelsäule und lösen sympathische Reizzustände in verschiedenen Ebenen der Wirbelsäule aus (Funktionskette nach Wander). Diese lassen sich durch die Procain-Behandlung unterbrechen. Störfeldtherapie Ein Störfeld ist ein chemisch veränderter Gewebebezirk (oligo- oder asympto17 MEDIZIN matisch), der zu einer Reizentstehung führt und über Fernwirkungen eine Folgekrankheit (Herdkrankheit) auslöst und unterhält. Eine erfolgreiche Störfeldtherapie setzt die genaue Kenntnis der Störfelder voraus. Diese lassen sich anamnestisch oder palpatorisch erfassen. Interessant: Über 76 % der Störfelder liegen im HNO-Bereich. Die von diesen Störfeldern ausgehenden Reize bedingen tastbare und für den Patienten schmerzhafte, segmental zugeordnete Verquellungen, die Adler-Langer-Druckpunkte. Diese Projektionspunkte werden vor der Injektion an die Nasennebenhöhlen, die Zähne, die Tonsillenpole oder an Ohrpunkte auf tastbare Verquellungen mit Schmerzangabe des Patienten untersucht. Nach der Injektion wird ihre Löschung kontrolliert. Damit ist dem Behandler und dem Patienten die Wirkung auf den Gesamtkörper demonstrierbar. Diese sehr einfachen Injektionen in Störfelder im HNO-Bereich sind für den Patienten fast schmerzfrei und von hoher Effizienz. Ebenso sind die Unterleibsorgane (Prostata, Uterus, Operationsnarben im Unterleib) als Störfelder durch genau defi- Indikationen der Neuraltherapie Funktionelle und regulationsgestörte Erkrankungen, mit und ohne Schmerzen, Kopfschmerzen, Wirbelsäulenaffektionen, Neuralgien, chronische Entzündungen, Durchblutungsstörungen, hormonelle Störungen Kontraindikationen der Neuraltherapie Fortgeschrittene strukturelle Zerstörungen von Organsystemen, Erbkrankheiten, Mangelkrankheiten, Erkrankungen mit Blutgerinnungsstörungen, Geisteskrankheiten, Neurosen nierte Injektionstechniken einfach und sicher zu therapieren. Ferdinand Huneke, der Begründer der Neuraltherapie, hat einmal gesagt: 1. Jede chronische Krankheit kann störfeldbedingt sein. 2. Jede Stelle des Körpers kann zum Störfeld werden. 3. Die Procaininjektion in das schuldige Störfeld heilt die störfeldbedingten Krankheiten, soweit das anatomisch möglich ist, über das Sekundenphänomen. Diese Aussagen haben heute nach wie vor ihre Gültigkeit, wenngleich Sekundenphänomene in Zeiten hoher Umweltbelastung immer seltener werden. Indikationen, Kontraindikationen und Komplikationen Die Indikationen und Kontraindikationen für eine Neuraltherapie sind im Kasten links zusammengefasst. Wichtig zu wissen: Nach einer Neuraltherapie können beim Patienten mitunter Reaktionen leichterer Art auftreten. Häufig sind Schweißausbrüche und Schwindel sowie vorübergehende Schmerzhaftigkeit der behandelten Störfelder. Echte Komplikationen sind glücklicherweise sehr selten. Es gilt stets das Motto: Sicherheit durch Sorgfalt. In sehr Das viel zitierte allergieauslösende Potenzial des Procains ist im Vergleich zu anderen Medikamenten gering. seltenen Fällen können allergische Reaktionen, Verletzungen (wie Blutungen oder Hämatome) oder Infektionen auftreten, die durch Angst, Stress, bestehende Zweiterkrankungen oder Zweitmedikationen verstärkt werden können. Neuraltherapie nach Huneke Anamnese / Diagnostik / Therapie Segmenttherapie erweiterte Segmenttherapie (Ganglien, Plexus, Gefäße) Störfeldsuche Störfeldtherapie Therapieerfolg Therapieerfolg Therapieerfolg ja ja ja nein nein nein andere Therapiemethoden Abb. 1: Die Vorgehensweise bei der Neuraltherapie 18 Das viel zitierte allergieauslösende Potenzial des Procains ist im Vergleich zu anderen Medikamenten wie etwa Penicillin gering. Was oftmals als „Allergieneigung des Procains“ bezeichnet wird, ist in den meisten Fällen etwas völlig anderes. Procain bewirkt nach Injektion eine kapilläre Weitstellung mit Hautrötung, die in der Literatur mitunter als allergische Reaktion fehlgedeutet wird. Besteht tatsächlich beim Patienten eine (vorher erfragte) Allergieneigung, kann ein Allergietest durch eine Hautquaddelung durchgeführt werden. Dass Procain das bevorzugte Lokalanästhetikum der Neuraltherapie darstellt, beruht auch darauf, dass die Wirksubstanz das Endocannabinoidsystem anregt und so anderen Lokalanästhetika in der Schmerzreduktion überlegen ist. 3/2008 für Allgemeinärzte MEDIZIN Science dung bedarf. Wir empfehlen zum professionellen Erlernen der Techniken die Teilnahme am Kursprogramm der Deutschen Gesellschaft für Akupunktur und Neuraltherapie e.V. (DGfAN). Die Gesellschaft integriert in ihre Ausbildung die neurophysiologischen, funktionellen und anatomischen Zusammenhänge mit den Gesetzmäßigkeiten der Manuellen Therapie und der Akupunktur. Das standardisierte Ausbildungsprogramm ist auf der Homepage www.dgfan.de abzurufen. Die professionelle Anwendung der Neuraltherapie erfordert eine spezielle Ausbildung. Ausbildung erforderlich Neuraltherapie gehört zu den regulationsmedizinischen Verfahren, die man nicht „einfach so“ durchführen sollte, sondern die einer speziellen Ausbil- ne Leistung nach GOÄ. Nur mit dieser verpflichtenden Abrechnung, auch für gesetzlich Versicherte, ist die Leistung der Neuraltherapie abzurechnen. Der große Lern-, Zeit- und Risikoaufwand ist damit in engen Grenzen finanziell abzudecken. Die DGfAN empfiehlt analoge Abrechnungsziffern (www.dgfan. de). Natürlich müssen die verwendeten Mengen von Procain sowie Injektionsspritzen und verwendete Kanülen mit in den Rechnungsbetrag einfließen. ▪ MR Dr. med. Rainer Wander Präsident der Deutschen Gesellschaft für Akupunktur und Neuraltherapie e. V. (DGfAN) Facharzt für Allgemeinmedizin, Naturheilverfahren, Homöopathie, Chirotherapie, Spezielle Schmerztherapie EBM 2008 und Neuraltherapie Im EBM 2008 wurde die Punktzahlerhöhung bei Erstkontakt mit einem Patienten mit dem Wegfall vieler Einzelleistungen kombiniert. Die Neuraltherapie als Segmenttherapie – früher EBM 415, dann EBM 02360 – fiel als abrechenbare Einzelleistung ebenfalls weg. Die Störfeldtherapie war schon immer ei- Abrechnungsmöglichkeiten für die Neuraltherapie Leistung Neuraltherapie Punkte Einfach-Satz in € Injektion, subkutan, submuskulös, intrakutan oder intramuskulär GOÄ-Ziffer 252 analog 40 2,33 Injektion intravenös 253 70 4,08 Injektion intraarteriell 254 80 4,66 Injektion intraartikulär oder perineural 255 95 5,54 Injektion in den Periduralraum 256 185 10,78 Injektions- und/oder Infiltrationsbehandlung der Prostata, je Sitzung 264 120 7,00 Intrakutane Reiztherapie (Quaddelbehandlung), je Sitzung 266 60 3,50 Medikamentöse Infiltrationsbehandlung im Bereich einer Körperregion, auch paravertebrale oder perineurale oder perikapsuläre oder retrobulbäre Injektion und/oder Infiltration, je Sitzung 26 60 4,66 Punktion eines Gelenks (Instillation) 300 120 7,00 Punktion eines Ellenbogen-, Knie- oder Wirbelgelenks (Instillation) 301 160 9,33 Punktion eines Schulter- oder Hüftgelenks (Instillation) 302 250 14,57 Punktion der Schilddrüse (Instillation) 319 200 11,66 Infiltration kleinerer Bezirke 490 61 3,56 Infiltration größerer Bezirke 491 121 7,05 Leistungsanästhesie, perineural 493 61 3,56 Blockade des Truncus sympathicus (lumbaler Grenzstrang oder Ggl. stellatum, Ggl. cervicale med., Ggl. cervicale superius) 497 220 12,82 Blockade des Truncus sympathicus (ggl. coeliacum recht und/oder links) 498 300 17,49 Blockade eines Nervs im Bereich der Schädelbasis (z. B. Ggl. pterygopalatinum, Ggl. Gasseri, Ggl. oticum) rechts und/oder links 2599 225 13,12 Quelle: Hufeland-Leistungsverzeichnis der Besonderen Therapierichtungen, Hrsg.: Hufelandgesellschaft e.V., Karl F. Haug Verlag, Stuttgart 2005, ISBN: 3-8304-7219-6 Die Abrechnung der nachstehenden Ziffern ist teilweise Erfahreneren vorbehalten, die über eine entsprechende Ausbildung durch die Fachgesellschaft verfügen. Die Ziffern beinhalten die Segment-, die Ganglien- und die Störfeldbehandlung. für Allgemeinärzte 3/2008 19