Vorlesung Behindertenrecht HS 13 Dr. iur. Caroline Hess-Klein Behindertenrecht im Baubereich Verhältnis zwischen BehiG und kantonalen Bauvorschriften Öffentlich zugängliche Bauten und Anlagen 1. Geltungsbereich BehiG a) Erfasste Bauten und Anlagen - Was sind Bauten und Anlagen? - Was heisst öffentlich zugänglich? b) Auslöser der Anpassung a) Erfasste Bauten und Anlagen - Was sind Bauten und Anlagen? Art. 22 RPG Bauten und Anlagen sind: „jene künstlich geschaffenen und auf Dauer angelegten Einrichtungen, die in fester Beziehung zum Erdboden stehen und geeignet sind, die Vorstellung über die Nutzungsordnung zu beeinflussen, sei es, dass sie den Raum äusserlich erheblich verändern, die Erschliessung belasten oder die Umwelt beeinträchtigen. Dazu gehören auch Fahrnisbauten, welche über nicht unerhebliche Zeiträume ortsfest verwendet werden.“ Art. 2 lit.b BehiV Bauten und Anlagen (Art. 3 Bst. a BehiG): befristet errichtete oder auf Dauer angelegte Räumlichkeiten und Einrichtungen; a) Erfasste Bauten und Anlagen - Was heisst öffentlich zugänglich? Auszug aus der Botschaft zum BehiG (S. 1778): Bauten und Anlagen „zu denen grundsätzlich jeder Zugang hat, sofern er die allenfalls bestehenden Voraussetzungen (Eintritts- oder Benützungsgebühr, schickliche Kleidung usw.) erfüllt“ Art. 2 lit. c BehiV öffentlich zugängliche Bauten und Anlagen (Art. 3 Bst. a BehiG): Bauten und Anlagen: 1. die einem beliebigen Personenkreis offen stehen, 2. die nur einem bestimmten Personenkreis offen stehen, der in einem besonderen Rechtsverhältnis zum Gemeinwesen oder zu Dienstleistungsanbieterinnen und –anbietern steht, welche in der Baute oder Anlage tätig sind. Ausgenommen sind Bauten und Anlagen, die zur Kampf- und Führungsinfrastruktur der Armee gehören, oder 3. in denen Dienstleistungsanbieterinnen und –anbieter persönliche Dienstleistungen erbringen; b) Was löst die Pflicht zur Anpassung aus? • Bewilligung für den Bau oder Erneuerung der öffentlich zugänglichen Bereiche. • Ursprüngliche Regelung: 40% des Neuwertes • Frage der Nutzungsänderung • Frage des vereinfachten Baubewilligungsverfahrens 2. Materielle Anforderungen a) Grundsätzlich - Begriff der Benachteiligung nach Art. 2 Abs. 2 und 3 BehiG - Alle Zugänge? - Zugang oder auch Benutzbarkeit? - Frage des Teilumbaus b) Einschränkende Interessen bei der Anpassung 2. Materielle Anforderungen a) Grundsätzlich - Begriff der Benachteiligung Einschränkung der Autonomie. Der Hinweis auf «bauliche Gründe». - Alle Zugänge? „Es müssen nicht sämtliche Zugänge behindertengerecht gestaltet sein; es genügt, wenn der Haupteingang die Anforderungen erfüllt. Unstatthaft wäre hingegen beispielsweise der Zugang über einen Warenlift eines Hintereingangs.“ (Botschaft BehiG, 1777) - Zugang oder auch Benutzbarkeit? „Je nach Umständen kann der ‚Zugang‘ auch die Benützung eines Objektes bedeuten. Dies ist beispielsweise bei öffentlich zugänglichen Teilen von Gebäuden im oben beschriebenen Sinne (Bst. c) der Fall. Mit Blick auf diese Bauten bedeutet ‚Zugang‘ auch die Möglichkeit, die öffentlich zugänglichen Teile dieses Gebäudes und dessen dazugehörenden Annexeinrichtungen (Toiletten, Lifte usw.) zu benützen.“ (Erläuterungen des BJ zur BehiV) - Frage des Teilumbaus BGE 134 II 249 2. Tragweite der Anpassung b) Einschränkende Interessen bei der Anpassung Grundsatz der Verhältnismässigkeit, Art. 11 und 12 BehiG. Art. 11 Allgemeine Grundsätze 1 Das Gericht oder die Verwaltungsbehörde ordnet die Beseitigung der Benachteiligung nicht an, wenn der für Behinderte zu erwartende Nutzen in einem Missverhältnis steht, insbesondere: a. zum wirtschaftlichen Aufwand; b. zu Interessen des Umweltschutzes sowie des Natur- und Heimatschutzes; c. zu Anliegen der Verkehrs- und Betriebssicherheit. (...) Art. 12 Besondere Fälle 1 Bei der Interessenabwägung nach Artikel 11 Absatz 1 ordnet das Gericht oder die Verwaltungsbehörde die Beseitigung der Benachteiligung beim Zugang zu Bauten, Anlagen und Wohnungen nach Artikel 3 Buchstaben a, c und d nicht an, wenn der Aufwand für die Anpassung 5 Prozent des Gebäudeversicherungswertes beziehungsweise des Neuwertes der Anlage oder 20 Prozent der Erneuerungskosten übersteigt. (...) Beispiel Anwendung Art. 11/12 BehiG: Urteil Bundesgericht 1C_280/2009 (2009) – Umbau Seefeldstrasse Zürich Erwägung 5.2 „Die Beschwerdeführerin ist der Auffassung, der Belagswechsel verletze das Strassenverkehrsrecht des Bundes, weil er dazu führe, dass das Trottoir nicht mehr als durchgehendes Trottoirband erkennbar sei. Dadurch entstehe Unsicherheit über die Vortrittsberechtigung der Fussgänger; dies gefährde die Verkehrssicherheit. Es handle sich um eine unzulässige Markierung i.S.v. Art. 72 Abs. 1 bis der Signalisationsverordnung vom 5. September 1979 (SSV; SR 741.21). Eine Pflästerung der Trottoirüberfahrt wäre überdies doppelt so teuer wie ein konventioneller Belag und hätte einen erhöhen Unterhaltsbedarf zur Folge. Die damit verbundenen Zusatzkosten seien unverhältnismässig (Art. 11 und 12 BehiG).“ Erwägung 5.3 „Zunächst ist festzuhalten, dass das Verwaltungsgericht keine Pflästerung, sondern lediglich eine taktil erfassbare Belagsstruktur der Trottoirüberfahrten angeordnet hat. Die nähere Ausgestaltung derselben bleibt im Ermessen der Stadt. In Betracht kommen insbesondere taktilvisuelle Markierungen für blinde und sehbehinderte Fussgänger gemäss VSS-Norm SN 640 852 (...). Solche Markierungen sind nach Art. 72a SSV ausdrücklich zulässig. Die Markierungen dürfen nicht den Eindruck erwecken, es handle sich um die Markierung einer Fahrbahn, sondern müssen das Trottoir weiterhin als durchgehendes Band erkennen lassen, um keine Unsicherheit über die Vortrittsberechtigung der Fussgänger zu schaffen. Die Beschwerdegegnerin hat hierfür eine mögliche Lösung vorgeschlagen (...). Dieser Vorschlag ist aber nicht verbindlich. Die Stadt kann daher eine andere (...) Markierung wählen, die den Anforderungen an Trottoirüberfahrten entspricht. Die Beschwerdegegnerin legt unwidersprochen dar, dass die fraglichen Markierungen, wie konventionelle Strassenmarkierungen, maschinell angebracht werden können und keine erheblichen Kosten verursachen (ca. Fr. 50/Laufmeter). Insofern erweist sich die Anordnung auch als verhältnismässig.“ Beispiel Anwendung Art. 11/12 BehiG: Waadt, Tribunal cantonal, AC.2010.0155 (2011) Wohnbauten/Geltungsbereich Frage der Berechnung der Anzahl Wohneinheiten wenn: – Bauten mit mehreren Hauseingängen; – Überbauungen mit mehreren Gebäuden, die demselben Eigentümer gehören; Wohnbauten/Tragweite der Anpassung Zugang oder Benutzbarkeit? Bauten mit Arbeitsplätzen/Geltungsbereich „Bei der Baupublikation steht die konkrete Nutzung oft noch nicht im Detail fest. Es ist deshalb kaum möglich, bereits in diesem Zeitpunkt die künftigen Arbeitsplatzzahlen verlässlich zu berechnen. Es muss deshalb der rechtsanwendenden Behörde überlassen werden, die konkrete Situation im Einzelfall zu würdigen, um festzustellen, ob ein solches Gebäude in den Geltungsbereich des BehiG fällt oder nicht.“ (Erläuterungen BJ zur BehiV) Bauten mit Arbeitsplätzen/Tragweite der Anpassungen Zugang oder Benutzbarkeit? Rechtsansprüche des Einzelnen (Art. 7 Abs. 1 BehiG) - Baubewilligungsverfahren Frage der Enge der Beziehung zur Streitsache. - Zivilverfahren Rechtsansprüche der Organisationen • Ideelle Verbandsbeschwerde nach Art. 9 Abs. 3 lit. a BehiG • Egoistische Verbandsbeschwerde Kantonsverfassung BS § 8 Rechtsgleichheit und Diskriminierungsverbot (...) 3 Für Behinderte sind der Zugang zu Bauten und Anlagen sowie die Inanspruchnahme von Einrichtungen und Leistungen, die für die Öffentlichkeit bestimmt sind, soweit wirtschaftlich zumutbar, gewährleistet. Der Gesetzgeber konkretisiert die wirtschaftliche Zumutbarkeit. Kantonsverfassung GE Art. 16 Droits des personnes handicapées 1 L’accès des personnes handicapées aux bâtiments, installations et équipements, ainsi qu’aux prestations destinées au public, est garanti. Rechtsvergleich USA §12182 ADA (a) General rule No individual shall be discriminated against on the basis of disability in the full and equal enjoyment of the goods, services, facilities, privileges, advantages, or accommodations of any place of public accommodation by any person who owns, leases (or leases to), or operates a place of public accommodation. (…) For purposes of subsection (a) of this section, discrimination includes— (…) (iv) a failure to remove architectural barriers, and communication barriers that are structural in nature, in existing facilities, (…), where such removal is readily achievable; and (v) where an entity can demonstrate that the removal of a barrier under clause (iv) is not readily achievable, a failure to make such goods, services, facilities, privileges, advantages, or accommodations available through alternative methods if such methods are readily achievable. Deutschland Gesetz zur Gleichstellung behinderter Menschen vom 27. April 2002 Siehe insbesondere § 4, 5, 7 und 8 • Benachteiligungsverbot für Träger der öffentlichen Gewalt • Zielvereinbarungen mit Privaten Frankreich: Gesetz vom 11. Februar 2005 (« Loi Handicap ») • Vorschriften für neue und bestehende Bauten mit Umsetzungsfristen • Unabhängige Überprüfung bei der Bauabnahme • Vorschriften beim Erteilen von Subventionen • Behindertenzugänglichkeit als obligatorischer Bestandteil der Ausbildung der Architekten und weiterer Baufachleute Art. 9 UNO-BRK Zugänglichkeit (1) Um Menschen mit Behinderungen eine unabhängige Lebensführung und die volle Teilhabe in allen Lebensbereichen zu ermöglichen, treffen die Vertragsstaaten geeignete Massnahmen mit dem Ziel, für Menschen mit Behinderungen den gleichberechtigten Zugang zur physischen Umwelt, zu Transportmitteln, (…), sowie zu anderen Einrichtungen und Diensten, die der Öffentlichkeit in städtischen und ländlichen Gebieten offenstehen oder für sie bereitgestellt werden, zu gewährleisten. Diese Massnahmen, welche die Feststellung und Beseitigung von Zugangshindernissen und -barrieren einschliessen, gelten unter anderem für a) Gebäude, Strassen, Transportmittel sowie andere Einrichtungen in Gebäuden und im Freien, einschliesslich Schulen, Wohnhäusern, medizinischer Einrichtungen und Arbeitsstätten; (2) Die Vertragsstaaten treffen ausserdem geeignete Massnahmen, a) um Mindeststandards und Leitlinien für die Zugänglichkeit von Einrichtungen und Diensten, die der Öffentlichkeit offenstehen oder für sie bereitgestellt werden, auszuarbeiten und zu erlassen und ihre Anwendung zu überwachen; b) um sicherzustellen, dass private Rechtsträger, die Einrichtungen und Dienste, die der Öffentlichkeit offenstehen oder für sie bereitgestellt werden, anbieten, alle Aspekte der Zugänglichkeit für Menschen mit Behinderungen berücksichtigen; c) um betroffenen Kreisen Schulungen zu Fragen der Zugänglichkeit für Menschen mit Behinderungen anzubieten;