Stadtanthropologische Perspektiven

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Einführung in die
Europäische Ethnologie
WS 2011/12
Prof. Dr. Johannes Moser
Einführung in die Europäische Ethnologie
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• Organisatorisches:
Prüfungen (Klausur):
– BA-Studierende: 6.2.2012 14.15 s.t.
– EWS-Studierende: 6.2.2012 14.15 s.t.
– Magisterstudierende (Zwischenprüfung und
Hauptseminaraufnahmeprüfung): voraussichtlich
13.2.2012, Zeit und Ort rechtzeitig auf der
Institutshomepage (http://www.volkskunde.unimuenchen. de/index.html) oder im Sekretariat
erfragen.
• Seminarkarte!
• Erläuterungen zu Folien
Einführung in die Europäische Ethnologie
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• Volkskunde/Europäische Ethnologie ist eine
Disziplin, die sich im weitesten Sinn mit der
Alltagskultur bzw. mit kulturellen Phänomenen
in Europäischen Gesellschaften in Geschichte
und Gegenwart beschäftigt.
• In ihrer Tradition als Volkskunde lange Zeit
mehr auf die eigene nationale Gesellschaft
fokussiert, hat sich der Blickwinkel in den
letzten Jahrzehnten verstärkt auf kulturelle
Phänomene in ganz Europa erweitert.
Einführung in die Europäische Ethnologie
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• Im Gegensatz zu manchen anderen Kulturwissenschaften richtet die Volkskunde/Europäische
Ethnologie ihr Augenmerk weniger auf die Hochkultur oder Lebenswelten der höheren Schichten, sondern auf das Denken, Handeln und Fühlen von Gruppen aus der breiten Bevölkerung.
• Vor allem die symbolischen Ordnungen des Alltagslebens in ihrer historischen Entwicklung und
in ihrem Wandel stehen im Zentrum des Interesses, wobei die Beziehungen von Kultur, Macht
und Ungleichheit eine zentrale Rolle spielen.
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• Forschungsbeispiel Blatten – ein Dorf an der
slowenisch-steirischen Grenze
Kultur
• Mit Kultur versuchen wir zu erklären, erstens wie
Menschen Bedeutungen schaffen und ihrerseits
wieder von diesen Bedeutungen beeinflusst werden und zweitens wie sie diese Bedeutungen in
ihrem täglichen Lebensvollzug – also in der Praxis – bestätigen oder transformieren. Es handelt
sich also um ein Orientierungs- und Handlungssystem, dass nicht in Modi von Einheit und Abgeschlossenheit gedacht werden kann.
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• Generell spielen in diesem Beispiel wir für unser
Fach insgesamt die Kategorien Zeit, Raum und
Soziales eine wichtige Rolle.
Distinktionen, soziale Unterschiede
• Wir leben in einer stratifizierten Gesellschaft, wo
– je nach Zugang – zwischen Klassen, Schichten
und/oder Milieus unterschieden wird. Bei den
damit einhergehenden Zuschreibungen und den
Abgrenzungsversuchen (Distinktionen) handelt
es sich um zutiefst kulturelle Phänomene, die in
verschiedenen Forschungen in der Volkskunde/
Europäischen Ethnologie eine Rolle spielen.
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Identität
• Wie den meisten oder allen kultur- und sozialwissenschaftlichen Begriffen wohnt auch dem der
Identität eine gewisse Unschärfe inne, trotzdem
gibt es zumindest ein konstitutives Merkmal, das
eine inhaltliche Bestimmung ermöglicht. Dabei
handelt es sich um die soziale Dimension von
Identität, die Anselm Strauss in folgendem Satz
so wunderbar gefasst hat: Identität ist immer verbunden mit der schicksalhaften Einschätzung
seiner selbst – durch sich selbst und durch andere.“
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Ethnizität
• Ethnizität bezeichnet ein kollektives Identitätskonzept, das mit der Fachgeschichte beider Ethnologien – also der Volks- wie der Völkerkunde –
verbunden ist. Die Vorstellung von ethnischer
Identität setzt ein Bewusstsein kultureller Zugehörigkeit voraus, „das sich“, so Wolfgang Kaschuba, „aus der Wahrnehmung der ‚Andersartigkeit’ aller anderen speist“. So konkret die sozialen Praktiken sind, die sich mit ethnischer Identität verbinden, so gefährlich sind jene Ideologien
und Vorstellungswelten, die damit verknüpft sind.
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Community Studies
• Bei den Community Studies handelt es sich um ein traditionsreiches Vorgehen in den ethnologischen Disziplinen.
Am Beispiel von Gemeinden können im Rahmen von Mikrostudien verschiedene kulturelle Phänomene untersucht werden, manchmal auch ganze Gemeinden an
sich. In so einem begrenzten Ausschnitt lassen sich historische Erfahrungen und soziale Ordnungen, kulturelle
Verkehrsformen und soziale Gruppierungen sehr genau
beobachten und analysieren. In einer Gemeinde spiegelt
sich nicht eine ganze Nation im kleinen wider und es
handelt sich um keine abgeschlossene Entität, die
keinen oder wenigen externen Einflüssen ausgesetzt ist.
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Kontinuität und Wandel
• Diese Begriffe verweisen auf ein zentrales Faktum von Kultur und Gesellschaften, dass sie
nämlich einem Wechselspiel von dauerhaften
und veränderlichen Elementen unterliegen. Sie
treten bei jedem Phänomen eher gleichzeitig auf,
freilich in sehr unterschiedlicher Gewichtung. Sie
sind auch nur als relationales Begriffspaar zu
verwenden, weil es dabei immer nur um ein
Langsamer oder Schneller im Vergleich gehen
kann; absoluter Stillstand oder permanente
Bewegung findet sich selten. (vgl. W. Kaschuba)
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Grenze
• Die Grenze ist, obwohl man zunächst an ein räumliches
Phänomen denkt, ein zutiefst kulturelles Phänomen. Es
geht bei Grenzen stets um mehr als feste Markierungen
oder Trennlinien. Grenzen können Quelle von Ängsten
und Konflikten sein, aber ebenso von Möglichkeiten. Weil
sie nie strikte Trennlinien von irgendetwas sind, stellen
sie im räumlichen wie im sozialen Sinn Grenzzonen dar,
in denen sich spezifische Dynamiken entwickeln. An
Grenzen sind Gesellschaften wie Gruppen besonders
verwundbar, an ihnen werden Identitäten ent- oder
verworfen, an ihnen verschieben und verändern sich
kulturelle Kategorien und Bedeutungen.
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Methoden (Beispiele)
Beispiel Film „Kitchen Stories“
• Feldforschung
• Teilnehmende Beobachtung
• Interviews
• Expertengespräche
• Historisch-archivalische Methoden
• Medienanalyse
• Kartierungen
• Film und Fotografie
• Verschiedene Analyseverfahren
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Geschichte der Volkskunde
• Für die Anfänge der Volkskunde gilt es – darauf
hat Andreas Hartmann hingewiesen – auf jene
historischen Diskussionsfelder zu schauen, die
so etwas wie eine volkskundliche Fragestellung
hervorgebracht haben.
• Der Begriff Volkskunde taucht Ende des 18.
Jahrhunderts (frühe Belege von 1782 und 1788)
auf, wird aber noch nicht im Sinne einer Disziplin
verwendet.
• Eine wichtige Rolle spielte die Aufklärung, die im
18. Jahrhundert ihren Höhepunkt erreicht.
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• Besonders die Statistik interessiert sich seit der
2. Hälfte des 18. Jahrhunderts für Land und Leute, um dem Staat nützliches Wissen zur Verfügung zu stellen. Wichtige Vertreter sind hier etwa
Gottfried Achenwall (1719-1772) und sein Schüler August Ludwig von Schlözer (1735-1809).
• Vorläufer sind auch in der Geographie und Geschichte zu finden, etwa bei Johann Christoph
Gatterer (1727-1799), der historische, geographische und kulturanthropologische Zugänge
miteinander verband und sich unter anderem für
eine „Geographie der Kultur“ interessierte.
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• Das Raster, mit dem Land und Leute zur damaligen Zeit betrachtet wurden, war historisch, kulturell, sozial und ökonomisch bedingt.
• Als einflussreich dürfen auch jene Forschungsanliegen und Forschungsreisen gelten, welche
Menschen und Gesellschaften außerhalb Europas ins Zentrum des Interesses rückten und sich
bei deren Untersuchung bereits einer umfangreichen Methodologie bedienten.
• In Europa gewann um die Wende vom 18. um
19. Jahrhundert die Betrachtung der Unterschiede in den Nationalcharakteren Bedeutung.
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• Von großer Bedeutung war Johann Gottfried
Herder (1744-1803) mit seinen „Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit“.
• Auch Herder interessiert sich für Volkscharaktere, deren Unterschiede er an materielle Bedingungen und Lebensweisen rückbindet. So schuf
er einen Entwurf – schreibt W. Kaschuba –, „der
die ‚Kulturen der Völker‘ systematisch und klassifizierend zu erfassen sucht“, wobei er kritisch
reflektiert, wie dies geschehen könne.
• Herder sah „im Volk eine überindividuelle Persönlichkeit mit schöpferischer Begabung“.
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Johann Gottfried Herder (1744-1803)
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• Er interessierte sich besonders für jene „unsichtbaren Kräfte“ (Herder), die eine „Volksseele“ bestimmen und die er in der Volksdichtung und Liedern zu finden glaubt.
• Im 19. Jh. bestimmten die genannten Strömungen der Aufklärung und der Romantik die Entwicklung der wissenschaftlichen Volkskunde.
• Die Aufklärung setzte u.a. auf das Vernunftdenken und betonte die Gleichheit der Menschen.
• Die Romantik wiederum „richtete den Blick auf
eine scheinbar ‚heile‘ Vergangenheit und schwor
allem Nützlichkeitsdenken ab“ (Kai D. Sievers).
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• Beide Richtungen interessierten sich allerdings
für das Volk.
• Die erste Hälfte des 19. Jahrhunderts bringt eine
Vielzahl von kameralistischen Beschreibungen
über Land und Leute, über Lebensverhältnisse
und Lebensweisen der Menschen. Oftmals ging
dabei die kameralistische Beschreibung auch in
eine nationalromantische Richtung über – etwa
in der Begeisterung für Volkslieder, die als Ausdruck „ursprünglicher volkstümlicher Unverdorbenheit“ galten.
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• Ein für das Fach bedeutsamer Vertreter im 19.
Jahrhundert war Wilhelm Heinrich Riehl (18231897).
• Riehl war eigentlich Theologe, seit 1854 in München aber Professor für Staatswirtschaftslehre
und Statistik und seit 1859 für Kulturgeschichte.
• Zunächst verstand er die Volkskunde als eine Art
Hilfswissenschaft für eine Staatswissenschaft.
Mit dieser Form einer „Naturgeschichte des Volkes“ sollten Verwaltungs- und Verfassungsbeamte in Landes- und Volkskunde ausgebildet
werden.
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• 1858 hielt er in München einen programmatischen Vortrag mit dem Titel „Die Volkskunde als
Wissenschaft“, wegen dem er häufig als Gründer
einer wissenschaftlichen Volkskunde bezeichnet
wird, obwohl der Vortrag kaum rezipiert wurde.
• Auch wenn eine echte wissenschaftliche Auseinandersetzung mit dem Gegenstand fehlte, so hat
er Wesen und Aufgabe der Volkskunde zu benennen gesucht.
• Er plädierte dafür, nicht bloß Material zu sammeln, wie eine der berühmtesten und immer wieder zitierten Passagen belegt:
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• „Diese Studien über oft höchst kindische und widersinnige Sitten und Bräuche, über Haus und
Hof, Rock und Kamisol und Küche und Keller
sind in der That für sich allein eitler Plunder, sie
erhalten erst ihre wissenschaftliche wie ihre poetische Weihe durch ihre Beziehung auf den wunderbaren Organismus einer ganzen Volkspersönlichkeit, und von diesem Begriff der Nation
gilt dann allerdings im vollsten Umfang der Satz,
daß unter allen Dingen dieser Welt der Mensch
des Menschen würdigstes Studium sey.“
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• Das Material müsse nach Riehl bestimmten Kategorien zugeordnet werden, nämlich den vier
großen „S“: Stamm, Sitte, Sprache, Siedlung.
• Außerdem forderte er eine teilnehmende Beobachtung durch den Forscher, die sich bis dahin
hauptsächlich als „Schreibtischwissenschaftler“
bei „abgeleiteten Quellen“ bedient hatten – also
aus Büchern, Statistiken, Archivmaterial etc.
• Riehls Forschung hatte die Idee der Nation im
Fokus, die er als einen „naturhaften Zustand“
sah, „dessen Gesetzmäßigkeit“ er ergründen
wollte.
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• Riehl war nicht nur Wissenschaftler, sondern
auch Sozialpolitiker, weshalb er seine vier Werke
Die bürgerliche Gesellschaft, Land und Leute,
Die Familie und das Wanderbuch in einer Ausgabe „Naturgeschichte des Volkes als Grundlage
einer deutschen Social-Politik“ (1869) nannte.
• Ins Zentrum rückte er dabei die Familie, die für
ihn die wichtigste Rolle im nationalen und sozialen Leben spielte. Sie ist für ihn eine konstante
und unantastbare Größe, wozu die Vorstellung
„von gottgewollter Unverrückbarkeit der Geschlechterrollen“ (Sievers) gehört.
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• Riehl erkannte die Veränderungen, die im 19. Jh.
abliefen, aber war gegen diese Veränderungen.
• In seinem Gesellschaftsbild unterteilte er „Mächte des Beharrens“ (Bauern und Adel) und „Mächte der Bewegung“ (Bürgertum und Vierter Stand
– also in etwa Lohnarbeiter).
• Dabei wurde das Bauerntum als beharrendes
Element von ihm besonders geschätzt. So hatte
sein Gesellschaftsbild auch keine Zukunftsperspektive, sondern richte den Blick auf eine Vergangenheit, die es in der von ihm propagierten
Form auch nie gegeben hatte.
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• Von bleibt Riehl ein widersprüchlicher Eindruck:
• Erstens seine staatswissenschaftliche Perspektive, die der Volkskunde einen Platz als Lieferantin von Informationen über Land und Leute
einräumte.
• Dann aber eine rückwärtsgewandte, romantische
und ideologiebehaftete Gesellschaftslehre, die
den Wirklichkeiten seiner Zeit nicht entsprach.
• Schließlich war er auch für die Verhältnisse seiner Epoche kein exakter Wissenschaftler. Weder
sammelte er sein Material sorgfältig, noch entwickelte er ernstzunehmende Theorieansätze.
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Wilhelm Heinrich Riehl
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• Trotz dieser Schwächen gelangte er zu wichtigen Erkenntnissen und die wissenschaftliche
Volkskunde verdankt ihm eine Fülle von Anregungen.
• In der Folge von Herder entwickelt sich im 19.
Jahrhundert ein starkes romantisches Interesse,
das sich für die Äußerungen des „Volksgeistes“
in Lied, Märchen, Sage, Glaube und Brauch
begeisterte. Die Geschichte des eigenen Volkes
wurde bedeutsam und Zeugnisse tradierter
Volkskultur wurden gesammelt.
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• Das Vergangene wurde als das Vollkommene
gesehen und auch als Nahrung für die Zukunft,
wie es Jacob Grimm formuliert hat.
• Jacob (1785-1863) und Wilhelm (1786-1859)
Grimm wurden zwei bedeutende Vertreter dieser
Richtung, die auch die Altertumskunde gründeten.
• 1812 und 1815 veröffentlichten sie die beiden
Bände der „Kinder- und Hausmärchen“, danach
folgten die „Deutschen Sagen“ (1816-18).
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• Die Brüder Grimm sahen in der Volkspoesie „eine autonome Schöpfung“, „deren Ursprung in eine unbestimmte ältere Zeit reiche, über der der
‚Schleier des Geheimnisses gedeckt‘ liege, ‚an
den man glauben soll‘.“ (Sievers).
• Schon vor den Brüdern Grimm hatten Ludwig
Achim von Arnim (1781-1831) und Clemens
Brentano (1778-1842) die erste umfassende
Volksliedsammlung „Des Knaben Wunderhorn“
(1806-1808) veröffentlicht, der eine Vielzahl
weiterer Sammlungen folgte.
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• Kritisiert wurde allerdings – etwa von den Brüdern Grimm –, dass Arnim und Brentano zu
„echten Volksliedern“ im „Volksliedton“ umgedichtet haben.
• Die Begriffe „Volksgeist“ und „Volkspoesie“ spielten in der Romantik also eine wichtige Rolle, wozu noch der Begriff des „Volkstums“ kam, der
von Friedrich Ludwig Jahn (1778-1852), dem
Gründer der deutschen Turnbewegung, stammt.
• Jahn wollte in seinem Buch „Deutsches
Volksthum“ (1810) die Gemeinsamkeit der
deutschen Kulturüberlieferungen belegen.
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• Diese sollten für die Erziehung zur nationalen
Einheit politisch nutzbar gemacht werden.
• Die Romantik war für die Entwicklung der Volkskunde als Wissenschaft von zentraler Bedeutung. Neben einer historischen Perspektive, die
hinter der Untersuchung „geistiger“ Überlieferungen steckte, verfolgte man aber auch mythische
Vorstellungen von germanischem Altertum, die
historisch nicht belegbar waren und für das Fach
bis nach 1945 eine schwere Hypothek darstellten.
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• Ein bedeutender Vertreter des Faches im 19. Jh.
war der Mythologe Wilhelm Mannhardt (18311880), der die Mythologie als eine exakte Wissenschaft zu begründen suchte. Sein bekanntestes Werk war „Wald- und Feldkulte“, das auf einer breiten Fragebogenaktion aufbaute.
• Auch die Völkerpsychologen interessierten sich
für überlieferte Glaubensvorstellungen, um in
Sprache, Mythologie, Religion, Sitte und Recht
den „Elementen und Gesetzen des geistigen
Völkerlebens“ auf die Spur zu kommen.
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• Dafür musste ein wissenschaftliches Bezugssystem geschaffen werden, „innerhalb dessen die
Geisteseigenschaften der Völker zu bestimmen
seien, ihr Ethnos“ (Weber-Kellermann/Bimmer).
• Daran anschließend suchte der Arzt und Ethnopsychologe Adolf Bastian (1826-1905) nach den
„Elementargedanken der Menschheit“, „die ungeachtet räumlicher Entfernung, sozialen Kontextes sowie wirtschaftlicher, politischer und historischer Bedingtheiten in gleicher Weise in den
unterschiedlichsten
menschlichen
Kulturen
vorhanden seien“ (Sievers).
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• Diese würden sich – in evolutionärem Sinn – in
einer Stufenfolge weiterentwickeln.
• Seit den 1830er Jahren entwickelten sich die
Geschichts- und Altertumsvereine, die auch ein
Forum für die Volkskunde darstellten und die
1852 die Dachorganisation „Gesamtverein der
deutschen Geschichts- und Altertumsvereine“
bildeten. 1852 wurde zudem das Germanische
Nationalmuseum in Nürnberg gegründet, in dem
die Kulturgeschichte des deutschen Volkes
gesammelt werden sollte.
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• Damit sollten auch Zeugnisse der Volkskultur in
einer sich rapide verändernden Welt vor dem
Untergang gerettet werden.
• Eine eigenständige Wissenschaft wurde die
Volkskunde allerdings erst gegen das Ende des
19. Jahrhunderts. Der Germanist Karl Weinhold
(1832-1901) gründete 1890 den „Berliner Verein
für Volkskunde“, dem bald weitere Vereinsgründungen folgten, in deren Rahmen auch volkskundliche Zeitschriften herausgegeben wurden.
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• 1891 wurde die Zeitschrift des Vereins für Volkskunde zum zentralen Publikationsorgan und existiert noch heute als „Zeitschrift für Volkskunde“.
• Kai Detlev Sievers konstatierte, dass Weinhold
ein anspruchsvolles Programm entwickelt hat.
„Neben dem äußeren physischen Erscheinungsbild sollten auch dessen Lebensverhältnisse –
Nahrung, Kleidung, Wohnung – und die Vermittlung normativer Werte in Religion, Recht,
Sprache, Poesie, Musik, Tanz und Ästhetik
untersucht werden.“
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• Auch die historische Schule der Volkswirtschaft
spielte für die Volkskunde eine wichtige Rolle,
weil sich ihre Vertreter neben ökonomischen Gesetzmäßigkeiten auch für Faktoren wie Sitte,
Gewohnheit, Rechtstraditionen etc. interessierte.
• Ein bedeutender Vertreter war Gustav Schmoller
(1838-1917), der den Zusammenhang von
Raum, Zeit und Nationalität thematisierte und einen bedeutenden Beitrag zur Erforschung der
Handwerksgeschichte lieferte.
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• Andere Vertreter – wie Karl Bücher (1847-1930)
– rückten das Thema Arbeit in den Mittelpunkt,
schauten auf Formen der Arbeitsteilung oder auf
den Zusammenhang von Arbeit und Arbeitstakt.
• Man beschäftigte sich mit der sozialen Frage
und mit der Situation der ländlichen Bevölkerung
sowie mit der Lage der Industriearbeiterschaft.
• Ein bedeutender Sozialpolitiker war der Arzt Rudolf Virchow (1821-1902), der eine umfassende
Sozialhygiene anstrebte. Daneben interessierte
er sich für das Volksleben und war an Vereinsund Museumsgründungen beteiligt.
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• Ohne es hier ausführen zu können, spielten
auch der Historische Materialismus von Karl
Marx (1818-1883) und Friedrich Engels (18201895) sowie die kulturhistorische Methode des
Historikers Karl Lamprecht eine wichtige Rolle.
• Für die Volkskunde wurde aber das Buch „Gemeinschaft und Gesellschaft“ des Soziologen
Ferdinand Tönnies (1855-1936) bedeutsam, mit
dem er den Übergang von gemeinschaftlichen
zu gesellschaftlichen Formen des Zusammenlebens beschreiben wollte (dazu an anderer Stelle
dieser Vorlesung mehr).
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• In den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts
können – mit Utz Jeggle – drei grobe Richtungen
unterschieden werden.
1. Da ist der nationalistische Zugang, der allerdings zu Beginn des Jh. noch gar nicht so stark
ausgeprägt war. Karl Weinhold hatte zunächst
überhaupt eine „Unbefangenheit in allen nationalen Fragen“ geäußert. Zwar beförderte der
erste Weltkrieg das nationalistische Denken,
aber nicht so sehr in der wissenschaftlichen
Volkskunde. Der Feind wurde hier eher in der
Sozialdemokratie gesehen.
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• Gerade die Industrialisierung stellte ein Problem
für das junge Fach Volkskunde dar. Die Auswirkungen der Industrialisierung auf die Kultur und
das Alltagsleben wurden nicht direkt in den Blick
genommen. Allenfalls sah man „die Gefahr der
Zerstörung des volkskulturellen Kerns“, der nicht
in der Industriebevölkerung vermutet wurde.
2. Eine andere Denkachse stellt psychologische
und historische Zugänge einander gegenüber.
• Etwa wurde nicht wirklich historisch gedacht,
sondern eher nach einem historischen Ursprung
als nach einer Entwicklung gesucht.
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• Auf dem seelischen Terrain wiederum herrschte
eine Vorstellung von Ganzheit, die eine Volksseele suchte, die „als kollektive Gesamtheit gedacht wird“, die von der Volkskunde „zu rekonstruieren und zu rekonstituieren“ sei (Jeggle).
• Von Albrecht Dieterich (1866-1908) wurde dies
„Mutterboden der Kulturnation“ genannt.
• Konterkariert wurden diese Annahmen durch Stu
dien, die das materielle Volksleben anhand von
Sachzeugnissen und der Berufsarbeit von Bauern und Handwerkern erhoben (Rudolf Meringer
1859-1931 und Richard Wossidlo 1859-1939).
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• Die Volksseele selbst wurde eher metaphorisch
umkreist, denn definitorisch abgegrenzt. Bei
Eduard Hoffmann-Krayer (1864-1936) ist sie eine Art „ruhender Pol“, in dem die Anschauungen
des Volkes zum Ausdruck gelangen. Er nennt
dies „vulgus in populo“ und sah dies im „niederen, primitiv denkenden, von wenig Individualitäten durchdrungene Volk“.
• Hoffmann-Krayer erkannte durchaus die Einflüsse einer Moderne, die die Individualisierung der
Menschen vorantreibt, die Volkskunde allerdings
solle das „Generellstagnierende“ erforschen.
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• Adolf Spamer (1883-1953) erkannte dann die
ideologischen Verkürzungen, die mit dem Begriff
Volksseele einhergingen. Er sieht den Kern der
Volksseele nicht etwa in der bäuerlichen Kultur,
sondern in der Triebgebundenheit des Menschen, dessen Motoren Hunger und Liebe seien.
3. Ein drittes Diskursfeld behandelte die Fragen
der Individualität und des Schöpferischen.
• 1922 veröffentlichte Hans Naumann (1886-1951)
sein schmales Buch „Grundzüge der deutschen
Volkskunde, worin er seine These vom gesunkenen Kulturgut präsentierte.
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• Seine viel kritisierte These lautete: „Volkskultur
wird von der Oberschicht gemacht“.
• Zwar schrieb er sehr wohl, dass auch die Elitenkultur an den „Wurzelstock der primitiven Gemeinschaft“ rückgebunden sei, aber das minderte die Kritik keineswegs, obwohl auch schon
Hoffmann-Krayer Gleiches formuliert hatte: „Das
Volk produziert nicht, es reproduziert“.
• Differenziert und psychoanalytisch fundiert, stellte Adolf Spamer fest, dass es auch in den Eliten
„Bewußtseinsebenen gibt“, die „archaischen Relikten verpflichtet sind“
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Volkskunde im Nationalsozialismus
• Die Volkskunde spielte im Nationalsozialismus –
wie viele Wissenschaften – eine unrühmliche
Rolle. Einige Vertreter trugen zum abstrusen Gedankengebäude der Nationalsozialisten bei, viele
waren mehr oder weniger engagierte Mitläufer,
die vom Machtsystem zu profitieren versuchten.
• Die Volksideologie der NS-Zeit entstand aber
nicht aus sich selbst, sondern hatte Vorläufer,
die benannt werden können, auch wenn nicht
alles, was vorgedacht worden ist, ist für die
Katastrophe der NS-Zeit verantwortlich.
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• Der bedeutendste Volkskundler des 20. Jahrhunderts Hermann Bausinger hat einige Elemente
der Volksideologie zusammengefasst: den nationalen Aspekt; die rassistischen Ideen; die
Gleichsetzung von nordisch und germanisch; die
Überhöhung des Bauernstandes, den Hitler als
das „Fundament der gesamten Nation“ bezeichnete; die „organische Konstruktion einer geschlossenen Volkspersönlichkeit“; der quasi-religiöse Charakter volkstümlicher Überlieferung
und damit der Vorrang der Volkstumspraxis, die
nur auf politischen Nutzen abzielte.
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• Utz Jeggle hat zu Recht moniert, dass daraus
„Ideenbreie“ entstanden sind, die sich durch
folgende Aspekte auszeichneten:
–
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–
–
Verzicht auf wissenschaftliche Methodik,
Quellenkritik,
Transparenz des Forschungsprozesses
‚Zerstörung der Vernunft‘
Ausblenden des Intellekts
Abbau wissenschaftlicher Erkenntnissicherung
Ablehnung des kritischen Diskurses
Translozierung wissenschaftlicher Vorstellungen in ein
Bekenntnissystem, das nicht einmal mehr den Anstrich der Wissenschaftlichkeit braucht“
Einführung in die Europäische Ethnologie
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• Deutlich wird dies in einem Zitat von Wilhelm
Peßler aus einem Grundsatzartikel zum Fach:
• „Möge es solcher Gestalt der Volkskunde gelingen, allen Volksgenossen das Wesen der
Deutschheit zu erschließen und das Herz zu öffnen für ihre Brüder, daß sie, einig im Kampf um
Deutschlands Auferstehen, mit uns sprechen:
‚Ich bekenne mich zur deutschen Volksgemeinschaft und ich glaube an Deutschlands Unsterblichkeit‘.“
• Vertreter wie Otto Höfler oder Eugen Fehrle
hatten in eine ähnliche Richtung artikuliert.
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• Der Volkstumsideologie hatte einige zentrale Aspekte, unter denen der Mythos des Ursprungs
und die Rassevorstellungen einen besonderen
Rang einnahmen.
• Die Suche nach dem Ursprung beginnt, wie
bereits dargelegt, in den romantischen Ideen,
eine Volksseele oder einen Volksgeist in alten
Überlieferungen ausmachen zu können. Dazu
gehört ebenso, dass die Gemeinschaft über das
Individuum gestellt wird, ja das Individuum
überhaupt als undeutsch zu klassifizieren.
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• Die Unterscheidung von Rassen war zunächst
keine Erfindung des Nationalsozialismus, sondern in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts ein international anerkanntes Forschungsfeld, wie etwa der Soziologe Zygmunt Bauman
gezeigt hat.
• Im Nationalsozialismus wird die Rasse allerdings
zu einer „blutsmäßigen, biologischen“ Kategorie,
die keine historischen Entwicklungen kannte,
sondern Zugehörigkeit als natürlich gegeben
annahm, was zu Ausgrenzung und Vernichtung
führte.
Einführung in die Europäische Ethnologie
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• Im Nationalsozialismus mutierte die Volkskunde
zu einer Hilfswissenschaft, die das Regime bei
der Verfolgung seiner Ziele ideologisch unterstützte. Den führenden Vertretern ging es nicht
um volkskundliche Forschung – sogar über die
Ursprungssuche machten sich führende Vertreter (wie Hitler oder Goebbels) lustig – sondern
sie wollten durch folkloristische Versatzstücke
die Massenbindungskraft erhöhen.
• Die moralische Bewertung vieler Wissenschaftler
in der NS-Zeit ist schwierig, weil das Regime
keine wirklich neutrale Haltung zuließ.
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• Dennoch gab es einige Wissenschaftler, die sich
dem Regime nicht beugten.
• Der konservative Volksmusikforscher Kurt Huber
wurde als Mitglied der Widerstandsgruppe
„Weiße Rose“ hingerichtet.
• Will-Erich Peuckert und Adolf Reichwein widersetzten sich dem nationalsozialistischen Denken.
• Die konfessionellen Volkskundler Rudolf Kriss
und der Prälat Georg Schreiber nahmen ebenfalls eine vorbildliche Haltung ein.
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Volkskunde nach 1945
• Nach 1945 hatte die Volkskunde schwer am
Erbe des Nationalsozialismus zu tragen, auch
wenn nicht wenige Vertreter den Anteil der eigenen Disziplin zu jener Zeit verdrängen wollten.
• Der Soziologe Heinz Maus sprach sich überhaupt für eine Auflösung des Faches aus.
• Es gab allerdings unbelastete Fachvertreter wie
Will-Erich Peuckert, die dagegen plädierten.
• Das Fach wurde zudem gestützt, als 1946 in der
unbelasteten Schweiz Richard Weiss‘ einflussreiches Buch Volkskunde der Schweiz erschien.
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• Neue Forschungsfelder entstanden, die aber
nicht ausnahmslos unbedenklich waren.
• Die wichtige „Volkskunde der Heimatvertriebenen“ etwa konnte den Eindruck erwecken, es
werde nach 1945 hauptsächlich nach den eigenen Opfern gesucht.
• Ein bedeutender Weg zur Überwindung der NSVolkskunde wurde von der so genannten Münchner Schule begründet. Hans Moser und KarlSigismund Kramer befreiten das Fach von seinem mythischen Kram durch eine archivalischempirische Forschung mit strenger Quellenkritik.
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• Ein weiterer bedeutender Strang neuer volkskundlicher Forschung zeigte sich am Tübinger
Ludwig-Uhland-Institut.
• In Tübingen wandte man sich ganz bewusst der
Gegenwartsforschung zu und die Volkskunde
wurde als eine empirische Kultur- und Alltagswissenschaft entworfen.
• In der DDR konnte sich die Volkskunde als bedeutend eingeschätztes historisches Fach etablieren, obwohl die neue Ideologie nach und nach
die Arbeiten mancher Fachvertreter zum Nachteil des Faches zu durchziehen begann.
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• Marxistische Anregungen fanden allerdings auch
Eingang in die westdeutsche Volkskunde, wo die
Arbeiten der Frankfurter Schule aufgenommen
wurden, denen nicht der verkürzte ideologische
Ballast der späten DDR zugrundelag.
• Die Umbrüche der 1960er Jahre führten zu
heftigen Spannungen auch in der Volkskunde,
die in einer Namensdebatte kulminierten, die bis
heute – in abgeschwächter Form – anhält.
• Vor allem bei der bis heute legendären Falkensteiner Tagung (1970) trafen die unterschiedlichen Auffassungen aufeinander.
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• Die Tübinger benannten sich in Empirische
Kulturwissenschaft um, in Frankfurt am Main
wurde die Bezeichnung Kulturanthropologie und
Europäische Ethnologie gewählt (was in Falkenstein eine Mehrheit propagiert, später aber nicht
umgesetzt hat) und heute haben viele Institute
eine Doppelbezeichnung wie Volkskunde/Europäische Ethnologie.
• Die Traditionen, die sich an manchen Standorten
entwickelten, hatten auch mit bedeutenden
Forscher/innen-Persönlichkeiten zu tun.
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60
• In Tübingen wirkte etwa Hermann Bausinger, der
mit Utz Jeggle, Gottfried Korff, Martin Scharfe,
Carola Lipp, Christel Köhle-Hezinger, BerndJürgen Warneken und Wolfgang Kaschuba eine
gewichtige Nachfolgergeneration hervorbrachte.
• In Frankfurt am Main orientierte Ina-Maria Greverus das Fach sehr konsequent an einer internationalen Kultur- und Sozialanthropologie. Bei
ihr wurden wichtige Vertreter habilitiert, die heute
Lehrstühle in Fribourg (Christian Giordano),
Frankfurt/Oder (Werner Schiffauer), Frankfurt/
Main (Gisela Welz) oder München innehaben.
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• In Marburg/Lahn verfolgten Gerhard Heilfurth
und dann insbesondere Ingeborg Weber-Kellermann einen stärker sozialhistorischen Ansatz.
• In Münster entwickelte sich ein Zentrum für die
Erforschung materieller Kultur, für das die
Namen Günter Wiegelmann und Hinrich Siuts
standen.
• Diese unterschiedlichen Richtungen dürfen allerdings nur idealtypisch verstanden werden, weil in
allen Forschungsinstitutionen auf die verschiedenen Zugänge rekurriert wurde, aber eben mit unterschiedlicher Gewichtung.
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• Kultur ist ein zentraler oder wahrscheinlich der
zentrale Begriff des Faches.
• Für die Begriffsgeschichte von Kultur kann zunächst auf das lateinische Wort cultura verwiesen werden, mit dem die menschliche Aneignung der Natur beschrieben wird: die Kultivierung des Bodens, die Pflege der Landwirtschaft
und in weiterer Folge überhaupt Fragen der
Pflege, der Veredelung und der Ausbildung von
Menschen.
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• Gegen Ende des 18. Jahrhunderts wird Kultur
dann der Natur gegenüber gestellt. Kultur ist dabei das von Menschen Erschaffene, Natur das
Ursprüngliche. Natur umfasst die menschliche
Leiblichkeit, Kultur die humane Geistigkeit.
• Herder spricht etwa von einer „Kultur des Volkes“ und versteht darunter noch Ursprüngliches
und Unverbildetes.
• Goethe wiederum schreibt von „Bildungskultur“
und meint menschliche Herzens- und intellektuelle Geistesbildung.
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• Diese unterschiedlichen Semantiken, so Wolfgang Kaschuba, fließen auch in die Volkskunde
des 19. Jahrhunderts ein, bleiben vielfach ungeordnet nebeneinander bestehen und werden
kaum begriffs- und ideologiegeschichtlich hinterfragt.
• Herders „Kultur des Volkes“ sucht nach ästhetischen Zeugnissen, nach einer natürlichen Poetik, die in Märchen und Liedtexten vermutet wird.
Eine „Kulturkunde“ der frühen Landes- und Reisebeschreibungen wiederum sammelt ländliche
Bräuche, populäre Sitten, Kenntnisse über den
Stand der Landespflege.
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• Bereits hier wird klar, dass die Vorstellung einer
Bildungskultur neben einer Kultur von Land und
Leuten – vor allem verbunden mit dem Namen
Wilhelm Heinrich Riehl – existierte.
• Seit der Mitte des 19. Jahrhunderts kommt dazu
auch noch die politische Karriere von Kultur, die
als „Deutsche Kultur“ zum Synonym für einen
Nationalismus wurde, dem zunächst noch sie
staatlich-politische Gestalt fehlte.
• Wilhelm Heinrich Riehl (1823-1897), Begründer
der wissenschaftlichen Volkskunde; Professor
für Kulturgeschichte und Statistik an der Universität München
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• Hauptwerk: vierbändige »Naturgeschichte des
deutschen Volkes als Grundlage einer deutschen Socialpolitik« (Bd. 1: »Land und Leute«
[1853], Bd. 2: »Die bürgerliche Gesellschaft«
[1851], Bd. 3: »Die Familie« [1854], Bd. 4: »Das
Wanderbuch« [1869]),
• Wurde zu einem vielgelesenen Werk im Bildungsbürgertum der zweiten Hälfte des 19. Jhs.
• Riehl sah Volkskultur, Brauchtum und Traditionen als eigenständigen historisch-gesellschaftswissenschaftlichen Untersuchungsgegenstand
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• Neben der Vorstellung von materieller und geistiger Kultur wirkte auch jene von niederer und hoher Kultur lange weiter.
• Riehl unterschied Bildungsgut vom primitiven
Gemeinschaftsgut, Hans Naumann sprach von
gesunkenem Kulturgut und sah die schöpferische Kompetenz bei den oberen Schichten.
• Erst die Reformdebatten seit den 1960er Jahren
führten zu einem reflektierten Kulturbegriff, was
auch Auswirkungen auf Fragestellungen und
Betrachtungsweisen hatte.
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• Die Volkskunde hatte sich seit ihrer Etablierung
für Veränderungsprozesse interessiert, zunächst
aber noch mit einem sentimentalen und bewahrenden Blick, dann interessierte sie sich dafür,
wie die Veränderungen von Menschen wahrgenommen werden, welche Bedeutungen die Menschen diesen Veränderungen beimessen und
welche Handlungsoptionen sich daraus ergeben.
• Die Diskussion um den Kulturbegriff wie das
Fach insgesamt wurde durch verschiedene
theoretische Konzepte beeinflusst.
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• Eines dieser Konzepte ist das der Zivilisation von
Norbert Elias.
• Norbert Elias (1897-1990), als Sohn jüdischer Eltern in Breslau geboren, 1915 Abitur, bis 1917
Kriegsdienst. Er studierte in Breslau, Heidelberg
(u.a. bei Karl Jaspers), Freiburg im Breisgau (u.
a. bei Edmund Husserl). Er promoviert 1922 mit
der Arbeit „Idee und Individuum. Eine kritische
Untersuchung zum Begriff der Geschichte“.
• 1924 ging er wieder nach Heidelberg, arbeitete
für Karl Mannheim und saß im Oberseminar bei
Alfred Weber.
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Norbert Elias
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• 1924 ging er wieder nach Heidelberg, arbeitete
für Karl Mannheim und hörte bei Alfred Weber.
• Er folgte dann Karl Mannheim nach Frankfurt
am Main, wo er 1932/33 seine Habilitationsschrift „Der höfische Mensch“ einreichte. Für die
Lehrbefugnis fehlte die Antrittsvorlesung, als die
Nationalsozialisten an die Macht kamen.
• Er floh nach Frankreich und 1935 weiter nach
England. Dort schrieb er – im Lesesaal des
British Museum – sein zweibändiges Werk „Über
den Prozeß der Zivilisation. Soziogenetische
und psy-chogenetische Untersuchungen“ (1936;
publiziert 1939).
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• Elias schlug sich mit Unterricht an Volkshochschulen durch.
• Erst 1954 erhielt er eine Dozentenstelle am Department of Sociology der Universität Leicester,
wo er bis 1962 unterrichtete. Bei ihm studierten
etwa Anthony Giddens und Martin Albrow.
• Von 1962 bis 1964 hatte er eine Professur an
der University of Ghana in Accra inne.
• 1965 kam er als Gastprofessor an der Universität Münster erstmals seit seiner Flucht nach
Deutschland zurück.
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• Seit 1975 hatte er seinen Hauptwohnsitz in den
Niederlanden und erst in den 1970er Jahren
wurde aus seinem „Prozeß der Zivilisation“ ein
wissenschaftlicher Bestseller.
• 1977 erhält Elias den ersten Adorno-Preis und
von 1978 bis 1984 arbeitet er am Zentrum für
interdisziplinäre Forschung in Bielefeld und an
der Ruhr-Universität Bochum.
• Bis zu seinem Tod im Jahr 1990 in Amsterdam
arbeitete er unermüdlich an seinem Werk weiter.
• Sein Hauptwerk ist der „Prozeß der Zivilisation“,
das nachhaltigen Einfluß auf die Sozial- und
Geisteswissenschaften ausübte.
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• Die Veränderungen menschlichen Verhaltens,
der Empfindungen und Affekte werden als ein
Zivilisationsprozess verstanden.
• Zivilisation ist für Elias dabei die langfristige Umwandlung von Außenzwängen in Innenzwänge.
• Er beschreibt Zivilisierung als langfristigen Wandel der Persönlichkeitsstrukturen, den er auf einen Wandel der Sozialstrukturen zurückführt.
• Faktoren des sozialen Wandels sind der kontinuierliche technische Fortschritt und die Differenzierung der Gesellschaften sowie der ständige Konkurrenz- und Ausscheidungskampf.
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• Dies führt zu einer Zentralisierung der Gesellschaften (Einrichtung staatlicher Gewalt- und
Steuermonopole) sowie zur Geldwirtschaft.
• Das Bindeglied zwischen diesen sozialstrukturellen Veränderungen und den Veränderungen
der Persönlichkeitsstruktur sind die wachsenden
gegenseitigen Abhängigkeiten, die "Interaktionsketten", in die Menschen eingebunden sind.
• Eine zunehmende Affektkontrolle erzwingt zwischen spontanem emotionalen Impuls und tatsächlicher Handlung ein Zurückhalten dieses
Impulses und ein Überdenken der Wirkungen.
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Das hat verschiedene Folgen:
• das Sinken der Gewaltbereitschaft;
• das Vorrücken der "Schamschwellen";
• das Vorrücken der "Peinlichkeitsschwellen";
• eine "Psychologisierung", d.h. die Steigerung
der Fähigkeit, die Vorgänge innerhalb anderer
Menschen zu verstehen;
• eine "Rationalisierung", d.h. eine Steigerung der
"Langsicht", also der Fähigkeit, die Folgen der
eigenen Handlungen über immer mehr Glieder
der Kausalketten vorauszu"berechnen".
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• Elias zeigt "wie etwa von den verschiedenen
Seiten her Fremdzwänge sich in Selbstzwänge
verwandeln, wie in immer differenzierterer Form
menschliche Verrichtungen hinter die Kulisse
des gesellschaftlichen Lebens verdrängt und mit
Schamgefühlen belegt werden.
• Für Elias bestimmt eine fundamentale dynamische Verflechtungsordnung ("Figuration") den
Gang des geschichtlichen Wandels; "sie ist es,
die dem Prozess der Zivilisation zugrunde liegt."
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• Diese Verflechtungsordnung ist recht einfach:
"Pläne und Handlungen, emotionale und rationale Regungen der einzelnen Menschen greifen
beständig freundlich oder feindlich ineinander.„
• Aber er weist auch darauf hin, "dass sich aus allem Planen und Handeln der Menschen vieles
ergibt, was kein Mensch bei seinem Handeln
eigentlich beabsichtigt hat“.
• In der Entwicklung der abendländischen Gesellschaft "differenzieren sich die gesellschaftlichen
Funktionen unter einem starken Konkurrenzdruck mehr und mehr."
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• Die Ausdifferenzierung gesellschaftlicher Funktionen bestimmt die Richtung der "Veränderung
des Verhaltens im Sinne einer immer differenzierteren Regelung der gesamten, psychischen
Apparatur."
• Diese differenziertere und stabilere Regelung
wird dem einzelnen Menschen von klein auf
mehr und mehr, als ein Automatismus angezüchtet und funktioniert dann als Selbstzwang.
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• "Die fortschreitende Differenzierung der gesellschaftlichen Funktionen ist nur die erste, die allgemeinste der gesellschaftlichen Transformationen. ... Mit ihr, ... geht eine totale Umorganisierung des gesellschaftlichen Gewebes Hand in
Hand."
• "Die eigentümliche Stabilität der psychischen
Selbstzwang-Apparatur, ..., steht mit der Ausbildung von Monopolinstitution der körperlichen
Gewalt und mit der wachsenden Stabilität der
gesellschaftlichen Zentralorgane in engstem
Zusammenhang.“
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• In früheren Gesellschaften lebte der Einzelne
ungeschützter. Auf der einen Seite war er freier,
sich der Lust hinzugeben, auf der anderen Seite
war er gefährdeter durch Feinde oder Naturphänomene. Es war ein Leben zwischen Extremen.
• Elias behauptet nicht, dass es früher keine Formen von Selbstzwängen gegeben hätte, aber es
"ist ein anderer Typus von Selbstbeherrschung
oder Selbstzwang." Der neue Typus ist nicht
mehr so ausgelassen, nicht mehr so extrem in
den Schwankungen - zwischen Lust und Unlust,
Freude und Leid -, sondern bewegt sich auf
einer mittleren Linie.
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• Elias beschrieb also eine Entwicklung hin zur Individualisierung, die die Ausbildung individueller
Fähigkeiten ebenso befördert wie die Anpassung von Verhaltensstandards.
• Die Geschichte der Zivilisierung sieht er als einen „sozio- und psychogenetischen Vorgang“,
als einen Prozess der gesellschaftlichen Verhaltenskonditionierung, der sich in moralischen
Strategien der Bedürfnis- und Triebkontrolle
niederschlägt.
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• Der „Prozeß der Zivilisation rief viele Kritiker auf
den Plan. Der Ethnologe Hans Peter Duerr bezeichnete den Zivilisationsprozess als Mythos.
• Dieser Mythos besage, dass die derzeitige Domestikation unserer tierischen Natur das Ergebnis eines langwierigen Prozesses sei, der im
westlichen Europa gegen Ende des Mittelalters
und bei den „primitiven Völkern“ erst in jüngster
Zeit begonnen habe.
• Duerr wehrt sich nicht zu Unrecht gegen ein
Zerrbild fremder Kulturen.
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• Elias hat offenbar keine rezenten ethnologischen Bücher
gelesen und kommt daher zu einer Fehleinschätzung
der von ihm so genannten „Primitiven“.
• Durch Quellenarbeit widerlegt Duerr Elias, er bringt für
die unterschiedlichen Epochen und Gesellschaften Belege, die den Thesen Elias’ weitgehend widersprechen.
• Während Elias unter der Rubrik „natürliche Bedürfnisse“
nachzuzeichnen versucht, wie sich gewisse Scham- und
Peinlichkeitsgrenzen erst nach und nach herausbilden,
kann Duerr zeigen, dass Urinieren, Defäkieren und
Furzen in praktisch allen Kulturen dieser Welt mit Ekelund Schamgefühlen sowie Peinlichkeitsschwellen
besetzt ist.
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• Andere Kritiker meinen, sein Geschichtsmodell
sei zu nahe an längst überholten Evolutionstheorien.
• Zudem wird der Verdacht geäußert, Elias habe
seine Belege zu sehr an die bereits bestehende
Theorie angepasst.
• Ein anderer Kritikpunkt bezieht sich darauf, wie
Elias seine an der Oberschicht gefundenen Befunde auf andere Schichten und Milieus sowie
auf andere Völker und Kulturen überträgt.
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• Durch seine übervereinfachende Modellkonstruktion, so ein letzter hier zu erwähnender Kritikpunkt, geraten aber auch einzelne Befunde
von Elias in ein schiefes Licht, weil damit Entwicklungen nicht gedeutet werden können, die
seiner Konstruktion zuwiderlaufen – z.B. im
Bereich der wieder liberaler gewordenen Vorstellungen und Praktiken in Bezug auf Nacktheit
oder Sexualität.
• Die Zivilisationstheorie sollte aber dennoch nicht
zu gering geschätzt werden, weil sie gewisse
Perspektiven eröffnet
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• Ein Erbe von Elias Theorie liegt in einer nachdrücklichen Orientierung an gesellschaftlichen
Prozessen – Prozesse, die niemals zu Ende
sind und laufend beobachtet aber ebenso
gestaltet werden können.
• Ein anderer zentraler Punkt ist sicherlich die Beobachtung, dass eine Verlagerung der Kontrolle
durch andere von einer Selbstkontrolle – der so
genannten Selbstzwangapparatur – abgelöst
wird. Damit ist auch jene Entwicklung zur Individualisierung angedeutet, die spätestens seit Ulrich Becks „Risikogesellschaft“ auf der Agenda
der Sozialwissenschaften steht.
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• Schließlich war Norbert Elias ein großer Intellektueller, der mit seinem Spätwerk noch zu überzeugen wusste und neben der Zivilisationstheorie eben noch andere wichtige Bücher verfasste:
seine wissenssoziologischen Studien „Engagement und Distanzierung“ und „Über die Zeit“;
„Die Gesellschaft der Individuen“; Studien über
die Deutschen“ und zusammen mit John Scotson das Buch „Etablierte und Außenseiter“, um
nur einige zu nennen.
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Literatur
• Bausinger, Hermann u.a.: Grundzüge der Volkskunde. Darmstadt
41996.
• Bausinger, Hermann: Volkskunde. Von der Altertumsforschung zur
Kulturanalyse. Tübingen 1979.
• Bourdieu, Pierre: Die feinen Unterschiede. Kritik der
gesellschaftlichen Urteilskraft. Frankfurt am Main 1987 (11979).
• Brednich, Rolf W. (Hg.): Grundriß der Volkskunde. Einführung in die
Forschungsfelder der Europäischen Ethnologie. Berlin 32001.
• Geertz, Clifford: Dichte Beschreibung. Beiträge zum Verstehen
kultureller Systeme. Frankfurt am Main 41995.
• Gerndt, Helge (Hg.): Fach und Begriff „Volkskunde“ in der
Diskussion. Darmstadt 1988.
• Gerndt, Helge: Studienskript Volkskunde. Eine Handreichung für
Studierende. Münster u.a. 31997.
•
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90
• Göttsch, Silke, Albrecht Lehmann (Hg.): Methoden der Volkskunde.
Positionen, Quellen, Arbeitsweisen der Europäischen Ethnologie.
Berlin 22006.
• Hofmann, Martin Ludwig, Tobias F. Korta und Sibylle Niekisch (Hg.):
Culture Club. Klassiker der Kulturtheorie. Band I+II. Frankfurt am
Main 2004 und 2006.
• Kaschuba, Wolfgang: Einführung in die Europäische Ethnologie.
München 22003.
• Lindner, Rolf: Die Stunde der Cultural Studies. Wien 2000.
• Moser, Johannes: Volkskundliche Perspektiven. In: Zeitschrift für
Volkskunde 104 (2008) II, S. 225-243.
• Warneken, Bernd Jürgen: Die Ethnographie popularer Kulturen.
Eine Einführung. Wien, Köln, Weimar 2006.
• Weber-Kellermann, Andreas C. Bimmer, Siegfried Becker:
Einführung in die Volks-kunde/Europäische Ethnologie. Eine
Wissenschaftsgeschichte . Stuttgart, Weimar 32003.
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