Einführung in die Europäische Ethnologie WS 2011/12 Prof. Dr. Johannes Moser Einführung in die Europäische Ethnologie 2 • Organisatorisches: Prüfungen (Klausur): – BA-Studierende: 6.2.2012 14.15 s.t. – EWS-Studierende: 6.2.2012 14.15 s.t. – Magisterstudierende (Zwischenprüfung und Hauptseminaraufnahmeprüfung): voraussichtlich 13.2.2012, Zeit und Ort rechtzeitig auf der Institutshomepage (http://www.volkskunde.unimuenchen. de/index.html) oder im Sekretariat erfragen. • Seminarkarte! • Erläuterungen zu Folien Einführung in die Europäische Ethnologie 3 • Volkskunde/Europäische Ethnologie ist eine Disziplin, die sich im weitesten Sinn mit der Alltagskultur bzw. mit kulturellen Phänomenen in Europäischen Gesellschaften in Geschichte und Gegenwart beschäftigt. • In ihrer Tradition als Volkskunde lange Zeit mehr auf die eigene nationale Gesellschaft fokussiert, hat sich der Blickwinkel in den letzten Jahrzehnten verstärkt auf kulturelle Phänomene in ganz Europa erweitert. Einführung in die Europäische Ethnologie 4 • Im Gegensatz zu manchen anderen Kulturwissenschaften richtet die Volkskunde/Europäische Ethnologie ihr Augenmerk weniger auf die Hochkultur oder Lebenswelten der höheren Schichten, sondern auf das Denken, Handeln und Fühlen von Gruppen aus der breiten Bevölkerung. • Vor allem die symbolischen Ordnungen des Alltagslebens in ihrer historischen Entwicklung und in ihrem Wandel stehen im Zentrum des Interesses, wobei die Beziehungen von Kultur, Macht und Ungleichheit eine zentrale Rolle spielen. Einführung in die Europäische Ethnologie 5 • Forschungsbeispiel Blatten – ein Dorf an der slowenisch-steirischen Grenze Kultur • Mit Kultur versuchen wir zu erklären, erstens wie Menschen Bedeutungen schaffen und ihrerseits wieder von diesen Bedeutungen beeinflusst werden und zweitens wie sie diese Bedeutungen in ihrem täglichen Lebensvollzug – also in der Praxis – bestätigen oder transformieren. Es handelt sich also um ein Orientierungs- und Handlungssystem, dass nicht in Modi von Einheit und Abgeschlossenheit gedacht werden kann. Einführung in die Europäische Ethnologie 6 • Generell spielen in diesem Beispiel wir für unser Fach insgesamt die Kategorien Zeit, Raum und Soziales eine wichtige Rolle. Distinktionen, soziale Unterschiede • Wir leben in einer stratifizierten Gesellschaft, wo – je nach Zugang – zwischen Klassen, Schichten und/oder Milieus unterschieden wird. Bei den damit einhergehenden Zuschreibungen und den Abgrenzungsversuchen (Distinktionen) handelt es sich um zutiefst kulturelle Phänomene, die in verschiedenen Forschungen in der Volkskunde/ Europäischen Ethnologie eine Rolle spielen. Einführung in die Europäische Ethnologie 7 Identität • Wie den meisten oder allen kultur- und sozialwissenschaftlichen Begriffen wohnt auch dem der Identität eine gewisse Unschärfe inne, trotzdem gibt es zumindest ein konstitutives Merkmal, das eine inhaltliche Bestimmung ermöglicht. Dabei handelt es sich um die soziale Dimension von Identität, die Anselm Strauss in folgendem Satz so wunderbar gefasst hat: Identität ist immer verbunden mit der schicksalhaften Einschätzung seiner selbst – durch sich selbst und durch andere.“ Einführung in die Europäische Ethnologie 8 Ethnizität • Ethnizität bezeichnet ein kollektives Identitätskonzept, das mit der Fachgeschichte beider Ethnologien – also der Volks- wie der Völkerkunde – verbunden ist. Die Vorstellung von ethnischer Identität setzt ein Bewusstsein kultureller Zugehörigkeit voraus, „das sich“, so Wolfgang Kaschuba, „aus der Wahrnehmung der ‚Andersartigkeit’ aller anderen speist“. So konkret die sozialen Praktiken sind, die sich mit ethnischer Identität verbinden, so gefährlich sind jene Ideologien und Vorstellungswelten, die damit verknüpft sind. Einführung in die Europäische Ethnologie 9 Community Studies • Bei den Community Studies handelt es sich um ein traditionsreiches Vorgehen in den ethnologischen Disziplinen. Am Beispiel von Gemeinden können im Rahmen von Mikrostudien verschiedene kulturelle Phänomene untersucht werden, manchmal auch ganze Gemeinden an sich. In so einem begrenzten Ausschnitt lassen sich historische Erfahrungen und soziale Ordnungen, kulturelle Verkehrsformen und soziale Gruppierungen sehr genau beobachten und analysieren. In einer Gemeinde spiegelt sich nicht eine ganze Nation im kleinen wider und es handelt sich um keine abgeschlossene Entität, die keinen oder wenigen externen Einflüssen ausgesetzt ist. Einführung in die Europäische Ethnologie 10 Kontinuität und Wandel • Diese Begriffe verweisen auf ein zentrales Faktum von Kultur und Gesellschaften, dass sie nämlich einem Wechselspiel von dauerhaften und veränderlichen Elementen unterliegen. Sie treten bei jedem Phänomen eher gleichzeitig auf, freilich in sehr unterschiedlicher Gewichtung. Sie sind auch nur als relationales Begriffspaar zu verwenden, weil es dabei immer nur um ein Langsamer oder Schneller im Vergleich gehen kann; absoluter Stillstand oder permanente Bewegung findet sich selten. (vgl. W. Kaschuba) Einführung in die Europäische Ethnologie 11 Grenze • Die Grenze ist, obwohl man zunächst an ein räumliches Phänomen denkt, ein zutiefst kulturelles Phänomen. Es geht bei Grenzen stets um mehr als feste Markierungen oder Trennlinien. Grenzen können Quelle von Ängsten und Konflikten sein, aber ebenso von Möglichkeiten. Weil sie nie strikte Trennlinien von irgendetwas sind, stellen sie im räumlichen wie im sozialen Sinn Grenzzonen dar, in denen sich spezifische Dynamiken entwickeln. An Grenzen sind Gesellschaften wie Gruppen besonders verwundbar, an ihnen werden Identitäten ent- oder verworfen, an ihnen verschieben und verändern sich kulturelle Kategorien und Bedeutungen. Einführung in die Europäische Ethnologie Methoden (Beispiele) Beispiel Film „Kitchen Stories“ • Feldforschung • Teilnehmende Beobachtung • Interviews • Expertengespräche • Historisch-archivalische Methoden • Medienanalyse • Kartierungen • Film und Fotografie • Verschiedene Analyseverfahren 12 Einführung in die Europäische Ethnologie 13 Geschichte der Volkskunde • Für die Anfänge der Volkskunde gilt es – darauf hat Andreas Hartmann hingewiesen – auf jene historischen Diskussionsfelder zu schauen, die so etwas wie eine volkskundliche Fragestellung hervorgebracht haben. • Der Begriff Volkskunde taucht Ende des 18. Jahrhunderts (frühe Belege von 1782 und 1788) auf, wird aber noch nicht im Sinne einer Disziplin verwendet. • Eine wichtige Rolle spielte die Aufklärung, die im 18. Jahrhundert ihren Höhepunkt erreicht. Einführung in die Europäische Ethnologie 14 • Besonders die Statistik interessiert sich seit der 2. Hälfte des 18. Jahrhunderts für Land und Leute, um dem Staat nützliches Wissen zur Verfügung zu stellen. Wichtige Vertreter sind hier etwa Gottfried Achenwall (1719-1772) und sein Schüler August Ludwig von Schlözer (1735-1809). • Vorläufer sind auch in der Geographie und Geschichte zu finden, etwa bei Johann Christoph Gatterer (1727-1799), der historische, geographische und kulturanthropologische Zugänge miteinander verband und sich unter anderem für eine „Geographie der Kultur“ interessierte. Einführung in die Europäische Ethnologie 15 • Das Raster, mit dem Land und Leute zur damaligen Zeit betrachtet wurden, war historisch, kulturell, sozial und ökonomisch bedingt. • Als einflussreich dürfen auch jene Forschungsanliegen und Forschungsreisen gelten, welche Menschen und Gesellschaften außerhalb Europas ins Zentrum des Interesses rückten und sich bei deren Untersuchung bereits einer umfangreichen Methodologie bedienten. • In Europa gewann um die Wende vom 18. um 19. Jahrhundert die Betrachtung der Unterschiede in den Nationalcharakteren Bedeutung. Einführung in die Europäische Ethnologie 16 • Von großer Bedeutung war Johann Gottfried Herder (1744-1803) mit seinen „Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit“. • Auch Herder interessiert sich für Volkscharaktere, deren Unterschiede er an materielle Bedingungen und Lebensweisen rückbindet. So schuf er einen Entwurf – schreibt W. Kaschuba –, „der die ‚Kulturen der Völker‘ systematisch und klassifizierend zu erfassen sucht“, wobei er kritisch reflektiert, wie dies geschehen könne. • Herder sah „im Volk eine überindividuelle Persönlichkeit mit schöpferischer Begabung“. Einführung in die Europäische Ethnologie Johann Gottfried Herder (1744-1803) 17 Einführung in die Europäische Ethnologie 18 • Er interessierte sich besonders für jene „unsichtbaren Kräfte“ (Herder), die eine „Volksseele“ bestimmen und die er in der Volksdichtung und Liedern zu finden glaubt. • Im 19. Jh. bestimmten die genannten Strömungen der Aufklärung und der Romantik die Entwicklung der wissenschaftlichen Volkskunde. • Die Aufklärung setzte u.a. auf das Vernunftdenken und betonte die Gleichheit der Menschen. • Die Romantik wiederum „richtete den Blick auf eine scheinbar ‚heile‘ Vergangenheit und schwor allem Nützlichkeitsdenken ab“ (Kai D. Sievers). Einführung in die Europäische Ethnologie 19 • Beide Richtungen interessierten sich allerdings für das Volk. • Die erste Hälfte des 19. Jahrhunderts bringt eine Vielzahl von kameralistischen Beschreibungen über Land und Leute, über Lebensverhältnisse und Lebensweisen der Menschen. Oftmals ging dabei die kameralistische Beschreibung auch in eine nationalromantische Richtung über – etwa in der Begeisterung für Volkslieder, die als Ausdruck „ursprünglicher volkstümlicher Unverdorbenheit“ galten. Einführung in die Europäische Ethnologie 20 • Ein für das Fach bedeutsamer Vertreter im 19. Jahrhundert war Wilhelm Heinrich Riehl (18231897). • Riehl war eigentlich Theologe, seit 1854 in München aber Professor für Staatswirtschaftslehre und Statistik und seit 1859 für Kulturgeschichte. • Zunächst verstand er die Volkskunde als eine Art Hilfswissenschaft für eine Staatswissenschaft. Mit dieser Form einer „Naturgeschichte des Volkes“ sollten Verwaltungs- und Verfassungsbeamte in Landes- und Volkskunde ausgebildet werden. Einführung in die Europäische Ethnologie 21 • 1858 hielt er in München einen programmatischen Vortrag mit dem Titel „Die Volkskunde als Wissenschaft“, wegen dem er häufig als Gründer einer wissenschaftlichen Volkskunde bezeichnet wird, obwohl der Vortrag kaum rezipiert wurde. • Auch wenn eine echte wissenschaftliche Auseinandersetzung mit dem Gegenstand fehlte, so hat er Wesen und Aufgabe der Volkskunde zu benennen gesucht. • Er plädierte dafür, nicht bloß Material zu sammeln, wie eine der berühmtesten und immer wieder zitierten Passagen belegt: Einführung in die Europäische Ethnologie 22 • „Diese Studien über oft höchst kindische und widersinnige Sitten und Bräuche, über Haus und Hof, Rock und Kamisol und Küche und Keller sind in der That für sich allein eitler Plunder, sie erhalten erst ihre wissenschaftliche wie ihre poetische Weihe durch ihre Beziehung auf den wunderbaren Organismus einer ganzen Volkspersönlichkeit, und von diesem Begriff der Nation gilt dann allerdings im vollsten Umfang der Satz, daß unter allen Dingen dieser Welt der Mensch des Menschen würdigstes Studium sey.“ Einführung in die Europäische Ethnologie 23 • Das Material müsse nach Riehl bestimmten Kategorien zugeordnet werden, nämlich den vier großen „S“: Stamm, Sitte, Sprache, Siedlung. • Außerdem forderte er eine teilnehmende Beobachtung durch den Forscher, die sich bis dahin hauptsächlich als „Schreibtischwissenschaftler“ bei „abgeleiteten Quellen“ bedient hatten – also aus Büchern, Statistiken, Archivmaterial etc. • Riehls Forschung hatte die Idee der Nation im Fokus, die er als einen „naturhaften Zustand“ sah, „dessen Gesetzmäßigkeit“ er ergründen wollte. Einführung in die Europäische Ethnologie 24 • Riehl war nicht nur Wissenschaftler, sondern auch Sozialpolitiker, weshalb er seine vier Werke Die bürgerliche Gesellschaft, Land und Leute, Die Familie und das Wanderbuch in einer Ausgabe „Naturgeschichte des Volkes als Grundlage einer deutschen Social-Politik“ (1869) nannte. • Ins Zentrum rückte er dabei die Familie, die für ihn die wichtigste Rolle im nationalen und sozialen Leben spielte. Sie ist für ihn eine konstante und unantastbare Größe, wozu die Vorstellung „von gottgewollter Unverrückbarkeit der Geschlechterrollen“ (Sievers) gehört. Einführung in die Europäische Ethnologie 25 • Riehl erkannte die Veränderungen, die im 19. Jh. abliefen, aber war gegen diese Veränderungen. • In seinem Gesellschaftsbild unterteilte er „Mächte des Beharrens“ (Bauern und Adel) und „Mächte der Bewegung“ (Bürgertum und Vierter Stand – also in etwa Lohnarbeiter). • Dabei wurde das Bauerntum als beharrendes Element von ihm besonders geschätzt. So hatte sein Gesellschaftsbild auch keine Zukunftsperspektive, sondern richte den Blick auf eine Vergangenheit, die es in der von ihm propagierten Form auch nie gegeben hatte. Einführung in die Europäische Ethnologie 26 • Von bleibt Riehl ein widersprüchlicher Eindruck: • Erstens seine staatswissenschaftliche Perspektive, die der Volkskunde einen Platz als Lieferantin von Informationen über Land und Leute einräumte. • Dann aber eine rückwärtsgewandte, romantische und ideologiebehaftete Gesellschaftslehre, die den Wirklichkeiten seiner Zeit nicht entsprach. • Schließlich war er auch für die Verhältnisse seiner Epoche kein exakter Wissenschaftler. Weder sammelte er sein Material sorgfältig, noch entwickelte er ernstzunehmende Theorieansätze. Einführung in die Europäische Ethnologie Wilhelm Heinrich Riehl 27 Einführung in die Europäische Ethnologie 28 • Trotz dieser Schwächen gelangte er zu wichtigen Erkenntnissen und die wissenschaftliche Volkskunde verdankt ihm eine Fülle von Anregungen. • In der Folge von Herder entwickelt sich im 19. Jahrhundert ein starkes romantisches Interesse, das sich für die Äußerungen des „Volksgeistes“ in Lied, Märchen, Sage, Glaube und Brauch begeisterte. Die Geschichte des eigenen Volkes wurde bedeutsam und Zeugnisse tradierter Volkskultur wurden gesammelt. Einführung in die Europäische Ethnologie 29 • Das Vergangene wurde als das Vollkommene gesehen und auch als Nahrung für die Zukunft, wie es Jacob Grimm formuliert hat. • Jacob (1785-1863) und Wilhelm (1786-1859) Grimm wurden zwei bedeutende Vertreter dieser Richtung, die auch die Altertumskunde gründeten. • 1812 und 1815 veröffentlichten sie die beiden Bände der „Kinder- und Hausmärchen“, danach folgten die „Deutschen Sagen“ (1816-18). Einführung in die Europäische Ethnologie 30 • Die Brüder Grimm sahen in der Volkspoesie „eine autonome Schöpfung“, „deren Ursprung in eine unbestimmte ältere Zeit reiche, über der der ‚Schleier des Geheimnisses gedeckt‘ liege, ‚an den man glauben soll‘.“ (Sievers). • Schon vor den Brüdern Grimm hatten Ludwig Achim von Arnim (1781-1831) und Clemens Brentano (1778-1842) die erste umfassende Volksliedsammlung „Des Knaben Wunderhorn“ (1806-1808) veröffentlicht, der eine Vielzahl weiterer Sammlungen folgte. Einführung in die Europäische Ethnologie 31 • Kritisiert wurde allerdings – etwa von den Brüdern Grimm –, dass Arnim und Brentano zu „echten Volksliedern“ im „Volksliedton“ umgedichtet haben. • Die Begriffe „Volksgeist“ und „Volkspoesie“ spielten in der Romantik also eine wichtige Rolle, wozu noch der Begriff des „Volkstums“ kam, der von Friedrich Ludwig Jahn (1778-1852), dem Gründer der deutschen Turnbewegung, stammt. • Jahn wollte in seinem Buch „Deutsches Volksthum“ (1810) die Gemeinsamkeit der deutschen Kulturüberlieferungen belegen. Einführung in die Europäische Ethnologie 32 • Diese sollten für die Erziehung zur nationalen Einheit politisch nutzbar gemacht werden. • Die Romantik war für die Entwicklung der Volkskunde als Wissenschaft von zentraler Bedeutung. Neben einer historischen Perspektive, die hinter der Untersuchung „geistiger“ Überlieferungen steckte, verfolgte man aber auch mythische Vorstellungen von germanischem Altertum, die historisch nicht belegbar waren und für das Fach bis nach 1945 eine schwere Hypothek darstellten. Einführung in die Europäische Ethnologie 33 • Ein bedeutender Vertreter des Faches im 19. Jh. war der Mythologe Wilhelm Mannhardt (18311880), der die Mythologie als eine exakte Wissenschaft zu begründen suchte. Sein bekanntestes Werk war „Wald- und Feldkulte“, das auf einer breiten Fragebogenaktion aufbaute. • Auch die Völkerpsychologen interessierten sich für überlieferte Glaubensvorstellungen, um in Sprache, Mythologie, Religion, Sitte und Recht den „Elementen und Gesetzen des geistigen Völkerlebens“ auf die Spur zu kommen. Einführung in die Europäische Ethnologie 34 • Dafür musste ein wissenschaftliches Bezugssystem geschaffen werden, „innerhalb dessen die Geisteseigenschaften der Völker zu bestimmen seien, ihr Ethnos“ (Weber-Kellermann/Bimmer). • Daran anschließend suchte der Arzt und Ethnopsychologe Adolf Bastian (1826-1905) nach den „Elementargedanken der Menschheit“, „die ungeachtet räumlicher Entfernung, sozialen Kontextes sowie wirtschaftlicher, politischer und historischer Bedingtheiten in gleicher Weise in den unterschiedlichsten menschlichen Kulturen vorhanden seien“ (Sievers). Einführung in die Europäische Ethnologie 35 • Diese würden sich – in evolutionärem Sinn – in einer Stufenfolge weiterentwickeln. • Seit den 1830er Jahren entwickelten sich die Geschichts- und Altertumsvereine, die auch ein Forum für die Volkskunde darstellten und die 1852 die Dachorganisation „Gesamtverein der deutschen Geschichts- und Altertumsvereine“ bildeten. 1852 wurde zudem das Germanische Nationalmuseum in Nürnberg gegründet, in dem die Kulturgeschichte des deutschen Volkes gesammelt werden sollte. Einführung in die Europäische Ethnologie 36 • Damit sollten auch Zeugnisse der Volkskultur in einer sich rapide verändernden Welt vor dem Untergang gerettet werden. • Eine eigenständige Wissenschaft wurde die Volkskunde allerdings erst gegen das Ende des 19. Jahrhunderts. Der Germanist Karl Weinhold (1832-1901) gründete 1890 den „Berliner Verein für Volkskunde“, dem bald weitere Vereinsgründungen folgten, in deren Rahmen auch volkskundliche Zeitschriften herausgegeben wurden. Einführung in die Europäische Ethnologie 37 • 1891 wurde die Zeitschrift des Vereins für Volkskunde zum zentralen Publikationsorgan und existiert noch heute als „Zeitschrift für Volkskunde“. • Kai Detlev Sievers konstatierte, dass Weinhold ein anspruchsvolles Programm entwickelt hat. „Neben dem äußeren physischen Erscheinungsbild sollten auch dessen Lebensverhältnisse – Nahrung, Kleidung, Wohnung – und die Vermittlung normativer Werte in Religion, Recht, Sprache, Poesie, Musik, Tanz und Ästhetik untersucht werden.“ Einführung in die Europäische Ethnologie 38 • Auch die historische Schule der Volkswirtschaft spielte für die Volkskunde eine wichtige Rolle, weil sich ihre Vertreter neben ökonomischen Gesetzmäßigkeiten auch für Faktoren wie Sitte, Gewohnheit, Rechtstraditionen etc. interessierte. • Ein bedeutender Vertreter war Gustav Schmoller (1838-1917), der den Zusammenhang von Raum, Zeit und Nationalität thematisierte und einen bedeutenden Beitrag zur Erforschung der Handwerksgeschichte lieferte. Einführung in die Europäische Ethnologie 39 • Andere Vertreter – wie Karl Bücher (1847-1930) – rückten das Thema Arbeit in den Mittelpunkt, schauten auf Formen der Arbeitsteilung oder auf den Zusammenhang von Arbeit und Arbeitstakt. • Man beschäftigte sich mit der sozialen Frage und mit der Situation der ländlichen Bevölkerung sowie mit der Lage der Industriearbeiterschaft. • Ein bedeutender Sozialpolitiker war der Arzt Rudolf Virchow (1821-1902), der eine umfassende Sozialhygiene anstrebte. Daneben interessierte er sich für das Volksleben und war an Vereinsund Museumsgründungen beteiligt. Einführung in die Europäische Ethnologie 40 • Ohne es hier ausführen zu können, spielten auch der Historische Materialismus von Karl Marx (1818-1883) und Friedrich Engels (18201895) sowie die kulturhistorische Methode des Historikers Karl Lamprecht eine wichtige Rolle. • Für die Volkskunde wurde aber das Buch „Gemeinschaft und Gesellschaft“ des Soziologen Ferdinand Tönnies (1855-1936) bedeutsam, mit dem er den Übergang von gemeinschaftlichen zu gesellschaftlichen Formen des Zusammenlebens beschreiben wollte (dazu an anderer Stelle dieser Vorlesung mehr). Einführung in die Europäische Ethnologie 41 • In den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts können – mit Utz Jeggle – drei grobe Richtungen unterschieden werden. 1. Da ist der nationalistische Zugang, der allerdings zu Beginn des Jh. noch gar nicht so stark ausgeprägt war. Karl Weinhold hatte zunächst überhaupt eine „Unbefangenheit in allen nationalen Fragen“ geäußert. Zwar beförderte der erste Weltkrieg das nationalistische Denken, aber nicht so sehr in der wissenschaftlichen Volkskunde. Der Feind wurde hier eher in der Sozialdemokratie gesehen. Einführung in die Europäische Ethnologie 42 • Gerade die Industrialisierung stellte ein Problem für das junge Fach Volkskunde dar. Die Auswirkungen der Industrialisierung auf die Kultur und das Alltagsleben wurden nicht direkt in den Blick genommen. Allenfalls sah man „die Gefahr der Zerstörung des volkskulturellen Kerns“, der nicht in der Industriebevölkerung vermutet wurde. 2. Eine andere Denkachse stellt psychologische und historische Zugänge einander gegenüber. • Etwa wurde nicht wirklich historisch gedacht, sondern eher nach einem historischen Ursprung als nach einer Entwicklung gesucht. Einführung in die Europäische Ethnologie 43 • Auf dem seelischen Terrain wiederum herrschte eine Vorstellung von Ganzheit, die eine Volksseele suchte, die „als kollektive Gesamtheit gedacht wird“, die von der Volkskunde „zu rekonstruieren und zu rekonstituieren“ sei (Jeggle). • Von Albrecht Dieterich (1866-1908) wurde dies „Mutterboden der Kulturnation“ genannt. • Konterkariert wurden diese Annahmen durch Stu dien, die das materielle Volksleben anhand von Sachzeugnissen und der Berufsarbeit von Bauern und Handwerkern erhoben (Rudolf Meringer 1859-1931 und Richard Wossidlo 1859-1939). Einführung in die Europäische Ethnologie 44 • Die Volksseele selbst wurde eher metaphorisch umkreist, denn definitorisch abgegrenzt. Bei Eduard Hoffmann-Krayer (1864-1936) ist sie eine Art „ruhender Pol“, in dem die Anschauungen des Volkes zum Ausdruck gelangen. Er nennt dies „vulgus in populo“ und sah dies im „niederen, primitiv denkenden, von wenig Individualitäten durchdrungene Volk“. • Hoffmann-Krayer erkannte durchaus die Einflüsse einer Moderne, die die Individualisierung der Menschen vorantreibt, die Volkskunde allerdings solle das „Generellstagnierende“ erforschen. Einführung in die Europäische Ethnologie 45 • Adolf Spamer (1883-1953) erkannte dann die ideologischen Verkürzungen, die mit dem Begriff Volksseele einhergingen. Er sieht den Kern der Volksseele nicht etwa in der bäuerlichen Kultur, sondern in der Triebgebundenheit des Menschen, dessen Motoren Hunger und Liebe seien. 3. Ein drittes Diskursfeld behandelte die Fragen der Individualität und des Schöpferischen. • 1922 veröffentlichte Hans Naumann (1886-1951) sein schmales Buch „Grundzüge der deutschen Volkskunde, worin er seine These vom gesunkenen Kulturgut präsentierte. Einführung in die Europäische Ethnologie 46 • Seine viel kritisierte These lautete: „Volkskultur wird von der Oberschicht gemacht“. • Zwar schrieb er sehr wohl, dass auch die Elitenkultur an den „Wurzelstock der primitiven Gemeinschaft“ rückgebunden sei, aber das minderte die Kritik keineswegs, obwohl auch schon Hoffmann-Krayer Gleiches formuliert hatte: „Das Volk produziert nicht, es reproduziert“. • Differenziert und psychoanalytisch fundiert, stellte Adolf Spamer fest, dass es auch in den Eliten „Bewußtseinsebenen gibt“, die „archaischen Relikten verpflichtet sind“ Einführung in die Europäische Ethnologie 47 Volkskunde im Nationalsozialismus • Die Volkskunde spielte im Nationalsozialismus – wie viele Wissenschaften – eine unrühmliche Rolle. Einige Vertreter trugen zum abstrusen Gedankengebäude der Nationalsozialisten bei, viele waren mehr oder weniger engagierte Mitläufer, die vom Machtsystem zu profitieren versuchten. • Die Volksideologie der NS-Zeit entstand aber nicht aus sich selbst, sondern hatte Vorläufer, die benannt werden können, auch wenn nicht alles, was vorgedacht worden ist, ist für die Katastrophe der NS-Zeit verantwortlich. Einführung in die Europäische Ethnologie 48 • Der bedeutendste Volkskundler des 20. Jahrhunderts Hermann Bausinger hat einige Elemente der Volksideologie zusammengefasst: den nationalen Aspekt; die rassistischen Ideen; die Gleichsetzung von nordisch und germanisch; die Überhöhung des Bauernstandes, den Hitler als das „Fundament der gesamten Nation“ bezeichnete; die „organische Konstruktion einer geschlossenen Volkspersönlichkeit“; der quasi-religiöse Charakter volkstümlicher Überlieferung und damit der Vorrang der Volkstumspraxis, die nur auf politischen Nutzen abzielte. Einführung in die Europäische Ethnologie 49 • Utz Jeggle hat zu Recht moniert, dass daraus „Ideenbreie“ entstanden sind, die sich durch folgende Aspekte auszeichneten: – – – – – – – – Verzicht auf wissenschaftliche Methodik, Quellenkritik, Transparenz des Forschungsprozesses ‚Zerstörung der Vernunft‘ Ausblenden des Intellekts Abbau wissenschaftlicher Erkenntnissicherung Ablehnung des kritischen Diskurses Translozierung wissenschaftlicher Vorstellungen in ein Bekenntnissystem, das nicht einmal mehr den Anstrich der Wissenschaftlichkeit braucht“ Einführung in die Europäische Ethnologie 50 • Deutlich wird dies in einem Zitat von Wilhelm Peßler aus einem Grundsatzartikel zum Fach: • „Möge es solcher Gestalt der Volkskunde gelingen, allen Volksgenossen das Wesen der Deutschheit zu erschließen und das Herz zu öffnen für ihre Brüder, daß sie, einig im Kampf um Deutschlands Auferstehen, mit uns sprechen: ‚Ich bekenne mich zur deutschen Volksgemeinschaft und ich glaube an Deutschlands Unsterblichkeit‘.“ • Vertreter wie Otto Höfler oder Eugen Fehrle hatten in eine ähnliche Richtung artikuliert. Einführung in die Europäische Ethnologie 51 • Der Volkstumsideologie hatte einige zentrale Aspekte, unter denen der Mythos des Ursprungs und die Rassevorstellungen einen besonderen Rang einnahmen. • Die Suche nach dem Ursprung beginnt, wie bereits dargelegt, in den romantischen Ideen, eine Volksseele oder einen Volksgeist in alten Überlieferungen ausmachen zu können. Dazu gehört ebenso, dass die Gemeinschaft über das Individuum gestellt wird, ja das Individuum überhaupt als undeutsch zu klassifizieren. Einführung in die Europäische Ethnologie 52 • Die Unterscheidung von Rassen war zunächst keine Erfindung des Nationalsozialismus, sondern in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts ein international anerkanntes Forschungsfeld, wie etwa der Soziologe Zygmunt Bauman gezeigt hat. • Im Nationalsozialismus wird die Rasse allerdings zu einer „blutsmäßigen, biologischen“ Kategorie, die keine historischen Entwicklungen kannte, sondern Zugehörigkeit als natürlich gegeben annahm, was zu Ausgrenzung und Vernichtung führte. Einführung in die Europäische Ethnologie 53 • Im Nationalsozialismus mutierte die Volkskunde zu einer Hilfswissenschaft, die das Regime bei der Verfolgung seiner Ziele ideologisch unterstützte. Den führenden Vertretern ging es nicht um volkskundliche Forschung – sogar über die Ursprungssuche machten sich führende Vertreter (wie Hitler oder Goebbels) lustig – sondern sie wollten durch folkloristische Versatzstücke die Massenbindungskraft erhöhen. • Die moralische Bewertung vieler Wissenschaftler in der NS-Zeit ist schwierig, weil das Regime keine wirklich neutrale Haltung zuließ. Einführung in die Europäische Ethnologie 54 • Dennoch gab es einige Wissenschaftler, die sich dem Regime nicht beugten. • Der konservative Volksmusikforscher Kurt Huber wurde als Mitglied der Widerstandsgruppe „Weiße Rose“ hingerichtet. • Will-Erich Peuckert und Adolf Reichwein widersetzten sich dem nationalsozialistischen Denken. • Die konfessionellen Volkskundler Rudolf Kriss und der Prälat Georg Schreiber nahmen ebenfalls eine vorbildliche Haltung ein. Einführung in die Europäische Ethnologie 55 Volkskunde nach 1945 • Nach 1945 hatte die Volkskunde schwer am Erbe des Nationalsozialismus zu tragen, auch wenn nicht wenige Vertreter den Anteil der eigenen Disziplin zu jener Zeit verdrängen wollten. • Der Soziologe Heinz Maus sprach sich überhaupt für eine Auflösung des Faches aus. • Es gab allerdings unbelastete Fachvertreter wie Will-Erich Peuckert, die dagegen plädierten. • Das Fach wurde zudem gestützt, als 1946 in der unbelasteten Schweiz Richard Weiss‘ einflussreiches Buch Volkskunde der Schweiz erschien. Einführung in die Europäische Ethnologie 56 • Neue Forschungsfelder entstanden, die aber nicht ausnahmslos unbedenklich waren. • Die wichtige „Volkskunde der Heimatvertriebenen“ etwa konnte den Eindruck erwecken, es werde nach 1945 hauptsächlich nach den eigenen Opfern gesucht. • Ein bedeutender Weg zur Überwindung der NSVolkskunde wurde von der so genannten Münchner Schule begründet. Hans Moser und KarlSigismund Kramer befreiten das Fach von seinem mythischen Kram durch eine archivalischempirische Forschung mit strenger Quellenkritik. Einführung in die Europäische Ethnologie 57 • Ein weiterer bedeutender Strang neuer volkskundlicher Forschung zeigte sich am Tübinger Ludwig-Uhland-Institut. • In Tübingen wandte man sich ganz bewusst der Gegenwartsforschung zu und die Volkskunde wurde als eine empirische Kultur- und Alltagswissenschaft entworfen. • In der DDR konnte sich die Volkskunde als bedeutend eingeschätztes historisches Fach etablieren, obwohl die neue Ideologie nach und nach die Arbeiten mancher Fachvertreter zum Nachteil des Faches zu durchziehen begann. Einführung in die Europäische Ethnologie 58 • Marxistische Anregungen fanden allerdings auch Eingang in die westdeutsche Volkskunde, wo die Arbeiten der Frankfurter Schule aufgenommen wurden, denen nicht der verkürzte ideologische Ballast der späten DDR zugrundelag. • Die Umbrüche der 1960er Jahre führten zu heftigen Spannungen auch in der Volkskunde, die in einer Namensdebatte kulminierten, die bis heute – in abgeschwächter Form – anhält. • Vor allem bei der bis heute legendären Falkensteiner Tagung (1970) trafen die unterschiedlichen Auffassungen aufeinander. Einführung in die Europäische Ethnologie 59 • Die Tübinger benannten sich in Empirische Kulturwissenschaft um, in Frankfurt am Main wurde die Bezeichnung Kulturanthropologie und Europäische Ethnologie gewählt (was in Falkenstein eine Mehrheit propagiert, später aber nicht umgesetzt hat) und heute haben viele Institute eine Doppelbezeichnung wie Volkskunde/Europäische Ethnologie. • Die Traditionen, die sich an manchen Standorten entwickelten, hatten auch mit bedeutenden Forscher/innen-Persönlichkeiten zu tun. Einführung in die Europäische Ethnologie 60 • In Tübingen wirkte etwa Hermann Bausinger, der mit Utz Jeggle, Gottfried Korff, Martin Scharfe, Carola Lipp, Christel Köhle-Hezinger, BerndJürgen Warneken und Wolfgang Kaschuba eine gewichtige Nachfolgergeneration hervorbrachte. • In Frankfurt am Main orientierte Ina-Maria Greverus das Fach sehr konsequent an einer internationalen Kultur- und Sozialanthropologie. Bei ihr wurden wichtige Vertreter habilitiert, die heute Lehrstühle in Fribourg (Christian Giordano), Frankfurt/Oder (Werner Schiffauer), Frankfurt/ Main (Gisela Welz) oder München innehaben. Einführung in die Europäische Ethnologie 61 • In Marburg/Lahn verfolgten Gerhard Heilfurth und dann insbesondere Ingeborg Weber-Kellermann einen stärker sozialhistorischen Ansatz. • In Münster entwickelte sich ein Zentrum für die Erforschung materieller Kultur, für das die Namen Günter Wiegelmann und Hinrich Siuts standen. • Diese unterschiedlichen Richtungen dürfen allerdings nur idealtypisch verstanden werden, weil in allen Forschungsinstitutionen auf die verschiedenen Zugänge rekurriert wurde, aber eben mit unterschiedlicher Gewichtung. Einführung in die Europäische Ethnologie 62 • Kultur ist ein zentraler oder wahrscheinlich der zentrale Begriff des Faches. • Für die Begriffsgeschichte von Kultur kann zunächst auf das lateinische Wort cultura verwiesen werden, mit dem die menschliche Aneignung der Natur beschrieben wird: die Kultivierung des Bodens, die Pflege der Landwirtschaft und in weiterer Folge überhaupt Fragen der Pflege, der Veredelung und der Ausbildung von Menschen. Einführung in die Europäische Ethnologie 63 • Gegen Ende des 18. Jahrhunderts wird Kultur dann der Natur gegenüber gestellt. Kultur ist dabei das von Menschen Erschaffene, Natur das Ursprüngliche. Natur umfasst die menschliche Leiblichkeit, Kultur die humane Geistigkeit. • Herder spricht etwa von einer „Kultur des Volkes“ und versteht darunter noch Ursprüngliches und Unverbildetes. • Goethe wiederum schreibt von „Bildungskultur“ und meint menschliche Herzens- und intellektuelle Geistesbildung. Einführung in die Europäische Ethnologie 64 • Diese unterschiedlichen Semantiken, so Wolfgang Kaschuba, fließen auch in die Volkskunde des 19. Jahrhunderts ein, bleiben vielfach ungeordnet nebeneinander bestehen und werden kaum begriffs- und ideologiegeschichtlich hinterfragt. • Herders „Kultur des Volkes“ sucht nach ästhetischen Zeugnissen, nach einer natürlichen Poetik, die in Märchen und Liedtexten vermutet wird. Eine „Kulturkunde“ der frühen Landes- und Reisebeschreibungen wiederum sammelt ländliche Bräuche, populäre Sitten, Kenntnisse über den Stand der Landespflege. Einführung in die Europäische Ethnologie 65 • Bereits hier wird klar, dass die Vorstellung einer Bildungskultur neben einer Kultur von Land und Leuten – vor allem verbunden mit dem Namen Wilhelm Heinrich Riehl – existierte. • Seit der Mitte des 19. Jahrhunderts kommt dazu auch noch die politische Karriere von Kultur, die als „Deutsche Kultur“ zum Synonym für einen Nationalismus wurde, dem zunächst noch sie staatlich-politische Gestalt fehlte. • Wilhelm Heinrich Riehl (1823-1897), Begründer der wissenschaftlichen Volkskunde; Professor für Kulturgeschichte und Statistik an der Universität München Einführung in die Europäische Ethnologie 66 • Hauptwerk: vierbändige »Naturgeschichte des deutschen Volkes als Grundlage einer deutschen Socialpolitik« (Bd. 1: »Land und Leute« [1853], Bd. 2: »Die bürgerliche Gesellschaft« [1851], Bd. 3: »Die Familie« [1854], Bd. 4: »Das Wanderbuch« [1869]), • Wurde zu einem vielgelesenen Werk im Bildungsbürgertum der zweiten Hälfte des 19. Jhs. • Riehl sah Volkskultur, Brauchtum und Traditionen als eigenständigen historisch-gesellschaftswissenschaftlichen Untersuchungsgegenstand Einführung in die Europäische Ethnologie 67 • Neben der Vorstellung von materieller und geistiger Kultur wirkte auch jene von niederer und hoher Kultur lange weiter. • Riehl unterschied Bildungsgut vom primitiven Gemeinschaftsgut, Hans Naumann sprach von gesunkenem Kulturgut und sah die schöpferische Kompetenz bei den oberen Schichten. • Erst die Reformdebatten seit den 1960er Jahren führten zu einem reflektierten Kulturbegriff, was auch Auswirkungen auf Fragestellungen und Betrachtungsweisen hatte. Einführung in die Europäische Ethnologie 68 • Die Volkskunde hatte sich seit ihrer Etablierung für Veränderungsprozesse interessiert, zunächst aber noch mit einem sentimentalen und bewahrenden Blick, dann interessierte sie sich dafür, wie die Veränderungen von Menschen wahrgenommen werden, welche Bedeutungen die Menschen diesen Veränderungen beimessen und welche Handlungsoptionen sich daraus ergeben. • Die Diskussion um den Kulturbegriff wie das Fach insgesamt wurde durch verschiedene theoretische Konzepte beeinflusst. Einführung in die Europäische Ethnologie 69 • Eines dieser Konzepte ist das der Zivilisation von Norbert Elias. • Norbert Elias (1897-1990), als Sohn jüdischer Eltern in Breslau geboren, 1915 Abitur, bis 1917 Kriegsdienst. Er studierte in Breslau, Heidelberg (u.a. bei Karl Jaspers), Freiburg im Breisgau (u. a. bei Edmund Husserl). Er promoviert 1922 mit der Arbeit „Idee und Individuum. Eine kritische Untersuchung zum Begriff der Geschichte“. • 1924 ging er wieder nach Heidelberg, arbeitete für Karl Mannheim und saß im Oberseminar bei Alfred Weber. Einführung in die Europäische Ethnologie 70 Norbert Elias Einführung in die Europäische Ethnologie 71 • 1924 ging er wieder nach Heidelberg, arbeitete für Karl Mannheim und hörte bei Alfred Weber. • Er folgte dann Karl Mannheim nach Frankfurt am Main, wo er 1932/33 seine Habilitationsschrift „Der höfische Mensch“ einreichte. Für die Lehrbefugnis fehlte die Antrittsvorlesung, als die Nationalsozialisten an die Macht kamen. • Er floh nach Frankreich und 1935 weiter nach England. Dort schrieb er – im Lesesaal des British Museum – sein zweibändiges Werk „Über den Prozeß der Zivilisation. Soziogenetische und psy-chogenetische Untersuchungen“ (1936; publiziert 1939). Einführung in die Europäische Ethnologie 72 • Elias schlug sich mit Unterricht an Volkshochschulen durch. • Erst 1954 erhielt er eine Dozentenstelle am Department of Sociology der Universität Leicester, wo er bis 1962 unterrichtete. Bei ihm studierten etwa Anthony Giddens und Martin Albrow. • Von 1962 bis 1964 hatte er eine Professur an der University of Ghana in Accra inne. • 1965 kam er als Gastprofessor an der Universität Münster erstmals seit seiner Flucht nach Deutschland zurück. Einführung in die Europäische Ethnologie 73 • Seit 1975 hatte er seinen Hauptwohnsitz in den Niederlanden und erst in den 1970er Jahren wurde aus seinem „Prozeß der Zivilisation“ ein wissenschaftlicher Bestseller. • 1977 erhält Elias den ersten Adorno-Preis und von 1978 bis 1984 arbeitet er am Zentrum für interdisziplinäre Forschung in Bielefeld und an der Ruhr-Universität Bochum. • Bis zu seinem Tod im Jahr 1990 in Amsterdam arbeitete er unermüdlich an seinem Werk weiter. • Sein Hauptwerk ist der „Prozeß der Zivilisation“, das nachhaltigen Einfluß auf die Sozial- und Geisteswissenschaften ausübte. Einführung in die Europäische Ethnologie 74 • Die Veränderungen menschlichen Verhaltens, der Empfindungen und Affekte werden als ein Zivilisationsprozess verstanden. • Zivilisation ist für Elias dabei die langfristige Umwandlung von Außenzwängen in Innenzwänge. • Er beschreibt Zivilisierung als langfristigen Wandel der Persönlichkeitsstrukturen, den er auf einen Wandel der Sozialstrukturen zurückführt. • Faktoren des sozialen Wandels sind der kontinuierliche technische Fortschritt und die Differenzierung der Gesellschaften sowie der ständige Konkurrenz- und Ausscheidungskampf. Einführung in die Europäische Ethnologie 75 • Dies führt zu einer Zentralisierung der Gesellschaften (Einrichtung staatlicher Gewalt- und Steuermonopole) sowie zur Geldwirtschaft. • Das Bindeglied zwischen diesen sozialstrukturellen Veränderungen und den Veränderungen der Persönlichkeitsstruktur sind die wachsenden gegenseitigen Abhängigkeiten, die "Interaktionsketten", in die Menschen eingebunden sind. • Eine zunehmende Affektkontrolle erzwingt zwischen spontanem emotionalen Impuls und tatsächlicher Handlung ein Zurückhalten dieses Impulses und ein Überdenken der Wirkungen. Einführung in die Europäische Ethnologie 76 Das hat verschiedene Folgen: • das Sinken der Gewaltbereitschaft; • das Vorrücken der "Schamschwellen"; • das Vorrücken der "Peinlichkeitsschwellen"; • eine "Psychologisierung", d.h. die Steigerung der Fähigkeit, die Vorgänge innerhalb anderer Menschen zu verstehen; • eine "Rationalisierung", d.h. eine Steigerung der "Langsicht", also der Fähigkeit, die Folgen der eigenen Handlungen über immer mehr Glieder der Kausalketten vorauszu"berechnen". Einführung in die Europäische Ethnologie 77 • Elias zeigt "wie etwa von den verschiedenen Seiten her Fremdzwänge sich in Selbstzwänge verwandeln, wie in immer differenzierterer Form menschliche Verrichtungen hinter die Kulisse des gesellschaftlichen Lebens verdrängt und mit Schamgefühlen belegt werden. • Für Elias bestimmt eine fundamentale dynamische Verflechtungsordnung ("Figuration") den Gang des geschichtlichen Wandels; "sie ist es, die dem Prozess der Zivilisation zugrunde liegt." Einführung in die Europäische Ethnologie 78 • Diese Verflechtungsordnung ist recht einfach: "Pläne und Handlungen, emotionale und rationale Regungen der einzelnen Menschen greifen beständig freundlich oder feindlich ineinander.„ • Aber er weist auch darauf hin, "dass sich aus allem Planen und Handeln der Menschen vieles ergibt, was kein Mensch bei seinem Handeln eigentlich beabsichtigt hat“. • In der Entwicklung der abendländischen Gesellschaft "differenzieren sich die gesellschaftlichen Funktionen unter einem starken Konkurrenzdruck mehr und mehr." Einführung in die Europäische Ethnologie 79 • Die Ausdifferenzierung gesellschaftlicher Funktionen bestimmt die Richtung der "Veränderung des Verhaltens im Sinne einer immer differenzierteren Regelung der gesamten, psychischen Apparatur." • Diese differenziertere und stabilere Regelung wird dem einzelnen Menschen von klein auf mehr und mehr, als ein Automatismus angezüchtet und funktioniert dann als Selbstzwang. Einführung in die Europäische Ethnologie 80 • "Die fortschreitende Differenzierung der gesellschaftlichen Funktionen ist nur die erste, die allgemeinste der gesellschaftlichen Transformationen. ... Mit ihr, ... geht eine totale Umorganisierung des gesellschaftlichen Gewebes Hand in Hand." • "Die eigentümliche Stabilität der psychischen Selbstzwang-Apparatur, ..., steht mit der Ausbildung von Monopolinstitution der körperlichen Gewalt und mit der wachsenden Stabilität der gesellschaftlichen Zentralorgane in engstem Zusammenhang.“ Einführung in die Europäische Ethnologie 81 • In früheren Gesellschaften lebte der Einzelne ungeschützter. Auf der einen Seite war er freier, sich der Lust hinzugeben, auf der anderen Seite war er gefährdeter durch Feinde oder Naturphänomene. Es war ein Leben zwischen Extremen. • Elias behauptet nicht, dass es früher keine Formen von Selbstzwängen gegeben hätte, aber es "ist ein anderer Typus von Selbstbeherrschung oder Selbstzwang." Der neue Typus ist nicht mehr so ausgelassen, nicht mehr so extrem in den Schwankungen - zwischen Lust und Unlust, Freude und Leid -, sondern bewegt sich auf einer mittleren Linie. Einführung in die Europäische Ethnologie 82 • Elias beschrieb also eine Entwicklung hin zur Individualisierung, die die Ausbildung individueller Fähigkeiten ebenso befördert wie die Anpassung von Verhaltensstandards. • Die Geschichte der Zivilisierung sieht er als einen „sozio- und psychogenetischen Vorgang“, als einen Prozess der gesellschaftlichen Verhaltenskonditionierung, der sich in moralischen Strategien der Bedürfnis- und Triebkontrolle niederschlägt. Einführung in die Europäische Ethnologie 83 • Der „Prozeß der Zivilisation rief viele Kritiker auf den Plan. Der Ethnologe Hans Peter Duerr bezeichnete den Zivilisationsprozess als Mythos. • Dieser Mythos besage, dass die derzeitige Domestikation unserer tierischen Natur das Ergebnis eines langwierigen Prozesses sei, der im westlichen Europa gegen Ende des Mittelalters und bei den „primitiven Völkern“ erst in jüngster Zeit begonnen habe. • Duerr wehrt sich nicht zu Unrecht gegen ein Zerrbild fremder Kulturen. Einführung in die Europäische Ethnologie 84 • Elias hat offenbar keine rezenten ethnologischen Bücher gelesen und kommt daher zu einer Fehleinschätzung der von ihm so genannten „Primitiven“. • Durch Quellenarbeit widerlegt Duerr Elias, er bringt für die unterschiedlichen Epochen und Gesellschaften Belege, die den Thesen Elias’ weitgehend widersprechen. • Während Elias unter der Rubrik „natürliche Bedürfnisse“ nachzuzeichnen versucht, wie sich gewisse Scham- und Peinlichkeitsgrenzen erst nach und nach herausbilden, kann Duerr zeigen, dass Urinieren, Defäkieren und Furzen in praktisch allen Kulturen dieser Welt mit Ekelund Schamgefühlen sowie Peinlichkeitsschwellen besetzt ist. Einführung in die Europäische Ethnologie 85 • Andere Kritiker meinen, sein Geschichtsmodell sei zu nahe an längst überholten Evolutionstheorien. • Zudem wird der Verdacht geäußert, Elias habe seine Belege zu sehr an die bereits bestehende Theorie angepasst. • Ein anderer Kritikpunkt bezieht sich darauf, wie Elias seine an der Oberschicht gefundenen Befunde auf andere Schichten und Milieus sowie auf andere Völker und Kulturen überträgt. Einführung in die Europäische Ethnologie 86 • Durch seine übervereinfachende Modellkonstruktion, so ein letzter hier zu erwähnender Kritikpunkt, geraten aber auch einzelne Befunde von Elias in ein schiefes Licht, weil damit Entwicklungen nicht gedeutet werden können, die seiner Konstruktion zuwiderlaufen – z.B. im Bereich der wieder liberaler gewordenen Vorstellungen und Praktiken in Bezug auf Nacktheit oder Sexualität. • Die Zivilisationstheorie sollte aber dennoch nicht zu gering geschätzt werden, weil sie gewisse Perspektiven eröffnet Einführung in die Europäische Ethnologie 87 • Ein Erbe von Elias Theorie liegt in einer nachdrücklichen Orientierung an gesellschaftlichen Prozessen – Prozesse, die niemals zu Ende sind und laufend beobachtet aber ebenso gestaltet werden können. • Ein anderer zentraler Punkt ist sicherlich die Beobachtung, dass eine Verlagerung der Kontrolle durch andere von einer Selbstkontrolle – der so genannten Selbstzwangapparatur – abgelöst wird. Damit ist auch jene Entwicklung zur Individualisierung angedeutet, die spätestens seit Ulrich Becks „Risikogesellschaft“ auf der Agenda der Sozialwissenschaften steht. Einführung in die Europäische Ethnologie 88 • Schließlich war Norbert Elias ein großer Intellektueller, der mit seinem Spätwerk noch zu überzeugen wusste und neben der Zivilisationstheorie eben noch andere wichtige Bücher verfasste: seine wissenssoziologischen Studien „Engagement und Distanzierung“ und „Über die Zeit“; „Die Gesellschaft der Individuen“; Studien über die Deutschen“ und zusammen mit John Scotson das Buch „Etablierte und Außenseiter“, um nur einige zu nennen. Einführung in die Europäische Ethnologie 89 Literatur • Bausinger, Hermann u.a.: Grundzüge der Volkskunde. Darmstadt 41996. • Bausinger, Hermann: Volkskunde. Von der Altertumsforschung zur Kulturanalyse. Tübingen 1979. • Bourdieu, Pierre: Die feinen Unterschiede. Kritik der gesellschaftlichen Urteilskraft. Frankfurt am Main 1987 (11979). • Brednich, Rolf W. (Hg.): Grundriß der Volkskunde. Einführung in die Forschungsfelder der Europäischen Ethnologie. Berlin 32001. • Geertz, Clifford: Dichte Beschreibung. Beiträge zum Verstehen kultureller Systeme. Frankfurt am Main 41995. • Gerndt, Helge (Hg.): Fach und Begriff „Volkskunde“ in der Diskussion. Darmstadt 1988. • Gerndt, Helge: Studienskript Volkskunde. Eine Handreichung für Studierende. Münster u.a. 31997. • Einführung in die Europäische Ethnologie 90 • Göttsch, Silke, Albrecht Lehmann (Hg.): Methoden der Volkskunde. Positionen, Quellen, Arbeitsweisen der Europäischen Ethnologie. Berlin 22006. • Hofmann, Martin Ludwig, Tobias F. Korta und Sibylle Niekisch (Hg.): Culture Club. Klassiker der Kulturtheorie. Band I+II. Frankfurt am Main 2004 und 2006. • Kaschuba, Wolfgang: Einführung in die Europäische Ethnologie. München 22003. • Lindner, Rolf: Die Stunde der Cultural Studies. Wien 2000. • Moser, Johannes: Volkskundliche Perspektiven. 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