Ludwig Pohlmann Einführung in die Marcus-Theorie WS 2011/2012 Marcus-Theorie: Elektronentransfer zwischen Ionen und an der Grenzfläche Metall-Elektrolyt 1. Elektronentransfer Eine elektrochemische Reaktion besteht aus Ladungstransferreaktionen innerhalb der elektrochemischen Doppelschicht. Analoges gilt für Ionenreaktionen in Lösung. Der Ladungstransfer erfolgt über den quantenmechanischen Tunnelprozess: strahlungsloser Übergang durch eine Energiebarriere zwischen Energieniveaus gleicher Höhe (= gleicher Energie) Tunnelwahrscheinlichkeit für Elektronen P 1, da: de-Broglie-Wellenlänge des Elektrons bei einer Austrittsarbeit von 510-12 erg/atom: e 10-3 cm =105 Å >> dOHP ! Freie Universität Berlin 1 Ludwig Pohlmann Einführung in die Marcus-Theorie WS 2011/2012 ==> der Elektronentransfer an der Elektrode und bei Redoxreaktionen in der Lösung sollte unmeßbar schnell ablaufen!! Aber es gibt ein Problem: die Realität! (a) Die gemessenen Geschwindigkeitskonstanten überdecken einen Bereich von mehr als 10 Zehnerpotenzen!! (b) ET-Raten für kleine Ionen (z.B. Fe3+) sind sehr viel kleiner als jene für große Ionen (z.B. Fe(CN)63-)! (Das Umgekehrte hätten wir erwartet!) Erste Lösungsidee: Libby 1952: unterschiedliche Solvatisierungsenergien („dielektrische Reorganisierungsenergien“) für unterschiedliche Ionenkomplexe: Je kleiner die Ionenradien sind, desto größer ist die elektrostatische Wechselwirkung, desto größer und fester gebunden ist die Solvathülle --> größere Energien sind zur Umorientierung notwendig! Marcus ließ sich, nach eigenen Angaben, von Libbys Arbeit inspirieren, traf diesen selbst aber erst viele Jahre später. Von Libby übernahm der die Verwendung des Frank-Condon-Prinzips und die Erkenntnis über die Schlüsselrolle der Solvatisierungsenergien. Er stellte aber auch fest, daß Libbys theoretische Ableitung fehlerbehaftet war, da sie den Energieerhaltungssatz verletzte. Freie Universität Berlin 2 Ludwig Pohlmann 2. Einführung in die Marcus-Theorie WS 2011/2012 Marcus-Theorie des Elektronentransfers Marcus 1956: erste quantitative Formulierung durch folgende Ableitung: Zwei Ausgangsprinzipien: 1. Der Elektronentransfer erfolgt (als Tunnelprozeß) zwingend isoenergetisch 2. Franck-Condon-Prinzip: da der Elektronenübergang selbst sehr viel schneller abläuft (10-15 s), als die Bewegung der Atomkerne (10-13 s), ändern sich die Kernkoordinaten während des Übergangs selbst faktisch nicht Schlußfolgerung: Der Elektronentransfer ist ein strahlungsloser FC-Übergang, der erst dann abläuft, wenn die geeignete Konfiguration der Polarisations- und Schwingungskoordinaten in der Solvenshülle durch die Fluktuationen erreicht worden ist! wie groß ist dann die Wahrscheinlichkeit solch einer Fluktuation? 3. Eine dritte geniale Idee aber war vonnöten, um das Problem so weit zu vereinfachen, daß es berechenbar wurde: Im hochdimensionalen Raum aller Bewegungsfreiheitsgrade der Solvensmoleküle stellt der Reaktionsweg eine Kurve minimalen Energieunterschieds über eine Sattelpunkt (auf der Fläche der potentiellen Energie) dar. Diese Reaktionskurve interpretierte Marcus als eine verallgemeinerte globale Reaktionskoordinate! Freie Universität Berlin 3 Ludwig Pohlmann 3. Einführung in die Marcus-Theorie WS 2011/2012 Ableitung der Marcus-Formel Schwingungsenergien beider Solvathüllen: Forderung: beide Prinzipien müssen gleichzeitig erfüllt sein: --> kann nur im Schnittpunkt der Parabeln stattfinden! Freie Universität Berlin 4 Ludwig Pohlmann Einführung in die Marcus-Theorie WS 2011/2012 --> Dann ist die Aktivierungsenergie im Schnittpunkt gleich: bzw. Reorganisierungsenergie Daraus folgt für die Geschwindigkeitskonstante entsprechend der Theorie des Übergangszustandes: - Transmissionskoeffizient ( 0 .. 1 ) - Frequenz der Bewegung durch den Übergangszustand entlang der Reaktionskoordinate („Stoßzahl“) (1012 - 1013 s-1) Freie Universität Berlin 5 Ludwig Pohlmann Einführung in die Marcus-Theorie WS 2011/2012 Woraus setzt sich aber G* zusammen? 1.Aktivierungsenergie der äußeren Schale ("outer sphere") (Libby 1952, Marcus 1956, dielektrische Reorganisationsenergie): jeder Komplex behält seine Koordinationsschale während des Elektronentransfers, nur die äußeren Solvent-Moleküle werden umorientiert (Bornsche Kontinuumsnäherung der Polarisationsenergie) Anregung durch Polarisationsfluktuationen (R: Reaktanden, P: Produkte): 2.Aktivierungsenergie der inneren Schale ("inner sphere") (George und Griffith 1959, Marcus 1960, 1965): zwei Komplexe bilden ein Intermediat, wobei mindestens ein Ligand während des Elektronentransfers beiden gemeinsam ist Vibrationsanregung --> Berechnung über die Summe der Kraftkonstanten der relevanten Schwingungen der Ion-Solvent-Bindungen: Freie Universität Berlin 6 Ludwig Pohlmann 4. Einführung in die Marcus-Theorie WS 2011/2012 Schlußfolgerungen 1. Maximum von k bei -G0 = , danach "invertierte Region" bei weiterer Erhöhung der Triebkraft -G0 ! 2. Anwendung auf Elektrochemie: In der Elektrochemie gilt für die Reaktionsenthalpie G0 = F (E - E0) = F, E0 - Nernstpotential k = k0 exp[-( + F)2/4RT] --> Tafel-Auftragung liefert: ln(i) = ln(i0) + ( + F)2/4RT Wo bleibt die lineare Tafel-"Gerade"?? Freie Universität Berlin 7 Ludwig Pohlmann Einführung in die Marcus-Theorie WS 2011/2012 Es sei: DL - Grenzpotential der Diffusionslimitierung: DL RT/(F) * ln(CA D F/ (i0 d) ) und es sei das äquivalente Potential der Reorganisationsenergie größer als das Grenzpotential: /F >> DL Dann gilt im exponentiellen Bereich der Strom-SpannungsKurve: ( + F)2/4RT (2 + 2F)/4RT = F/2RT + /4RT --> lineare Abhängigkeit, Anstieg: 0.5 F/RT d.h. Butler-Volmer mit Transferkoeffizient = 0.5 !! Aber: Gibt es Abweichungen von der Geraden, wenn die obige Ungleichung nicht erfüllt ist? Warum werden diese Abweichungen kaum beobachtet? Freie Universität Berlin 8 Ludwig Pohlmann Einführung in die Marcus-Theorie WS 2011/2012 3. Universalität der Markus-Theorie: Redoxreaktionen in Lösungen Elektrochemische Reaktionen Elektronentransferprozesse innerhalb von Biomolekülen --> intramolekulare Konfigurationsänderungen! Freie Universität Berlin 9