krankheitsdeutungen-projekt-neu-2

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- Inhalt 1. Die Bedeutung subjektiver Krankheitstheorien
2. Typische Deutungsmuster – Attributionstheorien und
Rollenzuweisungen
3. Attributionsfehler
4. Christliche Deutungen von Krankheit und Tod
4.1. Theologisch
4.1.1. Altes Testament
4.1.1.1. Krankheit als Strafe für Schuld
4.1.1.2. Schuldübertragung
4.1.1.3. Krankheit als Prüfung und Reifung
4.1.1.4. Ausgleich nach dem Tod
4.1.1.5. Verweigerung einen Zusammenhang zum eigenen
Verhalten herzustellen
4.1.2. Neues Testament
4.1.2.1. Paulus - Stellvertretung („um unserer Sünden
dahingegeben“)
4.1.2.2. Jesus - lehnt einen Zusammenhang Sünde – Strafe –
Leiden ab
4.1.2.3. Dämonen
4.1.3.
4.1.4.
4.1.5.
4.1.6.
Tradition
Reformation (Luther)
Bonhoeffer
Folgerungen für theologische Krankheitsdeutungen heute
4.2. christliche Lebenswirklichkeit
4.2.1. Schuldkultur in Liturgie, Liedern und Verkündigung
4.2.2. Die Deutungen von Patienten
-2-
5. Islamische Deutungen von Krankheit und Tod
5.1 GESUNDHEIT, KRANKHEIT UND HEILUNG
5.1.1. Menschenbild
5.1.2. Gesundheits- und Krankheitsverständnis
5.1.3. Krankheitsdeutungen
5.1.4. Volksglaube und traditionelle Heiler
5.1.5. Die Stellung der Medizin
5.2. LEBENSPHASEN
5.2.1. Lebensbeginn
5.2.2. Kinder
5.2.3. Ehe
5.2.4. Gynäkologie
5.2.5. Altern
5.2.6. Sterbebegleitung und Tod
5.2.7. Was ist nach dem Tod wichtig?
5.3. PSYCHIATRIE
5.4. ONKOLOGIE
5.5. KINDER- UND JUGENDMEDIZIN
6. Krankheit und Tod im Buddhismus
6.1. Der Tod – Ein Anlass zur Freude
6.2. Wiedergeburt nicht Seelenwanderung
6.3. Sterbebegleitung im Buddhismus
6.4. Das Begräbnis
7. „Moderne“ Krankheits-Modelle
7.1. bio-medizinisches
7.2. lebensgeschichtliches
7.3. psychoanalytisches
7.4. psychosomatisches
7.5. Stress-Coping
7.6. soziologisches
7.7. verhaltenstheoretisches
7.8. multifaktorielles
7.9. biologisch-physisch-sprituelles
7.9.1. Das Menschenbild der Logotherapie
7.10. teleologische
-3-
1. Die Bedeutung subjektiver Krankheitstheorien
Es gehört zum Wesen des Menschen, dass wir uns Vorstellungen
darüber machen, wie sich die Dinge und Ereignisse, die wir erleben
zuordnen lassen. Wir nehmen war, was um uns herum (und in uns)
passiert und suchen nach Erklärungen und Zusammenhängen. Wir
wollen die Welt nicht nur begreifen, wir wollen sie auch verstehen. Das
bloße Registrieren von Ereignissen würde dazu führen, dass an uns ein
Strom von Begebenheiten vorbeizieht mit dem wir nichts anfangen
können. Um uns in dieser Welt sicher zu fühlen, brauchen wir das
Zutrauen, dass Sachverhalte für uns erklärbar sind, dass sie sich
vorhersagen und eventuell auch beeinflussen lassen.
Der Begriff der „subjektiven Theorie“ meint allgemein den Sachverhalt,
dass Menschen ganz individuelle Erklärungsmuster über bestimmte
Zusammenhänge ausbilden. Diese lassen sie dann in ihre Einstellungen
und ihr Handeln einfließen.
Dafür ein einfaches Beispiel: Welche Reaktionen werden Sie Ihrer
Tochter gegenüber zeigen, wenn Sie deren Note "mangelhaft" in einer
mündlichen Prüfung im Fall A mit mangelnder Anstrengung erklären oder
im Fall B damit, dass der Prüfer unangemessen schwere Fragen stellte?
Im ersten Fall werden Sie über Ihre Tochter vielleicht verärgert sein und
sie auffordern, sich künftig mehr anzustrengen. Im zweiten Fall werden
Sie vermutlich auch verärgert sein, jedoch nicht über Ihre Tochter,
sondern über den Prüfer, und Sie werden Ihre Tochter vielleicht trösten.
Die Zuordnung (Attribution) von wahrgenommenen Ereignissen und
angenommen Ursachen gehört zu den Grundhaltungen menschlicher
Existenz. Dabei versuchen Attributionstheorien die Frage zu
beantworten, aufgrund welcher Wissensbestände, Informationen,
Mechanismen und Prozesse wir dazu kommen, einen Sachverhalt einer
spezifischen Ursache zuzuordnen.
In der Regel ist es so, dass wir bei solchen Zuordnungen auf überlieferte
Traditionen zurückgreifen. Traditionen, die uns anfangs über Eltern,
Lehrer und Erzieher, später dann über z.T. selbstgewählte Autoritäten
bekannt werden. Manche davon entwickeln wir weiter, kombinieren sie
miteinander oder entwickeln neue.
Natürlich stellen wir nicht unablässig Fragen nach den Ursachen von
Ereignissen (Warum-Fragen) und analysieren auch nicht fortlaufend in
aktiver und bewusster Weise die kausale Struktur von Ereignissen. Dies
zu tun wäre erstens höchst unzweckmäßig. Das beständige Ablaufen
solcher bewussten Prozesse, die ja durchaus zeitaufwändig sein
können, würden dazu führen, dass man vor lauter Nachdenken nur noch
selten zum Handeln käme.
-4-
Weiterhin ist es aber auch gar nicht nötig, dies zu tun. Denn in der Regel
haben wir bereits im Gedächtnis gespeicherte implizite – das heißt,
momentan nicht bewusste – Annahmen über die Ursachen von
Ereignissen. Solche impliziten Annahmen werden als Schemata oder
situationsbezogene Theorien bezeichnet. Sie sind das Ergebnis von
früher einmal getätigten aktiven Ursachenzuschreibungen.
Erst dann, wenn ein Ereignis mit unseren impliziten Theorien nicht
übereinstimmt, wenn es also unerwartet ist, entsteht die Frage, warum
es eingetreten ist. Denn offenbar stimmt etwas nicht mit unserer Theorie,
da sie nicht in der Lage war, das Ereignis vorherzusagen.
Möglicherweise ist die Theorie revisionsbedürftig. Sie wird daher,
zumindest teilweise, von der nicht-bewussten Ebene, auf der sie
sozusagen automatisch die Interpretation von Ereignissen und das
Handeln steuerte, auf die bewusste Ebene gehoben; dies geschieht
vermutlich deshalb, weil sie nur dort mit Hilfe höherer mentaler Prozesse
(wie bewussten Prozessen der Kausalanalyse) einer Überprüfung und,
falls notwendig, einer Revision unterzogen werden kann. Diese Prozesse
können dazu führen, dass das in Frage stehende Schema verändert
wird. Anschließend kann es dann wieder in nicht bewusster Weise die
Wahrnehmung und das Handeln steuern.
Das geschieht natürlich auch dann, wenn Menschen unverhofft krank
werden. In der Regel reagieren wir darauf mit Vorstellungen, Kognitionen
und Emotionen. Die jeweils subjektiv ausgelösten Assoziationen und
Vorstellungen werden dabei in den Wissenschaften als subjektive
Krankheitstheorien bezeichnet.
Solche subjektive Krankheitstheorien dienen dazu, Krankheiten zu
erkennen und vor allem sie zu bewältigen. Wenn ich weiß wodurch die
Krankheit ausgelöst wird, kann ich darauf reagieren. Ich kann
Maßnahmen einleiten, um ihre Ursachen abzustellen oder auch um
zukünftige Gefährdungen zu minimieren. Krankheitserklärungen können
allerdings auch der Rechtfertigung und Selbstwertstabilisierung dienen
(so Flick, 1991).
Im Wesentlichen
Dimensionen:
enthalten
subjektive
Krankheitstheorien
fünf
1. Identität (beschreibt die Art und Intensität der Symptome, die der
Erkrankte im Zuge der Krankheit wahrnimmt),
2. Kausalattributionen (beschreiben die individuell-subjektiven Ursachen;
diese müssen nicht notwendigerweise mit biologischen oder
medizinischen Thesen übereinstimmen.),
3. Erwartungen zur Dauer (beziehen sich auf die Zeitspanne in Bezug
darauf, wie lange die Erkrankung noch andauern wird einschließlich
der Annahme, ob die Erkrankung akut oder chronisch einzustufen ist),
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4. den Konsequenzen (Theorien über die Folgeerscheinungen einer
Krankheit und deren Einfluss auf die eigene Peron sowie das soziale
Umfeld.)
5. sowie Kontrollüberzeugung bzw. antizipierte Heilungsaussichten
(Hypothesen über Kurabilität und Kontrollierbarkeit).
Diese fünf Dimensionen subjektiver Krankheitstheorien haben sich in
umfangreichen Studien bestätigen lassen und gelten als empirisch
gesichert (Weinman, Petrie, Moss-Morris & Horne, 1996; Skelton &
Croyle, 1991).
Herausgestellt hat sich dabei, dass die Suche nach den Ursachen für
eine Erkrankung (also Kausalattributionen) den wesentlichsten
Schwerpunkt bildet.
Für die medizinische Behandlungen sind subjektive Krankheitstheorien
wichtig, weil sie:
 die Mitarbeit bei der Behandlung beeinflussen.
(Ein Patient wird nur dann den Empfehlungen des Arztes folgen,
wenn sie auch aus seiner eigenen Sicht plausibel sind.)
 das emotionale Befinden beeinflussen.
(Kranke, die eine psychosomatische Krankheitstheorie haben und
sich selbst eine Mitschuld an der Entstehung ihrer Krankheit
zuschreiben, sind depressiver als diejenige, die das nicht tun.)
 die berufliche Wiedereingliederung voraussagen.
(Die vom Patienten abgegebene prognostische Einschätzung, ob er
nach Abschluss der Rehabilitation in der Lage sein wird, seine Arbeit
wieder
aufzunehmen
oder
nicht,
sagt
die
tatsächliche
Wiederaufnahme der beruflichen Tätigkeit am besten vorher, und
zwar unabhängig von der Krankheitsschwere.)
-6-
2. Typische
Deutungsmuster
–
Kausalattributionen
und
Rollenzuweisungen
Wird einem Vorgang eine Ursache oder eine Reihe von Ursachen
zugeschrieben, so spricht man von einer Kausalattribuierung bzw.
Kausalattribution. Solche Kausalattribuierungen sind alltäglich und
notwendig. Beobachtete Ereignisse werden dabei auf naiv
psychologische und naiv wissenschaftliche Art und Weise erkundet und
auf eine mögliche Ursache zurückgeführt. Kausalattribuierungen haben
somit Strukturierungsfunktionen, die den Ereignissen eine Bedeutung
geben, die Ursachen erklären und dadurch versuchen die Ereignisse
vorhersehbar zu machen. Trotz aller individueller Unterschiede sind allen
Ursachen von Ereignissen drei Dinge gemein:
 Lokationsdimension oder Personenabhängigkeit
Sie sind entweder innerhalb (internal) oder außerhalb (external) des
Handelnden lokalisiert.
 Dimension der Stabilität
Sie sind über die Zeit stabil oder instabil.
 Dimension der Kontrollierbarkeit
Sie sind durch den Handelnden willentlich kontrollierbar und
veränderbar oder nicht
Manche Menschen neigen dazu, bei Erfolg eine internale
Kausalattribuierung anzuwenden, d.h. sich selbst als Ursache für den
Erfolg anzusehen und bei Misserfolg wiederum die externale
Kausalattribuierung heranzuziehen, d.h. einer anderen Person oder
einem Umwelteinfluss die Schuld an dem Misserfolg zuzuschreiben.
Diese Art der Attribuierungen stellen einen guten Schutz für das
Selbstwertgefühl dar. Andere Menschen neigen zu umgekehrten
Zuschreibungen, also Erfolge external und bei Misserfolgen internal zu
attributieren. Diese Art allerdings destabilisiert das Selbstwertgefühl.
Der modernen Medizin erscheinen Krankheiten in der Regel als sinnfreie
Phänomene. Die vom Patienten als Katastrophe erlebte Krankheit ist für
sie beispielsweise „nur“ eine zufällige Überschwemmung durch
Mikroorganismen. Aufgrund der Deutungsabstinenz der Medizin bleibt
Kranken ihre Krankheit oft unverständlich und so sie greifen auf
eingespielte soziale Deutungsmuster zurück. Weitverbreitet sind etwa
psychologische Krankheitstheorien, die dem glücklosen Kranken letztlich
die Verantwortung für seine Erkrankung zusprechen. Damit lebt eine
gängige religiöse Deutung von Krankheit wieder auf: Krankheit wird als
Strafe verstanden.
-7-
Was bisher wenig beachtet wurde (Rollenzuweisungen):
Der Übereinstimmung
bzw.
Differenz
der
Deutungsmuster
für
Krankheiten von Arzt
und Patient kommt eine
größere Bedeutung zu
als
bisher
Theorie des
Theorie des
angenommen. Darauf
Patienten
Mediziners
war der Psychologe und
Konfliktmanager
Gerhard Schwarz im
Rahmen
eines
Beratungs-Projektes1
gestoßen.
In diesem
Projekt entdecken er und seine Mitstreiter 10 verschiedene
Deutungsmuster. Ausgangpunkt des Projektes war das Problem, dass
Ärzte davon berichteten, dass sie bei bestimmten Personen erfolgreich
waren, bei anderen, unter gleichen medizinischen Vorraussetzung nicht.
Eine nähere Analyse hatte ergeben, dass sowohl Patienten als auch
Ärzte einen bestimmten, aber doch jeweils verschiedenen Begriff von
Krankheit haben können. Mit „Begriff“ ist dabei gemeint, dass Krankheit
einen bestimmten Sinn des menschlichen Daseins definiert. Die Studie
ergab nun, dass Ärzte umso erfolgreicher Patienten behandeln, je
übereinstimmender ihre jeweilige Sinndefinition der Krankheit ist.
So empfinden manche Menschen die Krankheit als Folge einer
Schuld. Sie kommen niedergedrückt und kleinlaut zum Arzt, der dann
auch wirklich mit erhobenem Zeigefinger fragt: "Was haben wir denn
wieder angestellt?" Der Patient erlebt dann die schmerzhafte Spritze
oder die schwere Medikation (bittere Pillen) als gerechte Strafe für seine
Missetat. Er nimmt die Strafe an und wird wieder gesund. Der Sinn der
Krankheit (Schuld) und die dazupassende Rolle des Arztes (Richter)
entsprechen einander (Heilungsäquivalenz).
Völlig anders sieht es aus, wenn für einen Menschen Krankheit nicht die
Folge einer Schuld darstellt, sondern als Flucht vor der jeweiligen
Situation verstanden wird. Er möchte (bewusst oder unbewusst) für eine
Weile aussteigen, Ruhe haben. Ein Medikament braucht er als Alibi,
damit alle sehen, dass er krank ist. Mehr Wirkung sollte dieses
Medikament nicht haben. Der Arzt wird zum Fluchthelfer, der ihn eine
Woche krankschreibt. Die Reaktion des oben beschriebenen
bestrafenden Arztes würde dieser Patient als sehr unpassend und
1
Georg Schwarz: Konfliktmanagement, 1999, S. 300-309
-8-
unangebracht empfinden. Eine schmerzhafte Bestrafung wofür? Die
Krankheit ist sozusagen schwer erarbeitet und Selbstbelohnung. Der
erhobene Zeigefinger des Arztes signalisiert Nicht-Verstehen, der Patient
wird künftig anderswo seine Zuflucht nehmen. Sinn der Krankheit und
Rolle des Arztes entsprechen in diesem Fall einander nicht.
Entspricht der Arzt mit seiner Rolle dem Krankheitsbegriff des Patienten,
dann sind beide zufrieden, und sie können mit der Krankheit in der
gewünschten Weise umgehen. Entspricht er nicht, dann verschlimmert
sich der Zustand subjektiv — und das auch unabhängig vom
tatsächlichen Krankheitsstatus. Das Missverständnis zwischen Arzt und
Patient rüttelt an dem jeweiligen Welt- und Selbstbildnis beider
Beteiligten. Der Patient stellt beim unangebrachten Rollenverhalten des
Arztes dessen Autorität in Frage. Im Wiederholungsfall geht dieser
Zweifel möglicherweise auf die Ärzteschaft über — der erste Schritt zum
Heilpraktiker oder Alternativmediziner ist getan. Auf seitens des Arztes
führt dies zu einer Kränkung seiner Kompetenz, was bei Wiederholung
im Extremfall zur zynischen Menschenverachtung führen kann. Die
Frage, die sich im Rahmen des von Schwarz geleiteten Projektes
aufdrängte, war die: Welchen Sinn kann Krankheit für den Menschen
haben, und wie viele verschiedene entsprechende Rollen des Arztes gibt
es? Eine erste Systematisierung ergab 17 verschiedene Krankheitsbegriffe, die wir dann auf zehn reduziert wurde. Die Liste der Krankheitsbegriffe ist sicher nicht vollständig — aber, die wichtigsten sind
beschrieben.
Sinn der Krankheit
gesund
1.
Krankheit als
Normabweichung
normgerecht
Reparatur
Organmechaniker
Ersatzteil
Betriebsstoff
2.
Defizit an Symbiose
subjektives Krankfühlen
schmerzfrei
Symbiose
Mutter
Vater
Droge
3.
Defizit an
frei selbstSelbstbestimmung,
bestimmt
Krankheit als Regression
Erziehung
Vater
Muttermilch
4.
Krankheit als Initiation
Reifungskrise
wandelbar stabil
Verwandlung
Medizinmann
5.
Krankheit als Organschwäche
Kompensation
Gärtner
Kumpan
Krücke
Prothese
6.
Krankheit als Flucht
„Aussteigen”
FunktionsFähigkeit der
Organe
kein Bedürfnis
nach Aussteigen
Wieder- einsteigen
Fluchthelfer
Ausgebeuteter
Alibi
Austrittskarte
7.
Symptom- träger für
soziale Konflikte
funktionsfähige
Sozialstruktur
Konfliktmanagement Sündenbock
Sozialtherapeut
Heilung
Rolle des Arztes
Medikament
Symbol für Verwandlung
unnötig bzw.
Repräsentanz des
Arztes
-98.
Krankheit als Störung des Gleichgewicht
Gleichgewichtes
ausbalancieren
Priester
9.
Krankheit als Schuld
Strafe
Richter
10.
Krankheit als Bewältigung lebend
der Todesangst
Überleben
Totenrichter
entsühnt
erlöst
Ausbalancierungsmittel
Sühneopfer
Talisman
Nektar und
Ambrosia
An erster Stelle steht der Krankheitsbegriff der Schulmedizin: krank
ist der Mensch, dessen Werte von den Normalwerten stark abweichen.
Dieser Krankheitsbegriff tritt in den Interviews bei Patienten selten auf
(und wenn, dann bei Hypochondern, die ständig ihre physiologischen
Messwerte kontrollieren). Es gibt auch Patienten, die ihren Körper für
eine Maschine halten und mit einem medikamentösen Organservice
zufrieden sind. Bei Ärzten wird dieser traditionelle Krankheitsbegriff
offiziell hochgehalten, bei längerer Diskussion stellt sich aber heraus,
dass viele Ärzte noch zusätzliche Krankheitsbegriffe entwickelt haben.
Leider bleiben diese Gedanken meist privat — es gibt wenig öffentliche
Diskussion unter Ärzten über die Sinnauffassung von Krankheit.
Sehr häufig traten hingegen die an zweiter und dritter Stelle angeführten
Krankheitsbegriffe auf: Man ist den ständigen Kampf des
Erwachsenendaseins leid und möchte wieder einmal — wie ein Kind —
gepflegt werden, sich in ein warmes Bett kuscheln und die längst
verlassene Symbiose wieder aktivieren. Diese Bedeutungsdimension der
Krankheit
ist
vermutlich
kulturspezifisch
(unsere
anonyme
Industriegesellschaft legt dies nahe) und klimaspezifisch: der kalte
Norden zum Beispiel bringt im Winter mehr Krankheiten als im Sommer.
Der Arzt muss hier die Rolle der Mutter übernehmen. Der Patient will
angenommen werden und das Gefühl haben, dass ihm jemand helfen
will. Im Zentrum stehen die Gefühle und Bedürfnisse des kranken
Menschen. Die Technik sowie alle rationalen Erklärungen werden als
feindselig erlebt. Sie verschlimmern die Krankheit.
Krankheit kann auch mit zu großer Infantilisierung des Menschen
einhergehen. Heilung steht auch immer in der Dialektik, dass man sich
auf der einen Seite selbst nicht mehr helfen kann — auf der anderen
Seite kann man nur wieder gesund werden, wenn man sich selbst helfen
kann. Vermutlich irgendwann während der Krankheit schlägt dieses
Bedürfnis in sein Gegenteil um. Man hat nicht mehr ein Defizit an
Symbiose, sondern ein Defizit an Selbstbestimmung. Man ist an ein Bett
gefesselt, seiner Umwelt ausgeliefert, ist immobil wie ein Kleinkind, das
möglicherweise die Motorik noch gar nicht beherrscht. Man ist
- 10 -
geschwächt, durch Fieber verwirrt, kann sich nicht richtig artikulieren
usw.
Durch die körperliche Einschränkung ergibt sich auch eine psychische:
der Patient hat forderndes Verhalten (wie ein ungezogenes Kind), ist
lästig, uneinsichtig und nur auf sich selbst konzentriert. Menschen, die
krank sind, werden daher oft von den Pflichten des Erwachsenen
entbunden und nicht ganz ernst genommen. Dieser absichtlich oder
unabsichtlich herbeigeführte Zustand des unverantwortlichen Kindes
wird, wie gesagt, durch besonderes Behütetwerden und Gepflegtwerden,
durch größere Aufmerksamkeit von Familie, Umwelt und Arzt belohnt.
Selbst wenn in diesem regressiven Zustand die Möglichkeit geboten
wird, versäumte Lebensabschnitte nachzuholen, so schlägt dieser
Zustand irgendwann in das Bedürfnis um, wiederum erwachsen zu
werden.
In diesem Fall hat der Arzt seine Mutterrolle gegen eine Vaterrolle zu
wechseln. Der Vater ist nicht derjenige, der wie die Mutter auf die
Bedürfnisse eingeht, sondern dieser will vom Menschen Leistung.
Väterliche Autorität wird in unserem Kulturkreis übersteigert in Gottvater
gesehen, und interessanterweise werden auch die Ärzte als Götter in
Weiß bezeichnet, als allmächtig erlebt; ihren Anweisungen ist unbedingt
Folge zu leisten. Der Arzt weiß, wo es langgeht, und ist in der Lage, die
Eigeninitiative des Menschen anzuspornen. Damit wird auch die
Quadratur des Kreises dieser Arztrolle ausgesprochen, denn ohne
Autorität kann der Mensch nicht gesund werden — mit zuviel Autorität
kann er es auch nicht, sofern er die gesamte Heilungskapazität dem Arzt
überträgt. Hier ist der erzieherische Aspekt das Zentralproblem des
Heilungsprozesses.
Wie wir festgestellt haben, zeigt das Medikament bei dieser
Krankheitsauffassung Reste von symbiotischer Bedeutung: es wird lieber
flüssig als fest eingenommen, was mit der seinerzeitigen Funktion der
Muttermilch erklärt werden kann.
Die in Punkt 4 angeführte Sinndimension der Krankheit — nämlich
Krankheit als Initiation und als Reifungskrise des Individuums ist ein
uralter und in allen Kulturen bekannter Sinn von Krankheit. Krankheit
wird oft als Todesnähe verstanden — im Volksmund spricht man vom
„kleinen Tod". Damit ist nicht gemeint, dass Krankheiten tatsächlich oft
zum Tod führen, sondern Krankheit wird als Verwandlung des alten
Menschen, der stirbt, aufgefasst, und Gesundung als Wiedergeburt, als
kleine Auferstehung gefeiert. Eine Krankheit durchgestanden zu haben
macht reifer und stärker. Deswegen ist das Verhältnis von Krankheit und
Heilung immer auch ein Symbol für Tod und Auferstehung, und es ist
insofern als geeignet für Initiationsriten aufgefasst worden. Der eine
- 11 -
Zustand stirbt, und ein neuer, besserer wird geboren. Manche
Initiationsriten helfen der Krankheit sogar nach. Es werden schmerzhafte
Vorgänge wie Beschneidung und künstlich durch Gifte erzeugtes Fieber
dem zu Initiierenden zugeführt. Nach der Gesundung sprechen auch
viele Kranke in unserem Kulturkreis von den ausgestandenen
Schmerzen. Es gibt Fälle, wo ein Wettstreit darüber entbrennt, wer mehr
durchgestanden hat bei Operationen usw. Die Anthroposophen vertreten
die Theorie, dass Krankheit Kindern und Erwachsenen wertvolle
Entwicklungsschübe bringt. Man hat festgestellt, dass geimpfte Kinder,
die bestimmte Krankheiten daher nicht bekamen, deutlich in der
Entwicklung zurückblieben gegenüber Kindern, die diese Krankheiten
durchgestanden haben.
Der Arzt ist bei diesem Krankheitsbegriff derjenige, der über die
Zeremonien dieser Initiation beziehungsweise dieser Auferstehung
verfügt"— somit eine Art Medizinmann. Der Medizinmann ist je nach
Kulturkreis ein kleinerer oder größerer Zauberer, der über die
geheimnisvollen mystischen Hintergründe und Zusammenhänge der
Riten verfügt — meist aufgrund einer langen Tradition. Magisches
Denken ist in unseren Tagen keineswegs ausgestorben, und viele Ärzte
sind verwundert über die Wirkung ihrer Medikamente, die vom
naturwissenschaftlichen Ursache-Wirkungsbegriff her oft gar keine reale
Wirkung haben (Placebo, Homöopathie etc.). Für den nicht Eingeweihten
ist das ganze Klimbim und Brimborium, die offiziellen Zeremonien der
heutigen Medizin von der Untersuchung über die Therapiemethoden —
ohnehin nur eine Nachfolge der alten klassischen Priester- und
Medizinmanntradition. Die Wissenschaft hat heute die Rolle
übernommen, die ehedem die Kirche hatte. („Sie glauben gar nicht, Herr
Doktor, wie mir das EKG geholfen hat.")
Die Verwandlungshilfe, die der Arzt so wie der Medizinmann früher dem
einzelnen angedeihen ließ, gipfelt vor allem darin, dass der Mensch
seinem neuen Leben nun einen neuen Sinn gibt. Dieser Sinn kommt aus
ihm selbst heraus — allerdings unter der Geburtshilfe des Arztes. Das
Medikament wäre Zaubertrank, der in vielen Märchen auftritt, und mit
dessen Hilfe man von einer Existenz in eine andere hinüberwechseln
kann. Eine solche Zaubertrankfunktion wollen die Patienten sehr oft von
den Ärzten mit Hilfe des Medikamentes.
Punkt 5: Fast jeder Mensch hat irgendwo Organschwächen, besondere
Punkte von Sensibilität und Anfälligkeiten — seien sie vererbt oder
erworben. Es ist auch durchaus möglich, dass sich Umwelteinflüsse in
bestimmte Empfindlichkeiten umsetzen. Dieser locus minoris resistentiae
sollte jedem Menschen bekannt sein. Es ist dies jener Punkt, bei dem
sich bei Überlastung oder bei Verlust des Gleichgewichts eine Störung
oder eine Organschwäche entwickelt. Der Arzt hat hier die Aufgabe,
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diese Organschwächen dem Patienten darzustellen, mit ihm gemeinsam
die Minderwertigkeit des betreffenden Organs zu kompensieren und die
Rolle des Gärtners anzunehmen. Er wird nicht nur die Entwicklungsgeschichte des einzelnen Organs und seiner Schwäche durch ausführliche
Anamnesen, Lebensskriptvorstellungen usw. analysieren. Er wird auch
feststellen, was im Rahmen der übrigen Organabstimmung der Stärkung
des betroffenen Organs dient, und er wird auch die Umwelteinflüsse,
Dauerbelastungen unter die Lupe nehmen. Insbesondere hat die
Vorbeugungsmedizin hier einen wichtigen Ort, nämlich insofern, als man
Organschwächen von Haus aus als Krankheiten zu vermeiden trachtet.
Ein Medikament hat hier die Funktion einer zeitweiligen oder dauernden
Prothese zur Stützung von Organen. …
Punkt 6: Die Krankheit als Flucht wurde schon angeführt.
Punkt 7: Krankheit als Symptomträger für soziale Konflikte. Am
deutlichsten ist dies bei Krankheiten, die in Familien oder in Gruppen
auftreten, weil die Konflikte sich an einer bestimmten Person
konkretisieren. Hier muss der Arzt, will er Erfolg haben, die Kunst des
Konfliktmanagements beherrschen. Die Symptome bloß zum
Verschwinden zu bringen gleicht dem Kampf mit der Hydra: sie treten
immer wieder auf, wenn auch möglicherweise in anderer Form.
Der Verlust der Mehrgenerationsfamilie, die Anonymisierung unserer
Gesellschaft scheint dem Arzt eine Reihe von Funktionen zu übertragen,
die er früher in diesem Ausmaß nicht gehabt hat und die weder der
Medizinmann noch der klassische Arzt früherer Epochen übernehmen
konnte. Viele Ärzte der Gegenwart scheinen damit auch ziemlich
überlastet zu sein. Insbesondere, wenn der Arzt auch bei strengster
Abstinenz in einem Sozialgebilde eine bestimmte Rolle zugewiesen
bekommt, wie etwa die Rolle des Sündenbocks, in die man als
Sozialtherapeut nur allzu leicht geraten kann. Der Arzt, der sehr oft nicht
gelernt hat, als Projektionsfigur dazustehen, versucht nun, sich aus
dieser Situation wieder herauszukatapultieren. So bleibt oft das Gefühl
bei den Betroffenen zurück, dass die Ärzte die Ursache für die Krankheit
sind. Sehr viele Ärzte versuchen hier, an ihrer Stelle dem Medikament
die Bedeutung zu geben, die Heilfunktion im Sozialgebilde zu
übernehmen. Nicht immer ist dies von Erfolg gekrönt. (Sagt die
Schwester zum Arzt: „Heute Nacht ist der Hypochonder von Zimmer 14
gestorben." Darauf der Arzt: „Jetzt übertreibt er aber."
Punkt 8: Dass Krankheit auch als Störung der physiologischen wie
psychischen Gleichgewichts aufgefasst werden kann, ist Traditionsgut in
vielen außereuropäischen Medizinschulen, besonders in der
chinesischen. Die europäische Medizin ist dabei, sich dieses Wissen
anzueignen.
- 13 -
Der wesentliche Sinn der Krankheit besteht in der Annahme, dass der
Mensch sich in einem dynamischen und daher sehr labilen
Gleichgewicht befindet, das ständig durch seine Initiative, durch die
Realisierung seiner Freiheit aufrechterhalten werden muss. Dabei sind
eine Reihe von Gegensätzen auszubalancieren. Der Mensch hat nicht
nur äußere Gegensätze wie Tag und Nacht, Winter und Sommer,
Trockenheit und Regenzeit zu bewältigen, sondern auch Gegensätze
wie den von Mann und Frau, von männlichen und weiblichen Anteilen in
ihm selbst, von Yin und Yang, von alt und jung. Immer dann, wenn die
Balance einmal nicht gelingt, tritt eine Über- oder Unterdosierung einer
bestimmten Substanz beziehungsweise von Energie auf, die Schwäche
und Mangelerscheinungen zur Folge hat. Viele Ärzte sprechen bei
Konflikt- oder Stresssituationen von solchen Störungen des Gleichgewichtes.
Diese Auffassung hat auch eine gewisse Nähe zur nächsten Dimension,
nämlich zur schon erwähnten Krankheit als Schuld. Auch die Schuld ist
eine Form, wie in dem Sozialgebilde etwas aus dem Gleichgewicht
gekommen ist. Der Arzt tritt in diesem Zusammenhang als Hüter der
Ordnung, als Hüter des Gleichgewichtes auf. Er kennt auch jene
Maßnahmen, mit deren Hilfe es möglich ist, das Gleichgewicht wieder
auszubalancieren. Krankheit hat allerdings hier einen sehr starken
positiven Bezug. Sie führt dazu, eine aus dem Gleichgewicht geratene
Lebenssituation wieder einzubalancieren, und die Funktion des Arztes
besteht zunächst darin, die Situation akzeptieren zu helfen. Wird die
Störung des Gleichgewichtes insbesondere mit einer großräumigen Störung des Sozialgebildes oder gar der kosmischen Ordnung in
Zusammenhang gebracht, dann zeigt sich die eigentliche Priesterfunktion des Arztes, der den Zusammenhang mit der größeren Ordnung
herstellen kann.
Punkt 9: Krankheit als Schuld und die entsprechende Rolle des Arztes
als Richter wurde schon ausgeführt.
Punkt 10: Eine wichtige Funktion haben die Ärzte bei der letzten von uns
angeführten Dimension der Krankheit, die für die Bewältigung der
Todesangst steht. Zunächst stellt der Versuch, Alter in Krankheit
umzufunktionieren, eine Erleichterung für den alten Menschen dar. Denn
Krankheit ist heilbar, Alter aber nicht. Der Mensch gewinnt Hoffnung auf
Besserung des Zustandes. Langsam wird ihm aber der Arzt beibringen
müssen, dass hier ein Alterungsprozess vorliegt, der irreversibel ist.
Stellt der Arzt dies zu früh fest, verliert er die Zuneigung und das
Vertrauen des Patienten; stellt er es zu spät fest, versäumt er vielleicht
kostbare Zeit, in der der Patient noch lernen kann, den Alterungsprozess
zu akzeptieren. Der Arzt ist hier in der Rolle des Totenrichters: er
entscheidet, ab wann welche Therapie für den alternden Menschen noch
- 14 -
sinnvoll ist und welche nicht, und letztlich muss er auch entscheiden, wie
weit nicht der Tod diesem Leben vorgezogen werden muss.“
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3. Attributionsfehler
Bei der Zuordnung von Ursachen besteht die Tendenz, den Einfluss
dispositionaler
Faktoren,
wie
Persönlichkeitseigenschaften,
Einstellungen und Meinungen, auf das Verhalten anderer systematisch
zu überschätzen und äußere Faktoren wie zum Beispiel situative
Einflüsse, zu unterschätzen. Das liegt wahrscheinlich daran, dass wenn
wir die Ursache für das Verhalten eines Menschen ergründen wollen, wir
unsere meiste Aufmerksamkeit auf diesen Menschen richten.
Attributionsfehler werden schnell, unbewusst und automatisch
begangen. Nur wer Zeit hat und motiviert ist, schaltet von intuitiven
Erfassen um auf bewusstes, kontrolliertes Denken und stellt die interne
Attribution in Frage. Doch selbst dann unterliegen wir weiteren
Urteilsverzerrungen. Eine davon liegt in der Ankerheuristik2. Sie führt
dazu, dass wir in der Gegenwart nicht objektiv urteilen, sondern lediglich
die erste Fehleinschätzung etwas in Richtung externer Einflüsse
verschieben - meist jedoch nicht weit genug.
Weiter konnte gezeigt werden, dass im Blickfeld auffällige Objekte
einen großen Einfluss darauf haben, welche Ursachenzuschreibungen
wir vornehmen. 3
Grundsätzlich kann davon ausgegangen werden, dass wir stark daran
interessiert sind, unser Selbstwertgefühl gegen Bedrohungen zu
schützen. Ein Weg besteht darin, eigene Erfolge eher intern, Misserfolge
eher extern zu attribuieren, insbesondere wenn keine Hoffnung auf
Leistungsverbesserung besteht. Diese Art Attributionsfehler wird auch
selbstwertdienliche Verzerrung (self-serving bias) genannt.
2
Die Tatsache, dass Menschen bei bewusst gewählten Zahlenwerten von momentan vorhandenen
Umgebungsinformationen beeinflusst werden, ohne dass ihnen dieser Einfluss bewusst wird. Die
Umgebungsinformationen haben Einfluss selbst dann, wenn sie für die Entscheidung eigentlich irrelevant sind.
Es handelt sich also um eine Urteilsheuristik, bei der sich das Urteil an einem willkürlichen „Anker“ orientiert.
Die Folge ist eine systematische Verzerrung in Richtung des Ankers.
Zwei Beispiele:
- Versuchspersonen sollten schätzen, wie groß der höchste Riesenmammutbaum ist. Die Hälfte der Gruppe,
die 1200 ft. als Anker bekommen hatte, schätzte durchschnittlich 844 ft.; die andere Hälfte, deren Ankerzahl
180 ft. war, schätzte durchschnittlich 282 ft. Differenz der Schätzwerte: 562; Differenz der Ankerzahlen:
1020; Quotient: 0,55; Ankerindex: 55 %.
- Besucher des Exploratoriums wurden gefragt, wie viel Geld sie zur Rettung von Seevögeln bei einer Ölpest
spenden würden. Eine Gruppe erhielt die Ankerzahl 5 (verpackt in die Frage „Wären Sie bereit, $5 zu
geben?“); diese Gruppe wollte durchschnittlich $20 geben. Eine andere Gruppe erhielt den Anker 400; diese
Gruppe wollte durchschnittlich $143 geben. Berechnung: (143 - 20) : (400 - 5) = 0,31 → Ankerindex 31 %.
3
Taylor und Fiske (1975): Sie platzierten Beobachter so um zwei diskutierende Akteure, dass sie entweder nur
dem einen, nur dem anderen oder beiden gleich gut ins Gesicht sehen konnten. Wer nur einen Akteur sehen
konnte, beschrieb ihn anschließend als denjenigen, der die Gesprächsthemen bestimmt und die Diskussion
dominiert habe
- 16 -
Dazu gehört auch, dass wir, um auf andere Menschen einen guten
Eindruck zu machen bei der Nachfrage nach den Ursachen für einen
Erfolg oder Misserfolg, mit selbstwertdienlichen Attributionen antworten.
4. Christliche Deutungen von Krankheit und Tod
Vor oder parallel zum Judentum wurden bereits im orientalischen wie
griechischen Altertum Krankheit und Elend mit Schuld und Strafe in
Verbindung gebracht. Wie in vielen anderen Weltkulturen wurden
Krankheiten als Geisel angesehen, verursacht von bösen Geistern oder
erzürnten Göttern. Um heil zu werden, wurden Gebete gesprochen,
Opfer dargebracht und Exorzismen praktiziert. Auf diese Weise sollten
die bösen Geister ausgetrieben und die Vergebung der Götter durch
Bitten und Opfer erbeten werden.
4.1. Theologisch
Gemäß eines angenommenen Tun-Ergehens-Zusammenhanges, wird
körperlich sichtbares Leiden in der Regel mit dem Verhalten des
Leidenden in Beziehung gesetzt. Religiöse Deutungsmuster verstehen
dabei Krankheiten als selbstverschuldete Folgen von begangenen
Sünden. Diese im Alten Orient verbreitete Auffassung, findet sich auch
im Alten Testament: „Es ist nichts Gesundes an meinem Leibe wegen
deines Drohens und nichts Heiles an meinen Gebeinen wegen meiner
Sünde“ (Ps 38, 4).
Die rationale Medizin der Antike allerdings distanziert sich entschieden
von solcherart religiöser Deutung von Krankheit. Nach ihrem Verständnis
haben Krankheiten keinen heiligen oder gar göttlichen Ursprung,
sondern alles wird entsprechend den Naturgesetzen hervorgebracht.
Freilich sind, und das zeigt nicht nur der sogenannte Hippokratische Eid,
im antiken Bewusstsein ärztliche Kunst und göttliche Tradition eng
verbunden.
Im Gefolge der antiken und der modernen naturwissenschaftlichen
Medizin wurden Krankheiten später dann als natürliche Prozesse
innerhalb der Schöpfung verstanden. Prozesse, die aber – wie die
Krankenheilungen Jesu verdeutlichen – gerade nicht dem Willen des
Schöpfers entsprechen. Gerade die ärztliche Zuwendung Jesu zu den
Kranken verdeutlicht, dass im Kampf gegen die Krankheit Gott nicht
strafend auf Seite der Krankheit, sondern zuwendend auf Seite des
Kranken steht.
Eine vergleichbare Haltung findet sich in der Theologie des 20.
Jahrhunderts bei Karl Barth. Er greift zurück auf die dämonologische
Deutung von Krankheit bei Lukas und schlägt vor, Krankheit als „ein
- 17 -
Moment des Aufstandes des Chaos gegen Gottes Schöpfung“ zu
verstehen.4 Angemessen erscheint ihm diese Deutung deshalb, weil sie
zum einen festhält, dass wir es bei der Krankheit mit einer uns
bedrohenden Macht zu tun haben, zum anderen die Sinnlosigkeit der
Krankheit verdeutlicht. Der Widerstand, den die Krankheit eines
Menschen seiner Gesundheit entgegensetzt, ist eben keineswegs ein
Widerstand, an dem er wachsen soll, sondern ein sinnloser, den es zu
überwinden gilt. „Gott will das nicht, was den Menschen plagt, quält, stört
und zerstört“.5 Die dämonologische Deutung von Krankheit verdeutlicht,
dass es in der Welt naturale Prozesse gibt, die sinnlos sind.
4.1.1. Altes Testament
Im Alten Testament wird ein Tun-Ergehen-Zusammenhang nicht monokausal verstanden. Vorherrschend ist die Vorstellung, dass der Mensch
sich durch sein Tun eine krankmachende Sphäre schafft. Eine Sphäre,
die für ihn Heil und Unheil wirkt und damit den Verlust des Gesundseins.
Und so kann sich diese Sphäre auf den einzelnen wie auch auf die
Gesamtheit der Familie und des Volkes ausdehnen. Auf diese Weise
kann die Tat eines einzelnen, Konsequenzen für das ganze Volk haben.
Mit dem babylonischen Exil (586-536 v.Chr.) schwächt sich das kollektive Denken ab und ein individuell ausgerichtetes Denken breitet sich
aus. Die genannten Grundüberzeugungen Israels werden nun auf Einzelpersonen übertragen. Im Laufe der Zeit führt das zu einer
Individualisierung des Gesundheitsverständnisses, so dass sich der TunErgehen-Zusammenhang im Leben des einzelnen bewahrheiten muss.
Das allerdings schafft neue Probleme, weil einfache Schuld-KrankheitVerbindungen die Entstehung von Leid und Krankheit nicht erklären
können. Es sind die Bücher Hiob und Kohelet, die diese Einsicht kritisch
aufnehmen.
Im Weisheitsbuch des Jesus Sirach (etwa 180-170 v. Chr. verfasst)
findet sich - in religiöser Sprache formuliert - eine ganzheitliche Sichtweise von Kranksein und Gesundwerden (Jes Sir 37,27-31). Alle
Aspekte einer ökologischen Sichtweise von Gesundsein und Kranksein
treffen wir dort bereits an:
Vers 27 »Mein Sohn, prüfe dich ob deiner Lebensweise, beobachte, was
dir schlecht bekommt, und meide es!« Dies heißt: Überprüfe deine
Lebensdiätetik, also die Lebensweise. Entwickle eine Sensibilität für die
Grenzen und Möglichkeiten deines Organismus und seines Lebenssystems.
4
5
KD III/4, 417
KD IV/2, § 64, 249
- 18 -
Vers 28 »Denn nicht alles ist für alle gut, nicht jeder kann jedes wählen.«
Jedes Lebenssystem besitzt also seine Individualität, d.h. seine OikoLogik und Oiko-Dynamik. Nur in Stimmigkeit mit diesen Realitäten ist
Leben möglich.
Vers 29 »Giere nicht nach jedem Genuss, stürze dich nicht auf alle
Leckerbissen!« Achte auf die Grenzen, überfordere dein organismisches
System nicht.
Vers 30 »Denn im Übermaß des Essens steckt die Krankheit, der
Unmäßige verfällt heftigem Erbrechen.« Überforderung des biologischen
Systems führt zum schweren Defekt bis hin zur Krankheit.
Vers 31 »Schon viele sind durch Unmäßigkeit gestorben, wer sich
beherrscht, verlängert sein Leben.« Das System kollabiert, wenn der
Mensch sich nicht diätetisch, balancierend zwischen seinen Möglichkeiten und Grenzen verhält. Krankheit wird somit im wesentlichen als
Folge einer verfehlten Lebens-Diätetik, d.h. einer verfehlten Lebensweise entsprechend der Oiko-Logik und der Oiko-Dynamik gesehen.
Auf die Gesamtheit des Alten Testamentes bezogen, lassen sich fünf
Erklärungsmuster finden:
1. Krankheit als Strafe für Schuld
Psalm 41,5. Heile mich, denn ich habe gesündigt!“
Das grundlegende Erklärungsmuster aller altorientalischen und somit
auch
alttestamentlichen
Leidens(und
damit
auch
Krankheitsdeutungen) ist, dass ein Zusammenhang von Tun und
Ergehen angenommen wird und zwar in der Weise, dass jedem
Ergehen ein ursächlicher Grund in einem zurückliegenden Tun
zugeschrieben wird.
Problematisch wird dieses Erklärungsmuster dann, wenn der
unterstellte Zusammenhang nicht aufgeht (siehe Hiob). Es wurde
somit notwendig noch andere Erklärungen zu finden.
2. Schuldübertragung
Schon sehr früh in der Menschheitsgeschichte werden
generationsübergreifende
Zusammenhänge
hergestellt.6
Ein
exemplarisches Beispiel findet sich bei Jer 14,20: „ Wir erkennen,
Herr unser Unrecht, die Schuld unserer Väter: Ja, wir haben gegen
dich gesündigt.“
3. Krankheit als Prüfung und Reifung
6
Götze, A., Die Pestgebete des Mursilis, in KAF 1 (1929) 161-251.
- 19 -
Eine der möglichen Antworten nach dem Sinn von Krankheiten oder
Behinderungen lag im Judentum in der Vorstellung, beides sei eine
Prüfung für den gläubigen Menschen, so im Hiob-Buch oder in
Sprüche 3,11ff, wo es heißt: "Mein Sohn, verwirf die Zucht des Herrn
nicht und sei nicht ungeduldig, wenn er dich zurechtweist; denn wen
der Herr liebt, den weist er zurecht, und hat doch Wohlgefallen an ihm
wie ein Vater am Sohn....“ Weiter auch Ez 18,2: „Die Ahnen essen
sauere Trauben und den Erben werden die Zähne stumpf!“
Durch die Krankheit soll so der Glauben zu Gott auf die Probe gestellt
werden und sich bewähren. Aber auch diese Vorstellung ist nur das
gedankliche Produkt einer bestimmten Zeit.
Letztendlich findet Hiob nach unschuldigem Leiden zu einem neuen,
vertieften Glauben.
4. nach dem Tod wird ein Ausgleich erwartet
Letztendlich kennt auch das Alte Testament keine endgültige Antwort
auf die Frage nach dem Sinn schwerer Krankheiten. Was am Ende
bleibt, ist die Hoffnung auf die Vorläufigkeit schweren körperlichen
und seelischen Leidens, die Zuversicht, dass in Gottes neuer Welt
alles ganz anders sein wird. Von dieser Hoffnung spricht der Prophet
Jesaja, wenn Gott durch ihn sagen lässt (65, 17ff): „Denn siehe, ich
will einen neuen Himmel und eine neue Erde schaffen, dass man der
vorigen nicht mehr gedenken und sie nicht mehr zu Herzen nehmen
wird…Man soll… nicht mehr hören die Stimme des Weinens noch die
Stimme des Klagens. Es sollen keine Kinder mehr da sein, die nur
einige Tage leben, oder Alte, die ihre Jahre nicht erfüllen, sondern als
Knabe gilt, wer hundert Jahre alt stirbt …“.
5. Die Verweigerung einen Zusammenhang zum eigenen Verhalten
herzustellen
Es gibt eine Reihe von Bespielen, in denen der Beter zwar sein Leid
beklagt aber Vertrauensbekenntnis, Bitte und Schuldbekenntnis Gott
gegenüber verweigert. So z.B. in Psalm 88 in dem Gott als
Verursacher angesehen und angeklagt wird:
2
HERR, Gott, mein Heiland, ich schreie Tag und Nacht vor dir. 3 Laß
mein Gebet vor dich kommen; neige deine Ohren zu meinem
Geschrei. 4 Denn meine Seele ist voll Jammers, und mein Leben ist
nahe dem Tode. 5 Ich bin geachtet gleich denen, die in die Grube
fahren; ich bin ein Mann, der keine Hilfe hat. 6 Ich liege unter den
Toten verlassen wie die Erschlagenen, die im Grabe liegen, deren du
nicht mehr gedenkst und die von deiner Hand abgesondert sind. 7 Du
hast mich in die Grube hinuntergelegt, in die Finsternis und in die
Tiefe. 8 Dein Grimm drückt mich; du drängst mich mit allen deinen
- 20 -
Fluten. (Sela.) 9 Meine Freunde hast du ferne von mir getan; du hast
mich ihnen zum Greuel gemacht. Ich liege gefangen und kann nicht
herauskommen. 10 Meine Gestalt ist jämmerlich vor Elend. HERR, ich
rufe dich an täglich; ich breite meine Hände aus zu dir. 11 Wirst du
denn unter den Toten Wunder tun, oder werden die Verstorbenen
aufstehen und dir danken? (Sela.) 12 Wird man in Gräbern erzählen
deine Güte, und deine Treue im Verderben? 13 Mögen denn deine
Wunder in der Finsternis erkannt werden oder deine Gerechtigkeit in
dem Lande, da man nichts gedenkt? 14 Aber ich schreie zu dir,
HERR, und mein Gebet kommt frühe vor dich. 15 Warum verstößest
du, HERR, meine Seele und verbirgst dein Antlitz vor mir? 16 Ich bin
elend und ohnmächtig, dass ich so verstoßen bin; ich leide deine
Schrecken, dass ich fast verzage. 17 Dein Grimm geht über mich; dein
Schrecken drückt mich. 18 Sie umgeben mich täglich wie Wasser und
umringen mich miteinander.
4.1.2. Neues Testament
Die religiöse Interpretation von Gesundheit und Krankheit, die im Licht
der Botschaft des Neuen Testaments entstand, sucht zwei Extreme zu
vermeiden, denen das religiöse Krankheitsverständnis im Laufe seiner
Geschichte oftmals erlegen ist. So will sie weder die Gesundheit als den
höchsten Wert und das immanente Ziel des Lebens ansehen noch die
Krankheit als eine äußerste Bedrohung fürchten, die alle Möglichkeiten
der Sinnfindung menschlichen Daseins zunichte macht.
Ebenso wenig verfällt sie jedoch dem anderen Extrem der Mystifizierung
des Leidens, die die Krankheit verklärt oder ihr gar einen eigenständigen
Erlösungswert zuschreibt. Dem christlichen Glauben erscheinen
vielmehr beide, Gesundheit und Krankheit, als ineinandergreifende
Wegabschnitte des irdischen Menschen, die ihn in verschiedener Weise
auf seine eigentliche Bestimmung und sein letztes Ziel verweisen. So hat
der christliche Glaube für Krankheiten grundsätzlich andere als die bis
dahin gültigen Deutungen gefunden. Aus christlicher Sicht
widersprechen Krankheiten der Schöpfungsabsicht Gottes. Tertullian
bezeichnet sie als „res contra naturam“. Zum Teil werden Krankheiten im
N.T. auf den Einfluss dämonischer Mächte oder auf natürliche Ursachen
zurückgeführt. Bei aller Veränderung wird dabei nicht völlig
ausgeschlossen, dass mitunter ein Gerichtszusammenhang zwischen
Sünde und Krankheit vorliegen kann. (Mt 12,22ff par; Lk 13,16; J 5,14;
R 8,20; 1 K 11,30; Apk).
4.1.2.2. Jesus
- 21 -
Jesus, wie er uns in den Schriften des N.T. bezeugt wird, durchbricht
und ersetzt das rein mechanische Vergeltungsdogma, wie es ihm in der
zeitgenössischen Tradition vorlag. Als er von Pharisäern gefragt wird, ob
ein Blinder selbst oder seine Eltern gesündigt haben, sagt er: „Weder er
noch die Eltern.“ (Joh 9, 1-12)19 Hier korrigiert Jesus die Verbindung von
Krankheit und Sünde ausdrücklich. Auf die Frage der Jünger nach den
Verursachern der Krankheit antwortet Jesus: »Weder er noch seine
Eltern haben gesündigt, sondern das Wirken Gottes soll an ihm offenbar
werden« (J 9,13). Damit ist eine deutliche Kritik am Tun-ErgehensZusammenhang eines bestimmten alttestamentlichen Denkens
verbunden. In der Regel erklärt und deutet Jesus nicht, sondern spricht
Kranken Vergebung und Heilung zu (Mk 2,5ff par).
Es darf davon ausgegangen werden, dass Jesus mit seiner letzten
Vaterunser-Bitte: »Apo tou ponerou« (»Von dem Bösen« Mt 6,13 diff; Lk
11,4) nicht bloß »der« oder »das« Böse im theologischen Sinne gemeint
ist, sondern hier umfassend jene Elemente eingeschlossen hat, die dem
Glaubenden das Leben zur Mühsal machen.
Die Botschaft, die Jesus jenen bringt, die leiden und krank sind, ist im
Gleichnis vom Reichen Mann und Armen Lazarus zusammengefasst:
Sie werden gebettet sein in Abrahams Schoß und Trost erfahren für alle
Zeit (vgl. Lk 16,19-31). Damit wird das gegenwärtige Leid in Beziehung
zur absoluten Zukunft des Menschen in der Gemeinschaft mit Gott
gesetzt und dadurch relativiert. In seinem Schicksal lebt Jesus ein
Beispiel der persönlichen Bewältigung von Leid und Tod und damit des
Krankseins aus innerster Verbindung mit Gott exemplarisch vor.
4.1.2.1. Paulus
Die Verkündigung des Paulus ist geprägt von der Botschaft des Kreuzes
und der Auferstehung Jesu. Durch diese »Brille« sieht er die Existenz
des Menschen. Daraus resultiert die teleologische Sicht von Krankheit
und Leid, die so mögliche positive Zukunftssicht setzt Lebensenergien
frei und bindet sie nicht wie es die kausale Sichtweise von Kranksein,
Leid und Schuld tut.
4.1.2.3. Dämonen
Es ist interessant, dass Lukas, der Epilepsie im Sinne der antiken
rationalen Medizin versteht und die Heilung des epileptischen Jungen
dem ärztlichen Handeln Jesu zuschreibt, in seiner Erzählung dennoch
einen Dämon erwähnt: „Jesus aber bedrohte den unreinen Geist und
machte den Knaben gesund“ (Lk 9,42). Eine Interpretation dieses Verses
muss sich der Doppeldeutigkeit des Begriffes „Pneuma“ bewusst
- 22 -
bleiben: Der unreine Geist kann sowohl auf eine dämonische
Krankheitsinterpretation verweisen als auch im Sinne der rationalen
Medizin als unreine Luft verstanden werden. Deutet man den unreinen
Geist als Dämon, wird der Kranke von der Verantwortung für seine
Krankheit entlastet. Dies tut Lukas, indem er die Krankheit als Dämon
und damit als ansprechbare Person darstellt. Er unterscheidet also
zwischen der Person und der Krankheit, die den Menschen gleichsam
von außen überfällt. Die Ursache der Krankheit ist nicht im Kranken und
dessen vermeintlichen Sünden zu suchen – sie muss als
fremdverursacht verstanden werden. Damit ergibt sich der paradoxe
Sachverhalt, dass durch die Einführung eines Dämons die Krankheit
entdämonisiert werden soll. Vor diesem Hintergrund erschließt sich die
Doppeldeutigkeit des Begriffs Pneuma als bewusst gewollt.
4.1.3. Tradition
Das frühe Christentum entwickelte sich im Spannungsfeld von religiöser
Krankheitsdeutung, rationaler Medizin und religiöser Heiltradition. Wie
bereits ausgeführt, wird im Neuen Testament die religiöse Deutung von
Krankheit zunächst explizit abgelehnt. Auf dieser Grundlage griff das
frühe Christentum Einsichten der rationalen Medizin der Antike auf.
Insbesondere im Lukasevangelium finden sich dafür zahlreiche Bezüge.
In der Erzählung von der Heilung des Jungen mit den epileptischen
Phänomenen (Lk 9,37-43) korrigiert Lukas beispielsweise die vor dem
Hintergrund antiker Medizin nicht kohärente Schilderung des
Markusevangeliums (Mk 9,14-29): Jesus wird von Lukas als Arzt
präsentiert. Anders als in seiner markinischen Vorlage, in deren Zentrum
ein Exorzismus steht, spricht Lukas bewusst von „iasato“, was mit „sich
kümmern um“ und „ärztlich behandeln“ übersetzt werden sollte. Im
Corpus Hippocraticum ist „iasato“ Kennzeichen für einen guten Arzt.
4.1.3.1 Reformation (Luther)
Martin Luther bewegt sich im breiten Strom der mittelalterlichen Tradition
und knüpft dabei an Augustins Krankenverständnis an, der Krankheit
vornehmlich als Folge der Erbsünde versteht. Nach diesem Verständnis
müssen Krankheiten nicht die direkten Folgen von individuell
begangenen Sünden sein, sondern lassen sich zurückzuführen auf den
„status corruptionis“ in dem sich die ganze Menschheit befindet. In den
Fokus seiner Zuwendung zum Kranken stellt er dann nicht die
Auseinandersetzung mit der individuellen Schuld sondern den Zuspruch
der Versöhnung. So schreibt er im „Sermon von der Bereitung zum
- 23 -
Sterben“: „Die sund wechst und wirt groß auch durch yhr zuvill ansehen
und zu tieff bedenken.“7
Zusätzlich kann Luther Krankheiten auch als einen Angriff des Teufels
verstehen, wobei dieser von ihm nicht als ein eigenständiges
Kraftzentrum sondern als ein von Gott zugelassenes Instrument
verstanden wird.8
4.1.3.2 Bonhoeffer - Teilhabe am Leiden Gottes
Bonhoeffer
beschreibt
Krankheit
und
Leiden
als
ein
„Hineingerissenwerden in das messianische Leiden Gottes in Jesus
Christus“9. So auch in der Strophe 2 im Gedicht Christen und Heiden –
„Christen stehen bei Gott in seinem Leiden“
4.1.4. Folgerungen für theologische Krankheitsdeutungen heute
Es gibt bestimmte Krankheitsdeutungen, die sich aus christlichtheologischer Sicht erst einmal nur durch ausschließende Aussagen
beschreiben lassen:
- „Krankheiten lassen sich nicht als Strafe Gottes für eigene Sünden,
also für persönliches Schuldigwerden an Gott und den Mitmenschen
deuten. Wer dieses Krankheitsverständnis vertritt, wendet sich gegen
die Texte des Neuen Testamentes.“10
- Krankheit ist keine von Gott auferlegte Probe der Glaubensstärke.
- Kranke Menschen sind keine Beispiele an denen die Gesunden
erkennen sollen, wie schön doch ein gesundes Leben ist.
- Krankheiten sind keine Chancen, die dem Menschen für neue
Einsichten öffnen wollen. (Wer das behauptet, stellt sich auf die Seite
der Freunde Hiobs.) Das schließt nicht aus, das sich dem Leidenden
neue Einsichten eröffnen – aber es ist eben nicht deren Absicht.
Krankheit wird in den biblischen Texten als Übel verstanden und es ist
falsch zu behaupten, die Krankheit als solche hätte einen Sinn und
selbst wenn es ein noch verborgener wäre. Krankheiten fordern
stattdessen zum (heilenden) Handeln heraus und zur Solidarität
(Empathie) mit dem Leidenden.
7
WA 2, 687
WA TR 1 Nr. 157
9
WE 8.Aufl. 1958 S.245
10
Stephan Schaede: Zur Relevanz alter und uralter Krankheitsdeutungen in: Krankheitsdeutungen in der
postsäkularen Gesellschaft, S.306
8
- 24 -
4.2. christliche Lebenswirklichkeit
Nicht unabhängig aber doch in weiten Teilen unterschieden von
biblischen Quellen und theologischen Überlegungen, werden im
christlichen Alltag Zuordnungen hergestellt. Wichtige Einflussfaktoren für
diese, stellen neben der grundsätzlichen Verfasstheit des Menschen
(siehe Attributionsfehler) die Inhalte und Haltungen dar, die in den
verschiedenen Formen christlicher Vergegenwärtigung vermittelt
werden. Dabei sollen hier vor allem beispielhaft Liturgie, Lieder und
Verkündigung betrachtet werden.
4.2.1. Schuldkultur in Liturgie, Liedern und Verkündigung
Der Gottesdienst mit seiner Liturgie, den Liedern und der Verkündigung
ist der Ort, in der die Haltungen und Einstellungen der
Gottesdienstbesucher wesentlich sowohl direkt als auch indirekt
beeinflusst und geprägt werden.
Nach protestantischem Verständnis ist der Gottesdienst ein Dienst
Gottes am Menschen. Demzufolge ist zu erwarten, dass die
Gottesdienstbesucher hier vor allem gestärkt und aufgerichtet werden.
Die Realität, so beschreibt es der Praktische Theologe Winfried
Engelmann, sieht allerdings nicht selten ganz anders aus: „Zum Problem
werden Gottesdienste u. a. dadurch, dass sie dem Menschen sein
Menschsein vorwerfen und ihm nahelegen, vom Repertoire seines
Menschseins (wozu z. B. ein eigener Wille gehört) keinen Gebrauch zu
machen. Statt ihn in der kritischen Auseinandersetzung mit sich selbst zu
stärken, wird er mit billigen Schuldvorwürfen konfrontiert. … Der
Gottesdienstbesucher hat sich kaum gesetzt, da wird ihm vorgeworfen,
dass es wiederum auf der ganzen Linie nicht gereicht habe, und dass er
alles, was er hätte an Gutem tun können, „zu wenig“ getan habe: Er war
nicht immer freundlich genug, manchmal sogar unfreundlich. Nicht
immer geduldig genug, manchmal sogar ungeduldig. Nicht immer
hilfsbereit genug, manchmal sogar abweisend. Er habe vor allem
weniger geliebt als er eigentlich hätte können.“11
Das Schuldbekenntnis spielt sowohl in den katholischen als auch in den
protestantischen Gottesdiensten eine nicht unwesentliche Rolle. Im
Unterschied zur individuellen Beichte hat das Schuldbekenntnis im
Gottesdienst einen öffentlichen und gemeinschaftlichen Charakter. Im
katholischen Gottesdienst wird es zu Beginn nach der Eröffnung
11
Wilfried Engemann in einem Vortrag, der am 12. September 2011 auf dem XIV. Europäischen Kongress der
Wissenschaftlichen Gesellschaft für Theologie in Zürich gehalten wurde. Veröffentlicht in: Wege zum
Menschen, 64. Jg., 239–252, 2012 Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen
- 25 -
gesprochen. In der evangelischen Tradition hat es sich an drei
verschiedenen Orten entfaltet:
1. in der Ordnung der Messe als Bußgebet der Gemeinde ganz am
Liturgieanfang oder vor der Kommunion;
2. im Predigtgottesdienst nach der Predigt als Antwort der Gemeinde;
3. als selbständiger Beicht-Vorbereitungsgottesdienst vor einer
Abendmahlsfeier.
katholisch
evangelisch
Ich bekenne Gott, dem
Allmächtigen,
[der seligen, allzeit reinen Jungfrau
Maria,
dem hl. Erzengel Michael, dem hl.
Johannes dem Täufer, den hll.
Aposteln Petrus und Paulus, allen
Heiligen,]
und allen Brüdern und Schwestern,
dass ich Gutes unterlassen und
Böses getan habe.
Ich habe gesündigt in Gedanken,
Worten und Werken
durch meine Schuld, durch meine
Schuld,
durch meine große Schuld.
Darum bitte ich
die selige Jungfrau Maria,
[den hl. Erzengel Michael,
den hl. Johannes den Täufer,
die hll. Aposteln Petrus und
Paulus,]
alle Engel und Heiligen,
und Euch, Brüder und Schwestern,
für mich zu beten bei Gott,
unserem Herrn.
Allmächtiger Gott, barmherziger
Vater,
ich armer elender sündiger Mensch
bekenne dir alle meine Sünden
und Missetaten,
die ich begangen habe in
Gedanken, Worten und Werken,
womit ich dich erzürnt und deine
Strafe zeitlich und ewiglich verdient
habe.
Sie sind mir aber alle herzlich leid
und reuen mich sehr,
und ich bitte dich um deiner
grundlosen Barmherzigkeit und um
des unschuldigen, bitteren Leidens
und Sterbens deines lieben
Sohnes Jesus Christus willen,
du wollest mir armem sündhaften
Menschen gnädig und barmherzig
sein,
mir alle meine Sünden vergeben
und zu meiner Besserung deines
Geistes Kraft verleihen. Amen.
Zwei Beispiele neuerer Bußgebete:
Herr, im Licht deiner Wahrheit erkenne ich, dass ich gesündigt habe in
Gedanken, Worten und Werken. Dich soll ich über alles lieben, meinen
Gott und Heiland; aber ich habe mich selber mehr geliebt als dich. Du
- 26 -
hast mich in deinen Dienst gerufen; aber ich habe die Zeit vertan, die du
mir anvertraut hast. Du hast mir meinen Nächsten gegeben, ihn zu
lieben wie mich selbst; aber ich erkenne, wie ich versagt habe in
Selbstsucht und Trägheit des Herzens. Darum komme ich zu dir und
bekenne meine Schuld. Richte mich, mein Gott, aber verwirf mich nicht.
Ich weiß keine andere Zuflucht als dein unergründliches Erbarmen. (EG
800)
Ich bekenne vor dir, mein Gott:
Ich vergesse dich oft. Oft glaube ich nicht, dass du mich siehst. Ich höre
nicht, wenn du mich rufst. Vor deinem Urteil kann ich nicht bestehen.
Darum bitte ich dich: Gott, sei mir Sünder gnädig.
Ich bekenne vor dir, mein Gott:
Ich bin nicht so, wie du mich haben willst. Ich täusche andere. Ich denke
schlecht von anderen und rede über sie. Ich übersehe ihre Not und
drücke mich, wo ich helfen sollte.
Darum bitte ich dich: Gott, sei mir Sünder gnädig.
Ich bitte dich, mein Gott:
Laß mein Leben nicht verderben, bringe es zurecht. Richte mich auf,
wenn ich den Mut verliere. Rette mich, wenn ich verzweifle. Hilf mir,
deiner Gnade zu vertrauen. (EG 801)
5. Die Deutungen von Patienten
Da Menschen den unterschiedlichsten Einflüssen unterliegen ist es nicht
verwunderlich, wenn sich in der alltäglichen Praxis eine Mischung ganz
unterschiedlicher Zuordnungen finden. Da subjektive Krankheitstheorien
aus mindestens drei (subjektiven) Quellen gespeist werden, müssen sie
verständlicherweise ganz unterschiedlich gefärbt sein.
- 27 -
Als Seelsorger stoße ich in meinen Gespräche immer wieder vor allem
auf sechs Deutungsmuster. So wird Krankheit verstanden als ein Weg:
1.
2.
3.
4.
5.
6.
der Reparatur,
der Bestrafung,
der Heimkehr,
der Annahme,
des legitimen Rückzugs und der ersehnten Annerkennung
des Widerstands und Ergebens.
Dabei ist es natürlich so, dass es immer wieder Weggabelungen oder
Richtungsänderungen auf den eingeschlagenen Wegen geben kann.
Beispiele aus dem Alltag
Zu 2. ein Weg der Schuld und Strafe
Herr B. interpretiert seine autoimmune Erkrankung als Protest seines
Körpers über eine außereheliche Beziehung von der er sich nicht
befreien kann, die aber droht, ihn seelisch zugrunde zu richten. Sein
Körper straft ihn. Frau C. meint selbst schuldig an ihrem unheilbaren,
zerstreuten Hautkrebs zu sein, weil sie über die Jahre zu viel „in sich
hineingefressen" hat, anstatt ihren Problemen mit psychischer Stärke
stand zu halten. Ihre Psyche, ihre Seele straft sie. Frau D. dagegen
fürchtet, dass ihr Brustkarzinom eine verspätete Strafe Gottes ist für eine
vor dreißig Jahren vollzogene Abtreibung. Gott straft sie dafür. Auf
diesem Weg wird Krankheit als das Resultat psychischer oder
moralischer Verfehlungen gesehen, wofür man sich nur selbst schuldig
sprechen
kann.
Zu 3. ein Weg der Heimkehr,
Besonders
hochbetagte, „lebenssatte" Patienten beschreiben ihre
Krankheiten als den letzten Weg oder den Heimweg am Ende eines
erfüllten Lebens. Krankheit deuten sie dabei als einen Weg, der zur
Erlösung führt. „Meine Krankheit bringt mich auf den Weg, den jeder
irgendwann gehen muss".
Zu 4. ein Weg der Annahme
Frau F. findet keine Zusammenhänge in einem Deutungsversuch, weil
sie keine Zusammenhänge sucht. „Mir bringt es nichts darüber
nachzudenken" behauptet sie. „Die Krankheit ist da und ich muss durch."
Dieses fatalistische Schema sieht Krankheit als einen negativ wirkenden
Schicksalsschlag. Andersrum, ohne Bitterkeit, sondern von einer
- 28 -
positiven Demut geprägt, haben andere Patienten es schlichtweg nicht
nötig eine Krankheit zu deuten. „Ich hab' sie, halt. So ist es."
Zu 5. ein Weg des legitimen Rückzugs und der ersehnten Annerkennung
Frau H., Ende vierzig, arbeitete in leitender Stellung auf einer hohen,
verantwortungsvollen Position mit Entscheidungsbefugnis über den
weiteren beruflichen Werdegang von vielen Menschen. Nach zahllosen
Überstunden und zunehmenden Arbeitsaufwand angesichts betrieblicher
Kürzungen, wünschte sie sich heimlich eine Krankheitsphase, als
akzeptablen Ausweg aus einer Situation, aus der sie ihr
Pflichtbewusstsein sonst nicht entkommen lässt. Ihre Krebsdiagnose
übersteigt, auf verheerende Art und Weise, ihre innersten Wünsche.
Doch bekommt sie dadurch eine Sabbat-Erlaubnis, die sie sich selbst
hätte nicht gönnen können.
Zu 6. ein Weg des Widerstands und Ergebens
Gehadert mit und gelästert über Gott und Glauben hat Herr G., ein 45jähriger Leukämie-Patient. Er meint in jeder Hinsicht aufrecht gelebt zu
haben und deswegen unverdient von Gott verlassen zu sein. Wenn es
überhaupt einen Gott gäbe, dann verfluche er ihn, meint, an einem Tag
Herr G. Beim nächsten Besuch beteten wir gemeinsam um Gottes Hilfe
und Heilung Hin und her, auf und ab ging es bei Herrn G. einige Wochen
lang; ein Wechselbad des Dagegen-Kämpfens und des Loslassens, des
Ringens und Sich-Segen-Lassens (wie bei Jakob am Jabok). Seine
Krankheit hat er als eine Sinnlosigkeit gedeutet, doch über dem
Sterbebett dieses wütenden, verzweifelten Familienvaters hing bis zum
Schluss die einfache Skizze eines Engels. Seine Krankheit war wie ein
Kampf mit einer verkörperten Sinnlosigkeit, die ihn nicht nur zu Tode
verletzte, sondern ihn auch zu einer vertieften Spiritualität führte. In
diesem Sinn kann eine Krankheit auch ein Aufruf zum Aufbruch und zur
Wandlung sein.
- 29 -
5. Islamische Deutungen von Krankheit und Tod
5.1. GESUNDHEIT, KRANKHEIT UND HEILUNG
5.1.1. MENSCHENBILD
Dem Koran zufolge ist Gott der Schöpfer und der Mensch das Geschöpf.
Der Mensch wurde in idealer Gestalt erschaffen und mit den besten
Weisungen Gottes versehen (Sure 95/4). Als Gott den Menschen
erschuf, hauchte er ihm seinen Geist ein (Sure 15/28-9; Sure 38/71-2).
Diese Erschaffungsart verleiht zwar dem Menschen einen Sonderstatus
unter den Geschöpfen, daraus wird aber keine Gott-Ebenbildlichkeit des
Menschen wie in der christlichen und jüdischen Theologie abgeleitet. Der
Koran sagt: „Und niemand ist Ihm (Gott) gleich (ebenbürtig).“ (Sure
112/4; vgl. auch Sure 42/11). Die Nähe Gottes zum Menschen und die
ontologische Gebundenheit des Menschen an Gott wird im Koran
folgendermaßen ausgedrückt: „Wir haben doch den Menschen
erschaffen und wissen, was seine Seele ihm einflüstert, und Wir sind ihm
näher als die Halsschlagader.“ (Sure 50/16)
Der Mensch gilt auf der Erde ‚Statthalter Gottes’ (khalīfa) und nimmt bei
Gott unter den Geschöpfen einen hohen Rang ein (Sure 17/70). Seine
hohe Stellung bei Gott erhält er demnach, indem er das ihm von Gott
anvertraute Gut annimmt. Mit diesem anvertrauten Gut sind unter
anderem die von Gott auferlegten Verpflichtungen und Verantwortungen
gemeint. Nachfolger bzw. Statthalter Gottes (khalīfa) und Diener Gottes
(abd) zu sein, bestimmt damit die Stellung des Menschen auf der Erde.
Die lexikalische Definition von Islam ist die völlige Ergebung des
Menschen in den Willen Gottes ist, und somit hat der Mensch seine
Stellvertreterposition als Diener Gottes zu erfüllen. Als Diener Gottes soll
der Mensch sich hier auf der Erde bewähren. Deswegen wird er auch
verschiedenen Prüfungen ausgesetzt: „Er (Gott) hat den Tod und das
Leben erschaffen, um euch zu prüfen, wer von euch am besten handelt.
Und Er ist der, der mächtig und voller Vergebung ist.“ (Sure 67, Vers 2)
Alle Menschen gelten nach muslimischer Lehre vor Gott und dem Recht
als gleichgestellt, besitzen Willensfreiheit und sind deswegen für ihre
Handlungen verantwortlich. Der Gedanke der Erbsünde ist dem Islam
fremd: „Wer der Rechtleitung folgt, folgt ihr zu seinem eigenen Vorteil.
Und wer irregeht, der geht irre zu seinem eigenen Schaden. Und keine
lasttragende (Seele) trägt die Last einer anderen.“ (Sure 17/15)
Im Gottesdienst tritt der Mensch nur seinem Schöpfer gegenüber. Diese
Eigenverantwortung des Menschen für seine Taten als Individuum wird
in vielen Koranversen betont. Jedoch begegnen wir im Koran einerseits
der völligen menschlichen Willens- und Handlungsfreiheit und
andererseits der Vorherbestimmung und des Wissens aller Ereignisse
als ein Resultat der göttlichen Weisheit. Das heißt, der Mensch besitzt
- 30 -
keine absolute Freiheit, sondern nur eine partielle Freiheit, die es ihm
erlaubt, innerhalb der göttlichen Schöpfung in Freiheit zu handeln und
deswegen für seine Handlung verantwortlich zu sein.
Jeder Mensch wird – dem Koran und den Aussagen des Propheten
Muhammad zufolge – mit der Fähigkeit geboren, an einen Gott zu
glauben (fitrat Allâh). Dennoch betont der Koran auch die Religions- und
Gewissensfreiheit: „Wer will, möge glauben; und wer will, möge
ungläubig sein.“ (Sure 18/29).
Die Muslime leiten unter anderem die Menschenwürde (karâmat alinsân) aus der Sure 17, Vers 70 ab, in der es heißt: „Und wahrlich, Wir
haben die Kinder Adams geehrt und sie über Land und Meer getragen
und sie mit guten Dingen versorgt und sie ausgezeichnet – eine
Auszeichnung vor jenen vielen, die Wir erschaffen haben.“
Der Begriff „aschrafu mahluqât“ (Edelste aller Geschöpfe), der für den
Menschen benutzt wird, bietet sich ebenfalls für einen synonymen
Gebrauch für Menschenwürde an. Zwar befindet sich dieser Begriff nicht
im Koran, er prägt jedoch die islamische Geistesgeschichte so sehr,
dass er für das Leben einen normativen Inhalt erlangt.
Das menschliche Leben gehört im Islam zu den fünf elementaren Gütern
(maqâsid asch-scharia), die geschützt werden müssen. Dazu zählen
auch: die Religion, der Verstand, die Nachkommenschaft und der Besitz.
Als Sozialwesen hat der Mensch seine Pflichten zu erfüllen und Frieden
in seiner Gemeinschaft und Umgebung zu stiften. Gegenseitige
(innerislamische) Akzeptanz und Toleranz gehören zu den
Grundüberzeugungen des Islam. Im Koran heißt es dazu: „O ihr
Menschen, Wir haben euch von einem männlichen und einem weiblichen
Wesen erschaffen, und Wir haben euch zu Verbänden und Stämmen
gemacht, damit ihr einander kennenlernt. Der Edelste (Angesehenste)
von euch bei Gott, das ist der Gottesfürchtigste von euch. Gott weiß
Bescheid und hat Kenntnis von allem.“ (Sure 49/13)
5.1.2. GESUNDHEITS- UND KRANKHEITSVERSTÄNDNIS
Das muslimische Gesundheits- und Krankheitsverständnis wird durch
bestimmte islamische Quellen und Normen geprägt. Auch wenn sie bei
allen Muslimen nicht einheitlich vorzufinden sind, gibt es substantielle
Ähnlichkeiten. Hinsichtlich der islamischen Quellen und praktischen
Wirklichkeiten lassen sich drei Grundsätze feststellen, die das
Krankheits- und Gesundheitsverständnis eines Muslims prägen. Diese
Grundsätze sind nicht isolierte theologische Einheiten, sondern sie
beeinflussen die konkrete Haltung zu einer Krankheit und die
Entscheidungen
zu
den
medizinischen
Maßnahmen
im
- 31 -
Krankheitszustand. Im Folgenden werden diese Grundsätze kurz
dargestellt:
GESUNDHEIT UND KRANKHEIT ALS NATÜRLICHES PHÄNOMEN
(EBENE DER NATÜRLICHKEIT)
Nach muslimischem Weltbild sind Gesundheit und Krankheit natürliche
Phänomene, die sich im menschlichen Leben abwechseln. Gesundheit
ist im Sinne eines Freiseins von Schmerzen, von Funktionsausfällen der
Körperorgane
oder
Strukturanomalien
für
ein
substantielles
Wohlbefinden wichtig. Der islamische Glaube versteht die Krankheit als
ein zur menschlichen Natur gehörendes Phänomen, welches mit Leiden
auf unterschiedlichen Ebenen verbunden ist. Im Koran heißt es dazu: „Er
[Gott] weiß, dass es unter euch Kranke geben würde.“ (Sure 73/20).
Deswegen hebt Gott die religiösen Pflichten, die konstitutive Merkmale
des Muslimseins sind, für den Krankheitsfall auf. Denn „Gott will für euch
Erleichterung, Er will für euch nicht Erschwernis.“ (Sure 2/185)
GESUNDHEIT ALS GOTTESGABE (EBENE DER VERANTWORTUNG)
Körper und Gesundheit sind nach islamischem Glauben dem Menschen
zur Aufbewahrung gegebene Gottesgaben und daher als zu
schützendes Gut zu verstehen. Der Mensch ist Inhaber und Nutznießer,
Gott hingegen ihr Eigentümer. Die religiöse Überzeugung, welche die
Gesundheit als ein dem Menschen anvertrautes Gut deklariert, impliziert
gleichzeitig eine menschliche Verantwortung für deren Erhaltung bzw.
Wiederherstellung. Somit ist es eine islamische Pflicht, entsprechende
hygienische Maßnahmen zu treffen oder sich den erforderlichen
medizinischen Maßnahmen zur Bewahrung bzw. Wiederherstellung der
Gesundheit zu unterziehen. Jeder Muslim hat im Jenseits Rechenschaft
abzulegen, wie er mit seinem Körper umgegangen ist, was mit
Belohnung oder Bestrafung im Jenseits verbunden ist.
GESUNDHEIT ALS ERFORDERLICHER
PFLICHTEN (EBENE DER PFLICHTEN)
ZUSTAND
FÜR
DIE
Der Glaube und die Praxis bilden im islamischen Glauben eine
untrennbare Einheit, so dass das Wohlgefallen Gottes als Hauptziel des
Muslims erst mit einem auf islamischen Handlungsnormen basierenden
Habitus möglich wird. Die körperliche und geistige Gesundheit ist für die
Erfüllung der sozialen, ethischen und religiösen Verpflichtungen und
somit auch für eine freie Entfaltung der eigenen religiösen Identität eine
elementare Bedingung. In einem Ausspruch des Propheten Muhammad
wird die Gesundheit in diesem Zusammenhang eindeutig bevorzugt, und
es wird empfohlen sie optimal im eigenen Leben zu nutzen:
„Nutze fünf (Zustände) vor fünf (anderen Zuständen): (Nutze) dein Leben
vor deinem Tod, (nutze) deine Gesundheit vor deiner Krankheit, (nutze)
- 32 -
deine Freizeit vor deiner Geschäftigkeit, (nutze) deine Jugend vor
deinem Greisenalter und (nutze) deinen Wohlstand vor deiner Armut.“
Diese drei Grundsätze gelten nicht als untereinander konkurrierende
oder in einer bestimmten Hierarchie stehende Prinzipien sondern sie
sollen sich gegenseitig ergänzen.
5.1.3. KRANKHEITSDEUTUNGEN
Neben den Grundsätzen des muslimischen Gesundheits- und
Krankheitsverständnisses fließen auch individuelle Interpretationen und
Sinndeutungen von Krankheit für Entscheidungen und Haltungen im
Krankheitszustand ein. In der Praxis begegnet man so unterschiedliche
Sinndeutungen unter den Muslimen, die sowohl auf die islamischen
Hauptquellen als auch auf den Volksglauben zurückgeführt werden
können. Aus den islamischen Hauptquellen lassen sich zwei elementare
Sinndeutungen ableiten: Krankheit als Prüfung Gottes und Krankheit als
Gnadenerweis und Sündenvergebung.
Das Erdenleben ist nach islamischem Glauben ein Prüfungsort (Sure
67/2). Zu den weiteren vielfältigen Prüfungsformen gehören auch
Krankheit und Behinderung. Und so ist nach koranischer Auffassung
Krankheit nichts Abscheuliches oder Verwerfliches, sondern ein Zustand,
der die Geduld als natürliche Konsequenz des Glaubens und somit auch
den Glauben selbst auf die Probe stellt. Die Krankheit ist auch nicht
Strafe Gottes oder eine Ausdrucksform des göttlichen Zorns. Vielmehr
erklärt das folgende Prophetenwort eine Krankheit als Gelegenheit für
die Sündenvergebung: „Keine Müdigkeit und keine Krankheit, keine
Sorge und keine Trauer, kein Schmerz und kein Kummer befällt den
Muslim, nicht einmal ein winziger Dorn kann ihn stechen, es sei denn,
Gott will ihm damit eine Sühne für seine Verfehlungen auferlegen.“
In einem Krankheitszustand, wo der Muslim seine Ohnmacht und
Grenzen erfährt, soll er eine bestimmte Gemütseinstellung bewahren.
Danach sollen für die Krankheit angemessene medizinische
Maßnahmen getroffen werden. Klagen darüber, warum gerade man
selbst befallen wurde oder gar das Anklagen Gottes gelten mit einem
muslimischen Gemüt als nicht vereinbar.
Neben diesen theologisch Krankheitsdeutungen begegnet man in der
Praxis auch Interpretationen, die zum Volksglauben zurückzuführen sind.
Obwohl eine Begründung von Krankheit als Bestrafung Gottes oder
Gotteszorn aus den islamischen Hauptquellen nicht ableitbar ist, ist es
nicht ausgeschlossen, dass der ein oder andere Muslim einer derartigen
persönlichen Interpretation den Vorzug gibt. Die Vorstellung, dass eine
Krankheit eine göttliche Strafe sei, kann besonders während einer
- 33 -
unheilbaren Krankheit auftauchen und von dem Betroffenen auf die
eigenen Übeltaten oder auf unterlassene Pflichten zurückgeführt werden.
Diese Bestrafung muss nicht unbedingt aus einem Fehlverhalten
resultieren und die verantwortliche Person selbst betreffen. So wird nicht
selten die schwere Erkrankung des eigenen Kindes oder aber die
Unfruchtbarkeit des Ehemannes oder der Ehefrau in diese Richtung
interpretiert.
Für die Entscheidungs- und Interessenkonflikte in der Praxis ist es
wichtig, die Quellen der Deutungsformen (Theologie und Volksglaube)
voneinander zu differenzieren.
5.1.4. VOLKSGLAUBE UND TRADITIONELLE HEILER
Wenn ein Krankheitszustand naturwissenschaftlich nicht erklärbar (z.B.
bestimmte psychische Erkrankungen) oder mit konventionellen
Maßnahmen nicht heilbar (z.B. bösartige Krebserkrankungen) ist, so
werden nicht selten andere Wege und Praktiken als letzte Hoffnung
hinzugezogen.
Eine wichtige Figur in solchen Situationen ist der traditionelle Heiler
(Hoca). Im Unterschied zum Imâm, der als Prediger und Vorbeter in der
Moschee tätig ist, haben Hocas oft keine theologische Ausbildung. Sie
schreiben einige arabische Buchstaben oder Koranverse auf ein Stück
Papier (Muska), welches der Patient auf seinem Gewand tragen soll. Sie
verkaufen oder verschreiben Heilkräuter (kocakarı ilacı, d.h. „Medizin der
alten Frauen“), die nach einer bestimmten Anweisung eingenommen
werden sollen. Konsultationen dieser Art sind entweder Mittel der letzten
Wahl oder werden während der Therapie einer nur schwer
behandelbaren Krankheit parallel angewandt, z.B. bei einer schweren
psychischen Störung. Obwohl die Bedeutung und der Einfluss der Hocas
bei älteren Muslimen nicht zu unterschätzen ist, werden sie von den
meisten Muslimen verachtet und als habgierige Scharlatane bezeichnet.
Für Ärzte und Pflegepersonal ist es wichtig zu wissen, ob diese
Praktiken während einer Krankheitsbehandlung schädlich sein können
(z.B.: Die Einnahme süßer Heilmittel bei Diabetes).
Die Imâme leisten – abhängig von der jeweiligen Struktur der
muslimischen Gemeinde – in deutschen Krankenhäusern und
Gefängnissen seelsorgerische Dienste. Für eine angemessene
Seelsorge der muslimischen Patienten scheinen nur die Imâme und nicht
die traditionellen Heiler geeignet zu sein. Zu beachten ist dabei, dass die
muslimischen Patientinnen von weiblichen muslimischen Theologinnen
(Hoca Hanım) besucht werden, deren Anzahl in Deutschland im
Unterschied zu den männlichen Imâmen sehr niedrig ist.
- 34 -
DSCHINN (GEISTWESEN), BÜYÜ (SCHADENSZAUBER) UND NAZAR
(DER BÖSE BLICK)
Der Koran spricht von der Existenz der aus einer Feuerflamme
erschaffenen Dschinnen (Sure 55/15). Die Botschaft des Korans richtet
sich, ähnlich wie bei den Menschen, auch an diese für die menschlichen
Sinne nicht wahrnehmbaren Wesen (Sure 51/56). Ihre spezielle Rolle bei
der Entstehung einer Krankheit ist jedoch nur im Volksglauben und dort
in unterschiedlichen Ausprägungen zu finden. Besonders für psychische
Symptome wie Halluzinationen, „Stimmen-Hören“ etc., für spontan
eingetroffene unerklärliche Krankheiten, Epilepsie oder Unfruchtbarkeit
werden Dschinnen verantwortlich gemacht. Ebenso können einige
Krankheiten auf den Schadenszauber (Büyü) oder den bösen Blick
(Nazar) zurückgeführt werden. Auch in diesen Situationen wird oft ein
traditioneller Heiler konsultiert. Vorbeugend wird dann ein Amulett, ein
Talisman (Muska) oder ein kleiner blauer Stein (Nazar Boncuğu), der auf
der Kleidung getragen wird, empfohlen. Diese Praktiken werden
allerdings von Gelehrten als islamwidrige Handlungen kategorisch
abgelehnt. Der Volksglaube allerdings lässt sich davon wenig
beeindrucken.
5.1.5. DIE STELLUNG DER MEDIZIN
Ihre besondere Stellung unter den Wissenschaften verdankt die Medizin
ihrem unmittelbaren Verdienst am Menschen. Das menschliche Leben
gehört im Islam zu den fünf Gütern, die geschützt werden müssen. Dazu
zählen auch: die Religion, der Verstand, die Nachkommenschaft und der
Besitz. Da der Muslim, um seine Pflichten zu erfüllen und seinem
Schöpfungsauftrag nachzukommen, auf eine gesunde körperliche
Verfassung angewiesen ist, gilt die Medizin als wichtigste und edelste
aller Künste. Basierend auf diesem Menschenbild und spezifischem
Wissenschaftsverständnis haben die Muslime in der Geschichte nicht
gezögert, von den anderen Kulturen die medizinische Wissenschaft zu
übernehmen, zu assimilieren und weiterzuentwickeln. In den klassischen
Werken der islamischen Geistesgeschichte werden die Wissenschaften
zumeist in zwei Gruppen gegliedert: in die Wissenschaft des Körpers
(die Medizin) und in die Wissenschaften der Religion. Das Studieren und
Praktizieren der Medizin galt als eine hoch geachtete Tätigkeit und
wurde von vielen Gelehrten zur religiösen Pflicht erklärt.
Als Grundlage für das Verständnis und die Erklärung von
Naturereignissen dient das monotheistische Glaubenskonzept des Islam.
Alle Ursachen und ihre Wirkungen finden demnach mit dem Wissen und
der Erlaubnis Gottes statt. So werden die wissenschaftlich feststellbaren
Ursachen der Krankheiten durch Gottes Erlaubnis und Kenntnis
- 35 -
hervorgerufen. Gott, der absolute und unbedingte Wille, gibt Stoffen
krankmachende Eigenschaften und ebenso verleiht er medizinischen
Maßnahmen heilende Kräfte. Therapeutischen Maßnahmen gelten somit
nicht die erste Ursache der Heilung, sondern lediglich deren Vermittler.
Dieses Verhältnis zwischen Gott und Heilwirkung wird auf einem
Koranvers durch die Aussage des Propheten Abraham zurück geführt:
„Wenn ich krank bin, so heilt er mich“ (Sure 26/80). Parallel dazu hat der
Prophet Muhammad sowohl für die Krankheit als auch für die Heilung
Gott die erste Ursächlichkeit zugeschrieben: „Gott hat keine Krankheit
auf die Erde herabgesandt, ohne zugleich auch für das entsprechende
Heilmittel zu sorgen.“ Gott allein als primären Grund für die Heilung zu
nennen, schließt jedoch die von einem Arzt empfohlene Behandlung
nicht aus. Muslime sind sogar dazu angehalten, sich dieser Mittel zu
bedienen, um die von Gott kommende Heilung zu erlangen.
5.2. LEBENSPHASEN
5.2.1. LEBENSBEGINN
Die Frage: „Wann beginnt das menschliche Leben?“ ist auch für Muslime
sehr zentral für die Beurteilung mehrerer ethischer Fragen. Man findet in
der islamischen Geistesgeschichte relativ früh, schon etwa im 8., 9. und
10. Jahrhundert eine umfangreiche Diskussion über diese Fragen. Diese
Diskussionen haben nicht zuletzt so früh angefangen, weil sie für die
Beurteilung des Schwangerschaftsabbruchs maßgeblich waren. Im
Koran, der wichtigsten Hauptquelle der Muslime, werden das
menschliche Leben im Mutterleib, das Auf-die-Welt-Kommen, das
Sterben nach einer gewissen Lebenszeit sowie die Wiederauferstehung
im Jenseits als Komponenten eines Kontinuums mit unterschiedlichen
Seinsqualitäten erklärt:
„Und wahrlich, Wir schufen den Menschen aus einem entnommenen
Ton. Dann machten Wir ihn zu einem Tropfen in einem festen
Aufenthaltsort. Dann schufen Wir den Tropfen zu einem Embryo, und
Wir schufen den Embryo zu einem Fötus, und Wir schufen den Fötus zu
Knochen. Und Wir bekleideten die Knochen mit Fleisch. Dann ließen Wir
ihn als eine weitere Schöpfung entstehen. Gott sei gesegnet, der beste
Schöpfer! Dann werdet ihr nach all diesem sterben. Dann werdet ihr am
Tag der Auferstehung auferweckt werden.“ (Sure 23/12-16)
Obwohl es im Koran keine konkreten Angaben über den genauen
Zeitpunkt der Beseelung gibt, gewinnt er in den Diskussionen über den
Beginn des menschlichen Lebens eine zentrale Bedeutung. Mittlerweile
hat sich die folgende Berechnung durchgesetzt: Basierend auf einem
Prophetenausspruch werden für alle in den oben zitierten Versen
genannten Entwicklungsstadien bis hin zur Einhauchung der Seele, also
- 36 -
vom Wassertropfen zum Embryo bis hin zum Fötus, jeweils 40 Tage
berechnet. Insgesamt sind es somit 120 Tage bis zum Zeitpunkt der
Beseelung. Es gibt jedoch andere Prophetenaussprüche, durch die man
jeweils andere Zeitpunkte (40., 42., 43., 45. oder 80. Tag) als den Beginn
des menschlichen Lebens erklärt hat.
SCHWANGERSCHAFTSABBRUCH
Es gibt zwischen, aber auch innerhalb der verschiedenen muslimischen
Rechtsschulen unterschiedliche Meinungen über die Beurteilung des
Schwangerschaftsabbruchs, die hier nicht alle detailliert behandelt
werden können. Man kann grob von drei Hauptpositionen bei der
Beurteilung des Schwangerschaftsabbruchs sprechen:
 Ein Schwangerschaftsabbruch ist auch ohne triftigen Grund bis zum
Zeitpunkt der Beseelung (je nach Interpretation s.o.) erlaubt.
 Er ist nur mit triftigem Grund bis zum Zeitpunkt der Beseelung erlaubt.
 Er ist nach der Befruchtung der Eizelle verboten.
Die Rechtsgelehrten sind sich über die Vertretbarkeit eines
Schwangerschaftsabbruchs für den Fall einig, wenn das Leben der
Mutter durch eine Schwangerschaft gefährdet ist. Dann kann ein
Schwangerschaftsabbruch
unabhängig
vom
Zeitpunkt
der
Schwangerschaft durchgeführt werden. Abgesehen von dieser Notlage
ist ein Abbruch nach dem 120. Tag der Schwangerschaft durch kein
anderes Argument (Lebensplanung, soziale und finanzielle Gründe etc.)
legitimierbar.
Aufgrund dieser rechtsethischen Diskussionen, aber auch aufgrund
soziopolitischer Gegebenheiten wird der Schwangerschaftsabbruch in
den muslimischen Ländern juristisch unterschiedlich geregelt. Eine neue
und immer stärker werdende Tendenz unter den muslimischen
Intellektuellen und Gelehrten setzt den Schwerpunkt auf die Befruchtung
der Eizelle. Ab diesem Zeitpunkt beginne das menschliche Leben und
dem Embryo komme volle Schutzwürdigkeit zu. Danach sei ein
Schwangerschaftsabbruch nur dann vertretbar, wenn das Leben der
Mutter durch die Schwangerschaft gefährdet wird.
5.2.2. KINDER
Für Muslime bedeuten Kinder Lebensglück und sie zählen sie zu den
schönsten Gottesgaben. Deswegen gilt die Geburt eines Kindes als ein
einzigartiges Erlebnis und Anlass großer Freude für Familie und
Verwandtschaft. Im islamischen Glauben kommt das Kind als Muslim auf
die Welt und somit ist keine Zeremonie nötig, um es in die
Religionsgemeinschaft aufzunehmen. Unmittelbar nach der Geburt wird
- 37 -
der Gebetsruf (arab. Adhân; türk. Ezan) in das Ohr des Kindes rezitiert.
Empfohlen wird, den Eltern im Kreißsaal für dieses Ritual einen ruhigen
Ort zu verschaffen. Entweder unmittelbar nach der Ezan-Rezitation oder
am siebten Tag nach der Geburt findet die Namensgebung statt. Nach
einer bestimmten Zeit nach der Geburt werden Verwandte und Nachbarn
zum Gastmahl (Aqiqa) eingeladen und den Armen wird Geld gespendet.
STILLEN
Das Stillen eines Säuglings gilt als eine wichtige Verpflichtung der
Mutter, welches auch in den islamischen Grundquellen (Sure 2/233)
große Achtung findet. Das durch das Stillen entstehende Verhältnis
zwischen Kind und Mutter (bzw. Kind und Amme) hat für das spätere
Familien- und Sozialleben Konsequenzen. Nach islamischem Recht
dürfen z. B. von derselben Frau gestillte Jungen und Mädchen – auch
wenn sie nicht Geschwister sind – später miteinander nicht heiraten.
Die Bereitschaft zum Stillen ist unter muslimischen Frauen relativ hoch.
Es lässt sich jedoch innerhalb dieser Bevölkerungsgruppe ebenso eine
leichte Beeinflussung durch Werbung für Babynahrung und dadurch
frühzeitiges Abstillen feststellen.
BESCHNEIDUNG
Die Beschneidung (arab. Khitân; türk. Sünnet) gilt als eines der
wichtigsten religiösen Rituale für einen muslimischen Jungen in seiner
Kindheit und wird auf den Propheten Abraham zurückgeführt. Obwohl
die Beschneidung im Koran explizit nicht genannt wird, gibt es zahlreiche
Prophetenaussprüche, die darauf hinweisen. Bei der Beschneidung die
Vorhaut (Präputium) des männlichen Glieds vollständig entfernt, so dass
die Eichel des Penis völlig entblößt ist. Über den angemessenen
Zeitpunkt für die Beschneidung des Knaben gibt es in den
Rechtsschulen unterschiedliche Meinungen. Sie kann vom siebten Tag
nach der Geburt an bis zur Volljährigkeit stattfinden. Sowohl für den
Beschneidungstermin als auch für die Art und Weise der Feierlichkeiten
vor und nach der Beschneidung sind geographische, soziokulturelle und
finanzielle Bedingungen entscheidend.
Die Mädchenbeschneidung wird in der islamischen Welt als eine
geographisch und traditionell bedingte Sitte ohne jegliche religiöse
Verbindlichkeit gesehen und abgelehnt. Die Mädchenbeschneidung ist
den Türken beispielsweise unbekannt, sie wird jedoch in Ost- und
Westafrika und bei Angehörigen der Süd-Sahara-Völker von Muslimen
und Christen praktiziert.
VOLLJÄHRIGKEIT
Die Volljährigkeit wird in der islamischen Geistesgeschichte nicht mit
einem bestimmten Lebensalter gleichgesetzt, sondern nach körperlicher
- 38 -
und geistiger Entwicklung der Person bestimmt. Auch wenn man für die
Volljährigkeit bestimmte Jahresangaben macht, wie neun bis dreizehn
Jahre bei Mädchen und elf bis fünfzehn Jahre bei Jungen, ist die
körperliche, aber vielmehr geistige Entwicklung entscheidend. Diese
Grenzen gelten eher für die Übernahme bestimmter familiärer
Verantwortungen oder religiöser Pflichten. Um Adressat dieser Pflichten
zu sein, ist Mündigkeit bzw. Volljährigkeit eine elementare
Voraussetzung. Gewöhnlich werden Kinder in diesem Lebensabschnitt
mit islamischen Handlungsnormen und Pflichten vertraut gemacht, damit
diese ihnen später nicht schwer fallen.
5.2.3. EHE
ROLLENVERTEILUNG
Das islamische Menschenbild erklärt Mann und Frau vor Gott einander
ebenbürtig und gleichwertig. Aufgrund ihres Wesens kommt ihnen eine
Wertgleichheit zu. Dasselbe Menschenbild unterstreicht jedoch die
unterschiedliche Natur von Mann und Frau und leitet daraus eine
differenzierte Aufgabenverteilung bzw. verschiedene Rechte und
Pflichten im Familienleben ab. Nach dieser Rollenverteilung hat der
Mann die Unterhaltspflicht und ist verantwortlich für die Versorgung der
Familie. Die Frau ist für die Kindererziehung und den Haushalt
zuständig. Diese Rollen werden nicht als konkurrierend, sondern als
ergänzend betrachtet. Bedingt durch die Umstände des modernen
Lebens lässt sich in Deutschland allerdings auch in muslimischen
Familien ein Wandel in dieser Rollenverteilung feststellen.
In vielen muslimischen Ländern besteht jedoch eine Diskrepanz
zwischen dieser Lehre und der alltäglichen Wirklichkeit. Benachteiligung
und Diskriminierung der Frauen in vielen Lebensbereichen, heutzutage
eine unverkennbare Realität, lassen sich eher auf die ethnisch bedingten
Sitten und traditionellen Gesellschaftsstrukturen zurückführen als auf
religiöse Grundsätze.
EHESCHLIEßUNG
Die islamischen Quellen machen für die Stabilität der gesellschaftlichen
Struktur die Familie verantwortlich. Deswegen beinhalten sie zahlreiche
soziale und rechtliche Regulierungen und Handlungsprinzipien, die für
die Stabilität dieser wichtigsten Lebensgemeinschaft sorgen. Ist eine
Muslimin oder ein Muslim geistig und körperlich in der Lage, die
erforderlichen Voraussetzungen und Verpflichtungen der Ehe zu erfüllen,
so obliegt ihr oder ihm die Gründung einer Familie. Während der
Geschlechtsverkehr in einer außerehelichen Beziehung sowohl für den
Mann als auch für die Frau verboten ist, ist er in der Ehe legitimiert. Ein
- 39 -
Verzicht auf das Sexualleben wie im Mönchtum oder Zölibat wird von
den islamischen Grundquellen verpönt. Neben der Schaffung einer
stabilen Gesellschaftsstruktur und der legitimen Befriedigung des
Sexualtriebs gilt auch die Zeugung von Nachkommenschaft ein
elementarer Zweck der Ehe.
5.2.4. GYNÄKOLOGIE
Die Konfliktfelder bei der Behandlung der muslimischen Patientinnen in
der Gynäkologie sind vielfältig und heterogen. Unterschiedliche
Religiositätsformen, aber auch andere Wirklichkeiten wie Bildungsgrad,
sozialer Status, Alter und individuelle Erfahrungen spielen bei der
Wahrnehmung und dem Erleben von Krankheit sowie bei
Entscheidungen im Krankheitsfall eine bedeutende Rolle.
SCHAMGEFÜHL
Ein elementares Thema im Umgang mit muslimischen Patientinnen in
der Gynäkologie ist das Schamgefühl und seine Erscheinungsformen.
Dieses im modernen Leben oft unterschätzte menschliche Gefühl kann
bei muslimischen Patientinnen und Patienten viele individuelle
Handlungs- und Entscheidungsformen beeinflussen. Wissenschaftliche
Studien innerhalb verschiedener religiöser Gruppen belegen, dass das
Schamgefühl unter den muslimischen Patientinnen am stärksten ist.
Diese Situation sollte nicht nur auf traditionell sittliche Handlungsformen
reduziert werden, denn das in den Hauptquellen der islamischen
Religion vorzufindende Verständnis von körperlicher Unversehrtheit und
Intimität prägt auch dieses Schamgefühl und die damit verbundenen
Handlungsformen eindeutig (Sure 24/30-1). Aus diesem religiösen
Kontext lassen sich die charakteristische Bedeckung des Körpers und
der
distanzierte
körperliche
Umgang
zwischen
Personen
unterschiedlichen Geschlechts, wenn sie nicht verwandt oder verheiratet
sind, ableiten. Solche Handlungsformen weisen somit eine islamischmoralische Dimension auf (Sure 24/30-1 und Sure 33/59).
Das führt dazu, dass viele muslimische Patientinnen auf die
Untersuchung
und
Behandlung
von
gleichgeschlechtlichem
medizinischem Personal großen Wert legen. Auch die Intensität und
Qualität des medizinisch erforderlichen Körperkontakts ist nicht
unwichtig. So hat eine gynäkologische Untersuchung durch einen
männlichen Arzt für eine muslimische Patientin nicht denselben
Stellenwert wie eine Blutdruckmessung durch denselben Arzt.
Der islamische Glaube erkennt den Krankheitsfall als Ausnahmezustand
an und deswegen wird der körperliche Kontakt in der medizinischen
Praxis nicht gleichgesetzt mit dem Körperkontakt im alltäglichen Leben.
- 40 -
Dabei sind Muslime genauso wie andere Bevölkerungsgruppen
keineswegs eine homogene Gruppe. So lassen sich im
gesellschaftlichen Leben unter den Muslimen auch unterschiedliche
Religiositätsformen und damit verbundene unterschiedliche Haltungen
feststellen.
KOMMUNIKATION
Wie in vielen anderen medizinischen Fachbereichen, so ist auch in der
Gynäkologie und Geburtshilfe die Kommunikation ein zentrales
Problemfeld. Nicht selten ist eine Dolmetschertätigkeit erforderlich, um
einen Mindestmaß an Verständigung zu erreichen. Dabei sollte darauf
geachtet werden, ob zwischen den Patientinnen und den übersetzenden
Person ein gewisses Autoritätsverhältnis existiert, da dadurch die freie
Entscheidung der Patientinnen gefährdet werden kann. Ebenso sollte
nicht vergessen werden, dass der Einsatz eines männlichen fremden
Dolmetschers während einer gynäkologischen Untersuchung für viele
muslimische Patientinnen ein Problem darstellt.
EMPFÄNGNISVERHÜTUNG
Als ein weiteres zentrales Thema in der Gynäkologie gelten Fragen, die
die Empfängnisverhütung betreffen. Aufgrund der zustimmenden
Haltung des Propheten Muhammad zur damaligen Verhütungspraxis
(den Coitus Interruptus) werden Verhütungsmaßnahmen im Rahmen
einer Familienplanung als erlaubt erklärt. Erlaubt sind Methoden, die
eine Befruchtung der Eizelle nur vorübergehend verhindern, wie der
Coitus Interruptus, ovulationshemmende Medikamente, chemische oder
mechanische Mittel (Vaginalschaum, Scheidendiaphragma, Kondome
etc.). Dagegen wird die Spirale (IUP: Intrauterines Pessar) von manchen
Gelehrten abgelehnt, weil sie nicht die Befruchtung, sondern die
Einnistung der befruchteten Eizelle verhindert und mit einer Abtreibung
verglichen werden. Eindeutig abgelehnt werden die irreversiblen
Verhütungsmethoden
wie
Sterilisation,
Kastration
und
Samenstrangdurchtrennung – es sei denn, dass eine schwerwiegende
medizinische Indikation vorliegt.
5.2.5. ALTERN
Das Altern gilt nach islamischem Menschenbild als Abschnitt des
menschlichen Lebens, der zur Natur des Menschen gehört. Betont wird
immer wieder, dass dieser natürliche Lebensabschnitt nicht auf einen
bloßen biologisch-organischen Vorgang des Körpers reduziert werden
darf. Zwar gilt das Jugendalter aufgrund der körperlichen Fähigkeiten
und des gesunden Zustandes wertvoll; es führt jedoch nicht dazu, dass
das Altern nicht wünschenswert sei und deswegen mit allen
- 41 -
Möglichkeiten
verschoben
oder
verheimlicht
(z.
B.
durch
Schönheitsoperationen) werden soll. Auch für Muslime gelten, eigene
Mobilität, die Fähigkeit alltäglichen Bedürfnissen selbst nachzukommen
und nicht pflegebedürftig zu sein, als wichtige Güter.
WÜNSCHE UND FAMILIÄRE VERPFLICHTUNGEN IM ALTER
Die Versorgung und Pflege der hilfebedürftigen Eltern gehören im
islamischen Glauben zu den wesentlichen Aufgaben der Kinder. Im
Koran heißt es dazu: „Und zu den Eltern (sollst du) gut sein. Wenn einer
von ihnen (Vater oder Mutter) oder (alle) beide bei dir (im Haus)
hochbetagt geworden (und mit den Schwächen des Greisenalters
behaftet) sind, dann sag nicht ‚Pfui!’ zu ihnen und fahr sie nicht an,
sondern sprich ehrerbietig zu ihnen, und senke für sie in Barmherzigkeit
den Flügel der (Selbst-)Erniedrigung und sag: ‚Herr! Erbarm dich ihrer
(ebenso mitleidig), wie sie mich aufgezogen haben, als ich klein (und
hilflos) war!’“ (Sure 17/23-24). Auch in vielen Aussprüchen des
Propheten Muhammad wird die Versorgungspflicht der Kinder
gegenüber ihren Eltern in den Vordergrund gestellt.
Aus unterschiedlichen Gründen kann diesen Verpflichtungen im
modernen Leben allerdings nicht immer nachgekommen werden. Die
Arbeitsbedingungen und die auf die Kernfamilie ausgerichteten, in der
Regel relativ kleinen Wohnungen lassen oft kaum Möglichkeiten für das
Zusammenleben in einer Großfamilie zu. Die Tatsache, die eigenen
Eltern nicht selbst versorgen bzw. pflegen zu können und sie in einem
Altersheim wohnen zu lassen, wird jedoch in einer muslimischen
Bevölkerung oft als verantwortungslose Haltung und Vernachlässigung
der elementaren familiären Pflichten gegenüber den Eltern verurteilt.
Mit dem Altern, einem unmittelbar vor dem Tod liegenden
Lebensabschnitt, ist bei den Muslimen oft eine Intensivierung der
religiösen Sensibilität festzustellen. Sowohl der ambulanten Pflege als
auch den für diese Menschen gedachten Altenheimen obliegt es, dieser
Sensibilität nachzukommen. Eine für den muslimischen Alltag geeignete
Raumgestaltung und einige organisatorische Maßnahmen in der Küche
wären für solche stationären Einrichtungen von zentraler Bedeutung.
Neben der Berücksichtigung der islamischen Speisevorschriften (z. B.
Schweinefleisch- und Alkohol-Verbot) sollte eine flexible Umordnung
während des Fastenmonats Ramadan in der Küche möglich sein.
Ebenso, dass besondere Räumlichkeiten wie ein Gebetsraum und ein
Besuchsraum, der für eine größere Besucherzahl ausgelegt ist,
vorhanden ist. Wichtig wäre es auch, für den Tod und die damit
verbundenen Rituale geeignete Räume zur Verfügung zu stellen. Gerade
- 42 -
auf Palliativstationen und in Hospizen sollten diese Gesichtspunkte
berücksichtigt werden.
- 43 -
5.2.6. STERBEBEGLEITUNG UND TOD
Durch das Älterwerden der Muslime steigt die Anzahl der Sterbenden in
Deutschland stetig. Mittlerweile sterben jährlich Tausende von Muslimen
in Deutschland, und ihre Leichen werden mehrheitlich in die Heimat
überführt. Viele Muslime verbringen ihre letzten Tage in deutschen
Krankenhäusern,
wo
sie
sich
mit
zahlreichen
Problemen
unterschiedlicher Art konfrontiert sehen.
Hier sollen nun einige grundlegende Informationen über das muslimische
Todesverständnis, die damit verbundene Sterbebegleitung und die
spezifischen Rituale vermittelt werden.
ISLAMISCHE ESCHATOLOGIE
Der Tod als existenzielle allgemeinmenschliche Erfahrung betrifft im
islamischen Glauben sowohl die Leiblichkeit als auch die Geistigkeit des
Menschen. Der Glaube an das Jenseits, an die Auferstehung nach dem
Tod sowie an das Jüngste Gericht gehört zu den wesentlichen
Glaubenssätzen des Islam. Der Koran versteht den Tod nicht als das
Ende des Menschen, sondern als Tor vom Diesseits zum Jenseits. Der
Tod wird als Heimkehr zum Schöpfer zu verstanden, denn im Koran
heißt es: „Wir gehören Gott und zu Ihm kehren wir zurück.“ (Sure 2/156).
Nach muslimischer Vorstellung verlässt die Seele nach dem
Sterbeprozess den Körper bis zum Tag der Auferstehung, an dem sich
beide wieder miteinander vereinen werden. Dort, so der Koran, wird der
Mensch über seine Taten vor Gott Rechenschaft ablegen und schließlich
wird über die Belohnung oder Bestrafung des Menschen entschieden.
DER LETZTE BESUCH
Nach
islamischem
Glauben
sollen
zwischenmenschliche
Angelegenheiten unter den Betroffenen geregelt werden. Wenn ein
Muslim gegenüber anderen Menschen einen Fehler begangen hat, so
soll er diese mit ihm regeln und nicht die Verzeihung von Gott erwarten.
Deswegen hat der letzte Besuch für jemanden, der kurz vor dem Sterben
steht und für seinen Bekanntenkreis eine zentrale Bedeutung.
Durch einen Besuch seinen Beistand zum Ausdruck zu bringen und
erforderliche Maßnahmen für eine Sterbebegleitung gehören zu den
religiösen Pflichten der Familienangehörigen und der Bekannten eines
Sterbenden. Solch ein Besuch, der auch eine Möglichkeit ist, über das
eigene Leben nachzudenken und sich selbst zur Rechenschaft zu
ziehen, wird in den Prophetenaussprüchen nachdrücklich empfohlen.
Aufgrund dieser Bedeutung kommt es in der medizinischen Praxis oft
vor, dass die sterbenden Muslime von einer großen Anzahl von
Bekannten besucht werden. In solchen Situationen wäre es gut, wenn es
- 44 -
zwischen dem medizinischen Team und der Familie zu Kompromissen
käme. So könnten z.B. den Besuchern einzelne und kurze Besuche
gestattet werden.
STERBEBEGLEITUNG,
TRAUER
RITUALE
BEIM
VERSTORBENEN
UND
Für eine Sterbebegleitung eines Muslims hat die Koranrezitation und
Artikulation des islamischen Glaubenssatzes eine zentrale Bedeutung.
Der Koran und ebenso der Glaubenssatz können von einem Vorbeter
(Imâm), aber auch von einem Muslim, der Arabisch lesen kann, rezitiert
und vorgesprochen werden. Bei einer solchen Koranrezitation wird oft
die 36. Sure (Yâ Sîn), die über das wahre Wesen des menschlichen
Lebens den Sterbenden als auch den Trauernden unterweist, gewählt.
Durch die Vorlesung dieser Sure soll auch der Sterbende in Ruhe und
Frieden, seine Seele seinem Schöpfer übergeben. Auch wenn die
Koranrezitation von außen als Belastung für den Sterbenden
wahrgenommen werden kann, wird immer wieder darauf hingewiesen,
dass sie für den muslimischen Sterbenden als ein beruhigender Akt gilt.
Die Sterbebegleitung ist in der islamischen Kultur nicht professionalisiert
und wird oft von den Angehörigen übernommen. Wenn aber der
sterbende Muslim niemanden hat oder die Familie sich überfordert fühlt,
so kann ein Imâm – wenn möglich nach Rücksprache mit dem im
Sterben liegenden Patienten oder der Familie – eingeladen werden. Für
ein Krankenhaus kann es deshalb sinnvoll sein, sich vorher die
Telefonnummern einiger Moscheegemeinden zu notieren. Ebenso
empfehlenswert ist es, für die ganze Sterbebegleitung ein Einbettzimmer
zur Verfügung zu stellen.
Nach dem Sterbeprozess sollen die Hände des Verstorbenen gekreuzt,
die Augenlider geschlossen und das Kinn mit einem Stück Stoff
festgeknotet werden. Dann wird die Kleidung ausgezogen und der
Körper in drei oder fünf Stoffbahnen gehüllt. Der Verstorbene gehört –
nach islamischen Glauben – der Erde, weswegen die Beisetzung
schnell, möglichst am selben oder am nächsten Tag stattfinden sollte.
Davor wird eine rituelle Waschung des gesamten Körpers durchgeführt.
Bei der Waschung, die von einer Person gleichen Geschlechts
durchgeführt werden muss, soll das Wasser weder zu heiß noch zu kalt
sein – wie bei einem lebendigen Menschen. Nach der Ganzwaschung
wird der Verstorbene dann mit einem weißen Tuch (türk. Kefen), dem
Totentuch, umhüllt und in einen einfachen Sarg gelegt. Auch dieses
Tuch soll einfach sein und keinen Saum haben, genauso wie das weiße
Tuch von Pilgern in Mekka. Die sanfte körperliche Behandlung des
Verstorbenen impliziert, dass der verstorbene Körper im islamischen
Glauben eine gewisse Unversehrtheit besitzt. Auch die körperliche
- 45 -
Sauberkeit durch die Ganzwaschung weist auf die symbolische
Vorbereitung – wie beim täglichen Gebet – dem Schöpfer zu begegnen,
hin.
Die Waschung des muslimischen Verstorbenen ist eine zentrale Pflicht
der Hinterbliebenen. Sie kann nicht in allen Krankenhäusern problemlos
durchgeführt werden, weil dafür ein Raum nötig ist, der bestimmte
Anforderungen dieses Rituals erfüllen muss. Als Notlösung können die
Obduktionstische in Pathologiesälen empfohlen werden, da dort auch die
Möglichkeit besteht, dass das für die Waschung benutzte Wasser
abfließen kann.
Eine der wichtigsten Pflichten der muslimischen Gemeinde dem
Verstorbenen gegenüber ist die Verrichtung des Totengebets durch
einen Vorbeter (Imâm). Der muslimische Verstorbene wird im Grab auf
die rechte Seite gelegt und das Gesicht nach Mekka gerichtet wie beim
fünfmaligen Gebet.
Eine Trauer mit Schreien und Wehklagen wird vom Propheten nicht
empfohlen. Es wird statt dessen nahegelegt, den Verstorbenen mit
seinen guten Taten in Erinnerung zu rufen. In der Praxis kommt es
allerdings nicht selten zu dramatische Szenen, die als Ausdruck der
Liebe der Hinterbliebenen zu dem Verstorbenen interpretiert werden
können. Für solche Situationen ist ein möglichst glaubensneutraler
Abschiedsraum sehr empfehlenswert.
5.2.7. WAS IST NACH DEM TOD EINES MUSLIMS WICHTIG?
Nach dem Sterbeprozess gehört der Verstorbene der Erde, weswegen
die Beisetzung schnell, möglichst am selben oder am nächsten Tag
stattfinden sollte. Davor wird von einer gleichgeschlechtlichen Person
eine rituelle Waschung des gesamten Körpers unter fließendem Wasser
durchgeführt und anschließend das Totengebet unter Leitung eines
Imâms verrichtet, an der viele Gläubige teilnehmen sollten. Sowohl die
schnelle Beisetzung des Toten als auch die rituelle Waschung sind in
Deutschland mit mehreren, eher organisatorischen Schwierigkeiten
verbunden. Zwar gibt es z. B. in Deutschland mehrere muslimische
Grabfelder, allerdings kann man die verstorbenen Muslime auch dort
nicht nach islamischen Riten begraben.
5.3. PSYCHIATRIE
Unter den medizinischen Fächern nimmt die Psychiatrie eine gewisse
Sonderstellung ein, da nicht nur die Ausgestaltung des Krankheitsbildes
selbst, sondern auch die Verarbeitung der Erkrankung in hohem Maße
von der Persönlichkeit des Patienten und seinem kulturellen Hintergrund
- 46 -
beeinflusst wird. Bei Muslimen existiert hierbei ein deutlicher
Überschneidungsbereich zwischen Kultur und Religion, da für
praktizierende Muslime ihre Religion eine (geheiligte) Lebensweise
darstellt. Sie lassen Gott in allen Dingen des Alltags wirken: Gebet,
Speiseregeln, finanzielle Belange, Befolgen gewisser Verhaltensregeln
nach dem Vorbild des Propheten etc. Und so bewegen sich sowohl
praktizierende Muslime als auch Therapeuten quasi immer auf
religiösem Gebiet.
Eine schwere psychische Krankheit wie zum Beispiel eine
Schizophrenie, in der die „natürlichen Selbstverständlichkeiten“ des
Alltags verloren gehen, oder eine schwere Depression kann zu großen
religiösen Verunsicherungen führen, besonders wenn sie noch mit einer
stationären Aufnahme verbunden sind, bei der sich der Betreffende an
eine anonyme, öffentliche Institution ausgeliefert sieht.
Auch muslimische Patienten neigen dazu, sich ihre Krankheiten zu
erklären und greifen dabei auf kulturelle und ggf. religiöse Grundmuster
zurück. Oft besteht die Vorstellung, von einem bösen Dschinn besessen
zu sein, einer Art Geistwesen aus dem Koran (Sure 15/27; Sure 46/2931; Sure 6/130), die zu den Geschöpfen Gottes und zu den so
genannten verborgenen Dingen zählen, von denen wir nicht viel wissen.
Dennoch hat der islamische Volksglaube die Existenz von Dschinnen
stark ausgestaltet und ihnen spezielle Gestalten gegeben und
Einflusssphären zugeordnet. Während Dschinne Bestandteil des
islamischen Glaubens sind, lehnt der Islam Zauber und Magie mit Bezug
auf den Koran scharf ab (Sure 27/65). Trotzdem sind sie aber im
Volksislam weit verbreitet. Viele muslimische Patienten, die psychisch
erkrankt sind suchen daher nicht selten auch einen traditionellen Heiler
auf, zumeist heimlich, da sie eine Ablehnung durch ihren Arzt
befürchten. Therapeuten könnten hier eine Ressource ihrer Patienten
wahrnehmen und dieses Thema taktvoll ansprechen, allein schon um
alle wichtigen Einflüsse auf ihren Patienten zu kennen.
An dieser Stelle ist es wichtig zu wissen, ob dieser traditionelle Heiler
wirklich dem Patienten in seiner schwierigen Situation helfen will oder ob
dahinter eher eine finanzielle Ausnutzung/Ausbeutung des Patienten
steckt. Weiterhin, ob der traditionelle Heiler die psychiatrische
Behandlung hintertreibt (z. B. von der Medikamenteneinnahme abrät
oder solche Therapieformen verbannt etc.) oder unterstützt.
Aus
islamischer
Sicht
bestehen
Einschränkungen
für
die
Medikamenteneinnahme nur insofern, dass Tropfen mit alkoholischen
Lösungen verboten sind und während des Ramadan die Fastenregeln
möglichst eingehalten werden, was bei neueren Medikamenten durch die
tägliche Einmalgabe oder Retardpräparate ohne Schwierigkeiten möglich
- 47 -
ist. Darüber hinaus benötigen muslimische Patienten natürlich dieselben
Maßnahmen zur Sicherung von Compliance und Therapiemotivation wie
alle anderen auch.
Bei psychiatrischen Patienten, denen es schwer fällt, ihren Tag zu
organisieren, sollte die Pflege die Beibehaltung des religiös geprägten
Tagesablaufes in dem Maße unterstützen, wie er vor der Erkrankung
bestand, auch wenn er aus der persönlichen Sicht der Helfenden nicht
zeitgemäß oder unverständlich scheint. Ist der Patient Mitglied einer
Moscheegemeinde, so kann eine Kontaktaufnahme mit dem Imâm
hilfreich sein, allerdings nur nach Rücksprache und mit Erlaubnis des
Patienten, da viele die nicht unberechtigte Befürchtung hegen, dass in
der Gemeinde viel geredet und noch mehr hinzugedichtet wird, und der
Patient um seinen Ruf fürchten muss.
Bei stationären Aufenthalten in der Psychiatrie ist darauf zu achten, dass
praktizierende Muslime in vielen Fällen Schwierigkeiten damit haben,
Bewegungstherapie, Wassergymnastik, Krankengymnastik o. ä.
gemischtgeschlechtlich durchzuführen. Die Situation sollte ebenfalls
taktvoll angesprochen und nach Ersatzmöglichkeiten gesucht werden.
Auch kann es in der Ergotherapie, z. B. bei der Modellierung mit Ton, zu
Problemen kommen, da der Islam die Herstellung von Skulpturen
ablehnt. Des Weiteren ist es nicht selbstverständlich, dass in
Stationsrunden oder Gruppentherapien Männer und Frauen
zusammensitzen und über ihre persönlichen Probleme berichten.
Entscheidend für einen möglichst konfliktfreien und angemessenen
Umgang mit muslimischen Patienten in der Psychiatrie ist ein echtes
Interesse an deren Lebenswelt und die Akzeptanz ihres Andersseins.
Die individuellen Unterschiede in den religiösen Auffassungen und
kulturellen Prägungen der Patienten sind zum Teil so groß, so dass man
nach den Wünschen und Bedürfnissen fragen sollte (Gelegenheit zum
Gebet, Vorhandensein eines Teppichs, Wissen um die Gebetsrichtung
usw.). Erfahrungsgemäß wirkt sich schon die höfliche und ehrlich
gemeinte Frage positiv aus und beweist eine Anteilnahme, die dem
Patienten ein Vertrauen ermöglicht, ohne das eine Therapie nur
schwerlich gelingen kann.
Die oben genannten Informationen können nur Empfehlungen sein, da
die spezifischen Bedürfnisse von der individuellen Religiosität des
muslimischen Patienten abhängen. Bekanntermaßen sind diese – wie
auch bei christlichen Patienten – nicht homogen.
- 48 -
5.4. Onkologie
Es ist bekannt, dass die Diagnose „Krebs“ für alle Menschen und ihre
Betroffenen eine schlagartige Veränderung in ihrem Leben bedeutet.
Genauso wie bei anderen Menschen werden auch bei muslimischen
Patienten die Familie und das soziale Umfeld bei einer solchen Situation
mit involviert. Der Verarbeitungsprozess findet oft unter der
Einflussnahme der religiösen Prägungen statt. Neben der medizinischen
Behandlung erfordert dieser Prozess auch einen sozialen Beistand
sowie eine seelische Betreuung. In der medizinischen Versorgung der
muslimischen Patienten kommt in der Onkologie der kultursensiblen
kommunikativen Kompetenz des medizinischen Teams eine besondere
Bedeutung zu. Leider gibt es in Deutschland bis jetzt keine spezifischen
Konzepte
und
psychosoziale
Versorgungsstrukturen
für
die
muslimischen Patienten. Es wäüre ein krankenseelsorgerisches Konzept
nötig, das auf das muslimische Verständnis von Krankheit und Tod
basiert.
Außerdem sind die Behandlung und der Umgang mit muslimischen
Patienten auf onkologischen Stationen mit mehreren kulturspezifischen
Konfliktfeldern verbunden. Die eigenartige Wahrnehmung der Krankheit
„Krebs“ prägt unter dieser Bevölkerung zugleich auch eine Einstellung zu
dieser Krankheit. Die soziale Schichtzugehörigkeit und der damit
verbundene Informationsdefizit zum Thema Krebs und deren
Entwicklungsstadien bzw. Therapiemöglichkeiten führen oft dazu, dass
eine Krebsdiagnose – auf Türkisch Kanser – mit einem Todesurteil
gleichgesetzt wird und zu einer Paniksituation führt. Die enormen
Fortschritte bei der Krebsbehandlung in den letzten Jahren sind oft
unbekannt und man geht deswegen bei der Diagnose Krebs von einer
schnell zum Tode führenden Krankheit aus.
Die Mitteilung der Diagnose Krebs erweist sich – wie bei anderen
Menschen – bei der medizinischen Versorgung der muslimischen
Patienten als ein konfliktträchtiges Feld. Aufgrund der oben genannten
Wahrnehmungsformen ist ein äußerst vorsichtiges Vorgehen geboten.
Eine kultursensible Kommunikation ist zwar mühsam und schwierig, es
kann sich jedoch bei einer erfolgreichen Durchführung mit einer
besseren
Compliance
(Therapiebefolgung)
zurückzahlen.
Die
Erfahrungen aus der medizinischen Praxis zeigen, dass eine andere
Wortauswahl z. B. „Tumor“ anstatt „Krebs“ bei der Patientenaufklärung –
falls das medizinisch und ethisch vertretbar ist – noch nützlicher sein
kann.
Dabei können die aufbereiteten Informationsbroschüren über Krebs für
Muslime in ihren Muttersprachen bei der Patientenaufklärung hilfreich
sein. Manche davon sind jedoch mit Vorsicht zu genießen, weil viele
- 49 -
Übersetzungen ins Deutsche das Bildungsniveau und den kulturellreligiösen Hintergrund der Patienten nicht berücksichtigen. Diese
Broschüren sollten von professionellen Übersetzern, die kulturspezifischmedizinische Kenntnisse besitzen, mit einer einfachen Sprache
didaktisch und inhaltlich gut aufbereitet werden. So sollte
mehrsprachiges für Patienten verständliches Informationsangebot in
allen Einrichtungen des Gesundheitswesens verstärkt werden.
In der Praxis wird von den Angehörigen eines muslimischen Patienten
oft der Wunsch geäußert eine infauste Diagnose und Prognose der
betroffenen Person nicht mitzuteilen. Durch das Vorenthalten einer
schlechten Diagnose und Prognose möchten die Familienangehörigen
den Patienten schonen und sein Wohlbefinden nicht beeinträchtigen.
Diese Praxis ist in den muslimischen Ländern – anders als in
Deutschland – eine weit verbreitete Vorgehensweise. Wie soll aber ein
deutscher Arzt mit dieser Situation umgehen? Wie soll das Recht auf
Wissen als natürliche Konsequenz der Patientenautonomie in solchen
Situation realisiert werden? Kann das Recht auf Nicht-Wissen allein
durch den Wunsch der Familienangehörigen bevorzugt werden? Wie
sollen und können die ethischen Implikationen der Patientenautonomie
in
einem
interkulturellen
Arzt-Patienten-Angehörigen-Verhältnis
konkretisiert werden? Was ist die Reichweite der kulturbedingten
Präferenzen im Gesundheitswesen einer wertpluralen Gesellschaft?
Es dürfte ersichtlich sein, dass eine auf die Routine reduzierte
Vorgehensweise in solchen Situationen kaum eine Lösung anbieten
kann. Die wesentliche Herausforderung besteht in diesen Fällen darin,
herauszufinden, ob der Patient dem geäußerten Wunsch der
Familienangehörigen zustimmt. Es soll aber zugegeben werden, dass
die Feststellung dieser Einstellung aufgrund der sprachlichen und
kulturellen Barrieren sehr schwierig sein kann. Eine weitere
Schwierigkeit besteht in der Durchführung bestimmter medizinischer
Maßnahmen. Der Erfolg solcher medizinischen Einsätze erfordert eine
Einwilligung des Patienten, die wiederum ohne Aufklärung nicht
entstehen kann. Deswegen darf die Weitergabe oder das Vorenthalten
einer Krebsdiagnose in der Onkologie nicht auf das Recht auf Wissen
und Nicht-Wissen reduziert werden.
Ähnliche Problemfelder sind auch bei der Krebsbehandlung der Kinder
muslimischer Eltern vorstellbar. Die allgemeine Schwierigkeit den
Kindern die Diagnose Krebs mitzuteilen, gewinnt in einem interkulturellen
Kontext eine zusätzliche Komplexität. Dabei ist nicht außer Acht zu
lassen, dass ein Therapieerfolg unmittelbar mit der gelungenen
Aufklärung der Eltern verbunden ist. Diese erfordert wiederum
Überwindung der sprachlichen und kulturellen Barrieren.
- 50 -
Die praktischen Erfahrungen zeigen, dass die unterschiedlichen
Krebsfrüherkennungsuntersuchungen von muslimischen Patienten
signifikant wenig genutzt werden. Durch dezidierte und zielgerichtete
Aufklärungskampagnen können in diesem Bereich sehr viel erreicht
werden.
5.5. Kinder- und Jugendmedizin
In der Kinder- und Jugendmedizin ist das klassische Arzt-PatientenVerhältnis oft durch die Eltern erweitert. Abhängig vom Alter des Kindes
verändert sich auch die Rolle und Einflussnahme der Eltern bei der
medizinischen Versorgung. Nicht selten entstehen in der medizinischen
Praxis Probleme und Konflikte bei der Behandlung der Kinder
ausländischer Eltern, die zu sprachlichen und kulturellen Barrieren
zurückzuführen sind. Berücksichtigt man den ständig ansteigenden
Anteil der ausländischen bzw. muslimischen Kinder in der gesamten
Bevölkerung in Deutschland, so erreichen diese Probleme in der Kinderund Jugendmedizin eine signifikante Größe. In manchen Kinderkliniken
und Kinderarztpraxen steigt sogar der Anteil der ausländischen Kinder
bis zu 50 %, wo die Ärzte und das Pflegepersonal sich in vieler Hinsicht
überfordert fühlen. Eine fundierte Analyse zeigt, dass diese Probleme
nicht nur auf die religiösen Überzeugungen zurückzuführen sind,
sondern auch zu sozialen und traditionell sittlichen Einstellungen.
Deswegen erfordert eine Konfliktlösung in der Kinder- und
Jugendmedizin oft eine differenzierende Analyse des Problems.
Die Kommunikation stellt in der Kinder- und Jugendmedizin – wie in
anderen medizinischen Bereichen auch – ein wichtiges Problemfeld dar.
Oft ist eine gelungene Verständigung vor allem mit der Mutter nötig, um
einen Mindestmaß an medizinischer Versorgung zu gewährleisten. Sie
beherrschen wiederum oft die deutsche Sprache nicht und benötigen
deswegen eine Übersetzungshilfe von außen. Die Dolmetschertätigkeit
alleine darf jedoch nicht immer als Lösung der ganzen
Kommunikationsprobleme betrachtet werden. Nicht selten führt eine
Übersetzungstätigkeit selbst zu ethischen Schwierigkeiten.
Der islamische Glaube legt einige Rechte und Verpflichtungen im ElternKind-Verhältnis fest. So sind die Eltern verantwortlich für die
Durchführung erforderlicher Maßnahmen, um die Gesundheit ihres
Kindes zu bewahren und im Krankheitsfall wiederherzustellen. Das Kind
hat einen Anspruch auf körperliche Unversehrtheit und auf präventive
und kurative Gesundheitsfürsorge. Vater und Mutter sind dem Koran
zufolge verpflichtet, für den Lebensunterhalt und die Kleidung ihrer
Kinder zu sorgen (Sure 2/233). Sicherlich werden diese elterlichen
Verpflichtungen nicht isoliert vom eigenen Glauben und den eigenen
- 51 -
Wertvorstellungen wahrgenommen und praktiziert. Aus der Perspektive
der muslimischen Eltern wird oft der Wunsch nach Achtung der
islamischen Speisevorschriften – z. B. schweinefleischfreie Kost für ihr
Kind – geäußert. Ebenso besteht häufig der Wunsch, dass Mädchen ab
der Pubertät von einer Ärztin untersucht und von einer
Krankenschwester betreut werden.
Neben diesen Konfliktbereichen beeinflussen andere traditionell sittliche
Einstellungen der muslimischen Eltern den Umgang mit ihren kranken
Kindern. Oft werden die somatischen Symptome (Fieber, Husten,
Appetitlosigkeit, Schmerzen, Hautausschlag etc.) der Kinder mit einer
besonderen Aufmerksamkeit wahrgenommen und danach wird sofort ein
Arzt
aufgesucht.
Dagegen
werden
psychische
Symptome
(Lernschwierigkeiten, Aggression, Depression etc.) oder seelische
Entwicklungsstörungen oft verkannt, übersehen oder verdrängt.
Deswegen gewinnen bei den Kindern solcher Familien die regelmäßigen
Kontrolluntersuchungen (U1-9) eine zusätzliche Bedeutung. Es ist oft
Aufklärungsarbeit nötig, um die Familien von der Wichtigkeit dieser
Untersuchungen zu überzeugen. Wahrscheinlich führt die allgemeine
Vorstellung, dass man erst nach Ausbruch einer Erkrankung einen Arzt
besucht dazu, dass die Bedeutung präventiver Untersuchungen verkannt
und unterschätzt wird.
Eine besondere Schwierigkeit erlebt man in der Praxis, wenn es um
chronische Kinderkrankheiten und die damit verbundenen medizinischen
Maßnahmen geht. Eine optimale medizinische Versorgung dieser Kinder
hängt von einer intensiven Aufklärung der Eltern ab. Sie sollten über den
Charakter der chronischen Krankheit, die damit verbundenen
medizinischen Maßnahmen, Umgangsformen und Diätvorschriften
ausführlich und gegebenenfalls in ihrer Muttersprache informiert werden.
6. Krankheit und Tod im Buddhismus
Im Buddhismus geht es um die Erkenntnis, dass man nicht der eigene
Körper ist, sondern diesen hat und ihn darum möglichst sinnvoll - wie
ein Werkzeug - nutzen sollte. Was man als "Selbst" erlebt, sei in
Wirklichkeit nichts anderes als ein unzerstörbarer und unbegrenzter
Strom von Bewusstsein.
6.1. Krankheitsdeutung
Die buddhistische Lehre besagt, dass für die Entstehung von Krankheit
und Leid zweierlei Arten von Ursachen verantwortlich sind: die inneren
und die äußeren.
- 52 -
Die inneren Ursachen gingen dabei den äußeren voraus, denn ohne der
Anhaftung und den daraus resultierenden unheilvollen Handlungen
könnten die äußeren Ursachen und Bedingungen gar nicht erst
entstehen. Alles entstehe aus dem Geist und sei durch den Geist
bedingt. Hier liegt denn auch der Schlüssel zu Heilung und Gesundheit,
und dies meint nicht nur die Genesung von Erkrankungen, sondern auch
das Bestreben, keine neuen Krankheitsursachen zu schaffen.
Die eigentliche Lösung der Frage nach den Ursachen liegt für die
buddhistische Lehre in den inneren Ursachen, im Geist selbst und
seinen negativen Eindrücken aus unheilsamen Handlungen. Äußere
Umstände gelten nur als die Bedingungen und nicht die
Hauptverursacher der Erkrankung.
Deshalb würde auch jemand, der die innere Ursache für eine Krankheit
nicht in sich trägt, auch dann gesund, wenn er infiziert wird. Die innere
Ursache, der negative karmische Eindruck im Geistesstrom, sei bei
diesem Menschen nicht vorhanden. Wer sich hingegen die innere
Ursache geschaffen hat, würde mit Sicherheit erkranken, solange er
nichts tut, um diesen Umstand zu verändern.
Erst dann, so lautet die Botschaft des Buddhismus, wenn wir klar
verstehen, dass es neben äußeren Gründen auch innere gibt, können
wir unsere Lebensprobleme überwinden. Ein (äußeres) Problem
entstehe nämlich immer wieder neu, wenn die Ursachen dafür immer
wieder aufs neue geschaffen werden. Deshalb, selbst wenn eine
Krankheit durch Medikamente oder chirurgische Eingriffe geheilt wird,
könne die Person, wenn sie danach erneut die krankmachenden
Ursachen und Bedingungen erschafft oder beibehält, wieder erkranken
und muss erneut behandelt werden.
Für den Heilungsprozess sei auch die Überwindung von festgefahrenen
Vorstellungen über die Erkrankung selbst wichtig, etwa in der Form:
„Weil ich Krebs habe, werde ich sterben" oder „Wenn ich keinen Krebs
habe, werde ich noch lange leben". Solche Auffassungen würden in die
Irre führen, denn die Gesundheit, das Leben und das Glück würden
davon abhängen, ob und wie gut wir diese falschen Vorstellungen
durchbrechen.
Schwere Krankheiten sind lebensbedrohlich, wenn es keine Arzneien
gibt, durch die man (vollständig) geheilt werden kann. Dennoch zählen
Alter, Krankheit, Tod und viele andere Probleme zu unserem Leben, zu
seinen grundsätzlichen Bedingungen überhaupt. Das Verschließen vor
dieser Realität und das Verleugnen der eigenen Sterblichkeit führe in
eine Sackgasse und erzeuge negative Gefühle wie beispielsweise Angst,
die in der Folge wieder Erkrankungen nach sich ziehen.
- 53 -
Ganz im Gegenteil, so legt es der Buddhismus nahe, sollten wir die
Einstellungen zu unserem Lebens verändern und mit Vorbereitungen
beginnen, um letztlich, nach einem erfüllten Leben, eines glücklichen
Todes zu sterben.
Selbst wenn wir nur einem Wesen Frieden und Glück bringen, erfüllt sich
nach buddhistischer Lehre der Sinn unseres Lebens. Im Buddhismus ist
es das letztendliche Ziel unseres Daseins, eins zu werden mit allem und
darum auch, Probleme und Krankheiten anderer auf uns zu nehmen,
unser Leben für andere hinzugeben, so wie es unzählige Bodhisattvas
(aber auch Jesus am Kreuz) taten. Diese Haltung zerstöre die falsche
Vorstellung von einem aus sich selbst heraus existierenden Ich und die
daraus folgende Selbstsucht. Dadurch könne sich das Potential unseres
Geistes entfalten und wir könnten erfahren, dass nicht Gesundheit das
Wichtigste im Leben ist. Gleich ob man gesund oder krank ist, ob das
Leben leicht oder schwierig ist, wichtig sei, dass man nicht anhaftet. Die
Anhaftung nämlich mache den Geist unklar und verwirrt - und mache
noch unzufriedener.
Das falsche Ich wird als den Urheber aller Probleme, aller Krankheiten
und Fehlschläge im Leben betrachtet. Und die Selbstsucht, die aus dem
falschen Ich erwächst, als die folgenschwerste Erkrankung. Denn nicht
der Tod an sich sei bedrohlich, bedrohlich mache den Tod nur eine
selbstsüchtige Haltung. Menschen verleugneten deshalb den Tod und
klammerten sich an das Leben an, möchten es nicht loslassen. Die
selbstsüchtige Haltung erachte das eigene Ich als kostbarer und
wichtiger als ein anderes Lebewesen und will nicht akzeptieren, dass alle
durch den Tod gehen müssen. Die Angst vor ihm ist nach buddhistischer
Lehre aber nur eine Projektion, eine falsche Vorstellung des - verwirrten
- Geistes. Die tiefe Wertschätzung anderer nimmt dem Tod deshalb, wie
es buddhistische Lehrer unermüdlich verkünden, alles Beängstigende
und Schwierige.
Die Selbstsucht hingegen schade Tag für Tag. Sie sei die Ursache von
Erkrankungen und die Wurzel negativer Handlungen. Sie bringe
Menschen dazu, einander weh zu tun und Probleme zu bereiten.
Eine Veränderung dieser Einstellungen sei deshalb das Wichtigste. Der
Geist müsse von jener Haltung befreit werden, die all die Krankheiten
und Probleme schafft. Das ist Ziel und Aufgabe von Heilmeditationen,
wie etwa der Meditation des Nehmens und Gebens (tong len) des
tibetischen Buddhismus, in der man selbstlos das Leid von anderen
Menschen auf sich nimmt und sein eigenes Glück und seine Verdienste
voll Güte an andere Wesen weitergibt.
Man geht davon aus, dass Heilmediationen zur Linderung und Auflösung
negativen Karmas und zur Stärkung des Mitgefühls kräftigen zugleich
- 54 -
den Körper gesund erhalten. Wichtig sei aber auch die entsprechende
Disziplin, Meditationen und Reinigungsübungen auch dann konsequent
durchzuführen, wenn man im gewohnten Alltagsleben mit seinen
vielfältigen Anforderungen und Schwierigkeiten steht (um nicht wieder
ins Chaos zu versinken).
Empfohlen wird, Heilmeditationen (wie die des Nehmens und Gebens)
während der morgendlichen und abendlichen Mediationspraxis zu üben.
Doch auch sonst sei es wichtig, den Kreislauf der negativen Gedanken
zu durchbrechen. Dazu soll man seine Aufmerksamkeit, sobald der
Gedanke an ein Problem entsteht (ganz gleich, womit wir im Moment
gerade beschäftigt sind) auf eine altruistische Vorstellung lenken, wie
„Ich bin hier, um anderen zu dienen" oder „Ich erfahre diese Erkrankung
anstelle aller Lebewesen". Diese Haltung ließe, so z.B. Lama Zopa
Rinpoche, die Anspannung im Herzen verschwinden, die aufgrund von
Selbstsucht entsteht. Und sie fördere die Entwicklung.
Für ein langes Leben, Gesundheit und Erfolg, weltliches und
letztendliches Glück, so die buddhistische Überzeugung, brauchen wir
Verdienst, positive Energie. Das sei das Gesetz des Karmas, das Gesetz
von Ursache und Wirkung.
Je mehr Verdienst anhäuft würde, desto mehr „Zinsen" (langes Leben,
Gesundheit und Glück) ließen sich auch erwerben - letztlich um damit
auch wieder das Glück und das Wohl der Wesen zu erwirken, in
Harmonie mit allen und mit der Welt.
6.2. Der Tod
Nach buddhistischer Überzeugung verlässt das Bewusstsein im Moment
des Todes den sterbenden Körper, um sich - gesteuert durch
unbewusste Eindrücke im Geist, also Karma - nach einer bestimmten
Zeit wieder mit einem neuen Körper zu verbinden. Daher ist Sterben für
einen Buddhisten in letzter Konsequenz etwas ähnliches wie "Kleider
wechseln".
Erleuchtete seien dann nicht mehr von diesem Prozess abhängig. Sie
könnten ihren Sterbevorgang bewusst steuern, um eine Wiedergeburt zu
erlangen, in der sie für möglichst viele Menschen nützlich sind. Im
Diamantweg wird eine Möglichkeit empfohlen, sich zusätzlich durch die
Meditation des bewußten Sterbens (tibetisch: Phowa), die während des
natürlichen Sterbeprozesses durchgeführt wird, das Bewusstsein in
einen befreiten Zustand überführen.
Wenn in vielen Religionen der Tod der endgültige Abschluss des Lebens
gilt, so gilt das nicht für den Buddhismus. Hier ist der Tod nichts weiter,
als ein Schritt auf dem Weg ins Nirwana.
- 55 -
6.2.1. Der Tod – Ein Anlass zur Freude
Auf den ersten Blick mag es verwunderlich wirken, dass im Buddhismus
um einen Toten nicht getrauert wird, sondern er viel mehr als ein Anlass
zur Freude gilt. Der Kern der buddhistischen Lehre ist davon geprägt,
dass es kein beständiges Ich, keine Seele gibt. Aus dieser Überzeugung
heraus erscheint es logisch und sinnvoll den Tod nicht zu betrauern,
denn der Körper ist danach lediglich eine Leihgabe um dem Karma zu
folgen, der Lehre von Ursache und Wirkung. Nach dem Tod wird der
Körper verlassen und der Mensch wird in einem neuen Körper
wiedergeboren. Dieser Leidenskreislauf, wie er zum Beispiel auch im
buddhistischen Rad des Lebens dargestellt wird, hält so lange an, bis
der Weg zur Erleuchtung vollendet ist. Der Edle Achtfache Pfad gilt
dabei als Weg, der zum Austritt aus dem Leidenskreislauf führt.
6.2.2. Wiedergeburt ist keine Seelenwanderung
Häufig wird das buddhistische Konzept der Wiedergeburt mit der
Seelenwanderung verwechselt oder gleichgesetzt. Da es in Buddhas
Lehre aber keine Seele gibt, kann eine Wanderung selbiger auch nicht
stattfinden. Die Wiedergeburt im buddhistischen Sinne ist ein
Bedingungszusammenhang, in welchem das Karma vollends zur
Entfaltung kommt und ein bestimmter Zustand einen späteren bestimmt.
Die Wiedergeburt erfolgt direkt nach dem Tod, so wird beispielsweise
auch das Geschlecht des Kindes nicht etwa durch das Zusammentreffen
von x- und y- Chromosomen bestimmt, sondern viel mehr durch die
Lehre von Ursache und Wirkung.
6.2.3. Sterbebegleitung im Buddhismus
Das Phowa ist eine Meditationspraxis, welche besonders im tibetischen
Buddhismus Anwendung findet und den Sterbenden in seinen letzten
Stunden begleiten soll. Es handelt sich dabei um eine
Bewusstseinsübertragung, die zu den Sechs Yogas von Naropa gezählt
wird, eine zusammenfassende Bezeichnung für ein in sich
geschlossenes Curriculum fortgeschrittener, tantrischer
Meditationstechniken des Vajrayana-Buddhismus. Gemäß dieser Lehre
verlässt das Bewusstsein nach dem Tod den Körper durch eine von
neun Körperöffnungen, welche auch als Tore zu den sechs Bereichen
der Wiedergeburt gelten. Eine zehnte Öffnung, die auch Brahmanische
Öffnung genannt wird, liegt auf dem Mittelpunkt des Scheitels, der
Fontanelle. Mit Hilfe der Phowa Meditationspraxis soll dieses zehnte Tor
geöffnet werden.
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6.2.4. Das Begräbnis
Eine konkrete Form des Begräbnisses gibt es im Buddhismus nicht. Die
Art und Weise der Beisetzung ist stark von regionalen Einflüssen
abhängig und kann je nachdem, ob die Zeremonie beispielsweise in
Japan, Tibet oder China stattfindet, vollkommen anders aussehen.
Oftmals gelten Stupas, die von ihrem Ursprung her als Grabhügel
dienten, als Begräbnisort und Stätte der Ehrerbietung für besondere
Menschen, oft auch solche, welche die Buddhaschaft erreicht haben.
- 57 -
7. „Moderne“ Erklärungsmodelle
7.1. Bio-medizinisches Modell
Unter Ärzten hier in Deutschland gilt das bio-medizinische Modell als das
derzeit grundlegende und dominierende Erklärungsmuster. Historisch
entwickelte es sich seit dem Ausgang des Mittelalters, der Etablierung
des Ärztestandes und dem Aufkommen der wissenschaftlichen
Ausbildung der Ärzte. Seit dieser Zeit geriet der Umgang mit Krankheiten
immer mehr in den Zuständigkeitsbereich des Arztes. Gleichzeitig
wurden diese immer weniger als eine Angelegenheit der Kirche, der
Seelsorge, der Familie oder des Individuums betrachtet. Besonders
durch die Erfolge der wissenschaftlich begründeten Medizin bei der
Bekämpfung der Infektionskrankheiten im 19.Jhd. setzte sich dieses
Krankheitsmodell bis zum letzten Viertel des 20. Jahrhunderts in den
westlichen Industrienationen fast konkurrenzlos durch.
Das bio-medizinische Erklärungsmodell basiert auf der Annahme, dass
jede Erkrankung auf bestimmte und erkennbare biologische Ursachen
zurückgeführt werden kann. Diese Ursachen führen danach zu einer
Schädigung von Zellen oder Gewebe oder zu einer Disregulation von
mechanischen oder biochemischen Prozessen. Aufgrund der äußeren
Anzeichen einer Krankheit( Symptome ), erstellen wissenschaftlich
ausgebildete Ärzte eine Diagnose und sprechen darauf hin
Therapieempfehlungen aus. Aus dieser Sicht heraus lassen sich
Krankheitsverläufe beschreiben und vorhersagen. Die angebotenen
Therapien basieren vor allem auf Maßnamen mechanischer Korrekturen,
strahlentechnischer Interventionen, biochemischer Bekämpfung von
Erregern, der Substitution von körpereigenen Stoffen und der
Beeinflussung des Stoffwechselgeschehens durch Zuführung von
bestimmten Substanzen.
Dieses Erklärungsmodell beschreibt den Ursache-WirkungsZusammenhang grundsätzlich auf einer rein körperlicher Ebene. Als
Ursachen werden dabei, abgeleitet aus der Erforschung der
Infektionskrankheiten, vor allem das Eindringen oder die Einwirken
äußerer Ursachen (Mikroorganismus, Verletzung) verstanden. Später
wurde dann, im Zuge der Erforschung von Stoffwechselerkrankungen,
auch Fehlfunktionen interner Steuerungsmechanismen als
Erkrankungsursache angesehen.
Seit der zunehmenden Verbreitung der sog. Zivilisationskrankheiten
sowie chronischer Erkrankungen in den Industrienationen gegen Ende
des 20 Jahrhunderts regt sich nun allerdings immer mehr Kritik an
diesem Erklärungsmodell. Einerseits kämpften die Vertreter der
"Alternativmedizin" um eine Erweiterung der Sicht von Krankheit und um
ein seriöses Image ihrer alternativen Heilweisen. Anderen wiederum
- 58 -
erscheint besonders die Verknüpfung der "Schulmedizin" mit der
Pharma- und medizinischen Geräteindustrie und ihr staatlich
sanktionierter Alleinvertretungsanspruch verdächtig.
Die Schulmedizin hat nun allerdings, im Zuge der sich entwickelnden
medizinischen Forschung und angesichts des vermehrten Auftretens
chronischer und altersbedingter Krankheitsbilder, zusätzliche
Erklärungsansätze in ihr Modell integriert. In den Grundannahmen
allerdings bleibt das bio-medizinische Modell für die Schulmedizin das
dominierende Paradigma.
Kritiker bemängeln vor allem, dass:
–
das bio-medizinische Krankheitsmodell in seiner Sichtweise
beschränkt sei und nur einen Teil der Krankheitsursachen
berücksichtigt. Problematisch sei dabei das Übertragen des
beschränkten Ursache-Wirkungs-Schemas auf funktionelle und
psychische Störungen sowie die gegenwärtigen chronischen
Zivilisationskrankheiten (Arthrose, Herz-Kreislauf-Erkrankungen,
Krebs usw.) die nur teilweise erklärt und behandelt werden können.
Ebenso blieben psychosoziale Einflussfaktoren auf den Verlauf von
Krankheiten auf Gesundung und Rehabilitation außer Betracht.
–
das medizinische Krankheitsmodell ineffektiv in der Heilung von
Erkrankungen sei. Zur Begründung werden statistisch signifikante
Zusammenhänge zwischen der allgemeinen
Gesundheitsverbesserung im letzten Jahrhundert und den
Verbesserungen in der Ernährung den Umwelt - und
Lebensbedingungen sowie im individuellen Gesundheitsverhalten
angeführt.
–
die Möglichkeiten der Prävention außerhalb des Blickfeldes
blieben. Medizinische Interventionen würden erst dann als
notwendig erachtet, wenn eine Erkrankung bereits manifest
geworden sei.
–
das bio-medizinische Modell der Krankheit die Dominanz der Ärzte
im Gesundheitswesen festige. Andere Gesundheitsberufe wären
weisungsabhängig oder würden verdrängt.
–
das bio-medizinische Krankheitsmodell zur Medikalisierung
sozialer und gesellschaftlicher Probleme führe.
–
die Vorherrschaft des bio-medizinischen Krankheitsmodells zur
Ausblendung und Inkaufnahme vielfältiger Nebenwirkungen von
medizinischen Maßnahmen führe.
–
die bio-medizinische Krankheitssicht zu Verdeckung und Stützung
der Allianz zwischen Ärzten Krankenkassen, Staat und der
- 59 -
Pharma- und geräteproduzierende Industrie führe und so
Gewinnmaximierung und nicht Heilung als Systemziel anstrebe.
–
die durch dieses Modell seine Institutionalisierung und
Legitimierung geschaffenen Verhältnisse zu einer
unbeherrschbaren Kostenexplosion im Gesundheitswesen führe,
die zu Lasten der Betroffenen geht.
7.2. lebensgeschichtliches Modelle
Hier in diesem Deutungsrahmen werden eintretende Phänomene (wie
eben auch Krankheiten) als Folgen lebensgeschichtlicher Ereignisse
erklärt. Dabei können die Ereignisse sowohl weit (Kindheit), als auch erst
kurz zurückliegen. So hält man dann die Depression als die Folge von
Vernachlässigungen in der Kindheit, einer Ehekrise oder eines
Berufskonfliktes
7.3. psychoanalytisches Modell
Nach diesem Modell liegt der Entstehung von Krankheit ein Konflikt
zwischen Triebimpulsen und sozialen Normen zugrunde. Das Ich könne
keine Einigung zwischen Über-Ich und Es erzielen und infolgedessen
gerieten körperliche und seelische Homöostase aus dem Gleichgewicht.
7.4. psychosomatisches Modell
In diesem Erklärungsmodell werden seelische Konflikte als Ursachen für
körperliche Erkrankungen des Menschen angesehen. Dabei gibt es
unterschiedliche Auffassungen darüber, wie sich psychische Faktoren
konkret in organische Beschwerden umsetzen. Obwohl sich die
Psychosomatik vorrangig mit den sog. psychosomatischen Krankheiten
(z.B. Ulcus Duodeni, bestimmte Hauterkrankungen, Bluthochdruck,
Asthma usw.) befasst, besteht der Anspruch diesen Erklärungsansatz
auf alle Erkrankungen anwenden zu können. Zunehmend werden heute
psychosomatische begründete Therapien auch im Rahmen der
Onkologie- Nachsorge angewendet.
Als Ursachen für psychosomatische Erkrankungen gelten vor allem
unbewältigte Konflikte, Kindheitstraumata und aktuelle Belastungen
durch bedrohliche und existenzielle Erfahrungen. Die Therapienformen
umfassen die gesamte Bandbreite der psychotherapeutisch begründeten
Interventionen.
Auch die psychosomatischen Erklärungen von Krankheit beruhen wie
alle anderen Krankheitsmodelle auf der Annahme einer erkennbaren
- 60 -
Ursache-Wirkungsbeziehung. Im Gegensatz zu dem bio-medizinischen
Modell wird hier nun die äußere Einwirkung oder physische
Fehlregulation durch psychische Variablen wie psychische Konflikte oder
unbewältigte Traumata ersetzt.
Kritiker bemängeln, dass sich auch dieses Modell überwiegend an
individuellen Faktoren orientiert und soziale Zusammenhänge dabei
außer Acht lassen. Weiterhin wird auch darauf hingewiesen, dass hier
die Gefahr bestünde, psychische Einflussfaktoren übermäßig zu
bewerten. Hinsichtlich der Effizienz wird bemängelt, dass die meisten
Therapieformen sehr aufwendig und zeitintensiv seien und auch
sprachlich eine deutliche Mittelschichtorientierung aufweisen. Damit
würde die Gruppe der gering Verdienenden und durch ihre Lebenslage
besonders Belasteten nicht erreicht.
7.5. Stress-Coping-Modell
Dieses Modell kann als eine Weiterentwicklung des psychosomatischen
Modells angesehen werden und lässt sich zwischen den
psychosomatischen und den soziologischen Krankheitsmodellen
einordnen. Das Besondere ist, dass hier der organische
Krankheitsverlauf zu sozialen und umweltbezogenen Faktoren in
Beziehung gesetzt wird. Als Krankheitsursachen werden dabei soziale
psychische und umweltbedingte Stressoren ins Blickfeld genommen. Zu
diesen lassen sich z.B. schichtspezifische Benachteiligungen,
langandauernde Belastungen und Konflikte sowie akute Belastungen
sog. „life events“ zählen.
Allerdings spielen die Möglichkeiten des Einzelnen mit den Belastungen
umzugehen (Stress-Coping) eine große Rolle für die Ausprägung des
somatischen Geschehens. So haben die spezifischen
Bewältigungsmöglichkeiten einen großen Einfluss auf Vermeidung,
Entstehungszeitpunkt, Verlauf und Heilungschancen von
Erkrankungen.12 Dabei können Bewältigungsmechanismen sowohl
persönlicher wie kollektiver Natur sein:
– individuelle Copingmechanismen: individuelle Fähigkeiten und
Strategien der Problemlösung; umgekehrt können ungeeignete
Bewältigungsstrategien krankheitsverursachend sein (z.B.
Alkoholmissbrauch ).
– Kollektive Copingmechanismen: ausreichende Unterstützung in
positiven primären (Ehepartner, Familie, enge Freundschaften) und
sekundären (Arbeitskollegen, Nachbarschaft, Vereinsmitglieder
usw.) sozialen Beziehungen. Durch diese sozialen Bindungen
12
Siehe die Ergebnisse der Resilienzforschung
- 61 -
können Stressoren neutralisiert und die Gesundheit erhalten
werden bzw. wird positiv auf die Gesundung eingewirkt.
Die Hilfeleistungen mobilisieren die Bewältigungsressourcen des
Betroffenen und unterstützen ihn bei der Bearbeitung der anstehenden
Konflikte. Sie können darüber hinaus praktische Unterstützung im Alltag
finanzielle Zuwendungen und Orientierungshilfen beinhalten. Die
Therapieformen orientieren sich an denen des medizinischen und
psychosomatischen Modells.
Obwohl die Bedeutung von Stressfaktoren, zumindest für die Auslösung
von Erkrankungen, auch in der Schulmedizin immer mehr anerkannt
wird, gibt es dennoch Vorbehalte. So wird betont, dass persönliche und
soziale Belastungen immer nur dann relevant werden, wenn sie subjektiv
als Stress erlebt werden. Auch sei es fraglich, ob im Forschungslabor
gewonnene Testergebnisse zum Einfluss von Stressoren ohne weiteres
auf Lebenssituationen übertragbar seien. Außerdem wird immer wieder
betont, dass physiologische Zusammenhänge zwischen sozialer
Situation - Stress - Krankheit ist nicht eindeutig nachweisbar seien.
7.6. soziologisches Modell
Im soziologischen Modell stehen die Lebensverhältnisse eines
Individuums im Mittelpunkt. Nach diesem Modell können Krankheiten
entstehen, wenn ein Mensch unter Problemen im sozialen Bereich (z. B.
Verlust des Arbeitsplatzes) leidet. Ein Mensch ist nach diesem Modell
krank, wenn er die eine seine soziale Rolle gestellten Anforderungen
nicht mehr erfüllen kann.
7.7. verhaltenstheoretisches Modell (Risikofaktoren Modell)
Dieses Modell stellt Lernvorgänge (operante Konditionierung, klassische
Konditionierung, Lernen am Modell) bei der Entstehung von Krankheiten
in den Mittelpunkt. Als Krankheit definiert man nach diesem Modell
fehlerhaftes Verhalten oder auch die Auswirkungen eines Verhaltens.
Dieses Modell, dem auch als „Risikofaktoren Modell“ zugeordnet werden
kann, entwickelte sich in Reaktion auf den Vormarsch der sog.
Zivilisationskrankheiten. Die medizinischen Forschungen ergaben einen
wesentlichen Zusammenhang zwischen vermehrt auftretenden
Erkrankungen wie Herzinfarkt, bestimmten Krebsarten wie z.B.
Lungenkarzinom u.a. und bestimmten Vorerkrankungen und einer
zivilisationstypischen Lebensweise.
Als Risikofaktoren wurden vor allem Rauchen, Alkoholkonsum,
Bewegungsmangel, Bluthochdruck Übergewicht aber auch vermehrter
- 62 -
Stress identifiziert. Dabei wird in diesem Modell die gesellschaftlich
bedingte Dimension von Krankheiten deutlich hervorgehoben. So wird
auch darauf hingewiesen, dass Menschen, die sich gesellschaftskonform
verhalten, gerade dadurch zu Risikoträgern werden.
Gerade in den letzten Jahren wurden die Erkenntnisse über
Gesundheitsrisiken durch ungesunde Lebensweisen, vor allem in der
Rehabilitation nach speziellen Erkrankungen berücksichtigt. Dabei
fanden diese, z.T. auch in sehr verkürztender Darstellung, in den Medien
starke Beachtung. So sind diese, gerade auch auf diese Weise, in
wenigen Jahren zum Teil des Allgemeinwissens geworden und hatten
einer neuen "Bewegungskultur" ( Joggen, Walken, Volksläufe aber auch
andere Sportarten) starken Auftrieb gegeben.
Allerdings ist der Zusammenhang zwischen einer bestimmten
Lebensweise und einer Erkrankung ein statistischer und bezieht sich
somit auf Gruppen und lässt sich nicht gültig für das einzelne Individuum
ableiten. So eignet er sich auch nicht für Prognosen im Einzelfall
sondern kann auf der Ebene des Individuums nur Wahrscheinlichkeiten
annehmen. So kann dieses Modell letztendlich auch nicht das Auftreten
oder Ausbleiben von Krankheiten beim einzelnen Menschen erklären.
Riskant bei diesem Modell ist, dass andere mögliche Erklärungs- und
Bewältigungsstrategien nicht berücksichtigt, schnell aus dem Blickfeld
geraten und vernachlässigt werden.
7.8. multifaktorielles Modell
In den letzten Jahren hat sich als Ergebnis der fachlichen und
öffentlichen Diskussion ein Trend herausgebildet, in dem die
verschiedenen Ansätze in der Krankheitsdefinition und -beschreibung
miteinander kombiniert werden. Hintergrund dafür ist die Erkenntnis,
dass ein einfaches Verständnis von Krankheit nicht ausreicht um
Ursachen, Verläufe und Heilungsbedingungen zu klären. So wurden vor
allem auch die Erkenntnisse der Stress-Coping-Forschung und des
Riskofaktoren-Modells aber auch Teile des psychosomatischen
Krankheitsmodells in das bio-medizinische integriert und so etwas wie
ein multifaktorielles Krankheitsmodell generiert.
Die Grundgedanken dieses multifaktoriellen Krankheitsmodells lassen
sich wie folgt zusammenfassen:
– Es gibt genetisch vorgegebene und umweltbezogene
Rahmenbedingungen innerhalb derer sich ein
Krankheitsgeschehen manifestiert. Hier spielen sowohl
körperliche Beeinträchtigungen am Arbeitsplatz z.B. durch
Schadstoffbelastungen wie durch ungesunde Wohnverhältnisse
- 63 -
beispielsweise mit starker Lärmbelästigung oder sonst ein
Kontakt mit gesundheitsgefährdenden Stoffen eine Rolle.
Soweit es sich nicht um Unfälle oder solchen direkten äußeren
Einwirkungen handelt ist ein komplexes Geschehen am
Ausbruch einer Krankheit beteiligt.
– Als Auslöser von Erkrankungen müssen innerhalb dieses
Rahmens psychosomatische Faktoren stressbedingte
Belastungen Riskoverhalten und Belastungsreaktionen durch
aktuelle Ereignisse durch life events in Betracht gezogen
werden.
– Selbst beim Vorliegen der genannten Belastungen ist eine
Manifestation der Erkrankung noch nicht unausweichlich.
Individuelle und kollektive Coping-Strategien können die
Krankheitsreaktion noch immer verhindern oder abschwächen.
– Das manifeste Krankheitsgeschehen steht schließlich am Ende
eines komplexen Prozesses in dem indivuelle Belastungen und
Ressourcen gesellschaftliche Bedingungen kollektive
Bewältigungsmuster und aktuelle Ereignisse zusammen wirken.
Ausgehend von den Annahmen eines multifaktorielle Krankheitsmodells
ist es notwendig in jedem Fall die besonderen Bedingungen zur
Auslösung einer Erkrankung zu rekonstruieren um die bestmöglichen
Heilungschancen zu realisieren. So wird es nicht viel nützen wenn zur
Linderung von Krankheitssymptomen bestimmte Medikamente zu
Einsatz kommen das soziale Umfeld oder die belastende familiäre
Situation des Patienten außer Acht bleibt die evt. einen bedeutenden
Anteil am Ausbruch der Erkrankung hatte. Ebenso kommt die
Notwendigkeit einer gezielten Gesundheitsprävention und -vorsorge bei
bekannten Belastungsfaktoren in das Blickfeld. Durch Erweiterung und
Veränderung der Leistungen im Gesundheitssystem wurde in den letzten
Jahren versucht z.B. durch die systematische Ausweitung von
Vorsorgeuntersuchungen auf diese Einsichten zu reagieren.
Allerdings hat auch dieses Modell Grenzen:
– Zwar werden hier wesentliche Elemente einer ganzheitlichen Sicht
von Krankheit zusammengefasst, doch geschieht dies im
Wesentlichen additiv. Eine wirklich ganzheitliche
Herangehensweise wäre dabei mehr als nur die Summe
verschiedener Aspekte.
– Die Addition der Faktoren ergibt eine im Rahmen des bestehenden
Gesundheitssystems nicht zu finanzierende Liste an möglichen
Leistungen. Dabei führt die Ausweitung der Leistungen bereits jetzt
an die Grenzen des Finanzierbaren.
- 64 -
– Die Vielzahl von Faktoren ist in keiner entwickelten einheitlichen
Diagnostik berücksichtigt. Jeder behandelnde Arzt kann, aufgrund
seiner eigenen Perspektive, die sich aus seiner Ausbildung und
persönlichen Sichtweise ergibt, immer nur einen Teil der Faktoren
erfassen und vernachlässigt andere Gesichtspunkte.
– Die angesprochenen gesellschaftlichen Teilbereiche in denen
gesundheitsgefährdende Faktoren auftreten können, sind nicht in
einer Weise vernetzt dass eine abgestimmte Handlungsstrategie
entwickelt werden könnte. Vielmehr gehorchen die Teilsysteme
(Arbeitsmarkt, Bildung, Sozialsystem, Wirtschaft usw.) eigenen
Gesetzmäßigkeiten und sperren sich gegen eine
Querschnittsplanung.
– Eine umfassende Handlungsstrategie ließe sich konsequent nur
auf der individuellen Ebene entwerfen. Hierzu wäre eine
Fallsteuerung vonnöten, die in einer Hand läge. Der Patient wird
zum Gegenstand von Casemanagement wie man es bereits in
Teilbereichen der Rehabilitation und beruflichen
Wiedereingliederung umzusetzen versucht. Auch der Vorschlag
den Hausärzten wieder eine größere Entscheidungs- und
Steuerungsbefugnis zu geben geht in diese Richtung.
Umfassendes querschnittsbezogenes Fallmanagement ist ein sehr
aufwendiges Verfahren und stößt sehr schnell an die Grenzen der
(Teil-) Systemlogiken und der eingeschränkten
Finanzierungsmöglichkeiten.
7.9. biologisch-physisch-spitituelles Ganzheitskonzept
In der WHO-Definition (2002) von „Palliative Care“ wird zum ersten Mal
in der neueren Medizingeschichte Spiritualität auf eine Ebene gestellt mit
physischen und psychosozialen Bedürfnissen. In der Version von 2002
heißt es:
Palliative Care: ist „…ein Ansatz zur Verbesserung der Lebensqualität
von Patienten und deren Familien, die mit Problemen konfrontiert sind,
die mit einer lebensbedrohlichen Erkrankung einhergehen: durch
Vorbeugen und Lindern von Leiden, durch frühzeitiges Erkennen,
untadelige Einschätzung und Behandlung von Schmerzen sowie
anderen belastenden Beschwerden körperlicher, psychosozialer und
spiritueller Art.“
Wenn wir von Spiritualität reden, dann gebrauchen wir einen Begriff, der
sehr unterschiedlich gefüllt wird. Aus meiner Erfahrung sind es vor allen
- 65 -
zwei Traditionslinien, die hier in Deutschland immer wieder (zumeist
unreflektiert) aufeinandertreffen.
Spiritualität in doppelter Traditionslinie:
Spiritualität, so wie sie im Umfeld von Palliativ-Care verwendet wird, ist
verständlicherweise aus dem anglo-amerikanischen Kontext heraus zu
verstehen. Im weitesten Sinne wird sie als eine Form von Geistigkeit
und Lebendigkeit als Gegensatz zum rein rationalen Denken und der
Vorstellung von einer rein materiellen Körperlichkeit aufgefasst.
In diesem Sinne liegt das Wesen der Spiritualität hinter dem Materiellen
verborgen und schließt Aspekte des Lebens wie Bedeutung, Sinn,
Verbundenheit und Hoffnung mit ein (Borasio et al. 200513). Sie lässt
sich als die Art und Weise verstehen, in der Menschen ihr Leben deuten
und angesichts seiner ultimativen Bedeutung und seines Wertes leben
(Muldoon und King 199514).
Mit dem Begriff Spiritualität wird im Allgemeinen eine nach Sinn und
Bedeutung suchende Lebenseinstellung bezeichnet, bei der sich der
Suchende seines „göttlichen“, die empirisch fassbare Wirklichkeit
transzendierenden Ursprungs bewusst ist und eine Verbundenheit mit
anderen Menschen, mit der Natur, mit dem Göttlichen spürt (Büssing
und Ostermann 200415).
13
Borasio, G.D., Fegg, M.J., Wasner, M., Longaker, C. (2005): Effects of spiritual care training for palliative
care professionals. Palliative Medicine 19, 99-104.
14
Muldoon, M., King, N. (1995): Spirituality, health care, and bioethics. J Relig Health 34, 329-349.
15
Büssing, A., Ostermann, T. (2004): Caritas und ihre neuen Dimensionen- Spiritualität und Krankheit. In:
Patzek, ed. Caritas plus...Qualität hat einen Namen. Butzon&Bercker, Kevelaer, pp 110-133.
- 66 -
Aus diesem Bewusstsein heraus bemüht sich der Suchende um die
konkrete Verwirklichung der Lehren, Erfahrungen oder Einsichten im
Sinne einer individuell gelebten Spiritualität, die konfessionell oder auch
nicht-konfessionell sein kann (Büssing und Ostermann 2004 [Anm.3]).
Es gibt eine wachsende Überzeugung, dass Spiritualität gegenüber der
Religion mehr elementare und grundlegendere Aspekte beinhaltet (NICE
200416), ist sie doch „eine subjektive Erfahrung, die sowohl inner- als
auch außerhalb traditionell religiöser Systeme existiert“ (Brady et al.
199917). Spiritualität kann in Unterscheidung zu Religiosität als
ontologisch motivierter Impuls zur Erlangung einer Einheit oder einer
Beziehung mit Gott gesehen werden (Hodge 200618).
Bewusstes religiöses Erleben ist demnach eine Form des Spirituellen.
Spiritualität ist daher sowohl inner- als auch außerhalb von Religionen zu
finden und hat unmittelbare Auswirkungen auf die Lebensführung und
die ethischen Wertvorstellungen.
Spiritualität kann als Kombination von religiösem und existentiellem
Wohlbefinden umschrieben werden (Laubmeier et al. 200419, Paloutzian
und Ellison 198220).
Existentielles Wohlbefinden als nicht religionsgebundene Form des
Wohlbefindens ist auch verwandt mit Sinn und Zweck im Leben
(Laubmeier et al. 2004, Paloutzian und Ellison 1982).
Es gibt einen zunehmenden Konsens darüber, dass Spiritualität
gegenüber der Religiosität das breitere Konstrukt ist, das alle
Bedürfnisse, Einstellungen, Werte, Überzeugungen und Praktiken mit
einschließt, die unsere materielle und objektive Welt übersteigen,
besonders was die Bedeutung des Lebens und die Hoffnung betrifft.
Spiritualität kann in Unterscheidung zu Religiosität als ontologisch
motivierter Impuls zur Erlangung einer Einheit oder einer Beziehung mit
Gott gesehen werden (Hodge und 2006). Sie ist trotz messbarer
religiöser Eigenschaften, wie z.B. der institutionellen Zugehörigkeit oder
der Gottesdienstbesuche nicht dichotom (entweder an- oder abwesend
in einer Person).
16
NICE (2004): Guidance on Cancer Services. Improving Supportive and Palliative Care for Adults with Cancer. The Manual. National Institute for Clinical Excellance, London, UK. Available at http://www.nice.org.uk.
17
Brady, M.J., Peterman, A.H., Fitchet, G. (1999): A case for including spirituality in quality of life measurement in oncology. Psychooncology 8, 417-428.
18
Hodge, D., (2006): A Template for Spiritual Assessment: A Review of the JCAHO Requirements and Guidelines for Implementation. Social Work 51
19
Laubmeier, K.K., Zakowski, S.G., Bair, J.P. (2004): The role of spirituality in the psychological adjustment to
cancer: a test of the transactional model of stress and coping. Int J Behav Med 11, pp. 48-55.
20
Paloutzian, R., Ellison, C. (1982): Loneliness, spiritual well-being, and the quality of life. In: Peplau L, Perlman D, eds. Loneliness: a source book of current theory, research, and therapy. Wiley, New York, pp 224-237,
pp
- 67 -
Eckhart Frick beschreibt Spiritualität in moderner Diktion als eine
Systemeigenschaft des lebendigen Menschen, die sich durch
Subjektivität, Kommunikation und Selbsttranszendenz auszeichnet (Frick
200221). Sie ist also weder eine eigentlich esoterische noch eine religiöse
Praktik, sondern primär eine grundlegende Dimension des Menschseins.
Daraus lässt sich schlussfolgern: Es ist nicht die Frage, ob ein Mensch
spirituell ist oder nicht, sondern vielmehr ob er diese Eigenschaft
wahrnimmt und sich dieser bewusst ist!
7.9.1. Das Menschenbild der Logotherapie
Die Erkenntnis, dass die spirituelle Dimension des Menschen für die
Entstehung, den Verlauf und die Heilung von Krankheiten bedeutsam ist,
wurde in der Moderne vor allem von dem österreichischen Neurologen
und Psychiater Viktor Frankl betont und in die klinische Praxis integriert.
Für ihn leben Menschen in drei Dimensionen:
1. der physischen Dimension (Leib)
2. der psychische Dimension (Psyche)
3. der noetischen Dimension (Geist).
Während für ihn die physische und die psychische Dimension in engem
Zusammenhang stehen (psychophysischer Parallelismus), kann sich der
Mensch nach seiner Ansicht aufgrund seiner geistigen Dimension über
sein Psychophysikum erheben. Nur das Psychophysikum kann demnach
erkranken; die noetische Dimension des Menschen bleibt gesund und
steht nach Auffassung Frankls jenseits jeder Krankheit. Dieser
philosophisch-theoretische Unterbau der Logotherapie wird von ihm
Logotheorie genannt. Sie unterstützt dabei, Lebenslagen sinnvoll
auszufüllen oder umzubewerten. Ein Extremfall der Anwendung sind
nach Frankl „noogene Neurosen“, bei denen der Lebenssinn gänzlich
fehlt.
In seiner Methodik22 geht Frankl von der Annahme aus, dass der
Mensch existenziell auf Sinn ausgerichtet ist und nicht erfülltes
Sinnerleben zu psychischen Krankheiten führen kann sowie psychische
Erkrankungen von einem eingeschränkten individuellen Sinnbezug
begleitet werden.
Der freie Wille
21
Frick, E. (2002): Glaube ist keine Wunderdroge. Hilft Spiritualität bei der Bewältigung schwerer Krankheit?
Herder Korrespondenz 1/2002, 41-46.
Sie ist als eigenständiges Therapieverfahren in Österreich anerkannt, in Deutschland wird
sie nicht von den gesetzlichen Krankenkassen finanziert.
22
- 68 -
Die Logotherapie geht davon aus, dass der Mensch einen freien Willen
hat. Menschen sind nicht frei von (Bedingungen aller Art, die unser
Leben mitbestimmen), aber sie sind frei zu (unendlich Vielem, was für
uns persönlich im Bereich des Möglichen liegt). Menschen sind frei, sich
im Rahmen des Gegebenen immer wieder neu nach bestem Wissen und
Gewissen für bestimmte Handlungs- oder Sichtweisen zu entscheiden.
Der Wille zum Sinn
Mehr als nach Lust oder Macht strebe der Mensch nach Sinnerfüllung.
Menschliche Motivation sei dort am höchsten, wo Sinnvolles bewirkt
werden kann.
Der Sinn des Lebens
Der Sinn des Lebens als solchen lässt sich nach Frankl Auffassung nicht
ergründen. Aber wir könnten ihn erfüllen – und zwar dann, wenn wir
jeweils den Sinn des Augenblicks erspüren und danach handeln. Das
Leben selbst behält nach Frankl seinen Sinn unter allen Umständen
(auch wenn wir ihn in einer verzweifelten Lebensphase vielleicht nicht
mehr spüren). Es bleibt für uns gestaltbar bis zuletzt, und sei es im
Kleinen und Kleinsten. Wenn der äußere Handlungsspielraum durch
Krankheit oder andere Schicksalsschläge sehr eingeschränkt ist, könne
der Mensch noch die ungeahnte Größe seines geistigen und seelischen
Freiraumes entdecken und sein Leben durch seine innere Einstellung zu
den Dingen und den Menschen, die ihn umgeben, mit Sinn und Licht
durchfluten.
Die Verantwortlichkeit des Menschen
Die Freiheit, die wir haben, bedinge auch, dass wir Verantwortung für
unser Leben tragen. Mit der Art, wie wir leben, wie und wofür wir uns
entscheiden, könnten wir auf die Fragen, die das Leben uns stellt
antworten. Je mehr Herzensentscheidungen wir treffen, desto stärker
wandle sich Verantwortungsbewusstsein in Verantwortungsfreude. Die
Aufgaben, die das Leben für uns bereithält, sind persönliche. Eine mir
persönlich gestellte Aufgabe kann nur ich erfüllen, niemand sonst.
Die Lebensleistung des schöpferischen, liebenden und leidenden
Menschen
Die Logotherapie hat ein Verständnis von „Leistung“, das sich nicht dem
gängigen Leistungsbegriff unserer Gesellschaft messen lässt. Zwar
erkennt sie die schöpferische Leistung eines Menschen, der sich
tatkräftig seinen Aufgaben widmen kann – sei es im Beruf, in der Familie
oder durch andere Formen aktiven Engagements – in vollem Maße an.
Doch sie sieht die größere Leistung dort, wo ein Mensch für einen
anderen sich selbst überwindet und ihm einen Liebesdienst erweist. Und
sie geht davon aus, dass der leidende Mensch, der bemüht ist, ein
- 69 -
unabwendbares Schicksal aufrecht zu tragen, die höchste Leistung
vollbringt.
- 70 -
7.10. teleologische Modelle
Teleologischer Erklärungsansätze orientieren sich nicht an den
Ursachen, sondern unterstellen Krankheiten einen Sinn, ein Ziel auf das
hin sie angelegt sind. Krankheiten werden dabei verstanden als eine
Krise (Katharsis), eine Erfahrungs- und Erkenntnismöglichkeit zum
Zwecke der Weiterentwicklung der Persönlichkeit.
Unterstellt wird dabei ein Evolutionsprinzip das in der Regel in Richtung
einer selbst bestimmten autonom handlungsfähigen Persönlichkeit wirkt
die moralische und ethische Grundnormen in ihrem Leben als
Selbstausdruck verwirklicht. Krankheit tritt in diesem Verständnis auf,
wenn ein Entwicklungsschritt in diesem Sinne nicht erkannt worden ist.
So soll also gefragt werden: was bedeutet mir diese Krankheit zu diesem
Zeitpunkt und welche Lernaufgabe enthält sie im Rahmen meiner
persönlichen Entwicklung?
Dieses Krankheitsverständnis unterstellt damit eine karmische
Verursachung einer Erkrankung, die als Folge von Verhalten auftritt,
dass gegen ein angenommenes Evolutionsprinzip verstößt. In ihrer
extremen, dogmatische Ausprägung kann diese Variante als moderne
Version der mittelalterlichen Vorstellung von Krankheit als "Bestrafung"
für schlechte Taten und Gedanken gesehen werden. Allerdings enthält
sie in der komplexeren Ausgestaltung eher Elemente östlicher
Religionen, die das karmische Prinzip mit einer Sinnkonstruktion
verbinden. Das Karma als Erfahrung generierendes Gesetz für noch
nicht erwachte Seelen.
Heilung wird in diesem Modell primär als Erkenntnisprozess verstanden,
in dem die unangemessenes Verhalten verursachenden seelischen
Behinderungen, psychischen Einschränkungen und negativen mentalen
Muster erkannt und überwunden werden. Therapeutische Maßnahmen
können hier höchstens unterstützend eingesetzt werden und eine
Symptombehandlung verbietet sich aus dieser Sicht vollkommen.
Das teleologische Krankheitsmodell liegt einigen streng esoterisch
orientierten Lebensweisen zugrunde, wobei die Konsequenzen in Bezug
auf Therapiemöglichkeiten mehr oder weniger eng interpretiert werden.
Einige Aspekte dieses Erklärungsansatzes finden sich auch in
Therapieansätzen der systemischen Krankheitssicht wieder und werden
hier wie das psychosomatische Erklärungsmodell in Bezug auf das
medizinische Paradigma ergänzend herangezogen.
Da der unterstellte Zusammenhang sowohl einer karmischen/göttlichen
Verursachung wie auch einer Zweckgebundenheit im Hinblick auf ein
Evolutionsprinzip, wissenschaftlich nicht nachvollziehbar ist, bleibt dieses
- 71 -
Modell im Rahmen persönlicher Glaubensvorstellungen und hat keine
Chance ärztlicherseits anerkannt zu werden.
Es ist allerdings wichtig, dieses Modell zu kennen, weil deren
Grundgedanken einigen extrem denkenden religiösen Gruppierungen
und Sekten zur Begründung von gesundheitsgefährdenden
Verhaltensnormen für ihre Mitglieder dienen. Lebensnotwendige Eingriffe
Therapien und Präventivmaßnahmen wie Impfungen werden abgelehnt
(z.B. bei den Zeugen Jehovas aber auch einigen anderen modernen
Sekten).
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