Schichten und Ungleichheit in der Gesellschaft

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Gralki: Schichtung
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Schichten und Ungleichheit in der Gesellschaft
- Die da oben und die da unten -
1. Das Erleben von Ungleichheit
Nach dem Krieg wohnte ich mit meinen Eltern im Grünen. In Bremen. Nicht in einer Villa im Park,
sondern in einem kleinen Holzhaus. Mein Vater hatte irgendwie eine alte Wehrmachtsbaracke
organisiert – etwas organisieren zu können, war damals eine hochgeschätzte Qualifikation. Diese
Bracke hatte er dann in den Kleingarten seiner Schwiegermutter, meiner Oma, gestellt.
Die Wohnung meiner Eltern, in einem schönen Teil der Stadt, war den alliierten Bombenangriffen zum
Opfer gefallen – wir waren ausgebombt, wie man damals sagte. Und so wohnten wir nun auf einer
Parzelle am Rosenweg. Die Kleingartenkolonie hieß Kornblume und das Vereinsheim ebenso.
Es war eine wundervolle Zeit für mich – jedenfalls als kleines Kind.
Wenn ein Auto in unsere Gegend kam, war das für uns Kinder immer ein Ereignis. Unsere Welt war
die der Eichhörnchen und Füchse, die Welt von Hund und Katze.
Meine Eltern erzählten nicht viel von früher. Von der Zeit, als sie damals schon - 1939 - ein Auto und
ein großes Segelschiff besaßen, als sie in einem Sportverein waren und große Reisen machten.
Große Reisen vor dem Krieg waren Reisen in den Harz, in die Alpen und einmal sogar nach
Norwegen.
Sie erzählten von einem großen Bücherschrank im Wohnzimmer, von einem Klavier, das auch dort
stand und sie erzählten mir von einer Toilette mit Wasserspülung.
Das fand ich aufregend.
Wir mussten dagegen in den ersten Jahren am Rosenweg zwei Kilometer laufen, um zum nächsten Wasserhahn zu
kommen.
Ich hörte die Geschichten von früher, aber vorstellen konnte ich mir das nicht.
Die Nachbarn um uns herum wohnten z.T. schon vor dem Krieg hier und hatten nie eine wohlhabende Vorkriegszeit erlebt.
Meine Eltern ließen immer wieder erkennen, dass wir nur aus Not auf der Parzelle wohnten und eigentlich nicht hierher
gehörten.
Sie fühlten sich deplaziert.
Und auch das verstand ich nicht.
Denn ich fand die Nachbarn nett.
Den Nachbarn Junker, einem Hafenarbeiter, der mir stolz erzählte, dass er Kommunist sei. Oder den Fischhändler Butt, der
gerade aus dem Gefängnis kam, wo eine Strafe wegen Viehdiebstahl abgesessen hatte.
Hin und wieder besuchten uns Freunde meiner Eltern. Der Mann einer Freundin meiner Mutter war Chefarzt, ein anderer
Oberpostdirektor. Die mochte ich auch – aber irgendwie waren sie anders als Herr Junker und Herr Butt.
Sie sahen anders aus und sie sprachen auch anders.
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Als Kind erlebte ich also ganz früh – aber nicht früher als alle anderen Kinder auch - dass die Menschen verschieden sind.
Als Kind lernte ich auch, dass sie nicht nur ungleich sind, sondern auch offenbar einen verschiedenen Rang haben.
Als Kind lernte ich das, was Soziologen gesellschaftliche Differenzierung nennen.
Die Art der Differenzierung, d.h. die gesellschaftliche Typologie, ist für jede Analyse der Gesellschaft grundlegend.
Aber nicht nur für die wissenschaftliche Analyse der Gesellschaft.
Die Vermittlung der gesellschaftlichen Typologie ist auch ein wichtiges Ergebnis der Sozialisation jedes Einzelnen – so wie
bei mir. Und bei Ihnen wird es nicht anders gewesen sein.
Und mit jeder Typologie ist auch ein Rang verbunden: der Oberpostdirektor gehört nicht nur einem anderen
gesellschaftlichen Typus an, er steht auch auf einer anderen Rangstufe als der Fischhändler Butt und intuitiv würden die
meisten von uns sagen: auf einer irgendwie höheren.
Diese Gesamtheit der Rangstufen nennt der Soziologe Schichtung.
In der Schule nun kam ich mit Kindern verschiedener Schichten zusammen. Und auch da sah ich wieder Unterschiede.
Für die Kinder aus den oberen Schichten, die Kinder der Reeder, Bankdirektoren, Kaufleute und Chefärzte, hatten die Eltern
für ihre Kinder bis zum Schuleintritt schon erheblich mehr investiert, als die Hafenarbeiter und die Fischhändler.
Das hat eine ganze Reihe von sichtbaren Konsequenzen.
Von der Kleidung bis zur Zahnpflege.
Kinder der oberen Schichten haben auch andere Manieren, "bessere" wie es so schön heißt. Aber die
Kinder aus gutem Haus können auch ganz schön neidisch sein, weil ihre Klassenkameraden es schön
früh gelernt haben, Konflikte nicht nur durch Worte auszutragen.
Und in der Regel beneiden sie die Kinder aus den niederen Klassen, weil diese mehr Freiheit haben.
Und auch ganz andere Moralvorstellungen. Brachte ich z.B. schöne fremde Worte mit nach Hause,
sagten meine Eltern: "So etwas sagt man nicht!"
Ich wusste nie so ganz genau, wohin ich gehörte. Zu meinen Freunden von der Parzelle oder zu den
anderen, deren Väter Ärzte oder Rechtsanwälte waren.
Ist die Situation, wie Kinder soziale Schichtung erleben, irgendwo schöner beschrieben als in den
Geschichten von Tom Sawyer und Huckelbery Finn?
2. Schichtung gibt es überall
Das Phänomen der Schichtung ist global und zieht sich durch die gesamte menschliche Geschichte.
Erich Kästner hat ein sehr eindrucksvolles Gedicht dazu geschrieben, ich zitiere nur drei Verse
daraus:
Wir sitzen alle im gleichen Zug
und reisen quer durch die Zeit.
Wir sehen hinaus. Wir sahen genug.
Wir fahren alle im gleichen Zug.
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Und keiner weiß, wie weit.
Die I. Klasse ist fast leer.
Ein feister Herr sitzt stolz
im roten Plüsch und atmet schwer.
Er ist allein und spürt das sehr.
Die Mehrheit sitzt auf Holz.
Wir reisen alle im gleichen Zug
zu Gegenwart in spe.
Wir sehen hinaus. Wir sahen genug.
Wir sitzen alle im gleichen Zug
und viele im falschen Coupé.
Hier finden Sie das ganze
Gedicht.
Alle uns bekannten Gesellschaften haben irgendein System, ihre Mitglieder nach höheren oder
niedrigeren Positionen zu klassifizieren. Die klassen- oder schichtungslose Gesellschaft ist eine
Utopie. Für die einen eine schöne und für die anderen eine schreckliche!
Die einen denken an das Paradies und die anderen an die schrecklich gescheiterten Versuche von
MaoTseTungs Kulturrevolution und denen der roten Khmer in Kambodscha.
Die Art wie Soziologen Schichtung analysieren – man könnte auch sagen, Klassenunterschiede
untersuchen – ist sehr verschieden und Ursache erbitterter akademischer Auseinandersetzung.
Einigkeit besteht nur in wenigen Aspekten, z.B. dem, dass die Schichtungskriterien von Gesellschaft
zu Gesellschaft sehr verschieden sind.
So gibt es Gesellschaften, in denen das hohe Alter den Menschen Rang verleiht. China war einmal
ein klassisches Beispiel dafür. Dann hätte ich Ihnen einiges voraus.
In primitiveren Gesellschaften, oder um den Begriff von Elias aufzugreifen: in weniger zivilisierten
Gesellschaften, wo die Menschen manchmal von einem Minimum leben müssen und ständig gegen
die Natur und andere Menschen kämpfen müssen, bestimmt oft die körperliche Tüchtigkeit den
Rangindex. Diese Zeit gab es bei uns auch einmal. Lesen Sie doch bitte einmal das
Nibelungenlied.
Und dann gibt es auch noch Länder, in denen ich mich besonders wohl fühle.
In Thailand wurde ich bei einem Essen an einer Universität einmal an den Ehrenplatz - neben dem
Präsidenten - gebeten, mit der zwiespältigen Begründung, ich sei so schön fett.
Und wieder in anderen Gesellschaften liefert der Besitz den Rangindex, oder die Bildung.
In der Welt der osteuropäischen Juden war es gar nicht ungewöhnlich, dass ein vermögender
Kaufmann einen bettelarmen Rabbi, der nichts anderes als seine Talmudkenntnisse besaß, als
Ehemann für seine Tochter wählte
Sobald wir über Rang und Schichtung sprechen, stellt sich sofort ein theoretisches Problem ein.
Wer bestimmt den Rang?
Sprechen wir über einen Rang, den ein Beobachter von außen – ein Fachmann, z.B. ein Soziologe –
einem Menschen zuerkennt?
Oder den Rang, den der einzelne sich gibt?
Oder sprechen wir von dem Rang, den andere, die ihn kennen, mit ihm leben, ihm zuerkennen?
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Jede dieser drei Möglichkeiten verlangt nach einem anderen Untersuchungsansatz.
Wenn die Fachleute sich an die Arbeit machen, suchen sie nach objektiven Kriterien.
Dies könnten z.B. Vermögen und Bildung sein. Jeder spürt intuitiv, dass diese beiden Faktoren
irgendwie bedeutsam sind.
Menschen aus der Mittelklasse haben ein größeres Einkommen und eine bessere Ausbildung als
Menschen aus der Arbeiterschicht. Natürlich fallen Ihnen sofort Gegenbeispiele ein. Der junge Arzt in
der Klinik, die wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Soziologie, verdient sicher weniger Geld
als ein Fliesenleger oder gar ein Drogenhändler.
Also so ganz trennscharf ist dies Kriterium sicher nicht – aber auch nicht ganz falsch. Man könnte als
Soziologe also so eine theoretische Trennungslinie zwischen Mittelschicht und Arbeiterschicht ziehen.
Dazu würde wir Einkommen und Ausbildung irgendwie zusammenfügen, eine statistische Maßzahl,
einen Index bilden und wir könnten definieren: jeder der über einem bestimmten Wert liegt, den
rechnen wir zur Mittelschicht und jeder der unter diesem Wert liegt, rechnen wir zur Arbeiterklasse.
Wir könnten aber auch die Menschen selbst fragen, welcher Schicht sie sich zugehörig fühlen. Das
muss nicht so simpel sein, dass man fragt: rechnen Sie sich zur Mittelschicht oder zur Arbeiterklasse?
Man könnte z.B. auch die Frage in einem Fragebogen folgendermaßen formulieren:
Kreuzen Sie doch bitte in der zweiten Zeile an, welcher Schicht in unserer Gesellschaft Sie sich
zugehörig fühlen:
Unten
Oben
Das Ergebnis kann weitgehend mit der Analyse der soziologischen Experten übereinstimmen. Tut es
das nicht, muss deswegen die soziologische Analyse keineswegs der richtigere Weg sein.
Richtig und falsch sind die falschen Kategorien in diesem Zusammenhang, eher vielleicht mehr
oder weniger angemessen. Den richtigen Wert kennen wir nicht, es gibt ihn auch nicht. Die
Schichtzugehörigkeit ist keinem Menschen eindeutig zuzuordnen wie seine Blutgruppe.
Wir können aber auch andere Menschen fragen, welcher Schicht Klaus Müller angehört. Das Ergebnis
ist dann ähnlich einer Mehrheitswahl. Auch nicht richtig oder falsch, nur eine andere Perspektive.
Und schließlich kann man auch alle drei Ansätze irgendwie miteinander verbinden.
Die zentrale Frage ist eigentlich, zu welchem Zweck wollen wir das eine oder das andere tun?
Und da muss die Antwort wohl immer sein: um irgendein gesellschaftliches Phänomen besser
erklären zu können, sei es die Selbstmordquote oder die Heiratsneigung, sei es das Konsumverhalten
oder die Kriminalität
Das Ereignis würde dann in der Fachsprache formuliert, vielleicht so aussehen
Der von uns gewählte Schichtungsindex Si erklärt 80% der Varianz (Streuung) des
Heiratsverhaltens.
Der Soziologe wäre glücklich.
Bisher hat man vielleicht immer gerätselt, warum das Heiratsverhalten so unterschiedlich ist und
plötzlich könnte man sagen: ein gut Teil – nämlich 80% der Unterschiedlichkeit – lässt sich auf die
Schichtzugehörigkeit zurückführen.
3. Der große Schichtungstheoretiker Marx
Die Klassiker der gesellschaftlichen Schichtungstheorie wären allerdings höchst unzufrieden mit
einem solchen positivistischen Ansatz und sie würden indigniert anmerken, dass das wenig mit
einer wirklichen Gesellschaftsanalyse zu tun habe. Adorno z.B., aber besonders Karl Marx.
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Obwohl Karl Marx kein Soziologe im eigentlichen Sinne war, und sich auch nie als ein solcher
gesehen hat, muss man ihm doch einen beträchtlichen Anteil am Denkgebäude der Soziologie
zurechnen.
Im Augenblick haben seine Theorien und Ideen zwar nicht mehr den Einfluss wie noch vor zwei, drei
Jahrzehnten, aber das kann sich auch schnell wieder ändern.
In den siebziger Jahren gehörten zur selbstverständlichen Ausbildung von Soziologen die
verschiedenen Kapitalkurse, die überall angeboten wurden.
Immerhin hat Marx eine Revolution im Denken bewirkt, wie sonst wohl nur Freud oder in einer
anderen Disziplin Einstein. Es wäre also sträflich, ihn bei unserem Streifzug durch die Soziologie zu
übergehen.
Und die Kapitalkurse gab es bis vor kurzem noch, auch an diesem Institut.
Das Bedürfnis nach radikaler Veränderung der Gesellschaft besteht immer noch und die Schriften von
Marx werden von vielen als Handlungsanweisung verstanden. Oder missverstanden?
Das will ich nicht beurteilen. Für mich ist aber eines sicher. Alle Gesellschaften die bisher versucht
haben, ihre Politik nach den Marx'schen Ideen zu gestalten, sind entsetzlich gescheitert und haben in
der Vergangenheit viel Unheil angerichtet.
Dieses Urteil verkennt aber nicht, dass Marx ein bedeutendes Werk hinterlassen hat. Wie bedeutend
es ist, kann ich aber nicht so recht beurteilen, denn ich habe Marx nie verstanden. Obwohl ich eine
Reihe von Kapitalkursen mitgemacht habe.
Ich will Ihnen demonstrieren, woran das lag.
Ich zeige Ihnen zwar keinen Marxtext, wohl aber den Text eines Marxexperten, der seine Zeilen mit
der Absicht geschrieben hat, Marx verständlich zu machen.
Der Experte ist Peter Bulthaup und ich zitiere aus seinem Aufsatz: "Von der Freiheit im
ökonomischen Verstande"
(in: Hans- Georg Bensch, Frank Kuhne u.a.: Das Automatische Subjekt bei Marx. Studien zum
Kapital, hrsg. v. Gesellschaftlichen Institut Hannover, Lüneburg 1998, Klampen-Verlag), S. 25 - 32.
Bulthaup schreibt:
"Jede Produktion von Mehrprodukt setzt eine Distanz zu bloßer Natur und ist Realisierung von
Freiheit.
Sie setzt die selbständige Bestimmung des Willens der Produzenten, die Fähigkeit, Zwecke zu
verfolgen, voraus, und ist darin eine Realisierung ihrer Freiheit, doch die Zwecke, die sie unter
der Herrschaft verfolgen, sind nicht ihre Zwecke, sondern die der Herrschenden, durch die
die Freiheit der Produzenten in die der Herrschenden verkehrt wird.
In der kapitalistischen Produktionsweise, deren Zweck die Produktion von akkumulierbarem
Mehrwert ist, bekommt diese Verkehrung der Freiheit der Produzenten die Gestalt der
Produktion von Produktivität.
Die aber befreit die Produzenten nicht von der Mühseligkeit der Arbeit, denn in der
kapitalistischen Produktionsweise ist die Produktion von Produktivität dem ökonomischen
Zweck, der Produktion von akkumulierbaren Mehrwert unterstellt, und den Lohnarbeitern
werden die Mittel zu ihrer Reproduktion nur gewährt, wenn sie ihre Fähigkeit, Mehrwert zu
produzieren, ihre Arbeitskraft, vom Kapital in Dienst nehmen lassen.
Das Kapital, die in Gestalt des akkumulierbaren Mehrwerts realisierte Freiheit der
Produzenten, ist zum Mittel der Herrschaft über sie als Lohnarbeiter geworden.
Resultat der permanenten Produktion von Produktivität ist die automatisierte Produktion, die
ihrer technischen Möglichkeit nach zur drastischen Reduzierung der Arbeitszeit führen könnte,
stattdessen unter kapitalistischen Bedingungen zur Erhöhung der Mehrarbeit ("Surplusarbeit")
führt. "
Warum komme ich aber gerade an dieser Stelle auf Karl Marx zu sprechen?
Weil er in unmittelbarer Nähe zum Problem der Schichtung steht und dies durch seinen berühmten
Begriff "Klasse“.
Diesem Begriff hat Marx eine zentrale Bedeutung für die Wissenschaft vom Menschen gegeben.
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Die meisten soziologischen Untersuchungen nehmen in der einen oder anderen Form – oder auch nur
implizit und versteckt – auf diesen Begriff Bezug.
Also lohnt es sich, sich diesen Begriff einmal ein wenig näher anzusehen.
Bei Marx steht der Begriff der Klasse in einem engen Zusammenhang mit dem Verhältnis der
Gruppen einer Gesellschaft zu den Produktionsmitteln.
Produktionsmittel sind alle Mittel, die für die wirtschaftliche Produktion (Herstellung
und Erzeugung von Gütern) erforderlich sind: Maschinen, Geräte, Boden, Rohstoffe,
usw.
Klassen sind also dadurch definiert, wie viel oder wie wenig ihre Angehörigen besitzen und zwar nicht
vom Sozialprodukt oder Nationaleinkommen – was ja auch möglich wäre – sondern von den
Mitteln, mit denen das Sozialprodukt geschaffen wird.
Eines fällt beim Nachdenken natürlich sofort auf:
Heutzutage ist ja eigentlich der Besitz der Produktionsmittel gar nicht mehr so wichtig,
sondern die Verfügungsgewalt darüber.
Tausende von Menschen "besitzen“ eine Aktiengesellschaft, sind aber noch lange nicht
verfügungsberechtigt. Das ist hingegen der Aufsichtsrat und das Management der Firma. Wie war
das doch mit Herrn Ackermann dem Chef der deutschen Bank?
Angestellter ist er.
Gehört er deshalb zum Proletariat?
Aber so einfach kann man sich die Kritik an Marx nicht machen. Erstens hat er viel differenzierter
gedacht, als ich es hier darstellen kann und zweitens ist die Marx’sche Theorie permanent seit den
Tagen ihres Entstehens weiter entwickelt worden.
Es bleibt aber in jedem Fall festzuhalten, dass das Marxsche Schichtungsmodell ökonomisch ist und
nicht auf Selbst- oder Fremdeinschätzung beruht.
Das wesentliche Merkmal von Gesellschaften ist nach Marx der beständige Kampf um knappe
Güter.
Aus verschiedenen historischen Gründen haben Menschengruppen einen verschiedenen Zugang zu
diesen Gütern, und Geschichte ist danach nichts weiter als ein Kampf um die Kontrolle dieser Güter.
Mit anderen Worten; Geschichte ist eine Geschichte des Klassenkampfs.
Für die marxistische Theorie ist die Klasse nicht nur eine wichtige, sondern die zentrale Kategorie für
jede Analyse der Gesellschaft und dabei es geht im Grunde um zwei Klassen, die Besitzenden und
die Besitzlosen.
Marx nutzte für diese Klassen die Begriffe Proletariat und Bourgeoisie.
Das muss man historisch sehen.
Zu Marx Zeiten war die alte Oberklasse, der Adel, in den meisten europäischen Gesellschaften
schon in den Hintergrund getreten und die alte Mittelklasse, die Bourgeoisie, hatte seit der
französischen Revolution die gesellschaftliche Kontrolle übernommen, sowohl in der Politik, als auch
in der Wirtschaft.
Die Bourgeoisie – auch Kapital genannt - kontrollierte die Gesellschaft, und das Proletariat hatte
weder Besitz noch Kontrollmöglichkeiten.
Das Proletariat wurde also ausgebeutet und unterdrückt.
Natürlich sah auch Marx eine Mittelschicht in der Gesellschaft. Aber nach seiner Meinung war dies
eine Klasse, die in der Auseinandersetzung zwischen der Bourgeoisie und dem Proletariat
zwangsläufig aufgerieben wurde – bis hin zur totalen Auflösung.
Die politischen Alltagsauseinandersetzungen waren für Marx nur belangloses Geplänkel an der
Oberfläche der Gesellschaft. Darunter tobte nach seiner Auffassung der Klassenkampf.
Marx glaubte nun das Ergebnis dieses Klassenkampfes voraussehen zu können. Für ihn konnten die
Klassenkämpfe nur ein notwendiges Ergebnis haben: die siegreiche proletarische Revolution, mit
der das glückliche Zeitalter des Kommunismus eingeleitet würde.
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Lassen Sie es mich noch einmal sagen: Sie dürfen bitte nicht glauben, dass die Marx'sche Theorie so
einfach wäre, wie ich es hier dargestellt habe. Weder Marx noch seine Anhänger waren oder sind
dumme Leute und die Marx'sche Theorie lässt sich nicht mit Allerweltsargumenten widerlegen.
Im Grunde genommen lässt sie sich gar nicht widerlegen. Und darin sehe ich auch ein
Hauptargument, das gegen sie spricht: wie immer sich Geschichte entwickelt, die Theorie behält in
jedem Fall recht. Jedes Phänomen kann erklärt werden und selbst wenn Prognosen nicht eintreten,
bleibt die Theorie unbeschadet.
Ähnliches ist übrigen auch der Psychoanalyse von Freud vorzuwerfen.
Marx Theorie war ökonomisch, aber er sah durchaus auch die subjektiven Elemente, diese nannte er
Klassenbewusstsein.
Er behauptete, dass zwischen der objektiven Lage vieler Menschen und ihrem Bewusstsein eine Kluft
bestehe.
Nach seiner Auffassung täuschen sich viele Menschen über ihren wirklichen Ort in der Gesellschaft.
Das nennt Marx dann falsches Bewusstsein. Ein voll entwickeltes Klassenbewusstsein ist aber
eine wichtige Voraussetzung für das Gelingen der proletarischen Revolution.
Das bedeutet also, dass immer mehr Menschen die ein gemeinsames Schicksal und
eine gemeinsame Bestimmung haben, sich als unterdrückt fühlen müssen,
Erinnern Sie sich bitte an Adorno, der sagte: Es gibt kein richtiges Leben im falschen. Und das heißt,
man kann nicht glücklich sein in einer Gesellschaft, die grundsätzlich falsch ist.
Das marxistische Gesellschaftsmodell hat noch heute für alle, die die Gesellschaft radikal verändern
wollen, eine große Anziehungskraft – und das hat Marx auch so gewollt. Seine Theorie war auch als
gesellschaftliche Waffe gedacht,
Sehen wir uns jedoch die Geschichte der letzten 100 Jahre an, dann sind alle Gesellschaften, die
versucht haben, ihre Politik an Marx Ideen auszurichten, dramatisch gescheitert – und dies z.T. mit
entsetzlichem Blutvergießen.
4. Webers Schichtungstheorie
Nach Marx, war wohl Webers Schichtungsansatz für die Soziologie am einflussreichsten.
Ich hatte schon darauf hingewiesen, dass man Weber nur verstehen kann, wenn man ihn im
Verhältnis mit Marx sieht.
Das gilt besonders für seine Schichtungstheorie.
Für Weber war Marx Ansatz viel zu simpel und musste nach seiner Auffassung zu einem Zerrbild der
Gesellschaft führen. Weber entwickelte daraufhin ein Dreierschema, genauer: er sagte, dass es drei
verschiedene Schichtungstypen gibt.
Im Prinzip sah Weber ähnliche Phänomene wie Marx. Allerdings legte er weniger Gewicht auf das
Eigentum – ohne allerdings das Ökonomische in der Schichtung zu verkennen.
Bei Weber bestimmt sich der erste Schichtungstyp nach der Ähnlichkeit von Lebenschancen.
Damit ist gemeint, dass die Angehörigen einer Klasse dann eine Ähnlichkeit in ihren Lebensläufe
zeigen, wenn bei ihnen die Art des Zugang zu knappen Gütern ähnlich ist.
Das heißt, dass sie mehr oder weniger dasselbe in einer Gesellschaft erreichen werden.
Erinnern Sie sich bitte an das Interview mit Sartre, das ich Ihnen am ersten Tag unserer Vorlesung
vorstellte.
Der zweite Schichtungstypus beruht auf dem Status, das heißt auf dem Grad der Wertschätzung,
den der einzelne in der Gesellschaft genießt. Dabei besteht oft ein enger Zusammenhang
zwischen Status und Klasse.
Das ist aber weder notwendig noch allgemein.
Ein einfaches Beispiel dafür ist der reiche Emporkömmling, der in die höheren Gesellschaftsschichten
will. Er bekommt den Status einfach nicht zuerkannt.
Auch das lernte ich als Kind im sehr traditionsbewussten Bremen kennen.
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Meine Freunde und ich spielten alle Tennis in zwei oder drei Vereinen. Nur einige wenige spielten im
elitären Club zur Vahr.
Selbst wenn unsere Eltern den Aufnahmebeitrag des edlen Clubs bezahlt hätten und auch die hohe
Jahresgebühr: aufgenommen hätte man uns trotzdem nicht. Wir passten einfach nicht in die feine
Gesellschaft. Oder noch schlimmer: niemand hat es je versucht, weil man es eben wusste, dass man
nicht in den Club zur Vahr aufgenommen würde. Und ganz leicht findet man diesen Verein auch gar
nicht mehr attraktiv sondern eigentlich sehr unsympathisch.
Eng mit dem Statusbegriff hängt bei Weber auch der Begriff des Standes zusammen.
Ein Stand ist nach ihm die gesellschaftliche Gruppe, in die das Individuum hineingeboren wird, und in
der es auch bleibt, solange es sich nach dem dort herrschenden Ehrenkodex richtet. Deshalb ist
gesellschaftlicher Aufstieg in einem ständischen System erheblich schwieriger als in einem
Klassensystem. Man kann alles Mögliche kaufen, nur den Zufall seiner Geburt nicht.
Die einzige dort herrschende Möglichkeit ist Heirat – aber es wiederum nicht so leicht, dass eine
Liebe zu einer blaublütigen Dame erwidert wird und dass die Eltern dieser Dame das auch
akzeptieren – aus der Perspektive eines Mannes gesprochen. Bei Frauen ist das etwas anders.
Unsere Regenbogenpresse ist voll von solchen Begebenheiten. Und unsere soap operas und
telenovelas auch.
Der dritte Weber'sche Schichtungstyp ist der auf der Grundlage der Macht.
Unter Macht versteht er, dass jemand in der Lage ist eigene Interessen auch gegen Widerstand
in der Gesellschaft durchzusetzen - das wissen wir bereits.
Bei der Beschreibung dieses Schichtungstypus benutzt Weber den Ausdruck privilegierte Klasse.
Heute spricht man eher von Elite. Dies ist ein politischer Begriff.
Zusammengefasst sieht Weber die Schichtung einer Gesellschaft also dreidimensional:
Lebenschancen, Status und Macht sind das Koordinatensystem, nach dem sich der einzelne in eine
Gesellschaft einordnet.
Das Modell bietet ein vielfältigeres und differenzierteres Begriffssystem als Marx es uns geboten hat.
Weber hat der Versuchung widerstanden, die Vielfalt der modernen Gesellschaft auf eine einzige
treibende Kraft zurückzuführen – aber den Einfluss des Ökonomischen hat er nie geleugnet.
5. Geigers Modell
In der Geschichte der Schichtungsforschung gibt es noch einen großen Namen: Theodor Geiger.
Geiger war eigentlich Statistiker, hatte sich aber auch einen Namen als Erwachsenenpädagoge
gemacht. So leitete er lange Zeit als Geschäftsführer die erste Volkshochschule in Berlin.
Geiger teilte das Schicksal so vieler anderer deutscher Soziologen: er wurde von den
Nationalsozialisten aus Deutschland vertrieben und lebte und arbeitete erst in Dänemark und - als
dies Land von den Deutschen besetzt wurde – im neutralen Schweden.
Nach dem Krieg kehrte er dann wieder nach Dänemark, nach Arhus, zurück und nicht nach
Deutschland.
Geiger veröffentliche Mitte der zwanziger Jahre eine große Studie über "Die soziale Schichtung des
deutschen Volkes".
Für Geiger ist die soziale Lage die “Resultante vieler Komponenten“. Vieles kommt zusammen,
wenn man sich um eine sachgerechte Einschätzung bemüht.
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die Art des Berufs
die Bildung
das Elternhauses
der Lebensstandard
das Äußere, z.B. der Kleidung
die Macht
die Konfession
die ethnische Abstammung,
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die politische Einstellung und
die Mitgliedschaft in Vereinen und Organisationen
Aber für Geiger wurde noch etwas anderes wichtig: die subjektive Einschätzung der Menschen über
Ihre soziale Lage.
So stellte er Fragen wie die folgenden:

Gehöre ich schon nach oben?

Bin ich schon abgerutscht?

Fühle ich mich dieser sozialen Gruppe noch zugehörig, obgleich ich die ökonomischen
Mittel nicht mehr habe?
Das Abrutschen kann ganze Klassen und Schichten treffen.
Ein aktuelles Beispiel aus moderner Zeit ist Argentinien, wo der Mittelstand weitgehend verarmt ist.
Lehrer und Ärzte, hohe Verwaltungsbeamte und Richter sind gezwungen, in ihren ehemals gepflegten
Gärten Gemüse anzupflanzen, weil sie sich keine Lebensmittel mehr kaufen können.
Oder denken Sie an die Lage der Intelligenz in den osteuropäischen Staaten nach dem Krieg,
Stehen wir heute in Deutschland vor einer ähnlichen Situation?
Wohl nicht - aber immerhin zeigt Hartz ähnliche Tendenzen.
Wenn man sich nur die ökonomische Lage ansieht, dann sehen wir in verschiedenen Bereichen
durchaus Abstiege.
Meine eigene Position ist ungefähr der eines Oberregierungsrat vergleichbar. Früher war das eine
gesicherte Position, in der man sich manches erlauben und ein durchaus bürgerliches Leben führen
konnte - in den fünfziger Jahren sogar auch ein Hausmädchen.
Heute muss auch ich bei Aldi kaufen!
Mit dem Nationalsozialismus nahmen auch die Klassenstudien ein vorläufiges Ende.
Eine geschichtete Gesellschaft entsprach nicht den nationalsozialistischen Vorstellung von einem
Reich, einem Volk und einem Führer!
6. Schelskys Modell und Boltes Zwiebel
Die Debatte begann erst wieder in den 50iger Jahren mit dem von Helmut
Begriff der "nivellierten Mittelstandgesellschaft".
Schelsky geprägten
Schelsky war der Meinung, dass eine Klassenanalyse keinen Sinn mehr machen würde, da seit Mitte
des 19. Jahrhunderts eine Vielzahl von sozialen Prozessen vorangekommen seien, die die
antagonistischen Situation zwischen zwei Klassen aufgehoben hätten. Es hätten sich neue Strukturen
und Gesetzlichkeiten entwickelt, die sehr viel dominanter seien, als Marx Klassenkampf. Schelsky
sah nur einen Mittelstand in dem es durchaus Bewegungen geben würde, aber alles im Rahmen
dieses einen Mittelstandes.
Aus der Zeit heraus ist dies sicherlich verständlich. Es war die Zeit des Wirtschaftsministers und
späteren Bundeskanzlers Ludwig Erhard
Die gesellschaftliche Situation in der Bundesrepublik – und ich spreche nur vom westlichen Teil
Deutschland – war in der zweiten Hälfte der 50ger Jahre durch einen bemerkenswerten Aufschwung
geprägt.
Deutschland war aus den Trümmern auferstanden und wieder zu Wohlstand gekommene. Es
herrschte und materielle Not der arbeitenden Bevölkerung war weitgehend behoben.
Es war die Zeit des Wirtschaftswunders.
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Die Menschen waren mit ihren Leben zufrieden, wenn nicht der Koreakrieg gewesen wäre und die aus westlicher Sicht - unerträglichen Situationen in den östlichen Ländern, in denen die Regierenden
versuchten, mit Gewalt die Marx'schen Ideen durchzusetzen.
Mittelstandsgesellschaft hieß: es gibt keine Klassengegensätze mehr.
Jeder konnten Bildung, Einkommen und Status durch persönliche Tüchtigkeit erwerben.
Das war die politische Bedeutung des soziologischen Begriffs von der nivellierten
Mittelstandgesellschaft. Und genau genommen hielt der Begriff bis Ende der sechziger Jahre.
Aber Schelskys Begriff war eine soziologische oder auch politische Spekulation oder besser eine
politische Behauptung. Es war Armchair-Reasoning, wie ich es früher bezeichnet hatte, als wir über
die amerikanische Soziologie sprachen und ich ihnen von Aufkommen der Chicago School erzählt
hatte. Aber dem Versprechen einer klassenlosen Gesellschaft wurde geglaubt, der Begriff machte
Karriere und bestimmte viele Jahre die öffentlich und auch die soziologische Situation.
Die empirische Wende kam dann in den sechziger Jahren – genaue genommen 1967 mit einer
Veröffentlichung des Soziologen Martin Bolte.
Bolte fand ein sehr einprägsames Modell der westdeutschen Gesellschaft, das als Bolte- Zwiebel
bezeichnet wird.
Er fügte drei Kriterien zusammen: Beruf, Bildung und Einkommen und ermittelte die Verteilung. Das
so entstandene Bild sieht nun nicht aus wie eine Pyramide – was man ja hätte erwarten können –
sondern wie ein umgekehrter Tannenbaum: eben wie eine Zwiebel.
Hier sehen sie es, wenn auch in einer nur schwer lesbaren Form.
Die Bolte-Zwiebel
1960er Jahre
Bezeichnung
der Statuszone
Oberschicht
obere Mitte
mittlere Mitte
2
1
untere Mitte
Anteil
ca. 2 v.H.
ca. 5 v.H.
ca. 14 v.H.
ca. (29)
58 v.H.
3
unterste Mitte/
oberes Unten
ca. (29)
Unten
ca. 17 v.H.
Sozial Verachtete ca. 4 v.H.
1 Angehörige des sogenannten neuen Mittelstands
2 Angehörige des sogenannten alten Mittelstands
3 Angehörige der sogenannten Arbeiterschaft
Mittlere Mitte nach den Vorstellungen der Bevölkerung
Mitte nach der Verteilung der Bevölkerung. 50 v.H. liegen oberhalb bzw. unterhalb
imStatusaufbau
Darauf beruht – nur wenig abgewandelt - ein Modell, das auch heute noch bei der Analyse des
Konsumentenverhaltens benutzt wird. Es ist von den Soziologen Engel, Blackwell und
Kollat entwickelt worden. Sie können sich ja den Spaß machen, sich selbst oder Ihre Familie hier
einzuordnen.
Die Autoren unterscheiden sechs Stufen

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Obere Oberklasse
Untere Oberklasse
 Obere Mittelklasse
 Untere Mittelklasse
 Obere Unterklasse
 Untere Unterklasse
Schauen wir und diese Schichten doch einmal genauer an.
1. Obere Oberklasse
Diese soziale Klasse stellt eine soziale Elite dar, die aus international bekannten Familien stammt
und von vererbtem Vermögen lebt.
Charakteristisch sind mehrere Haushalte, internationale Wohnsitze und Ausbildungsprogramme für
den Nachwuchs auf internationalen, streng zugangsbeschränkten Eliteschulen.
Die hauptsächliche Beschäftigung besteht in der Verwaltung des umfangreichen Vermögens, sowie
internationaler Verpflichtungen.
Der Sozialstatus dieser Klasse erlaubt ihren Mitgliedern auch die Ausrichtung von gesellschaftlich
bedeutenden und überregional bekannten Festen, Bällen oder Ausstellungen.
Die Interessen innerhalb dieser Gruppe beziehen sich auf Selbstverwirklichung und Ästhetik, eine
für den Klassenerhalt vorteilhafte Partnerwahl sowie erlesene Konsumgüter, Yachten, Flugzeuge
und Immobilien. Sie sind das Vorbild der unteren sozialen Klassen und werden von diesen
beobachtet und imitiert.
2. Untere Oberklasse
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Hier finden sich vor allem Menschen, die durch besondere berufliche Leistungen oder gesteigertes
Erbschaftsvermögen zu beachtlichem materiellen Reichtum gelangt sind.
Oft entstammen sie der Mittelklasse oder sind "gefallene Superreiche", denen Fehler im Umgang mit
ihrem Vermögen unterlaufen sind.
Zu dieser Gruppe gehören auch die sog. "Neureichen", die durch Heirat oder Lotteriegewinn zu
wirtschaftlichem Einfluss gelangt sind und die durch ein exzentrisches Konsumverhalten auffallen.
Hier finden sich auch bekannte Musiker und Schauspieler, erfolgreiche Sportler oder Schriftsteller.
Das Marktinteresse zielt vor allem auf teure Autos, schöne Boote, Immobilien, Schmuck und sehr
individuelle Reisen oder Studienaufenthalte.
In diesem Sozialstatus ist das Ziel verbreitet, in die Schicht der oberen Oberklasse aufgenommen zu
werden.
Zudem ist ein verstärktes Interesse an gemeinnützigen Projekten festzustellen, für dass die
Mitglieder der unteren Oberklasse gerne die Schirmherrschaft übernehmen bzw. spenden.
3. Obere Mittelklasse
Dies ist die Karriereschicht.
Menschen dieses Sozialstaus haben sich als Freiberufler verwirklicht, sind Lehrende oder
Unternehmer mit mittelständischen Firmen oder sie haben sich durch eisernes Sparen über
Generationen hinweg einige Immobilien angeeignet.
Häufig finden sich in dieser Schicht auch die Gewinner des Börsenboom oder der
Wiedervereinigung; Menschen die zur richtigen Zeit am richtigen Ort einige Hektar Land günstig
erworben haben und nun von den realisierten Gewinnen leben.
Bildung ist für diese Schicht häufig wichtig und bestimmte Statussymbole der Oberschicht gehören
zum Selbstverständnis im äußeren Auftreten.
Es ist sehr wichtig einen "vorzeigbaren" Haushalt zu führen, sich elegant zu kleiden und
regelmäßig Urlaub zu machen.
Höheren Angestellten oder Beamten in besseren Positionen gelingt es in dieser Sozialschicht
begrenzten Einfluss in Politik und Wirtschaft zu nehmen.
Die Vermeidung eines sozialen Abstieges ist für diese Gruppe besonders wichtig.
4. Untere Mittelklasse
In dieser Sozialschicht ist Fleiß besonders hoch angesehen, weniger die Selbstverwirklichung auf
künstlerischer oder unternehmerischer Ebene.
Die Angehörigen dieser Schicht leben in "gutbürgerlichen Verhältnissen", besitzen eine selbstgenutzte
Wohnimmobilie und halten sich streng an gesellschaftliche Normen und Vorgaben.
Die geordnete Haushaltsführung ist besonders wichtig, weniger die Erkundung fremder Länder und
Sitten oder das Unterstützen sozialer Projekte.
Die Möbel werden regelmäßig neu erworben, die Reparaturen am Haus hingegen möglichst selbst
durchgeführt.
Es gibt ein ausgeprägtes Kostenbewusstsein bei Einkäufen, "Gelegenheiten" haben einen hohen
Stellenwert.
Das Interesse an Pauschalreisen ist groß, es werden häufig Neuwagen gekauft.
In dieser Sozialschicht herrscht auch ein gewisses Markenbewusstsein vor, Sicherheit ist ein wichtiges
Kaufargument.
Ein Aufstieg in die untere Oberschicht wird häufig angestrebt, bleibt jedoch aus einem typischen
Mangel an Risikobereitschaft eher die Ausnahme.
5. Obere Unterklasse
Hier finden sich vor allem einfache Angestellte und Facharbeiter, z.T. auch scheinselbständige
Unternehmer ohne Mitarbeiter, "Arbeiteraristokraten" sowie Künstler ohne überregionale Bedeutung.
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Die Wohnverhältnisse sind bescheiden, entweder zur Miete oder in sehr einfachen Eigenheimen,
die überwiegend geerbt sind. Häufig bewohnen die Mitglieder dieser Schicht Wohnungen des sozialen
Wohnungsbaus.
Ihre Kaufgewohnheiten sind gewohnheitsmäßig gleich, selten werden kulturelle oder gesellschaftliche
Ereignisse wahrgenommen.
Die Schulbildung der Mitglieder dieser sozialen Schicht ist einfach bis mittel, häufig hat die Ehefrau
keine eigene berufliche Stellung.
Halbtagsbeschäftigungen im Laden oder einfache Bürotätigkeiten bessern die Haushaltskasse auf,
auf Urlaub wird schon mal verzichtet.
Diese Gruppe der sozialen Gesellschaft bildet den wichtigsten Markt für Gebrauchtwagen, LastMinute- Reisen oder Sonderangebote im Möbelhandel. Markenware ist nicht von hoher Bedeutung.
Häufig wird in Versandhauskatalogen auf Teilzahlung bestellt oder in Fernsehshows telefonisch
gekauft.
Die Bestrebungen zum Aufstieg in eine höhere soziale Schicht sind weniger stark ausgeprägt, als die
Vermeidungsstrategie eines Totalverlustes an Sicherheit.
6. Untere Unterklasse
Zu den Angehörigen der unteren Unterschicht zählen vor allem Menschen ohne eigenes Einkommen,
Angehörige des zweiten Arbeitsmarktes, Arbeitssuchende und Sozialhilfeempfänger, sowie Ausländer
ohne berufliche Qualifikation.
Geringe Schulbildung oder psychische bzw. physiologische Probleme schränken die berufliche
Betätigung ein.
Rentner ohne ausreichende Versorgung, die zusätzliche staatliche Unterstützung benötigen und
"brotlose Künstler" bzw. Angehörige der Obdachlosenszene bestimmen das soziale Bild dieser
Gruppe.
Oft sind die der Mittelklasse entstammenden Werte und Nomen verpönt.
Häufig prägen Alkohol- und Drogenmissbrauch den Alltag dieser Menschen.
Produktqualität ist nicht entscheidend für eine Kaufentscheidung, Impulskäufe und unregelmäßige
Versorgung sind der Regelfall.
7. Das Dahrendorfsche Haus
Um Ihre soziologische Allgemeinbildung abzurunden, lassen Sie mich Ihnen zum Schluss noch ein
recht bekanntes Schichtungsmodell des Soziologen Ralf Dahrendorf vorstellen: Das
Dahrendorfsche Haus
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Hier zeigt sich eine etwas andere Sichtweise. Es gibt nicht nur Unterteilungen auf der horizontalen
Ebene, sondern auch vertikale Strukturen. Und es sind Ausländer mit berücksichtigt.
Der Prozentsatz der Arbeiter liegt demnach bei 28% deutscher und 8% ausländischer Arbeiter.
Der Dienstleistungsbereich ist sehr stark geworden. Die Grafik zeigt einiges sehr deutlich: 9% sind im
ausführenden Dienstleistungsbereich und 45% im mittleren und höheren Dienstleistungsbereich.
Unterhalb der Armutsgrenze leben 7% Deutsche und 21% Ausländer.
Ausländer rücken in den Mittelstand vor. Der Anteil der Bauern liegt bei einem Prozent und zur
Machtelite gehört 1% der Bevölkerung. Das sind also wohl "die da oben".
Dies war ein kurzer Streifzug durch die Soziologie der Ungleichheit in der Gesellschaft. Mittlerweile
beherrschen andere Themen die Diskussion. Man spricht von Lebenslagen, Lebensstilen und Milieus
und beobachtet eine zunehmende Individualisierung der Gesellschaft, ein Phänomen, das sich in die
alten Modelle sozialer Ungleichheit nur schwer einbauen lässt.
Hier sollte eigentlich Schluss sein mit der Schichtung. Und dann passierte es. Einige Wochen lang
wurde ein Deutschland ein neuer, vorher nie gehörter Begriff heiß diskutiert:
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Das abgehängte
Präkariat
Und in Italien trat ein neuer Heiliger auf: San Precario.
Er ist ein großzügiger Heiliger, ein Tröster für viele Lebenslagen.
Ob er für einen zuständig ist, lässt sich durch simple Selbstbefragung herausfinden.
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Woher kommt morgen mein Geld?
Wie sicher ist mein Arbeitsplatz?
Reicht das Geld für den Kita-Platz?
Welche Jobs gehen ohne Pass?
Was ist, wenn ich krank werde?
Wie will ich wohnen?
Wie finanziere ich mein Studium, was mache ich danach?
Warum denke ich ständig an Arbeit?
Wie will ich leben?
Wo sind Chancen für ein besseres Leben als heute ?
Wer in einem oder mehreren Punkten betroffen ist, darf sich mit der Diagnose anfreunden, prekarisiert
zu sein.
Und er reiht sich ein in die große Zahl der Bürger, denen das Wasser bis zum Hals steht. Das ist auch
die zentrale Botschaft dieser Menschen
In allen europäischen Ländern formiert sich der Protest auf die Entsicherung des sozialen Lebens
durch befristete Beschäftigung, Minijobs, Dauerpraktika, modernes Tagelöhnerwesen.
Aus prekären Arbeitsverhältnissen folgen prekäre Existenzweisen und in Analogie zum Proletariat
wurde deshalb der Begriff des Prekariats für eine neue Form einer ausgebeuteten Klasse gewählt.
Und diese Klasse liegt quer zur bisherigen Klassenbildung, der arbeitslose Jurist gehört ebenso dazu
wie der glücklose Web-Designer, die diplomierte leidige Mutter mit drei Kindern ebenso, wie der
obdachlose promovierte Akademiker.
Das Prekariat besteht aus kleinen Selbständigen und Angestellten auf Zeit, aus Praktikanten, aber
auch aus chronisch Kranken, Alleinerziehenden und Langzeitarbeitslosen. Die Mehrheit von ihnen lebt
in ungeschützten Arbeitsverhältnissen mit Niedrigsteinkommen oder auch in Arbeitslosigkeit. Sie
sind verschuldet, sind resigniert und haben z.T. nur eine geringe Bildung.
Kommen mehrere Faktoren zusammen und mündet dies in langfristiger Aussichtslosigkeit ohne
Chance auf Verbesserung der Situation - häufig in Verbindung mit Resignation - wird vom
„abgehängten Prekariat“ gesprochen.
Nach der Studie „Gesellschaft im Reformprozess“ der Friedrich-Ebert-Stiftung, die im Dezember
2006 veröffentlicht wurde, gehören 6,5 Millionen Deutsche (ca 8% der Bevölkerung) zum
abgehängten Prekariat.
Der Begriff Prekarariat ist bietet sich wie kaum ein anderer für eine politische Diskussion an. Und
manchmal wünscht man sich, dass die Diskussionsteilnehmer einen soziologischen Grundkurs
besucht hätten, bevor sie sich zu Wort melden. Sowohl einige CDU- als auch einige SPD-Politiker
lehnen die Formulierung „Unterschicht“ grundsätzlich ab, da dieses Wort eine Bevölkerungsschicht
abstemple bzw. ausgrenze.
Unser Vize-Kanzler Franz Müntefering meinte in einer Rundfunksendung, dies sei eine
Formulierung "lebensfremder Soziologen“ und weiter: “Es gibt keine Schichten in Deutschland. Es gibt
Menschen, die es schwerer haben, die schwächer sind. Das ist nicht neu. Das hat es schon immer
gegeben. Aber ich wehre mich gegen diese Einteilung der Gesellschaft."
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