Faschismus in Deutschland aus der sozialen Lage dieser Schichten

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LK Geschichte 2003 - 2005 - 2./3.Semester - 4 1880-1930
(Klassische Moderne) 4.3 theoretische Texte /Positionen
Auszüge aus: Kühnl, Reinhard: Faschismustheorien - Texte zur Faschismusdiskussion 2, Reinbek b.H.
1981, S. 110 ff., 152 ff., 313 ff.
Psychologische Theorien
Fromm [geht] von der Entwicklung dieser Schichten seit dem Beginn des Kapitalismus aus und
bezieht sich dabei besonders auf die deutsche Geschichte. Diese historische Untersuchung soll zeigen,
wieso sich «die Charakterstruktur des Menschen unter dem Monopolkapitalismus von der im 19.
Jahrhundert» unterscheidet ; sie soll «die Charakterverfassung jener Kreise (darstellen), die die Träger
des Nazismus waren, und die psychologischen Eigentümlichkeiten seiner Ideologie».
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Der Kapitalismus bedeutet von Beginn an eine Bedrohung für Freiheit und Individualität: «Im
Kapitalismus wurden Wirtschafts-Aktivität, Erfolg, materieller Gewinn zu Selbstzwecken. Es wurde
des Menschen Bestimmung, zum Gedeihen des Wirtschaftssystems beizutragen, Kapital anzuhäufen nicht zum Zweck eigener Glückseligkeit, eigenen Heils, sondern als Ziel an sich, als Endziel. Der
Mensch wurde ein Zahn am Riesenrad der Wirtschaftsmaschine — ein gewichtiger, wenn er über viel 10
Kapital verfügte, ein unbedeutender, wenn er keines besaß, immer jedoch ein Radzahn, der außerhalb
seiner selbst gelegenen Zwecken diente». «Die Beziehung von Mensch zu Mensch ist nicht mehr
menschlich, sondern mechanisch instrumentiert. Die Gesetze des Marktes gelten jetzt auch für die
persönlichen und sozialen Beziehungen». Die «Entfaltung des Kapitals, des Marktes, des freien
Wettbewerbs» machte auch die persönliche Lage der Menschen «zu einer unsicheren und be- 15
sorgniserregenden». Dabei sei «am meisten der Mittelstand durch die Übermacht der Monopole und
weit überlegene Kapitalkraft bedroht, ein Zustand, der . . . Geist, Seele, Denk- und Gemütsart. . . auf
das stärkste beeinflußte». Fromm sieht darin eine langfristige Tendenz, betont aber zugleich, daß diese
sich nach 1918 wesentlich verschärfte: «Die Konzentration des Kapitals (nicht des Reichtums) auf
bestimmte Sektoren der Wirtschaft beschränkte die Erfolgsmöglichkeiten persönlicher Initiative, 20
Intelligenz und Courage, und dort, wo das Monopolkapital den Sieg davontrug, wurden viele
selbständige Existenzen zerstört. Für die, die dagegen ankämpften, nahm der Kampf solche Ausmaße
und Formen an, daß ihr persönlicher Mut und Unternehmungsgeist bald dem Gefühl einer
hoffnungslosen Ohnmacht wich. Eine an Zahl sehr kleine Gruppe übte eine enorme Macht auf Staat
und Gesellschaft aus; an ihren Entschlüssen hing das Schicksal des Großteils der Bevölkerung. Die 25
deutsche Inflation von 1923, der amerikanische Börsenkrach von 1929 steigerten das allgemeine
Gefühl der Unsicherheit ins Ungeheure; vielen zerschlugen sie die letzte Hoffnung, je durch eigene
Kraft vorwärts zu kommen, und den ererbten Glauben an unbegrenzte Erfolgsmöglichkeiten».
Bei den abhängig Arbeitenden kam «das Gespenst der Arbeitslosigkeit» hinzu, «das vielen Millionen
nichts läßt als das Gefühl der Unsicherheit».
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In einer solchen Situation suchen die Menschen nach Fromm «dieser Art Freiheit zu entrinnen,
einzumünden in irgendeine Art von Verbundenheit des Menschen mit einer Welt, die ihm Erlösung von
aller Ungewißheit verspricht». Seit Luther schon versuchen viele, «dadurch Sicherheit zu erlangen, daß
sie, das isolierte Selbst ausschaltend, ein Werkzeug in den Händen einer überwältigend starken Macht
außerhalb des Individuellen werden» - sei dies nun der Autorität Gottes, des Staates oder eines Führers. 35
«Durch das Eingehen in eine als unerschütterlich, stark, ewig, ruhmreich empfundene Macht wird man
zum Teilhaber ihrer Gewalt und Glorie». So könne das Individuum «einige Sicherheit (gewinnen), in
der Vereinigung mit Millionen anderer, die diese Gefühle teilen». Sowohl dieses masochistische wie
auch das sadistische Streben soll dem Individuum «zur Flucht aus seinem unerträglichen Einsamkeitsund Ohnmachtsgefühl verhelfen». «Der Sadist braucht seinen Untertan dringend. Denn sein ganzes 40
Kraftgefühl beruht auf dem Faktum, daß er über irgendwen herrscht». Hitler konnte nach Fromm nur
deshalb so erfolgreich sein, weil er soziologisch wie auch ideologisch «der typische Vertreter de»
Kleinbürgertums (war), ein Niemand ohne Zukunftsaussichten, der sich ganz ausgesprochen als
Ausgestoßener fühlte».
Fromm nennt dies den «sadomasochistischen» oder «autoritären Charakter», weil beide Momente 45
zusammengehören: «Er bewundert die Autorität und strebt danach, sich ihr zu unterwerfen; gleichzeitig
will er selbst Autorität sein und andere gefügig machen». Die äußeren Mächte begreift er als Schicksal:
«Es ist für ihn <Schicksal>, daß es Kriege gibt; <Schicksal>, daß die einen herrschen und die ändern
beherrscht, werden; (Schicksal), daß die Summe des Leidens nie weniger wird. Das Schicksal kann
hierbei als <Naturgesetz> rationalisiert werden, oder als <menschliche Bestimmung), religiös als 50
<Wille des Herrn>, ethisch als <Pflicht> - für den autoritären Charakter ist es stets eine höhere Macht,
der sich das Individuum zu unterwerfen hat».
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Nach Fromm war nun dieser «autoritäre Charakter» typisch «für große Teile des Kleinbürgertums in
Deutschland und anderen europäischen Ländern». Von hier aus erklärt er die Anfälligkeit für die
faschistische Ideologie: «Die Frage, wieso die Nazi-Ideologie einen solchen Anreiz für das
Kleinbürgertum darstellte, beantwortet sich aus dessen sozialer Lage und seinem Charakter. Er
unterschied sich scharf von dem der Arbeiterklasse, des gehobenen Bürgertums und des Adels der Zeit 5
vor 1914. Bestimmte Züge waren für diesen Teil des Mittelstands zu allen Zeiten seit seinem Bestehen
charakteristisch gewesen: seine Verehrung des Starken, sein Haß auf den Schwachen, Engherzigkeit,
Kleinlichkeit, Feindseligkeit, Sparsamkeit bis zum Geiz (sowohl mit Gefühlen wie mit Geld) und
besonders seine Kargheit, sein Asketismus. Des Kleinbürgers Blick ins Leben war eng, er beargwöhnte
und haßte den Fremden, beneidete die eigenen Bekannten, spionierte sie aus und verdeckte 10
(rationalisierte) seinen Neid in Gestalt von moralischer Entrüstung. Sein ganzes Dasein beruhte auf
Dürftigkeit - seelisch und wirtschaftlich . . .
Obwohl aber der gesellschaftliche Charakter des Kleinbürgertums schon lange vor 1914 unzweifelhaft
der gleiche war, verstärkten - ebenso unzweifelhaft - die Nachkriegsereignisse speziell jene seit langem
vorhandenen Charakterzüge, auf die die Nazi-Ideologie ihren mächtigen Anreiz ausübte, nämlich: die 15
Sucht, sich zu unterwerfen, und die Begierde nach Macht. . .
Die Nachkriegszeit brachte beträchtliche Veränderungen. Der wirtschaftliche Niedergang des alten
Mittelstands wurde durch die Inflation, die 1923 ihren Höhepunkt erreichte, beschleunigt. Die
Ersparnisse vieler arbeitsreicher Jahre wurden hinweggefegt. Zwar brachte die Zeit von 1924 bis 1928
eine wirtschaftliche Besserung und dem Mittelstand neue Hoffnungen und Gewinne, allein die 20
Depression, die 1929 einsetzte, fraß sie hinweg. Wie in der Inflationszeit war der Mittelstand,
eingequetscht zwischen der Oberschicht und dem Proletariat, die wehrloseste und daher am schwersten
getroffene Gruppe.
Neben und mit den wirtschaftlichen drückten die seelischen Zustände. Da war der verlorene Krieg und
der Sturz der Monarchien. Der Staat und die Fürsten waren sichere Felsen gewesen, auf die - 25
psychologisch gedacht - der Kleinbürger sein Dasein aufgebaut hatte; ihr Sturz und die Niederlage
erschütterten die Grundlage seines Seins».
Modernisierungstheorien
Eine sehr anspruchsvolle Variante der Faschismusinterpretation stellen die Modernisierungstheorien 30
dar. Ihr Einfluß in der wissenschaftlichen Diskussion ist im letzten Jahrzehnt deutlich gewachsen. Dies
zeigt sich auch darin, daß einzelne Elemente dieser Theorien auch von anderen Autoren übernommen
und in andere Interpretationen eingefügt worden sind. In ihrer entwickelten Form beanspruchen diese
Theorien, nicht nur einzelne Aspekte des Faschismus zu erklären (die soziale Basis oder die Ideologie
oder das Herrschaftssystem), sondern das Gesamtphänomen des Faschismus in seiner Genese und 35
seiner Struktur, also auch den Stellenwert des Faschismus in der Entwicklung der modernen Gesellschaft. (Sie stellen damit den gleichen hohen Anspruch wie die marxistischen Theorien, die in den
folgenden Kapiteln behandelt werden.) Der Plural «Theorien» ist - wie bei den marxistischen Theorien
- besonders notwendig, weil sich - auf der Basis gemeinsamer methodischer Prämisien - sehr
unterschiedliche Versionen herausgebildet haben.
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Ihr allgemeineres theoretisches Fundament bildet die Industriegesellschaftstheorie, die von Rostow
ausdrücklich als «Alternative zur marxistischen Entwicklungstheorie» bezeichnet wird. Deren
Grundgedanke ist, daß sich die Menschheitsgeschichte in verschiedenen Stadien entwickelt hat
(Rostow unterscheidet fünf, Organski vier), deren zentrales Unterscheidungsmerkmal das
unterschiedliche Entwicklungsniveau von Wissenschaft und Technik ist. Gegenwärtig sei - als bisher 45
höchstes Stadium - in einigen Ländern das der Industriegesellschaft auf ihrer fortgeschrittenen Stufe der
Konsumgesellschaft erreicht. Die Organisationsform der Gesellschaft und die Eigentumsverhältnisse
gelten demgegenüber als unwesentlich. So erscheint der Sozialismus nicht als Alternative zum
Kapitalismus, sondern (da er bisher hauptsächlich in weniger entwickelten Ländern etabliert wurde)
lediglich als eine noch zurückgebliebene Form auf dem Weg zur modernen Industriegesellschaft. Die 50
Zukunft der Menschheit wird demnach von der Gesellschaft mit dem höchsten Entwicklungsstand von
Industrie, Technik und Wissenschaft, vom «Verschwendungskapitalismus» (Organski), vom
«Massenkonsum», konkret also von den USA repräsentiert.
Wird diese Theorie auf den Faschismus angewandt, so steht im Zentrum die Frage, wie die Beziehung
zwischen dem Industrialisierungs- und Modernisierungsprozeß und dem Faschismus zu definieren ist. 55
Am Beispiel des amerikanischen Sozialhistorikers Barrington Moore kann die Leistungsfähigkeit
dieser Theorie dargestellt werden.
Moore versucht, durch den Vergleich der Entwicklungswege der großen Länder seit dem Feudalismus
erstens zu einer Typologisierung dieser Entwicklungswege zu gelangen und zweitens zur
Herausarbeitung sozialgeschichtlicher Gesetzmäßigkeiten. Seine zentrale Hypothese lautet, daß die 60
konkrete Beschaffenheit des Feudalismus und die Art und Weise seiner Überwindung in den einzelnen
Ländern in hohem Maße die weitere Entwicklung dieser Länder determiniert hat. Schon in dieser
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Periode seien wesentliche Vorbedingungen dafür geschaffen worden, daß sich in einem Land später
entweder eine kapitalistische Demokratie oder eine faschistische Diktatur oder eine kommunistische
Bauernrevolution durchsetzen konnte. Mit Blick besonders auf Japan und Deutschland und erst in
zweiter Linie auf Italien arbeitet Moore die folgenden Charakteristika und Gesetzmäßigkeiten heraus:
Während der erste Entwicklungsweg dadurch gekennzeichnet ist, daß sich - nach einer Serie
bürgerlicher Revolutionen - Kapitalismus und Demokratie verbinden, ist der zweite Weg zwar 5
«gleichfalls ein kapitalistischer, der jedoch, da es keine starke revolutionäre Strömung gab, über
reaktionäre politische Formen schließlich zum Faschismus führte». Die erste Variante setzte sich durch,
wenn fünf Bedingungen gegeben waren:
1. «Die Entwicklung eines Gleichgewichts, um eine zu starke Krone oder eine zu unabhängige
grundbesitzende Aristokratie zu verhindern.»
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2. «Die Hinwendung zu einer geeigneten Form der kommerziellen Landwirtschaft entweder von seiten
der grundbesitzenden Aristokratie oder von seiten der Bauernschaft» (das erste geschah in England, das
zweite in den USA).
3. «Die Schwächung der grundbesitzenden Aristokratie» durch eine «kraftvolle, unabhängige Klasse
von Stadtbewohnern.»
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4. «Die Verhinderung einer aristokratisch-bürgerlichen Koalition gegen die Bauern und Arbeiter.»
5. «Ein revolutionärer Bruch mit der Vergangenheit». «Im Verlaufe dieses Prozesses wurden die
grundbesitzenden Oberklassen entweder zu einem wichtigen Teil der kapitalistischen und demokratischen Flutwelle, wie in England, oder sie wurden - falls sie sich ihr entgegenstellten - in den
Erschütterungen der Revolution oder des Bürgerkriegs weggefegt» (wie in Frankreich oder den USA). 20
Der Weg in den Faschismus dagegen ist dadurch gekennzeichnet, daß die grundbesitzenden
Oberklassen entweder, wie in Japan, «die bestehende bäuerliche Gesellschaft intakt» halten und nur so
viele Veränderungen einführen, «wie unbedingt notwendig sind, um sicherzustellen, daß die Bauern
einen ausreichenden Überschuß erzeugen, den sie sich dann aneignen und mit Gewinn auf den Markt
werfen» können; oder es gelingt ihnen, die Leibeigenschaft fest zu verankern, vermittels derer die 25
Bauern an den Boden gebunden werden - wie zum Beispiel in Preußen. Beide Varianten erfordern
einen starken staatlichen, monarchistisch-bürokratischen Unterdrückungsapparat, der auch das
städtische Bürgertum in Abhängigkeit hält, und konservieren elitäre, autoritäre und soldatische
Ideologeme. Diese «arbeitsrepressiven Landwirtschaftssysteme» geraten zwangsläufig in
Schwierigkeiten «durch die Konkurrenz technisch weiter fortgeschrittener Systeme in anderen 30
Ländern» -zum Beispiel durch die Weizenexporte der USA nach dem Ende des amerikanischen
Bürgerkrieges - und antworten darauf mit einer weiteren Verstärkung der «autoritären und reaktionären
Tendenzen». Zugleich aber wird eine «konservative Modernisierung durch eine Revolution von oben»
eingeleitet, die den Übergang zum modernen Industrieland ermöglichen, aber dennoch «möglichst viel
von der ursprünglichen Sozialstruktur» erhalten soll. Dabei kommt es häufig zu einer «formlosen 35
Interessen- und Kampfkoalition zwischen einflußreichen Sektoren der grundbesitzenden Oberklassen
und den sich formierenden Schichten von Handel und Industrie», die «zu schwach und abhängig» sind,
um die Macht selbst zu übernehmen. Die wachsenden inneren Widersprüche und die wachsende
Aktivität der organisierten Massen trieben die herrschende Klasse schließlich zur faschistischen
Lösung: «Der Faschismus war der Versuch, Reaktion und Konservativismus populär und zu einer 40
Sache der Plebs zu machen», der in seinen Anfängen schon am Ende des 19. Jahrhunderts im deutschen
Kaiserreich zu erkennen war. So erklärte sich die spezifisch faschistische Mischung zwischen
Ideologemen von Hierarchie, Disziplin und Gehorsam einerseits und einem plebejischen
Antikapitalismus andererseits. Diese Ideologie war zwar geeignet, eine Massenbasis in den vom
Kapitalismus bedrohten Schichten von Landwirtschaft, Handel und Handwerk zu erlangen, aber die 45
Kriegswirtschaft des faschistischen Systems basierte dann notgedrungen auf der Industrie.
Da Moore klar unterscheidet zwischen denen, die die Massenunterstützung für eine Bewegung oder ein
System liefern, und denen, die davon profitieren, also zwischen sozialer Basis und sozialer Funktion,
kann er für den deutschen wie für den japanischen Faschismus feststellen, daß er «durch Unterdrückung
im Innern und Expansion nach außen gekennzeichnet war. In beiden Fällen war die hauptsächliche 50
soziale Basis für dieses Programm eine Koalition zwischen den Führungsschichten aus Handel und
Industrie (die eine schwache Ausgangsposition hatten) und l den traditionell herrschenden Klassen auf
dem Lande, eine Koalition, die sich gegen die Bauern und die Industriearbeiter richtete» (S. 355). Und
für Italien: «Im wesentlichen protegierte der Faschismus die Großlandwirtschaft und die Großindustrie
auf Kosten der Landarbeiter, der Kleinbauern und der Verbraucher».
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Moore hat mit dieser großangelegten, durch breites empirisches Material abgestützten vergleichenden
Untersuchung ohne Zweifel wesentliche Gemeinsamkeiten in der Entwicklung der monarchischreaktionären und später faschistischen Systeme einerseits und der bürgerlichen Demokratien
andererseits herausgearbeitet. Wieweit er damit auch das Kausalproblem gelöst hat und in welcher
Beziehung die von ihm aufgeführten Bedingungen und Merkmale untereinander stehen, müßte freilich 60
gesondert geprüft werden.
3
Moore ist sich klar darüber, daß die Agarverhältnisse, die er analysiert, «nicht die einzige Ursache»
dieser Differenzierung waren, daß er also einen Faktor aus einem Faktorengefüge herauslöst. Dies führt
zu einigen Fehleinschätzungen des Faschismus als Ganzem, und hier hätte eine weiterführende Kritik
vor allem einzusetzen. (...)
Die Weite des Problemhorizonts und die Höhe des theoretischen Niveaus, wie sie Moore repräsentiert, 5
werden von anderen Modernisierungstheorien nicht erreicht. Vor allem der Zusammenhang zwischen
den faschistischen Bewegungen und der Interessenlage der Oberklassen, den Moore immer im Blick
hat, bleibt oft unbeachtet. So werden zum Beispiel die faschistischen Bewegungen - in Anlehnung an
die Mittelstandstheorien - oft einseitig als bloße Rebellion gegen die industriekapitalistische
Entwicklung gesehen, als irrationaler «Antimodernismus» von Gruppen und Schichten, die in 10
vorindustrieller Mentalität befangen waren - womit dieses Konzept in die Mittelstandstheorien mündet.
Daß hier zugleich der organisierte Versuch der Oberklassen vorlag, «Reaktion und Konservativismus
populär und zu einer Sache der Plebs zu machen» (wie Moore sagt), wird dabei übersehen.
Sehr deutlich ist dieses Defizit bei Ralf Dahrendorf. Schon das Kaiserreich sieht er nicht von einem
Bündnis der feudalen Aristokratie mit der Großindustrie beherrscht - zur gemeinsamen Verhinderung 15
sozialer Reformen und zur Niederhaltung der Arbeiterbewegung-, sondern von einem Bündnis
zwischen Feudalismus und Sozialismus, preußischer und sozialistischer Staatsverherrlichung. Die
sozialen Ursprünge des deutschen Faschismus sieht er dann in einem Bündnis zweier antimodernistischer Kräfte, nämlich der als herrschenden Klasse angesehenen Feudalaristokratie (samt den mit
ihr verbündeten Kräften in Militär und Bürokratie) und dem Mittelstand. Das Großkapital kommt bei 20
ihm als aktiver Faktor beim Kampf gegen die Demokratie gar nicht vor, sondern erscheint als eine
passive, ängstliche, geradezu unterdrückte Klasse. Im Kaiserreich habe sie «von Gnaden der
staatstragenden, vorwiegend preußischen Aristokratie» existiert, und das vielberufene «Bündnis» zwischen den faschistischen Führern und Großindustriellen habe eher den Charakter «eines vorsorglichängstlichen Werbens um Wohlwollen bei den antizipierten Herren der Zukunft» gehabt. So erscheint 25
die Geschichte der letzten hundert Jahre als Leidensweg des Unternehmertums, und erst nach 1945
kommt der verhinderte Kapitalismus endlich zum Durchbruch und damit auch die liberale Demokratie.
Andererseits ist offensichtlich, daß die faschistische Diktatur das genaue Gegenteil einer
«antimodernistischen» Politik im Sinne der Aristokratie und des Mittelstands betrieben hat. Sie hat sich
auf die großen Industrie- und Bankkonzerne gestützt und die ständisch-vorkapitalistischen Illusionen 30
der faschistischen Anhänger rasch zerstört und auch die feudalistischen Relikte stark reduziert besonders in Deutschland. Dies wird oft als Modernisierungsschub, als soziale Revolution und damit
als Wegbereitung der modernen Demokratie gewertet. Nach Dahrendorf war «der brutale Bruch mit der
Tradition und der Stoß in die Modernität... das inhaltliche Merkmal der sozialen Revolution des
Nationalsozialismus». Diese habe damit «die Grundlagen liberaler Modernität» geschaffen. Der 35
Nationalsozialismus habe «die überlieferten - und in ihrer Wirkung illiberalen - Loyalitäten zu Region
und Religion, Familie und Korporation» einschließlich der «Traditionsverbände der sozialistischen
Gewerkschaften» zerbrochen. Die nationalsozialistische «Revolution» manifestierte sich also in der
«Gleichschaltung», das heißt der «Aufhebung unkontrollierter Selbständigkeit». Der «Volksgenosse»
habe die Aufhebung der Bindung an die Schichtzugehörigkeit bedeutet und die Vorbereitung des40
modernen «Staatsbürgers». Der Nationalsozialismus habe also «die Grundlagen liberaler Modernität»
geschaffen. Er habe «jene Transformation der deutschen Gesellschaft bewirkt, die auch die Verfassung
der Freiheit erst möglich macht».
(...)
Was die allgemeine Theorie betrifft, die faschistische Bewegung sei eine revolutionäre Bewegung 45
gewesen, so wurde bereits im Kapitel über die «Mittelstandstheorien» nachgewiesen, daß es sich beim
Faschismus genau im Gegenteil um eine gegenrevolutionäre Bewegung handelt. (...) Daß die Theorie
vom Faschismus als Revolution und Modernisierung wissenschaftlich widerlegt ist, hat freilich ihren
politischen Siegeszug in der massenwirksamen Publizistik nicht aufhalten können, wie zum Beispiel
das neue Buch Von Sebastian Haffner zeigt. Haffner, der offensichtlich fasziniert ist von der 50
Modernisierungsthese, wiederholt nicht nur unkritisch alle faschistischen Propagandamärchen von
Volksgemeinschaft, Geborgenheits-, Kameradschafts- und Glücksgefühl, sondern nennt Hitler
tatsächlich einen «sehr leistungsstarken Sozialisten» - und das Buch wurde, ebenso wie drei Jahre
vorher das von Fest, vom Spiegel bis zur Welt, von der Zeit bis zur Frankfurter Allgemeinen Zeitung
jubelnd begrüßt und sogar mit dem Heinrich-Heine-Preis ausgezeichnet. Die Beliebtheit dieser Theorie 55
ist verständlich. Mit ihr bot sich ein Instrument, um einerseits der herrschenden Geschichtswissenschaft
aus ihrer hoffnungslosen Alternative zwischen begriffsloser Faktenhuberei und geistesgeschichtlicher
Spekulation herauszuhelfen und der marxistischen Wissenschaft mit einer «sozialwissenschaftlichen
Theorie» entgegenzutreten, und andererseits bot sich der politischen Publizistik die Möglichkeit, dem
Faschismus - und damit auch allen seinen Bundesgenossen und Helfern - das Image des 60
Fortschrittlichen zu verleihen.
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