Inhaltsverzeichnis

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Florian Häubi s0844675
08.04.2017
Nietzsches Entwicklungstheorie
und
das „souveraine Individuum“ in GM II:21
Inhaltsverzeichnis
1. Einleitung ............................................................................................................................... 1
2. Nietzsche und die Evolutionstheorie ...................................................................................... 2
2.1. Herbert Spencer ............................................................................................................... 4
3. Das Individuum unter entwicklungstheoretischem Gesichtspunkt ........................................ 5
3.1. Egoismus und Altruismus ............................................................................................... 7
3.2. Nietzsches Konzeption des Individuums und der „Wille zur Macht“ .......................... 11
3.3. Nietzsches Begriff der „Vervollkommnung“ ................................................................ 14
3.4. Das Individuum und die Herde ..................................................................................... 16
4. Schlussfolgerungen: Das „souveraine Individuum“ in GM II:2 .......................................... 19
5. Bibliographie ........................................................................................................................ 21
1
Diese Arbeit ist der Entwurf einer Seminararbeit, die bei Prof. Christoph Lüthy (Radboud Universiteit)
innerhalb seines Seminars „Evolution and Mind“ (FS 2009) eingereicht werden wird.
1. Einleitung
Die vorliegende Arbeit hat sich zum Ziele gemacht, einen bestimmten Passus aus Nietzsches
Werk Zur Genealogie der Moral2 zu analysieren. Die Stelle findet sich zu Beginn der zweiten
Abhandlung des eben genannten Werkes und beschreibt einen „ungeheuren Prozess“, an
dessen Ende das „souveraine Individuum“ steht.3 Es ist das Anliegen dieser Arbeit, diese
Figur
in
Zusammenhang
mit
Nietzsches
Entwicklungstheorie
zu
bringen.
Der
ausschlaggebende Grund dafür ist eine Debatte innerhalb der Nietzsche-Forschung über den
Status des „souverainen Individuums“. Uneinigkeit scheint dabei vor allem darüber zu
herrschen, ob die genannte Figur als Ideal Nietzsches anzusehen ist oder ob sie den
Endzustand eines negativ bewerteten Prozesses darstellt und einen rein repräsentativen
Charakter hat. Die vorliegende Arbeit wird erstens versuchen zu zeigen, dass beide
Interpretationsmöglichkeiten in einem gewissen Spannungsverhältnis zu Nietzsches
Entwicklungstheorie stehen und wird zweitens eine differenziertere Bewertung des
„souverainen Individuums“ vorschlagen.
Bei der Ausarbeitung von Nietzsches Entwicklungstheorie stütze ich mich hauptsächlich wenn auch nicht ausschliesslich - auf die Nachlassaufzeichnungen aus den Jahren 1880 bis
1882 und 1885 bis 1887. Dies hat einen praktischen Grund. In beiden Jahresabschnitten,
insbesondere in den Jahren 1880 bis 1882, findet sich eine dichte Sammlung von Texten, die
sich explizit auf die Evolutionstheorie und den Darwinismus beziehen. Zudem ist die
Auswahl der beiden Perioden in Hinsicht auf GM nicht beliebig. Die Rechtfertigung für die
Auswahl der Jahre 1880 bis 1882 besteht darin, dass sich Nietzsche in diesen Jahren verstärkt
mit Literatur aus der Biologie und insbesondere mit dem (Sozial-)Darwinismus, wie er von
Herbert Spencer vertreten wurde und welcher in GM explizit erwähnt wird4, beschäftigte. Die
Nachlassaufzeichnungen aus den Jahren 1885 bis 1887 werden deshalb herangezogen, weil
sie in direktem zeitlichem Zusammenhang mit GM stehen und Nietzsche in diesen Texten
verstärkt den Willen zur Macht in seine Entwicklungstheorie einbindet. Es ist wichtig
festzuhalten, dass damit keine einseitige Stellungnahme bezüglich einer Vorrangigkeit des
Nachlasses gegenüber den publizierten Werken vollzogen wird.
Inhaltlich
ist
zunächst
festzuhalten,
dass
in
dieser
Arbeit
Nietzsches
eigene
Entwicklungstheorie nur bruchstückhaft dargestellt werden kann. Ich werde mich deshalb
zum einen auf Nietzsches Kritik am Darwinismus, wie er von Herbert Spencer vertreten
KSA 5, 245 – 412. Im Folgenden: GM.
KSA 5, 293.
4
KSA 5, 316.
2
3
1
wurde, fokussieren, und zum anderen mich auf jene Elemente von Nietzsches
Entwicklungstheorie beschränken, die für die Ausarbeitung des „souverainen Individuums“
wichtig sind. Die Arbeit ist folgenderweise aufgebaut: In einem ersten Schritt (2.) sollen
einige einführende Bemerkungen zu Nietzsche und dem Darwinismus gemacht werden. Da
im Folgenden Nietzsches Entwicklungstheorie vor allem in Abgrenzung zu Herbert Spencers
Sozialdarwinismus ausgearbeitet werden soll, wird unter 2.1. Spencers Evolutionstheorie kurz
dargestellt. Im Kapitel 3 wird zuerst gezeigt, dass im Zentrum von Nietzsches
Entwicklungstheorie das Individuum steht und die Entwicklung als Prozess zunehmender
Individuation angesehen wird. Dieser Prozess wird, wie unter 3.1. zu zeigen sein wird,
unterstützt durch Nietzsches Auffassung des Egoismus. Das Kapitel 3.2. geht der Frage nach,
worin Nietzsche den Antrieb für diese Entwicklung sieht. Dies führt direkt zu einer
Thematisierung von Nietzsches Vervollkommnungsbegriff, welche im Kapitel 3.3.
unternommen wird. Das Kapitel 3.4. schliesst die Betrachtungen zu Nietzsches
Entwicklungstheorie ab. Dabei werden zuerst die wesentlichen Charakteristika des
Individuums als Produkt des Entwicklungsverlaufs näher bestimmt und schliesslich das so
verstandene Individuum in seiner Beziehung zur grossen Masse näher beleuchtet.
Abschliessend
werden
unter
4.
einige
Schlussfolgerungen
der
dargestellten
Entwicklungstheorie Nietzsches für eine Interpretation des „souverainen Individuums“
behandelt.
2. Nietzsche und die Evolutionstheorie
Nietzsches anhaltendes Interesse an den Implikationen evolutionstheoretischer Ansätze und
die stets erneuten Versuche, eigene Formulierungen für die Prozesse der organischen und
insbesondere
der
menschlichen
Entwicklung
zu
finden,
hat
eine
vielschichtige
Auseinandersetzung mit Darwin und dem Darwinismus hervorgebracht. Aufgrund der
Tatsache, dass Nietzsches Werke durchwegs Gebrauch von biologischen Metaphern machen,
sehen sich Interpreten versucht ihn aus einer darwinistischen Perspektive zu lesen.5 Seine
Philosophie wurde in Verbindung gebracht mit Schlagworten wie „struggle for existence“ und
„survival for the fittest“. Bezüglich Darwins Evolutionstheorie und deren Rezeption bestehen
nach wie vor einige Missverständnisse, die im Folgenden aufgedeckt werden sollen.
5
Siehe: Werner Stegmaier: Darwin, Darwinismus, Nietzsche: Zum Problem der Evolution, Nietzsche-Studien
16, 1987. Zur Literatur, die Nietzsche in Verbindung mit der sozialdarwinistischen Diskussion über die Zukunft
des Menschen und der Eugenetik bringt, gehören u.a. Dan Stone: Breeding Superman: Nietzsche, Race and
Eugenics in Edwardian and Interwar Britain, Liverpool 2002 und das frühe Werk von Alexander Tille: Von
Darwin bis Nietzsche, Leipzig 1895.
2
Aus heutiger Sicht erscheint die Evolutionstheorie, die Darwin 1859 in seinem Werk „On the
origin
of
species“6
erstmals
veröffentlichte,
als
grosser
Durchbruch
in
der
Wissenschaftsgeschichte. Jedoch ist zum einen der Eindruck, Darwin sei gewissermassen der
Vater der Evolutionstheorie, schlichtweg falsch. Vielmehr war die Evolutionstheorie lange
vor Darwin bereits bekannt und unter Wissenschaftlern akzeptiert.7 Zum anderen hat die
allgemeine Polemik rund um den Darwinismus den Eindruck erweckt, dass „On the origin of
species“ die alte christliche Dogmatik mit einem Mal weggewischt und überwunden habe.
Jedoch behielten nach wie vor die christliche Dogmatik und teleologische Vorstellungen ihre
Macht. Darwins Evolutionstheorie bewirkte nicht unmittelbar eine Loslösung von
traditionellen und christlichen Werten, sondern wurde häufig in den Dienst einer diesseitigen
– im Gegensatz zu einer metaphysischen – Fundierung dieser Werte genommen. Darwins
eigentlicher Verdienst liegt zum einen darin, der Evolutionstheorie eine grössere Resonanz
verschafft zu haben und zum anderen konnte er nicht nur zeigen, dass eine Evolution
stattfindet, sondern konnte vor allem auch plausibel machen, aufgrund welcher biologischen
Prozesse diese stattfindet. Die wesentlichen Elemente seiner Theorie sollen hier kurz
zusammengefasst werden. Zum einen weisen gemäss Darwin lebende Organismen eine
Tendenz zur Variation auf und zum anderen vertritt er - von Malthus beeinflusst - die
Auffassung, wonach unter den Organismen ein „struggle for existence“ stattfindet. Daraus
folgert er, dass jede Variation versucht, sich einen Vorteil zu verschaffen in Bezug auf ihr
Überleben oder ihre Fähigkeit zur Fortpflanzung. Das Resultat des Wegsterbens der weniger
erfolgreichen Organismen und Subspecies nennt Darwin „natural selection“. In seinem Werk
„On the origin of species“ handelt es sich, wie der Titel bereits sagt, um die Entwicklung von
Spezies. Über die menschliche Entwicklung sagt dieses Werk explizit nichts aus.
Biologen und andere Wissenschaftler haben allerdings bald die Konsequenzen der
Evolutionstheorie erkannt und sie auf den Menschen, Gesellschaften und Staaten übertragen.
Darwins Theorie wurde dabei oft nur teilweise übernommen oder, vor allem in England,
durch utilitaristische Ideen ergänzt, wodurch der nicht-teleologische Charakter von Darwins
Theorie gewissermassen übergangen wurde. Grundsätzlich ist zu sagen, dass zahlreiche
Wissenschaftler zwar im Rahmen von Darwins Evolutionstheorie arbeiteten und dasselbe
Vokabular benutzten, die ursprüngliche Theorie jedoch in andere Bereiche übertrugen und mit
6
Darwin, Charles: The Origin of Species, London 1988.
Auch Nietzsche hält Darwins Evolutionstheorie keineswegs für revolutionär. In Die fröhliche Wissenschaft
schreibt Nietzsche: „Denn ohne Hegel kein Darwin“ (KSA 3, 598) und in einem Nachlasstext hält er fest: „Dies
ist der grosse Umschwung. Lamarck und Hegel – Darwin ist nur eine Nachwirkung. Die Denkweise Heraklit’s
und Empedokles‘ ist wieder erstanden.“ (KSA 11, 442).
7
3
anderen Ideen verknüpften. Ein früher Hauptvertreter des Darwinismus ist Herbert Spencer.
Sein Werk „The data of ethics“8 erschien 1879 und stellt ein typisches Beispiel dafür dar, wie
Darwins Evolutionstheorie mit utilitaristischen Ideen verknüpft wurde. Spencers Theorie ist
für
diese
Arbeit
insofern
entscheidend,
als
dass
Nietzsche
hauptsächlich
in
Auseinandersetzung mit Spencer eine Erklärung für die biologische Entwicklung von
Organismen ausarbeitete.9 Tatsächlich wird sich in der Folge zeigen, dass Nietzsches Kritik
am Darwinismus sich häufig explizit auf Spencer bezieht und dass sich die wesentlichen
Elemente seiner eigenen entwicklungstheoretischen Auffassung als das direkte Gegenteil von
Spencer erweisen. Im Folgenden sollen die wesentlichen Punkte von Spencers
Evolutionstheorie kurz dargestellt werden.
2.1. Herbert Spencer
In seinem Hauptwerk „Data of ethics“ vereinigt Herbert Spencer Darwins Evolutionstheorie
mit Mills Utilitarismus und vertritt eine Theorie, gemäss welcher am Ende der Evolution mit
Notwendigkeit ein Zustand des grössten Glücks der grössten Zahl erreicht ist. Den Antrieb zu
dieser notwendigen Entwicklung sieht Spencer in einer zunehmenden sozialen Anpassung
und in der natürlichen Selektion des moralisch fitten Menschen. Gemäss diesen natürlichen
Prozessen findet eine Verfeinerung der primitiven altruistischen Impulse statt, welche
schliesslich zu einer Vereinigung von Egoismus und Altruismus führt. Das heisst, dass alle
eigennützigen und lustbefriedigenden Handlungen zur Maximierung des allgemeinen Glücks
beitragen und alle altruistischen Handlungen ebenso dem Individuum einer Gesellschaft
zugute kommen. Spencer vertritt demnach die Auffassung, wonach die Evolution ein
intrinsisch moralischer Prozess ist und deshalb die Evolution als gleichbedeutend mit
moralischem und sozialem Fortschritt aufgefasst werden kann. Die soziale und moralische
Entwicklung verläuft dabei parallel zur biologischen Evolution und findet ihren Abschluss
schliesslich im „ideally moral man“.
Da im Folgenden hauptsächlich die Gegensätze von Nietzsche und Spencer betrachtet
werden, möchte ich zwei wesentliche Gemeinsamkeiten der beiden hervorheben. Erstens
stimmt Nietzsche mit Spencer in der Ansicht überein, dass die biologische Evolution parallel
8
Spencer, Herbert: The Data of Ethics, London 1887.
Nietzsche hat Darwin nie im Original gelesen. Hingegen ging Nietzsches Interesse an Spencer so weit, dass er
seinem Verleger Ernst Schmeitzner vorschlug, sich die Rechte für eine Übersetzung der Data of ethics ins
Deutsche zu sichern. KGB II 5, S. 466: „Kennen Sie etwas von dem englischen Philosophen Herbert Spencer?
[…] Von ihm erschien in diesem Jahre the data of ethics. – Wenn Sie einen Übersetzer wüssten, so würde es
gewiss lohnend sein, dies Werk in Deutschland einzuführen […] Um die Autorisation des Original-Verlegers
müsste man sich gewiss rasch bewerben.“ Vgl. Moore 2002, S. 22 und S. 61.
9
4
zu einer sozialen Entwicklung vor sich geht. Für Spencer gilt dies aus dem Grund, dass er die
biologische Evolution als notwendig zur moralischen Vervollkommnung hinführende Kraft
auffasst. Für Nietzsche gilt dies insofern, als er unter dem Begriff „Evolutionstheorie“ nicht
ausschliesslich eine Beschreibung der biologischen Entwicklung von Organismen und Spezies
versteht, sondern sie vor allem im Hinblick auf den Menschen und seine sozio-kulturelle
Ausprägung hin denkt.10 Eine zweite Gemeinsamkeit besteht darin, dass die biologische und
moralische Entwicklung als Ebenen derselben fortschreitenden Entwicklung in Richtung eines
bestimmten menschlichen Typus angesehen werden, welcher sich biologisch und moralisch
von seinen Vorgängern unterscheiden würde. Für Spencer ist dieser Typus der „ideally moral
man“ und für Nietzsche das Individuum.
3. Das Individuum unter entwicklungstheoretischem Gesichtspunkt
Anders als in Darwins Werk „On the Origin of species“, welches ausschliesslich an der
Herkunft von Spezies interessiert ist, scheint Nietzsche unter dem Begriff „Evolution“
hauptsächlich die Entwicklung des Menschen zu verstehen. Im Zentrum von Nietzsches
Ausarbeitung einer eigenen Entwicklungstheorie steht der Begriff des Individuums. Bereits in
einer Nachlassaufzeichnung aus dem Jahre 1870/71, in welcher Nietzsche das Phänomen des
„Genius“ diskutiert, findet sich dieser Zusammenhang von Individuum und Naturprozess:
„Auch in dem ungeheuren Apparat, mit dem das Menschengeschlecht umgeben ist, in
dem wilden Durcheinander-Treiben der egoistischen Ziele handelt es sich zuletzt um
Einzelne.“11
Auch wenn sich Nietzsches Auffassung über den „Einzelnen“ im Verlaufe seines Schaffens
unter verschiedenen Perspektiven darstellt, so bleibt die Grundauffassung, dass es sich beim
Entwicklungsprozess vor allem um das Individuum handelt, bestehen.12 In einer
Nachlassaufzeichnung aus dem Jahr 1880 schreibt Nietzsche, wohl gegen Spencer gerichtet:
Vgl. KSA 9, 487: „Unsere Triebe und Leidenschaften sind ungeheure Zeiträume hindurch in Gesellfschafts –
und Geschlechtsverbänden gezüchtet worden (vorher wohl in Affen – Heerden) […]“ Ich werde auf diese
Textstelle ausführlicher auf Seite 10 eingehen.
11
KSA 7, 168. Vgl. eine späteres Zitat aus dem Jahr 1887: „Grundirrthümer der bisherigen Biologen: es handelt
sich nicht um die Gattung, sondern um stärker auszuwirkende Individuen (die Vielen sind nur Mittel).“ (KSA 12,
294).
12
Die Rolle des Individuums innerhalb Nietzsches Entwicklungstheorie ist zweifach. Zum einen wird die
Entwicklung aufgefasst als ein Verlauf auf das Individuum hin. Zum anderen stellt das Individuum im Sinne
eines einzelnen Organismus den eigentlichen „Ort“ der Evolution dar. Der Antrieb zur Evolution liegt für
Nietzsche innerhalb eines einzelnen Organismus, bzw. im Kampf seiner einzelnen Teile. Vgl. 3.2. in dieser
Arbeit.
10
5
„Ich sehe dagegen das Individuum wachsen, […] ich sehe die Urtheile individueller
werden und die allgemeinen Urtheile flacher und schablonenhafter werden.“13
Unter immer wechselndem Gesichtspunkt betont Nietzsche „die Entwicklung zum
Individuellen“14 und wendet sich gegen Spencers Theorie einer Entwicklung auf das
Allgemeine hin. Nietzsche kritisiert Spencers Zukunftsideal, da es als Voraussetzung die
„allergrösste Ähnlichkeit aller Menschen“15 hat und bezeichnet „die vollständige Anpassung
Aller an Alles und Jedes in sich (wie bei Spencer)“ als ein Irrtum und fügt hinzu: „Es wäre die
tiefste Verkümmerung“.16 Der Grund dafür liegt darin, dass die Prinzipien der Ähnlichkeit
und der Anpassung die Essenz des Lebens als Willen zur Macht verneinen. 17 In GM II:12 hält
Nietzsche fest, dass
die „demokratische Idiosynkrasie“18 als eines Willens zur
Gleichmacherei, sich gegen alles wendet was herrschen will und beherrscht und schliesslich
in der „Adapation“ den eigentlichen Antrieb der Entwicklung sieht. Damit ist aber die
wesentliche Aktivität des Lebens als eines „sich abspielenden Macht-Willens“19 verkannt und
an dessen Stelle eine „Aktivität zweiten Ranges, eine blosse Reaktivität“20 ins Zentrum alles
organischen Geschehens gerückt.
Gemäss Nietzsche verkennt Spencer nicht nur die wesentliche Aktivität lebender Organismus,
sondern sieht einen falschen Anfangspunkt in der Entwicklungsgeschichte. Denn:
13
KSA 9, 238.
KSA 9, 238.
15
KSA 9, 455. Spencer bestreitet dies. Für Spencer geht die Entwicklung einer zunehmenden Komplexität und
Heterogenität zusammen mit einer Entwicklung in Richtung eines vollkommenen Ausgleichs zwischen
Egoismus und Altruismus. Diese Ansicht birgt eine Gemeinsamkeit mit Nietzsche, wie wir in 3.3. sehen werden.
16
KSA 9, 469. Vgl. auch KSA 9, 426: „Es ist eine solche Anpassung wie sie Spencer im Auge hat denkbar […]
Aber dann werden die Einzelnen immer schwächer – es ist die Geschichte vom Untergang der Menschheit
[…]“. Es ist im Rahmen dieser Arbeit nicht möglich, die volle Tragweite dieser Kritik Nietzsches auszuarbeiten.
Doch sei darauf hingewiesen, dass es sich bei Spencer letztlich nicht nur um eine Anpassung des Subjekts an die
Gesellschaft handelt, sondern auch um einen Ausgleich und eine Balance innerhalb des Organismus selber.
Spencer steht damit gewissermassen in einem Gegensatz zu Nietzsches Auffassung, wonach der Organismus als
Pluralität aufgefasst wird, in welchem sich die einzelnen Teile in ständigem Kampf untereinander befinden. Zum
unterschiedlichen Begriff des „Individuums“ von Spencer und Nietzsche siehe 3.2.
17
Es ist klar, dass Nietzsche in den Jahren 1880 - 82 „die tiefste Verkümmerung“ nicht mit dem Willen zur
Macht erklärt haben würde. Da es dieser Arbeit allerdings um das „souveraine Individuum“ in GM II:2 geht,
halte ich es für sinnvoll und berechtigt diese Passage aus KSA 9 zusammen mit GM II:12 zu lesen und mit
Nietzsches Konzept des Willens zur Macht zu argumentieren.
18
KSA 5, 315.
19
KSA 5, 315.
20
KSA 5, 316. Vgl. auch KSA 12, 295 und KSA 12, 304: „[…] der Einfluss der ‚äusseren Umstände‘ ist bei
D<arwin> ins Unsinnige überschätzt; das Wesentliche am Lebensprozess ist gerade die ungeheure gestaltende,
von Innen her formschaffende Gewalt, welche die ‚äusseren Umstände‘ ausnützt, ausbeutet.“
14
6
„Die Amöbe-Einheit des Individuums kommt zuletzt! Und die Philosophen giengen von
ihr aus, als ob sie bei Jedem da sei!“21
Ich werde auf diese Stelle weiter unten detaillierter eingehen. Vorerst genügt es jedoch darauf
hinzuweisen, dass für Nietzsche der Mensch am Anfang seiner Entwicklung nicht als
einheitlicher und solitärer Organismus vorkommt, wie die Philosophen – zu welchen auch
Spencer gehört – behaupten, sondern als sozialer Organismus.22 In anderen Worten ist es nicht
das in sich selbst abgeschottete Individuum, das am Anfang steht und durch natürliche
Selektion allmählich zur Ähnlichkeit und Anpassung, d.h. ins Allgemeine, geführt wird. Im
Anschluss an die bereits weiter oben zitiert Stelle fügt Nietzsche deshalb folgendes an:
„Die Voraussetzung des Spencerschen Zukunfts-Ideals ist aber, was er nicht sieht, die
allergrösste Ähnlichkeit aller Menschen […] Aber ich denke an die immer bleibende
Unähnlichkeit und möglichste Souveränität des Einzelnen“23
Spencers Konzeption des „ideally moral man“ bedingt einen vollständig inneren und äusseren
Ausgleich und damit Angepasstheit und steht Nietzsches Konzeption des Lebens als Wille zur
Macht und einer Entwicklung auf das Individuum hin, gegenüber.24 Dieser Aspekt soll in den
folgenden drei Unterkapiteln detaillierter ausgeführt werden.
3.1. Egoismus und Altruismus
Die oben beschriebene Auffassung der Entwicklung als auf die Hervorbringung eines
Individuums gerichteter Prozess – im Gegensatz zu Spencers Prozess auf das Allgemeine hin
– wird unterstützt durch eine Vorrangigkeit, die Nietzsche dem Egoismus gegenüber dem
Altruismus zuschreibt. Spencers Auffassung, wonach die fundamentalsten organischen
Funktionen altruistischer Natur seien,25 wird von Nietzsche belächelt, wenn er schreibt, „dass
21
KSA 9, 515.
KSA 9, 510: „Er [der freigewordene Mensch, F.H.] hat dagegen begonnen als Theil eines Ganzen […] so dass
durch unsäglich lange Gewöhnung die Menschen zunächst die Affekte der Gesellschaft […] empfinden […]“
23
KSA 9, 455f.
24
KSA 9, 458. Nietzsche bezeichnet den „ideally moral man“ als „Dauermensch“ und vergleicht ihn mit dem
„Chinesenthum“.
25
Zu Spencers Diskussion über Egoismus-Altruismus siehe The Data of ethics Kap. 11-14. Moore 2002 (S. 70,
Fussnote 21) glaubt, dass Nietzsche an diesem Punkt Spencer nicht genau erfasst zu haben scheint. Denn
Spencer schreibt: „Ethics has to recognize the truth, recognized in unethical thought, that egoism comes before
altruism.” Data of Ethics S. 217. Allerdings scheint Nietzsche Spencer an zwei Stellen zu kritisieren. Erstens,
Altruismus ist nicht biologisch selektioniert. Das bedeutet aber nicht abzustreiten, dass der Altruismus ein
fundamentalerer Trieb als der Egoismus ist. Zweitens anerkennt Nietzsche Spencers Vorrang des Egoismus,
22
7
nunmehr Urinlassen in England bereits schon unter die altruistischen Thätigkeiten gehören
dürfte“26. Es lässt sich daran ein Hauptkritikpunkt Nietzsches an Spencer ausmachen,
nämlich, dass die Disposition zu altruistischen Handlungen nicht das Ergebnis natürlicher
Selektion ist.
Als einen typisch altruistischen Trieb, weil er zur selbstlosen Handlung der Arterhaltung
führt, fasst Spencer den Sexualtrieb auf.27 Nietzsche hält dagegen unmissverständlich fest:
„Ganz falsch mit Spencer […] schon in der Zeugung eine Äusserung des altruistischen
Triebes zu sehen“28
Die Tatsache aber, dass ein bestimmter Trieb scheinbar altruistische Folgen nach sich zieht,
sagt für Nietzsche nichts über den Trieb selber aus. Im Bezug auf die Fortpflanzung schreibt
Nietzsche deshalb:
„Die Zeugung ist eine oft eintretende gelegentliche Folge einer Art der Befriedigung des
geschlechtlichen Triebes: nicht dessen Absicht, nicht dessen nothwendige Wirkung. Der
Geschlechtstrieb hat zur Zeugung kein nothwendiges Verhältniss: gelegentlich wird durch
ihn jener Erfolg mit erreicht, wie die Ernährung durch die Lust des Essens.“29
Der Kritikpunkt liegt darin, dass gemäss Nietzsche der Geschlechtstrieb keineswegs, wie
Spencer behauptet, die Fortpflanzung der Gattung im Auge hat und damit einen selbstlosen
Akt vollzieht, sondern lediglich die Lust sucht.30 Ganz allgemein lässt sich feststellen, dass es
für Nietzsche ausschliesslich egoistische Triebe gibt, auch wenn sie gelegentlich zu scheinbar
altruistischen Handlungen führen.31 Der Egoismus der Triebe strebt nach dem Erreichen eines
bestimmten Zieles und ist nicht primär auf den Zweck der Fortpflanzung gerichtet. In
Nietzsches mittlerer Periode besteht dieses Ziel der Triebe im Erreichen von Lust durch ihr
glaubt ihn aber nicht richtig erfasst. Der Grund dafür liegt in Spencers falscher Konzeption des Ego. Vgl. 3.2. in
dieser Arbeit.
26
KSA 11, 524.
27
Richardson, S. 149. The Data of Ethics S. 232: “Among creatures of higher grades [than the protozoan], by
fission or gemmation, parents bequeath parts of their bodies, more or less organized, to form offspring at the cost
of their own individualities.”
28
KSA 9, 231.
29
KSA 9, 232.
30
KSA 9, 234: „Die Generation ist eine Sache der Lust: […] Die geschlechtliche Begierde hat nichts mit der
Fortpflanzung der Gattung zu thun!“ Vgl. auch KSA 9, 239.
31
Dies wird insbesondere klar, wenn Nietzsche altruistische Handlungen als eine Spezies der egoistischen
Handlungen auffasst: KSA 12, 489: „endlich, man begreift, dass die altruistischen Handlungen nur ein species
der egoistischen sind.“ Vgl. auch KSA 9, 238: „Ich sehe die altruistischen Triebe am stärksten beim groben
Egoism der Thiere (es ist eine Gattung von Bejahung der eigenen Lust).“
8
befriedigt werden. In einer späteren Phase seines Schaffens denkt Nietzsche, dass die Lust,
die durch das Befriedigen der Triebe entsteht, letztlich ein Nebeneffekt des Gefühls von
Macht ist. Demnach drückt sich durch die Triebe selber ein Wille zur Macht aus.
Die obige Kritik beschäftigte sich vornehmlich mit dem biologischen Ursprung egoistischer
bzw. altruistischer Handlungen. In einer anderen und für diese Arbeit entscheidenderen
Hinsicht vertritt Nietzsche eine ebenfalls konträre Ansicht gegenüber Spencer. Denn parallel
zu der unter 3. dargestellten Opposition in Bezug auf die Richtung der Entwicklung, nämlich
Individuum – Allgemeinheit, findet man die Gegenüberstellung von Egoismus – Altruismus.
Dies bedeutet, dass sich der Blickpunkt, unter welchem Egoismus und Altruismus behandelt
werden, von der Biologie eines Organismus auf die soziale und gesellschaftliche Ebene
verschiebt. Auf dieser Ebene geht Nietzsches Kritik hauptsächlich in die folgende Richtung.
In einer bereits zitierten Stelle schreibt Nietzsche:
„Die Amöbe-Einheit des Individuums kommt zuletzt! Und die Philosophen giengen von
ihr aus, als ob sie bei Jedem da sei!“32
Auch wenn in dieser Stelle der Egoismus nicht erwähnt wird, so steht sie mit ihm doch in
einem notwendigen Zusammenhang. Denn gemäss Nietzsche ist Spencers falsche Auffassung
des Egoismus eine Konsequenz aus seiner falschen Auffassung des “Ego“. Spencer ist
demnach dem Aberglauben verpflichtet, wonach das „Ego“ als festgelegte und
unveränderliche Entität aufgefasst wird. Der Zusammenhang zwischen Egoismus und dem
obigen Zitat ist deshalb der Folgende. Spencer geht von einem einheitlichen und stabilen
Subjekt aus, das als Referenzpunkt zur Bestimmung von egoistischen Handlungen genommen
werden kann. Aufgrund seiner Konzeption des „Ego“ als Pluralität von sich innerhalb des
Individuums widerstreitenden Triebe und Instinkte, scheint Nietzsche eine komplexere
Theorie des Egoismus zu vertreten. Denn zum einen nimmt Nietzsche eine zeitliche
Neueinordnung des Egoismus innerhalb der Entwicklungsgeschichte vor und zum anderen
lassen sich bei Nietzsche zwei unterschiedliche Verwendungen des Begriffs „Egoismus“
unterscheiden.33 Ersteres drückt Nietzsche aus, wenn er schreibt:
KSA 9, 515. Ich gehe an dieser Stelle davon aus, dass u.a. Spencer zu diesen „Philosophen“ zu zählen ist. Dies
scheint insofern gerechtfertigt, als dass es für Spencer zutrifft, dass er von der „Amöben-Einheit des
Individuums“ ausgeht und dass er im 19. Jh. als einer der massgebenden Philosophen betrachtet wurde.
33
Diese Unterscheidung wird von Nietzsche nicht explizit verwendet und es soll hier keineswegs die
Möglichkeit ausgeschlossen werden, dass Nietzsche zusätzliche Formen des Egoismus in Betracht zieht.
32
9
„Der Egoismus ist etwas Spätes und immer noch Seltenes: die Heerden-Gefühle sind
mächtiger und älter!“34
Als Beispiele dafür nennt Nietzsche in der Folge die Tatsache, dass die Menschen ihren Wert
immer noch anhand der Bewertung durch andere abschätzen, sich gleiche Rechte wünschen
und sich nur als Funktion innerhalb der Gesellschaft für gerechtfertigt ansehen. Alle diese
Beispiele benennen die immer noch im Leben des Menschen fest verankerten „HeerdenGefühle“. Nietzsche bezeichnet diese sozialen Gefühle als älter und mächtiger, da sich der
Mensch nicht als einzelner Organismus entwickelte, sondern als Herdentier. Als solches hat
sich die Trieborganisation innerhalb des Menschen an die Erfordernisse des Zusammenlebens
angepasst.
„Unsere Triebe und Leidenschaften sind ungeheure Zeiträume hindurch in Gesellschaftsund Geschlechtsverbänden gezüchtet worden (vorher wohl in Affen – Heerden): so sind
sie als sociale Triebe und Leidenschaften stärker als individuelle, auch jetzt noch.“35
In gewisser Weise vertritt Nietzsche hier die Ansicht, dass egoistische Handlungen auf einen
herrschenden sozialen Trieb zurückgeführt werden kann, der durch lange Zeiträume hindurch
gezüchtet wurde. Doch dies steht nur in scheinbarem Gegensatz zum oben Ausgeführten.
Denn Nietzsche verwendet den Begriff „Egoismus“ in mindestens zwei unterschiedlichen
Bedeutungen. Eine Form des Egoismus bezeichnet Nietzsche als „nicht individuellen
Egoismus“36 und als „Heerden-Egoismus“.37 Nietzsche kann von einem „nicht individuellen
Egoismus“ sprechen, da die jeweiligen Triebe, welchen die egoistischen Handlungen
entspringen – das heisst alle Handlungen – in sozialen Verbänden gezüchtet wurden. In
anderen Worten: eine Handlung ist deshalb egoistisch, weil sie eben zur Befriedigung des
eigenen Triebes dient. Doch gleichzeitig ist der befriedete Trieb nicht individuell, da er einen
sozialen Ursprung hat, das heisst mit der grossen Mehrheit in der Gesellschaft geteilt wird.38
Die zweite Bedeutung des Egoismus bezeichnet den selteneren und in der Entwicklung des
KSA 9, 513. Vgl. auch KSA 9, 514: „Auch im erwachten Individuum ist der Urbestand der Heerdengefühle
noch übermächtig […] Es giebt eben noch sehr selten ein ego!“ und KSA 9, 528: „Der Egoismus ist noch
unendlich schwach! […]“
35
KSA 9, 487.
36
KSA 9, 488.
37
KSA 9, 599.
38
Vgl. auch KSA 9, 528: „Der Egoismus ist noch unendlich schwach! Man nennt so die Wirkungen der
heerdenbildenden Affekte, sehr ungenau: Einer ist habgierig […], ein Anderer ist ausschweifend […] – sie
denken nur an sich, aber an ‚sich‘, soweit das ego durch den heerdenbildenden Affekt entwickelt ist.“
34
10
Menschen später kommenden Egoismus und ist weitaus schwieriger zu fassen. Es scheint
allerdings, dass es sich bei diesem Egoismus um eine gewisse Loslösung von altersher
übernommenen sozialen Trieben handeln muss. Das heisst, es scheint sich beim richtig
verstandenen Egoismus um eine Neuorganisation der Triebe und Instinkte zu handeln, welche
sich parallel zur Entwicklung einer zunehmenden Individuation vollzieht.39
Dies soll folgendermassen herausgearbeitet werden. Bisher wurde nur festgestellt, dass
Nietzsche eine Entwicklung auf das Individuum hin und damit einhergehend eine
individuellere Form des Egoismus ins Auge fasst. Die Frage wird nun lauten: Worin sieht
Nietzsche den Antrieb für eine solche Art der Entwicklung? Dazu wird es zuerst nötig sein,
eine ausführlichere Darstellung Nietzsches Konzeption des Individuums zu geben. Das daran
anschliessenden Kapitel spezifiziert die gegebene Erklärung durch die Betrachtung von
Nietzsches Umformulierung des Vervollkommnungsbegriffs. Im abschliessenden Kapitel
dieses Hauptteils sollen die Konsequenzen für die Beziehung zwischen Individuum und Herde
ausformuliert werden.
3.2. Nietzsches Konzeption des Individuums und der „Wille zur Macht“
Zentral für Nietzsches Konzeption des Individuums ist, dass er zu dessen Erklärung auf die
Physiologie zurückgreift und das Phänomen des Individuums „am Leitfaden des Leibes“40
ausarbeitet. Wenn Nietzsche von „Individuum“ spricht, so fasst er den Begriff „Individuum“
nicht im eigentlichen Sinne, nämlich nicht als das „Unteilbare“ und „Unzertrennliche“ auf,41
sondern denkt es sich als biologischen Organismus, der nach einer bestimmten
Gesetzmässigkeit funktioniert und aufgebaut ist.42 Nietzsche vertritt die Auffassung, dass es
sich beim Individuum nicht um eine Einheit, im Sinne einer Person oder einer „Seele“,43
sondern um eine Vielheit handelt. So bezeichnet Nietzsche den Leib als „eine ungeheuere
39
Zusätzliche Vermutungen zu diesem anderen Egoismus lassen sich aus den folgenden zwei Texten Nietzsches
gewinnen. In KSA 9, 488 beschreibt Nietzsche den „nicht individuellen Egoismus“ als „Gedankenlosigkeit über
das eigene Wesen und Wohl“. Im Umkehrschluss könnte man annehmen, dass ein anderer Egoismus das eigene
Wesen und Wohl mit Ernsthaftigkeit, bzw. „gedankenvoll“, in Betracht zieht. Dann müsste allerdings erklärt
werden, wie das Individuum von seinem eigenen Wesen und Wohl wissen kann, d.h. welche Rolle der
Selbsterkenntnis dabei zukommt. Eine zweite Vermutung lässt sich aus der Morgenröthe KSA 3, 92 entnehmen:
„Eigene Werthschätzung: das will besagen, eine Sache in Bezug darauf messen, wie weit sie gerade uns und
niemandem Anderen Lust oder Unlust macht, - etwas äusserst Seltenes! – […]“
40
KSA 11, 578. Vgl. KSA 11, 638: „Ausgangspunkt vom Leibe und der Physiologie: warum? – Wir gewinnen
die richtige Vorstellung von der Art unsrer Subjekt-Einheit […]“
41
Vgl. KSA 11, 462: „Der Begriff ‚Individuum‘ ist falsch.“ In Menschliches, Allzumenschliches (KSA 2, 76)
und in KSA 11, 55 verwendet Nietzsche den Begriff „dividuum“.
42
Damit ist nicht gesagt, dass sich der Begriff des „Individuums“ für Nietzsche allein auf biologische Prozesse
oder auf eine Triebtheorie beschränken liesse.
43
KSA 11, 577: „Von der Einheit, von der „Seele“, von der „Person“ zu fabeln, haben wir uns heute
untersagt:[…]“
11
Vereinigung von lebenden Wesen“44 und als „eine Vielheit von Subjekten“45 oder
„Kräften“.46 Unter dieser Vielzahl versteht Nietzsche sowohl Zellen als auch Organe.
Letztlich jedoch handelt es sich bei dieser Vielzahl von „Wesen“ oder „Subjekten“ um Triebe
und Instinkte. Nun ist diese Vielzahl von Teilen innerhalb des menschlichen Organismus in
ständigem Kampf begriffen. Selbst die kleinsten Teile des menschlichen Leibes bekriegen
sich gegenseitig und ringen um Nahrung und Raum.47 Nietzsche fasst diese einzelnen Teile
als „etwas Wachsendes, Kämpfendes, Sich-Vermehrendes und Wieder-Absterbendes“48 auf.
Dieser innerhalb des Organismus stattfindender Kampf der einzelnen Teile hat nun zwei
Konsequenzen. Erstens führt er zu einer hierarchischen Organisation der einzelnen Teile, die
Nietzsche als eine „Aristokratie im Leibe“49 beschreibt. Demnach strebt jedes der einzelnen
Teile danach, Herrschendes zu werden und andere und schwächere Teile zu unterdrücken. Es
strebt danach mehr Macht zu erlangen, Herr zu werden und zu regieren.
„Unter diesen lebenden Wesen giebt es solche, welche in höherem Maasse Herrschende
als Gehorchende sind, und unter diesen giebt es wieder Kampf und Sieg.“50
In diesem Zusammenhang muss auch Nietzsches Kritik an Spencer gelesen werden, wenn er
sich gegen dessen Auffassung einer Anpassung aller an alles und jedes in sich wendet und
dies als tiefste Verkümmerung auffasst, oder wenn er in GM II:12 die „Idiosynkrasie des
demokratischen Vorurteils“ beschimpft. Denn gerade der Kampf, insbesondere jener, welcher
innerhalb eines Organismus stattfindet, stellt den Antrieb für eine Entwicklung dar. Für
Nietzsche ist die Entwicklung „geknüpft an ein Siegen, Vorherrschen einzelner Theile, an ein
Verkümmern, „Organwerden“ anderer Theile.“51
Eine zweite Konsequenz aus dem stetigen Kampf der Teile, ausgelöst durch das Streben nach
Wachstum und nach Weiterentwicklung und letztlich nach Macht, ist die Unbeständigkeit der
44
KSA 11, 576.
KSA 11, 650.
46
KSA 11, 461.
47
KSA 12, 304.
48
KSA 11, 576.
49
KSA 12, 96.
50
KSA 11, 282.
51
KSA 12, 304. Auch wenn Nietzsche mit dem Begriff „Kampf“, als einer notwendigen Bedingung für
Entwicklung, den darwinistischen „struggle for existence“ zu übernehmen scheint, so bestehen doch zwei
wesentliche Unterschiede. Erstens fasst Nietzsche den Kampf nicht als ein „struggle for existence“ eines
Organismus auf, sondern sieht das Dasein selber als Kampf. Denn wie dargestellt, findet innerhalb eines
Organismus selber ein unablässiger Kampf statt. Zweitens geht es dem Organismus nicht ums Überleben,
sondern um einen Machtzuwachs.
45
12
eingerichteten Aristokratie. Die Hierarchie ist von Zeit zu Zeit einem Wechsel unterworfen, je
nach dem, welcher Trieb gerade vorherrscht. So schreibt Nietzsche:
„[…] das centrale Schwergewicht ist etwas Wandelbares; das fortwährende Erzeugen von
Zellen usw. giebt einen fortwährenden Wandel der Zahl dieser Wesen“
Insofern als das Zentrum des Schwergewichts gerade beim herrschenden Trieb vorzufinden ist
und insofern sich dadurch die Vorstellung einer „Subjekt-Einheit“ ergibt, ist demnach auch
das Individuum nicht als Feststehendes, sondern als sich Veränderndes zu denken. Den
Antrieb dieses Prozesses, sowohl auf der Ebene des einzelnen menschlichen Organismus als
auch auf der Ebene des sozialen Organismus, sieht Nietzsche im Willen zur Macht. Nietzsche
glaubt damit alle organischen Prozesse beschreiben zu können:
„Am Thier ist es möglich, aus dem Willen zur Macht alle seine Triebe abzuleiten: ebenso
alle Funktionen des organischen Lebens aus dieser Einen Quelle.“52
Das Streben alles Organische nach Expansion, nach Wachstum und nach mehr Macht ist für
Nietzsche die eigentliche Quelle des stetigen Kampfes. Dadurch, dass Nietzsche das Leben
selber als Willen zur Macht auffasst und seine wesentliche Aktivität in einem Überwältigen
und Herrwerden besteht, verneint er den Darwinistischen Selbsterhaltungswillen.
Nachdem nun Nietzsches Auffassung des Individuums als Pluralität beschrieben und der
Willen zur Macht als jene Kraft, welche Nietzsche zur Erklärung aller organischen Prozesse
dient, kurz ausgeführt wurde, soll die folgende Frage zu beantworten versucht werden:
Wie muss bei einem in dieser Weise konstituierten Individuum ein Prozess zunehmender
Individuation gedacht werden? Eine entscheidende Passage zur Beantwortung dieser Frage
lautet folgendermassen:
„Die Individuation, vom Standpunkte der Abstammungstheorie beurtheilt, zeigt das
beständige Zerfallen von Eins in Zwei, und das ebenso beständige Vergehen der
Individuen auf den Gewinn von wenig Individuen, die die Entwicklung fortsetzen: die
übergrosse Masse stirbt jedes Mal ab […]“53
52
53
KSA 11, 563.
KSA 12, 296.
13
Jedes einzelne Teilchen vervielfältigt sich demnach durch ein Zerfallen in zwei und diese
wiederum in derselben Weise. Die Folge ist ein steter Zuwachs der Zahl der einzelnen
Teilchen. Aufgrund dieses Zuwachses intensiviert sich der Kampf der Teile untereinander –
ist aber nicht wie bei Malthus dessen notwendige Bedingung - was ein Absterben der grossen
Masse mit sich bringt, bis wenige durchsetzungsfähige Individuen übrig geblieben sind und
den Prozess von neuem in Gang setzen. Entgegen einer Auffassung der Individuation als einer
zunehmenden Vereinheitlichung beschreibt Nietzsche einen gegenteiligen Prozess, der zuerst
eine Vermehrung der Teile fördert um wenige Individuen zu erzeugen. Im Anschluss an die
eben zitierte Passage überträgt Nietzsche dieses Prinzip auf die soziale Ebene:
„Man muss sich nicht täuschen lassen: ganz so steht es mit den Völkern und Rassen: sie
bilden den „Leib“ zur Erzeugung von einzelnen werthvollen Individuen, die den grossen
Prozess fortsetzen.“54
Die daran anschliessende Frage wird lauten: Was meint Nietzsche hier mit „werthvollen
Individuen“?
Ich
werde
diese
Frage
im
Hinblick
auf
Nietzsches
Begriff
der
„Vervollkommnung“ im Folgenden Kapitel ausarbeiten.
3.3. Nietzsches Begriff der „Vervollkommnung“
Ich werde an dieser Stelle nicht ausführlich auf Nietzsches Kritik an einer impliziten
Teleologie des Darwinismus eingehen. Die Hauptkritikpunkte richten sich allerdings gegen
den Selbsterhaltungstrieb,55 gegen das Interesse des einzelnen Organismus an der Erhaltung
der ganzen Spezies56 und gegen die von Spencer vertretenen notwendigen Entwicklung hin
auf das grösste Glück der grössten Zahl.57 Nietzsche lehnt diese Formen von Teleologie ab
und hält ganz allgemein fest:
KSA 12, 296. Vgl. auch GM II; 12: „Die Grösse eines ‚Fortschritts‘ bemisst sich sogar nach der Masse dessen,
was ihm Alles geopfert werden musst; […]“ Ich werde auf die Thematik des Fortschritts im folgenden Kapitel
eingehen.
55
KSA 9, 479: „Es giebt keinen Selbsterhaltungstrieb!“
56
KSA 9, 234: „Es giebt auch keinen Trieb als Gattung fortexistieren zu wollen. Das ist alles Mythologie (noch
bei Spencer und Littré). Die Generation ist eine Sache der Lust: […]“
57
KSA 3,96: „Entwickelung will nicht Glück, sondern Entwickelung und weiter Nichts.“ Nietzsche scheint
damit die Annahme eines Endzieles in der Entwicklung zu bestreiten. Für Nietzsche findet die Entwicklung in
diesem Sinne keinen Abschluss in einem höheren Ziele, wie zum Beispiel in einem Zustand des Glücks der
grössten Zahl.
54
14
„Die Menschheit hat kein Ziel, ebenso wenig wie die Saurier eins hatten, aber sie hat eine
Entwicklung: d.h. ihr Ende ist nicht mehr bedeutend als irgend ein Punkt ihres Weges!“58
Für Nietzsche kennt die Entwicklung keinen Fortschritt im Sinne eines linearen Prozesses auf
ein festgelegtes Ziel hin. Er bezeichnet den Darwinismus, wie er unter anderem von Spencer
vertreten wurde, wegen seiner Fortschrittsgläubigkeit als letzten Versuch, „Vernunft und
Göttlichkeit“ in die Geschichte hineinzudeuten und denkt, dass „unter den Formeln ‚Natur‘,
‚Fortschritt‘, ‚Vervollkommnung‘, ‚Darwinismus‘, […] immer noch die christliche
Voraussetzung und Interpretation ihr Nachleben hat.“59
Jedoch verwirft Nietzsche die Vorstellung eines Fortschritts, bzw. einer möglichen
Vervollkommnung nicht vollständig, sondern versucht sie durch seine Theorie des Willens
zur Macht umzuformulieren. Ein wichtiges Element ist dabei seine Ansicht, dass einzelne
Organismen innerhalb des Entwicklungsverlaufs „die grössere Compliciertheit, die scharfe
Abscheidung, das Nebeneinander der ausgebildeten Organe und Funktionen, mit
Verschwinden der Mittelglieder“ entwickeln.60 Das Erreichen einer höheren Komplexität und
Anzahl der Teile sowie deren zunehmende Unabhängigkeit sind allerdings allein nicht
ausreichend zur Bestimmung, was Vervollkommnung heisst. Denn:
„Begriff der ‚Vervollkommnung‘: nicht nur grössere Compliciertheit, sondern grössere
Macht.“61
Das heisst, dass sowohl eine stärkere Differenziertheit, als auch ein Machtzuwachs ein
Anzeichen der Vervollkommnung für Nietzsche sind. Wie bereits in der im vorherigen
Kapitel zitierten Stelle, in welcher Nietzsche das Phänomen des Zerfallen von Eins in Zwei
auf Gruppen und Gesellschaften überträgt, so wird auch der Begriff der Vervollkommnung im
Hinblick auf die Gesamtentwicklung des Menschen hin interpretiert:
58
KSA 9, 208.
KSA 12, 457.
60
Nietzsche scheint hier den Begriff der Vervollkomnung zumindest teilweise von Carl Nägeli zu übernehmen.
Nägeli war ein Schweizer Zellbiologie und sein Werk Mechanisch-physiologische Theorie der
Abstammungslehre (1884) war in Nietzsches Besitz. Nägeli schreibt in diesem Werk auf S. 13:
„Vervollkommnung in meinem Sinne ist also nichts anderes als der Fortschritt zum complicirteren Bau und zu
grösserer Theilung der Arbeit und würde, da man im allgemeinen geneigt ist, dem Worte mehr Bedeutung zu
gewähren als dem ihm zu Grunde liegenden Begriff, vielleicht besser durch das unverfängliche Wort
Progression ersetzt.“ Vgl. auch Moore 2002, S. 29 - 32.
61
KSA 12, 96.
59
15
„Schluss auf die Entwicklung der Menschheit: die Vervollkommnung besteht in der
Hervorbringung der mächtigsten Individuen, zu deren Werkzeug die grösste Menge
gemacht wird.“62
Dieses Verhältnis zwischen der Herde, bzw. der grossen Menge, und den Einzelnen, bzw. den
mächtigen Individuen soll nun detaillierter betrachtet werden. Zuvor wird allerdings eine
wesentliche
Charakteristik
des
Individuums
beschrieben
werden,
nämlich
seine
„Souveränität“.
3.4. Das Individuum und die Herde
Wie wir gesehen haben entwickelt sich für Nietzsche der einzelne menschliche Organismus
zuerst in einer Gesellschaft. Die meisten Triebe und Instinkte sind deshalb in diesem sozialen
Umfeld hervorgebracht und entwickelt worden, und nicht in einem rein natürlichen Zustand.
Die unter 3.1. vorgebrachte Vermutung, dass es sich beim „höheren Egoismus“ um eine
Loslösung von diesen sozial gezüchteten Trieben und um deren Reorganisation handelt, kann
nun erhärtet werden. Es ist eben dieser Vorgang, der schliesslich mit dem Begriff der
Souveränität des Einzelnen bezeichnet wird und den Nietzsche Spencer entgegenhält, wenn er
schreibt:
„Die Voraussetzung des Spencerschen Zukunfts-Ideals ist aber, was er nicht sieht, die
allergrösste Ähnlichkeit aller Menschen […] Aber ich denke an die immer bleibende
Unähnlichkeit und möglichste Souveränität des Einzelnen“63
Das Unähnlich-sein im Sinne einer individuellen Organisation der Triebe und die
Souveränität gehen zusammen. Doch wie findet eine solche Neuorganisation statt? Dazu ist es
nötig einen genaueren Blick auf das Verhältnis zwischen Individuum und Gesellschaft zu
werfen. Gemäss Nietzsche entwickelt sich in einem anfänglichen Stadium der einzelne
Organismus als eine Funktion der Gesellschaft, bzw. - vom Standpunkte der Theorie des
sozialen Organismus aus – als Organ. Nietzsche beschreibt diesen anfänglichen Zustand
folgendermassen:
62
KSA 12, 96.
KSA 9, 455. Vgl. auch KSA 12, 486f. An dieser Stelle argumentiert Nietzsche, dass die Substanzialisierung
des Ego zu einem Wertunterschied zwischen „Ich“ und „Nicht-ich“ führte und dass unter sozialem, wie auch
religiös-moralischem Druck der Wert des „Ich“ schliesslich im Bezug auf das „Nicht-ich“ abgeschätzt wurde.
Nietzsche folgert: „Hier waren die Heerden-Instinkte bestimmend: nichts geht so sehr wider diese Instinkte als
die Souveränität des Einzelnen.“
63
16
„Er [der freigewordene Mensch, F.H.] hat dagegen begonnen als Theil eines Ganzen,
welches seine organischen Eigenschaften hatte und den Einzelnen zu seinem Organe
machte – so dass durch unsäglich lange Gewöhnung die Menschen zunächst die Affekte
der Gesellschaft […] empfinden, und nicht als Individuen!“64
An derselben Stelle des Nachlasses gibt Nietzsche nun eine Beschreibung dessen, was es
heissen würde als Individuen zu empfinden und so zur Souveränität zu kommen. Im
Gegensatz zur Existenz als Organ eines grösseren Organismus, hätte der Einzelne sich die
„Eigenschaften des Organismus“ anzueignen. Das heisst, er müsste in derselben Weise wie
ein Organismus zu empfinden lernen. Nietzsche listet in der Folge sechs dieser Eigenschaften
auf:
„1) Selbstregulierung: in der Form von Furcht vor allen fremden Eingriffen, im Hass
gegen den Feind, im Masshalten usw.
2) überreichlicher Ersatz: in der Form von Habsucht Aneignungslust Machtgelüst
3) Assimilation an sich: in der Form von Loben Tadeln Abhängigmachen Anderer von
sich,
dazu
Verstellung
List,
Lernen,
Gewöhnug,
Befehlen
[…]
4) Sektretion und Excretion: in der Form von Ekel Verachtung der Eigenschaften an sich,
die ihm nicht mehr nützen […]
5) metabolische Kraft: zeitweilig verehren bewundern sich abhängig machen einordnen
[…]
6) Regeneration: in der Form von Geschlechtstrieb, Lehrtrieb usw.“65
Es ist an dieser Stelle nicht möglich näher auf diese einzelnen organischen Eigenschaften
eines individuell empfindenden Individuums einzugehen. Es genügt allerdings hier
festzustellen, dass Nietzsche durchaus eine nähere physiologische Bestimmung dessen
vornimmt, was eine individuelle Neuorganisation der Triebe und Instinkte und eine damit
einhergehende Souveränität bedingen würde.66
Abschliessend sollen nun kurz zwei Punkte im Hinblick auf das Verhältnis zwischen diesem
Individuum und der Herde betrachtet werden.
64
KSA 9, 510.
KSA 11, 509f.
66
Es ist an dieser Stelle nicht möglich detaillierter auf die zwei anderen Charakteristika des Individuums, d.h.
der „Freiheit“ und des „Machtgefühls“, einzugehen. Beide gehen allerdings für Nietzsche miteinander einher.
KSA 9, 488: „Der freieste Mensch hat das grösste Machtgefühl über sich […]“. Ich denke, dass beide wie auch
die „Souveränität“ das Produkt der beschriebenen Loslösung sind.
65
17
Erstens fasst Nietzsche die grosse Masse der Herde als eine notwendige Bedingung für die
Hervorbringung dieses Individuums auf. Es sollte daran erinnert werden, dass Nietzsche den
Fortschritt – nebst dem Erreichen eines stärkeren Machtgefühls - als ein Prozess zunehmender
Komplexität innerhalb des Organismus auffasst. Die Voraussetzung dafür stellt der Kampf
der einzelnen Teile dar, ausgelöst durch den Willen zur Macht. In eben diesem
Zusammenhang muss folgende bereits zitierte Stelle Nietzsches betrachtet werden:
„Schluss auf die Entwicklung der Menschheit: die Vervollkommnung besteht in der
Hervorbringung der mächtigsten Individuen, zu deren Werkzeug die grösste Menge
gemacht wird.“67
Die grosse Menge stellt unter anderem insofern ein Werkzeug dar, als dass die
Auseinandersetzung mit dieser Masse ebenso wie der innerhalb des Individuums stattfindende
Kampf eine Voraussetzung für die Entwicklung darstellt. Eben dieser „äussere“ Kampf, durch
welchen Unzählige geopfert werden müssen, stellt für Nietzsche einen Massstab für den Wert
des Individuums und für einen Fortschritt dar.68 Im Bezug auf das Individuum schreibt
Nietzsche deshalb:
„Die stärksten Individuen werden die sein, welche den Gattungsgesetzen widerstreben
und dabei nicht zu Grunde gehen, die Einzelnen.“69
Der Zusatz „und dabei nicht zu Grunde gehen“ ist entscheidend und führt zum zweiten Punkt
der hier in Bezug auf das Verhältnis zwischen Individuum und Herde hervorgehoben werden
soll. Für Nietzsche geht es innerhalb des Entwicklungsprozesses nicht, wie Darwin und
Spencer glauben, um die Erhaltung der Spezies, sondern um die Hervorbringung einzelner,
starker Individuen.
Mit
diesen
Bemerkungen
finden
die
Betrachtungen
zum
Individuum
unter
entwicklungstheoretischem Gesichtspunkt ihren Abschluss. Im folgenden Kapitel soll die
obige Untersuchung in Zusammenhang mit dem „souverainen Individuum“ in GM II:2
gebracht werden.
KSA 12, 96. Vgl. auch KSA 12, 294: „Grundirrthümer der bisherigen Biologen: es handelt sich nicht um die
Gattung, sondern um stärker auszuwirkende Individuen (die Vielen sind nur Mittel).“
68
KSA 5, 315: „Die Grösse eines ‚Fortschritts‘ bemisst sich sogar nach der Masse dessen, was ihm Alles
geopfert werden musste; […]“
69
KSA 9, 486.
67
18
4. Schlussfolgerungen: Das „souveraine Individuum“ in GM II:2
Nimmt man die Beschreibung von GM II:2 ganz allgemein, so lässt sich feststellen, dass
Nietzsche eine „Geschichte von der Herkunft der Verantwortlichkeit“ und eine „eigentliche
Arbeit des Menschen an sich selber in der längsten Zeitdauer des Menschengeschlechts“
beschreibt. Am Ende dieses Prozesses sieht Nietzsche „als reifste Frucht“ das „souveraine
Individuum“. Dies scheint nun in Übereinstimmung mit Nietzsches Entwicklungstheorie zu
stehen, zumindest insoweit sie auf der Basis des Nachlasses aus den Jahren 1880-82 und
1885-87 herausgearbeitet wurde. Dafür sprechen meines Erachtens vor allem zwei Tatsachen.
Erstens: die identische Charakterisierung des Individuums in GM II:2 und dem Individuum
innerhalb der Entwicklungstheorie. Denn zum einen werden beide als „souverän“ beschrieben
und zum anderen als „frei“ und „mächtig“. In GM II:2 wird das Individuum beschrieben als
jener Mensch, in welchem „ein eigentliches Macht- und Freiheits-Bewusstsein“ leibhaftig
geworden ist. Man vergleiche dies mit der identischen Beschreibung der Entwicklung als auf
die Hervorbringung „der mächtigsten Individuen“70 und den „freigewordenen Menschen“71
gerichteter Prozess. Eine zweite Gemeinsamkeit lässt sich ausmachen, betrachtet man das
„souveraine Individuum“ in GM II:2 als „das von der Sittlichkeit der Sitte wieder
losgekommene, das autonome übersittliche Individuum.“72 Dieses Individuum hat sich von
der „socialen Zwangsjacke“ befreit und ist - im Sinne des unter 3.4. beschriebenen Prozesses
einer Loslösung von den sozial gezüchteten Trieben - individuell geworden.
Ich folgere daraus, dass das „souveraine Individuum“ in GM II:2 hauptsächlich ein Produkt
Nietzsches Entwicklungstheorie ist und weniger das Ergebnis jener paradoxen Aufgabe der
Natur, „ein Thier heranzuzüchten, das versprechen darf.“ Das Individuum wie es innerhalb
Nietzsches Entwicklungstheorie auftaucht, beinhaltet eine Vielzahl an Kritikpunkten, denen
Nietzsche durchweg in seinen Werken nachgeht. Dazu gehören, wie wir gesehen haben, vor
allem Spencers „ideally moral man“, die „demokratische Idiosynkrasie“ und die falsche
Konzeption des Ego.
Welche Interpretation ergibt sich nun für das „souveraine Individuum“ im Hinblick auf die
Frage, ob es als ein Ideal Nietzsches anzusehen ist?
Aus der Sicht Nietzsches Entwicklungstheorie geht diese Frage zusammen mit der Frage, ob
der von Nietzsche beschriebene Gang der Entwicklung die Vorstellung eines Endziel enthält.
Dies scheint nicht der Fall zu sein, da Nietzsche gerade unter anderem deswegen den
70
KSA 12, 96.
KSA 9, 510.
72
KSA 5, 293.
71
19
Darwinismus und insbesondere Spencer deswegen kritisiert. Dies drückt Nietzsche unter
anderem in GM II:12 aus, wenn er schreibt: „‘Entwicklung‘ eines Dings, eines Brauchs, eines
Organs ist demgemäss nichts weniger als sein progressus auf ein Ziel hin […]“.73 Das
„souveraine Individuum“ als Ideal aufzufassen würde allerdings bedeuten eine teleologische
Vorstellung in Nietzsches Entwicklungstheorie einzuführen. Ich halte deshalb die Auffassung
des „souverainen Individuums“ als Ideal für nicht vereinbar mit Nietzsches Ansicht einer
nicht-zielgerichteten und abschlusslosen Entwicklung.74 Allerdings - wie unter 3.3. dargestellt
– formuliert Nietzsche eine eigene Auffassung des Fortschritts und einer möglichen
Vervollkommnung und verbindet sie mit dem Begriff des Individuums. Ich denke deshalb,
dass auch das „souveräne Individuum“ durchaus positiv zu bewerten ist, wenn auch nicht als
Ideal. Aufgrund der durchwegs positiven Konnotation des Individuums, wie es innerhalb
Nietzsches Entwicklungstheorie beschrieben wird, scheint es mir nicht plausibel zu sein, das
„souveräne Individuum“ in GM II:2 als eine von Nietzsche negativ bewertete Figur
aufzufassen. Ansonsten müsste man davon ausgehen, dass sich Nietzsche an dieser Stelle in
GM II:2 gegen seine eigene Entwicklungstheorie wendet. Ich halte es deswegen durchaus für
möglich, mit der gebotenen Vorsicht, auf der Basis des „souverainen Individuum“ einen
positiven moralischen Ansatz bei Nietzsche zu finden. Zum einen scheint mir dabei der
Begriff der Selbstregulation wichtig zu sein, der die organischen Prozesse beschreibt, die der
Entwicklung des „souverainen Individuums“ – wenn auch nicht explizit – zu Grunde liegen.
Zum anderen erscheint es mir vielsprechend Nietzsches Konzeption eines „individuellen
Egoismus“ detaillierter auszuarbeiten.75
73
KSA 5, 314.
Damit ist nicht gesagt, dass in Nietzsches Philosophie generell kein Ideal zu finden ist. Als Ideal Nietzsches
würde ich die Figur des „Übermenschen“ beschreiben. Die Beziehung zwischen der Figur des „Übermenschen“
und dem „souverainen Individuum“ konnte in dieser Arbeit nicht nachgegangen werden. Für wesentlich erachte
ich allerdings die folgende unterschiedliche Beschreibung. Das „souveraine Individuum“ wird als „übersittlich“
bezeichnet und steht deshalb ausserhalb des sittlichen Bereichs, verbleibt aber innerhalb des Menschlichen.
Demgegenüber scheint der „Übermensch“ – zumindest lässt dies der Name vermuten – über dem Menschlichen
zu stehen und deshalb auch ausserhalb des menschlichen Bereichs.
75
Vgl. den Eintrag zum „Egoismus“ im Nietzsche-Wörterbuch 2004, S. 702 – 720.
74
20
5. Bibliographie
Die Werke Nietzsches werden zitiert nach der Kritischen Studienausgabe in 15 Bänden
(KSA). Die erste Zahl bezeichnet die Bandnummer, die zweite Zahl die Seitenangabe (z.B.
KSA 9, 515).
-
Nietzsche, Friedrich: Sämtliche Werke. Kritische Studienausgabe in 15 Bänden, Colli
Giorgio, Montinari Mazzino (Hrsg.), Berlin-New York 1980.
Sekundärliteratur:
-
Acampora, Christa Davis: On Sovereignty and Overhumanity: Why It Matters How We
Read Nietzsche’s Genealogy II:2, in: Nietzsche’s On The Genealogy Of Morals.
Critical Essays, Christa Davis Acampora (Hrsg.), Lanham (u.a.) 2006, 147-161.
-
Darwin, Charles: The Origin of Species, London 1988.
-
Moore, Gregory: Nietzsche and Evolutionary Theory, in: The Cambridge Companion
to Nietzsche, Bernd Magnus und Kathleen M. Higgins (Hrsg.), Cambridge 1996, S.
517- 531.
-
Moore, Gregory: Nietzsche, Biology and Metaphor, Cambridge 2002.
-
Nägeli, Carl: Mechanisch - physiologische Theorie der Abstammungslehre, München
1884.
-
Nietzsche-Wörterbuch, Bd. 1: Abbreviatur – einfach: Hrsg. von Nietzsche Research
Group (Nijmegen) unter Leitung von P. van Tongeren, G. Schank und H. Siemens,
Berlin 2004.
-
Richardson, John: Nietzsche’s New Darwinism, Oxford 2004.
-
Siemens, Hermann: Nietzsche contra Liberalism on Freedom, in: The Cambridge
Companion to Nietzsche, Bernd Magnus und Kathleen M. Higgins (Hrsg.), Cambridge
1996, S. 437 – 454.
-
Spencer, Herbert: The Data of Ethics, London 1887.
21
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