Methoden der Sprachwissenschaft ROSTISLAV NĚMEC 1. Historisch-vergleichende Methode des 19.Jh. (Bopp, Grimm, Humboldt, Schleicher) 2. Die Junggrammatische Schule (Brugmann, Paul, Osthoff, Leskien) 3. Jan Baudouin de Courtenay, seine Forschungsgebiete 4. Ferdinand de Saussure, Dichotonomien 5. Der Prager Linguistenkreis (Trubetzkoy Phonologie, Oppositionen, Morphonologie) 6. Der Prager Linguistenkreis (Jakobson, Mukařovský) 7. Die Glossematik (Hjelmslev) 8. Die deskriptive Linguistik (Bloomfield, Harris) 9. Die klassischen Schulen der strukturellen Linguistik – Gemeinsamkeiten und Unterschiede 10. Noam Chomsky, die generative Grammatik Fachliteratur: BORTSCHAT, Brigitte: Methoden der Sprachwissenschaft: von Hermann Paul bis Noam Chomsky. Berlin 1996 HELBIG, Gerhard: Geschichte der neueren Sprachwissenschaft. Opladen 1989 ČERNÝ, Jiří: Dějiny lingvistiky Die Geschichte jeder wissenschaftlichen Disziplin ist fürs Verstehen gegenwärtiger Prozesse sowie künftiger Tendenzlinien sehr wichtig. Dieser aktuelle Bezug zwischen der Geschichte und dem gegenwärtigen Stand ist für jene wissenschaftliche Entwicklung der Linguistik + Gesamtdenken der Zeit zu verfolgen und die wechselnden Methoden in ihrer Beziehung unter einander und zu den Nachbarwissenschaften zu erforschen (die neuere SW ist ein Kind der Romantik). Vor 1800 – das Ziel der SW war primär nicht die Sprache, sondern praktische Regeln zum korrekten Sprachgebrauch mit dem Zweck, die Sprache vor Veränderungen zu bewahren. Dt. Sprachwissenschaft – erreichte erst im 19.Jh. eine gewisse Geltung und ist mit folgenden Namen verbunden: Rasmus Rask, Franz Bopp, Jacob Grimm FRAGE 1: HISTORISCH-VERGLEICHENDE METHODE Franz Bopp (1791-1867) - versuchte hinter den europäischen Einzelsprachen die ehemalige Einheit zu finden und machte damit die Sprachvergleichung zum Allgemeingut der SW. - Die Sprachvergleichung wurde von Bopp fürs Indoeuropäische (=Indogermanisches, IG) und von Grimm fürs Germanische gegründet; sie bezog sich auf die Laut-FormVerhältnisse. - Das Werk von Bopp markiert dagegen einen Übergang zur analytischen Gesetzwissenschaft der Junggrammatiker. - Begründer der vergleichenden SW - führte einen methodisch exakten Beweis für die Verwandtschaft IG-Sprachen - sein Hauptwerk wurde für die SW des 19.Jh. maßgebend: „Grammatik des Sanskrit, Zend, Griechischen, Lateinischen, Litauischen, Gotischen und Deutschen“ (6 Bände) Jacob Grimm (1785-1863) - deutscher Sprach- u. Literaturwissenschaftler 1 - - - Begründer der germanischen Altertumswissenschaft, der germanischen SW u. der deutschen Philologie zusammen mit seinem Bruder Wilhelm schrieb er Sammlungen „Kinder und Hausmärchen“ und „Deutsche Sagen“ 1819 schrieb er die „Deutsche Grammatik“ (4 Teile) „Grundbuch der germanischen Philologie“ registrierte einmalig die Sprache in ihrem organischen Wachstum -> die Sprachentwicklung, wobei er die Gesetzmäßigkeiten des Lautwandels entdeckte (h.d. die des Ablauts, des Umlauts und der Lautverschiebungen) erweiterte entscheidend das Wissen um die Verwandtschaft der germanischen u. IGSprachen Begründer der historischen Grammatik; löst die Sprachvergleichung und die Sprachgeschichte von der Sprachphilosophie und der Logik. galt als typischer Repräsentant der synthetisch-universalen Auffassung der neueren SW „Geschichte der deutschen Sprache“ (1848) – wertet die Sprache als Geschichtsquelle aus (sie hat etwas zur Geschichte des Landes zu sagen) „Deutsches Wörterbuch“ – ein wichtiges Buch, von beiden Brüdern begonnen: Deutscher Wortschatz seit dem 16.Jh. in alphabetischer Reihenfolge; seit 1838 – die Vorarbeiten, 1. Lieferung des Wörterbuches – 1852; von Gebrüder Grimm bis zum Stichwort „Frucht“ fertig u. weiter dann von Fortsetzern als historisches Wörterbuch mit Bedeutungsangaben, Etymologien u. Belegstellen weitergeführt; 1908 erschien „Deutsches Wörterbuch“ als Unternehmen der Preußischen Akademie der Wissenschaften; das Wörterbuch wurde erst 1961 vollendet und mit 32 Bänden wurde es zum umfangreichsten historischen Wörterbuch Herausgeber von ahd., angelsächsischen u. lateinischen Werken (teils mit dem Bruder) Wilhelm von Humboldt (1767-1835) - dt. Philosoph, Sprachforscher, preußischer Staatsmann - auf Ganzes gerichtet - der Kern seines Werkes = die Sprachphilosophie (anstatt der SW) - als SW-ler befasste sich v.a. mit amerikanischen Sprachen, Sanskrit, Ägyptischem, Koptischem, Chinesischem, Japanischem - in der Einleitung zum Werk „Über die Kawi-Sprache auf der Insel Java“ entfaltet er die Grundthesen seiner Sprachphilosophie, dass in jeder Sprache eine eigentümliche Weltansicht liege, d.h. sie sei ein Ausdruck der Individualität einer Sprachgemeinschaft. Dabei wird die Sprache als Tätigkeit bestimmt, die im Dialog aktualisiert wird. (Die Bemühungen der Linguistik um eine generative Grammatik – z.B. bei Chomsky – verstehen wir als Erfüllung der Ideen von Humboldt.) - Philosophische Anthropologie – die Sprache beeinflusst Menschen - mit ihm geht die historisch-vergleichende SW zu Ende und räumt der nächsten – naturwissenschaftlich u. positivistisch ausgerichteten Generation – den Platz = den Junggrammatikern. Positivismus = eine Richtung, ein Begriff für Argumentationen u. Standpunkte, die das rationale Fundament wissenschaftlicher Theorien im streng empirischen Prüfungsverfahren sieht. Man gewinnt „positive Fakten“ x spekulative Philosophie. August Schleicher (1821-1868) 2 - - - stellt das Bindeglied zw. der frühen historisch-vergleichenden SW des 19.Jh. und den Junggrammatikern dar Prof für vergleichende SW u. Sanskrit in Jena, beschäftigte sich auch mit den slawischen Sprachen (1850 – Prof in Prag) schrieb grundlegende Arbeiten zur systematischen Erforschung des IG die Exaktheit seiner Forschungen entsprang seinen naturwissenschaftlichen Neigungen wie Darwin vertrat er den Evolutionsgedanken: „Die darwinische Theorie und die Sprachwissenschaft“ die Sprachentwicklung vollzieht sich reziprok zur Menschheitsentwicklung u. der menschlichen Kultur => Blütezeit der Sprachen hat in vergangener Zeit stattgefunden und die modernen Sprachen spiegeln die Verfallsperiode wider => ideale Sprache = die uralte Sprache. Daraus ergab sich die Forderung, die allerfrühesten Sprachzustände zu erforschen das Arbeitsprogramm gipfelte in der Niederschrift der Fabel „Das Schaf und die Rose“ in der rekonstruierten IG-Ursprache als Ausdruck der biologischen Auffassung der Sprache als Organismus gilt auch seine bekannte Stammbaumtheorie – eine Darstellung ig. Sprachverwandtschaft in Form eines Baumes mit Wurzeln und Verzweigungen – die im Werk „Die Sprachen Europas in systematischer Übersicht“ (1850) die Richtungen von Grimm und Schleicher betrachtet man als entscheidenden Denkanstoß der Junggrammatischen Schule. FRAGE 2: DIE JUNGGRAMMATISCHE SCHULE (JG) - 70er Jahre des 19.Jh. in Leipzig entstanden - Gruppe junger Wissenschaftler aus unterschiedlichen Philologien, die eine neue Etappe der SW einleiten u. weltweit über Jahrzehnte hinweg großen Einfluss auf die Linguistik ausübten - Hauptvertreter: Karl Brugmann (IG+Altphilologe), Hermann Paul (IG+Germanist), Hermann Osthoff, August Leskien (Slawist). - Loser mit JG verbunden: Karl Verner (Dane, 1846-1896), Jan Baudouin de Courtenay (Pole, 1845-1929), Ferdinand de Saussure (Schweizer, 1857-1919) - zu Beginn der JG-Schule waren alle ihre Vertreter um die 30 J. alt Karl Brugmann (1849-1919) - wirkte als Ordinarius (řádný profesor na VŠ) der klassischen Philologie an den Unis in Freiberg u. Leipzig - Indogermanist u. Altphilologe - erwarb große Reputation wegen der Forschung an der historisch-vergleichenden SW - zusammen mit Osthoff schrieb er „Morphologische Untersuchungen auf dem Gebiete der indogermanischen Sprache“ - „Griechische Grammatik“ (1900) – bedeutendes Lehrbuch bis heute Hermann Paul (1846-1921) - wirkte als Ordinarius für die dt. Sprache und Literatur in Freiberg u. München - beschäftigte sich mit der dt. Sprachgeschichte, Metrik, Textgeschichte u. Geschichte der SW - Hauptwerk: „Mittelhochdeutsche Grammatik“ (1980), „Deu7tsche Grammatik“ (1910-1920), „Deutsches Wörterbuch“, „Prinzipien der Sprachgeschichte“ (1880) Hermann Osthoff (1847-1909) 3 - als Ordinarius wirkte in Heidelberg u. Hauptsitz der JG-Schule Leipzig blieb im Briefkontakt zu der JG-Schule Werk – zusammen mit Brugmann August Leskien (1840-1916) - wirkte als Ordinarius für die Slawistik in Leipzig - zusammen mit Brugmann sorgte er für den internationalen Ruf der Leipziger historisch-vergleichenden SW - Werk: „Handbuch der altbulgarischen Sprache“ (1871), „Grammatik der altbulgarischen Sprache“ Hauptthemen und –Methoden der JG Die Diskussion über zwei bedeutende Veröffentlichungen hat die Themen der JG u. die Methoden, die in dieser Schule unterrichtet wurden, bestimmt: 1. Das Vorwort zum Band 1 von „Morphologische Untersuchungen auf dem Gebiete der indogermanischen Sprache“ von Brugmann u. Osthoff a. Sprache ist kein Organismus, sondern eine psychophysische Tätigkeit, die von Menschen abhängt. Der sprechende Mensch steht in ihrem Mittelpunkt. Real ist nur die Sprache des Individuums. b. Die Ursprache ist eine Fiktion. Die Bewertung der ältesten Sprachstufen als Blütezeit und der neueren Perioden als Ausdruck eines Verfalls ist nicht richtig. Wie die Sprachen leben u. sich entwickelten lässt sich am besten an der Gegenwartssprache u. an ihren Dialekten erforschen. Nur eine Rekonstruktion der ursprachlichen Formen mithilfe belegter Sprachdenkmäler ist möglich, aber ein Gesamtsprachzustand kann nicht rekonstruiert werden. c. Zum Schlüsselbegriff der JG-Schule gehört der Begriff Lautgesetz (schon bei Jacob Grimm vorbelegt u. vorgeführt) – diachrone Veränderung der phonetischen Merkmale eines Lautes unter gleichen Bedingungen ausnahmslos in gleicher Weise. Die JG waren bemüht, aus der SW eine Gesetzwissenschaft zu machen, die sich exakter (positivistischer) Methoden bedienen würde. Ihre Konzentration galt in der ersten Reihe der beobachtbaren Fakten, deshalb auch die historisch-vergleichenden Forschungen zur Lautwentwicklung sowie zur Morphologie. Die Lautgesetze behandelten sie demnächst wie Naturgesetze = d.h. sie unterstrichen deren zwingender Charakter d. Ergänzung des Lautgesetzes um das Prinzip der Analogie. 2. Das Vorwort zu „Prinzipien der Sprachgeschichte“ (erschien 2 Jahre hernach) von Hermann Paul, der versuchte eine Einordnung der historisch-vergleichenden SW in das System der Wissenschaften u. der JG-Schule einen theoretischen Rahmen zu geben. Sein Werk beherbergt folgende Hauptgedanken /-Prinzipien. a. Die Sprache ist eine Kulturwissenschaft von besonderer Art. Die SW steht den Naturwissenschaften nahe. Für diese Theorie -> Prinzipienwissenschaft. b. Das Individuum spielt die entscheidendste Rolle bei der Sprachäußerung u. – Entwicklung. Sprachliche Äußerung ist eine Äußerung eines einzelnen Individuums, wobei jedoch die sprachlichen Vorgänge mit großer Gleichmäßigkeit verlaufen, was für die Möglichkeit nackter wissenschaftlicher Erkenntnisse wesentlich ist. Sprachentwicklung muss aus der Wechselwirkung der Individuen erklärt werden. Alles, was auf künstlichem Wege in die Sprache gelangt, verfällt, so Paul, „dem Spiel ihrer Kräfte“ = ist nicht angenommen (Neuschöpfungen, Entlehnungen, Neuigkeiten) 4 c. Diachrone Untersuchung – für Paul ist die Sprachbetrachtung immer eine geschichtliche Betrachtung u. das ist im Widerspruch zu dem, was wir gesagt haben im 1. Punkt der Morphologie (synchrone Untersuchung) Ausstrahlungen der JG Diese Schule ergriff die Linguistik von ganz Europa über mehrere Jahrzehnte hinweg. Deren Vertreter genossen eine große Autorität auf dem Gebiete der historisch-vergleichender Forschung (v.a. IG-Gebiet). Brugmann u. Leskien wirkten etwa 40 Jahre an der Leipziger Uni und bildeten dort Generationen von Linguisten heraus, die später selbst Lehrstühle innehatten u. den Einfluss der JG weiter trugen: Der Pole Jan Baudouin de Courtenay [boduen d kurtenej], des Schweizer Ferdinand de Saussure [sosýr], der Amerikaner Bloomfield [blamfíld], der Franzose Lucien Tesniére und der Russe Trubetzkoy. Die Internationalität der JG-Schule wurde auch anders deutlich. 1912 gründete sich die Indogermanische Gesellschaft als internationale Vereinigung von Indogermanisten u. sie gab das indogermanische Jahrbuch heraus. Kritik an den JGn kam erst später: - Kritik an der Beschränkung auf Laute u. Formen ohne Berücksichtigung der Sprachinhalte. - Kritik an der Darstellung der Sprache als Summe von Einzelfakten. FRAGE 3: JAN BAUDOUIN DE COURTENAY UND SEINE FORSCHUNGSGEBIETE - gehört zu den bedeutendsten Persönlichkeiten des 19. u. 20. Jh. - studierte in Warschau u. Leipzig - Slawist u. Indogermanist - seine Arbeiten schrieb er v.a. polnisch u. russisch, manchmal auch französisch o. deutsch - seine Arbeiten waren verstreut und v.a. in Periodika veröffentlicht -> erst 1963 erschien eine Gesamtwerkausgabe in 2 Bänden auf russisch - führte wissenschaftliche Korrespondenz mit H. Paul, F. de Saussure, Otto Jespersen (Däne) - war Lehrer von Roman Jakobson u. Nikolaj Trubetzkoy - unterrichtete an russischen Universitäten in St. Petersburg, Kazaň; lehrte auch in Estland in der Stadt Dorpat (heute Tartu), wo derzeit auf russisch u. deutsch unterrichtet wurde; weiter in Krakau (damals unter ös. Monarchie) - schrieb insgesamt etwa 400 Publikationen, sein Werk war allerdings nie als Gesamtwerk erschienen Wichtigste Forschungsgebiete: Von JGn übernommen folgende: 1. historische Sprachbetrachtung mit Verallgemeinerung der Fakten u. Aufsuchung auch der Gesetze, die in der Sprache wirken 2. die Sprache ist ein Werkzeug u. eine Tätigkeit, die in ihren Trägern lebt 3. die Rekonstruktion der ursprachlichen Formen führt zu Konstrukten, nicht zu realen Sprachformen Phonetik u. Phonologie - Untersuchungen des Lautes unter verschiedensten Aspekten - den größten Einfluss auf die Weiterentwicklung der Linguistik hatte aber seine Trennung von Laut und Phonem 1. Phonem = psychisches Äquivalent des Lautes: Laute sind Bestandteile von Silben, ihre Untersuchung ist eng mit der Akustik verbunden u. sie sind objektiv messbar; 5 Phoneme sind Verallgemeinerungen (von mehreren Realisierungen des Lautes; dasselbe Phonem wird anders realisiert ss x ß, Bedeutung bleibt dieselbe) subjektiver Vorstellungen u. ihre Untersuchung ist mit der Psychologie verbunden. 2. Phonem lässt sich in kleinere Bestandteile aufgliedern: die Aussprachenelemente = Kineme u. die auditiven Elemente = Akusmen diese sind Doppeleinheit = zugleich auftretende unzertrennbare Paare. 3. Phoneme sind Bestandteile von Morphemen, die Laute haben eine bestimmte Rolle im Sprachmechanismus. Phoneme haben selbst keine Bedeutung, aber sie können semantisiert (zur Bedeutungsunterscheidung dienen, z.B. g x k, Garten x Karten) und morphologisiert (morphologische Funktion erfüllen, z.B. der Umlaut als Ausdruck des Numerus, Mutter x Mütter, Vogel x Vögel) werden. - diese 3 Aspekte wurden von seinen Nachfolgern weiterentwickelt; sie wurden zur Grundlage der Morphonologie Trobetzkoys und zu der für die generative Phonologie in den USA Sprachtypologie - er umriss sein typologisches Programm Ende der 70er Jahre des 19.Jh. - genealogische Klassifizierung verzichtet nach ihm auf den Vergleich des grammatischen Baus moderner Sprachen - genetisch verwandte Sprachen sind NICHT notwendig einheitlich in ihren grammatischen Bau, z.B. das Englische tendiert verglichen mit anderen germanischen Sprachen zur Isolierung (=keinerlei Endungen in Kasus, Konjugationen usw.) -> die genealogische u. die typologische Forschung müssen beide unabhängig voneinander betrieben werden -> Sprachliche Typen sind nicht ähnlich u. unveränderlich, sondern sie ändern sich - den Kern dieses Forschungsgebietes stellt seine Theorie von Mischsprachen dar. Es sind Kommunikationsmittel, die durch die Mischung natürlicher Sprachen entstanden sind, z.B. das sog. Pidgin [pidžin] – beispielsweise in China entstanden als die Mischung des Englischen u. Chinesischen, das Vokabular ist stark begrenzt u. die Grammatik vereinfacht; oder das sog. Spanglish (Spanisch + Englisch) oder die Kreolsprachen in Karibik auf der Grundlage des Spanischen u. Französischen - 2 Dimensionen der Sprachmischung: o die geographisch-territoriale Mischung (dies führte im Pragerkreis zur Theorie der Sprachbünde) o die chronologische Mischung Künstliche geschaffene Sprachen - könnte als Welthilfssprache dienen - Esperanto – erfunden 1887 vom polnischen Augenarzt Ludwig Zamenkof - Ido – der Nachkomme von Esperanto - aufgrund dieser Theorie begann unter den Linguisten die Diskussion um die Vorzüge u. das Nützen künstlich geschaffener Sprachen - z. Brugmann u. Leskien – haben Fehler gemacht, aber nach Baudouins Ansicht war jeder Versuch zu begrüßen, der zur Verständigung unter den Völkern dienen könnte - als zukünftige Anwendungsbereiche sah er internationale Kongresse u. Internationalverkehr überhaupt Sprachsoziologie = Soziolinguistik - leistete wichtige Vorarbeiten in diesem Bereich - forschte zu sozialen Varietäten, Minderheitssprachen, wozu ihm seine Lebenserfahrungen, die er in verschiedenen Ländern gesammelt hat, gedient haben - (in Kazaň in Russland – türkische, indogermanische, finno-ungarische Sprachen) - sprach polnisch, deutsch, russisch 6 - studierte die territoriale Varianz der Sprachen u. widmete sich der Erforschung von Dialekten - grundlegende Arbeit, diese Studien blieben beispielhaft Kindersprache - Erstspracherwerb bei Kindern - beobachtete seine eigenen Kinder, führte ein Buch über deren Spracherwerb - widmete sich auch Sprachstörungen Zusammenfassung – Baudouins Bedeutung - Mitbegründer der JG-Schule (mit dieser Schule begann der Strukturalismus de Saussures – die Sprache als Struktur) - untersuchte lebende Sprachen, Dialekte, Umgangssprachen einzelner Gesellschaftsschichten, berufliche Sondersprachen, Kindersprache - betrachtete die Sprache als Tätigkeit u. untersuchte ihre Funktion - ist nicht in Schulen einzuordnen, seine Originalität im Denken machte ihn zu einem der Wegbereiter der Linguistik des 20.Jh. - viele Ansichten verlaufen parallel mit denen von de Saussure - leider hat Baudouin keine geschlossene Darstellung seiner Sprachtheorie vorgelegt u. seine Ansichten blieben in Einzelarbeiten verstreut FRAGE 4: FERDINAND DE SAUSSURE (1857-1913), DICHOTOMIEN - entstammt einer Genfer Gelehrtenfamilie (sein Vater – Prof für Geologie,...) - das Interesse für Sprache offenbarte sich schon früh, er bekann in Genf zunächst Naturwissenschaften zu studieren, danach in Leipzig angekommen, wechselte er zur philosophischen Fakultät, um daran die SW zu studieren, hier wurde er auch von der JG-Schule beeinflusst - beschäftigte sich mit den klassischen Sprachen u. dem Sanskrit - nach dem Studienabschluss als Prof für Sanskrit, IG u. allgemeine SW in Genf angestellt - publizierte fast nicht, sondern kümmerte sich völlig um seine Arbeit als Hochschullehrer - in seinem Nachlass wurde kein Buchmanuskript gefunden, wohl aber ausführliche Vorlesungsvorbereitungen, anhand deren die Linguisten Charles Bally u. Albert Sechehay [sešehej], seine Schüler, das Buch „Cours de Linguistique generale“ (1915) publizierten. - für seine Zeitgenossen v.a. als der Verfasser von „Memoires“ (=Denkschrift, 1878, 202 Seiten) bekannt; dieses Buch behandelt das ursprüngliche Vokalsystem der ig. Sprachen und er schrieb es als Seminararbeit noch in Leipzig; es handelt sich um eine umfassende Darstellung der Ablautverhältnisse in den ig. Sprachen, woraus Rückschlüsse auf die Rekonstruktion des ursprünglichen Vokalstandes gezogen werden, die bis heute gültig sind „Cours de Linguistique generale“ (=Kurs/Grundlagen der allgemeinen Linguistik, 1915) - 1931 von Hermann Lommel übersetzt; Lommel musste neue Termini prägen, die unter dt. Linguisten schnell akzeptiert wurden - erst 1989 von Fr. Čermák übersetzt - war kein Bestseller zu Beginn, erst Ende der 20er Jahre änderte sich dies, es entstanden linguistische Schulen, die an der Beschreibung der Gegenwartssprachen interessiert waren und Saussures Buch als Vorbild ihrer eigenen Ansichten aufgegriffen wurde -> neue Periode namens Strukturalismus 7 Saussures Hauptideen - Abgrenzung der SW von anderen Wissenschaften, v.a. von der Psychologie u. Philosophie – wenn die SW eine eigenständige Wissenschaft ist, muss sie auch einen eigenen Gegenstand definieren u. eigene Methoden entwickeln. Die Dichotomien: a. Langue x Parole e Langage = die angeborene allgemeine Fähigkeit des Menschen zu reden, Sprachen zu erlernen e Langue = die Sprache als System von Zeichen; erfasst das Wesentliche; strebt durch feste Normen zur Stabilität; wird durch Regeln geleitet; es geht hier also um die Form der Sprache e Parole = das Sprechen; ist individuell; erfasst das Zufällige, strebt zur Dynamik, ist die Substanz (im Gegensatz zur Langue, die die Form darstellt) Der Gegenstand der SW = Langue – nur sie weist die Struktur auf u. ist ein Ganzes, das aus Teilen besteht. Nach Saussure muss sich jedes Individuum beim Sprechen nach den Sprachnormen richten, um verstanden zu werden. Andererseits ist nur das Sprechen (Parole) real u. nur über das Sprechen kann man die Sprache studieren -> Dichotomie (wir brauchen alle beide) b. Synchronie x Diachronie Synchronie – arbeitet mit der Gleichzeitigkeit; von Saussure dieser Aspekt bevorzugt Diachronie = Aufeinanderfolge c. Innerer x Äußerer Bezirk der SW Der innere Bezirk erfasst den Kern, das eigentliche Sprachsystem Der äußere Bezirk umfasst alle Bezüge zu anderen Wissenschaften u. Gebieten des Lebens (z.B. Dialektforschung, Geschichte, Kultur, Literatur,...) d. Syntagma x Paradigma Der innere Aufbau der Sprache wird durch 2 Typen von Beziehungen gesteuert: die assoziative (paradigmatische)B. und die Anreihungsbeziehung (syntagmatische B.) Franz Er Gerda hilft hilft dankt seinem dem ihrer Syntagma Freund. Gärtner. Oma. Paradigma De Saussures System aus paradigmatischen u. syntagmatischen Relationen hat nachhaltigen Einfluss auf die Linguistik des 20.Jh. ausgeübt und zwar in Form der Grundoperationen segmentieren u. klassifizieren. Segmentiert wird unter Beachtung syntagmatischer Relationen aufgrund der paradigmatischen Relationen. Alle klassischen Schulen der strukturellen Linguistik sind durch diese Grundoperationen charakterisiert u. werden auch als Taxonomische Linguistik bezeichnet. Sprache als Zeichensystem - ein Zeichen ist im weitesten Sinne der Träger einer Information - de Saussure definierte das sprachliche Zeichen, untersuchte die Bezüge zw. natürlichen – menschlichen Sprachen u. anderen Zeichensystemen (Morsealphabet, Verkehrszeichen, mathematische Operationen,...) - für ihn eine Ganzheit, die aus Vorstellung u. Lautbild besteht 8 Signifiant (das Bezeichnende, označující, Ausdruck, Lautbild, Form) x Signifié (das Bezeichnete, označované, Inhalt, Vorstellung) Beide Seiten des Zeichens sind unzertrennbar verbunden, sie bedingen sich gegenseitig. Saussure forderte die Entwicklung einer Wissenschaft von den Zeichensystemen, wo die menschliche Sprache nur ein System neben anderen Zeichensystemen wäre und schlug Semeologie (heute Semiotik) vor, die Lehre von Zeichensystemen. Arbiträr x Motiviert Arbitrarität = die Verknüpfung von Vorstellung und Lautbild ist beliebig, willkürlich -> in verschiedenen Sprachen werden dieselben Objekte anders benannt, z.B. Tisch – table – stůl Motiviertheit = Gegenpol der Arbitrarität; bei motivierten Ausdrücken gibt es einen Kausalzusammenhang zw. Bezeichnendem u. Bezeichnetem, hierher gehören onomatopoetische Wörter (z.B. der Kuckuck), Komposita (z.B. der Schreibtisch – motiviert in der Relation zum Tisch). De Saussure sah das sprachliche Zeichen zugleich veränderlich u. unveränderlich an. Unveränderlich ist es in dem Sinne, dass die Sprache immer ein Erbe vergangener Epochen, eine Gegebenheit, der sich der Einzelne zu unterwerfen hat. Veränderlich ist es durch seine Bindung an eine sprechende Menge u. an die fortschreitende Zeit, in der es zum sprachlichen Wandel kommt. Der Einfluss de Saussures auf die SW des 20.Jh. Die „Grundlagen...“ brachten eine zusammenhängende Darstellung einer Theorie mit sich, wie sie derzeit keine andere Publikation darbot. Viele der relevanten Thesen findet man auch in den Aufsätzen von Baudouin de Courtenay, jedoch nicht in der erforderlichen Synthese u. nicht allgemein zugänglich. Die „Grundlagen...“ erschienen zur richtigen Zeit, denn es verlief eine Diskussion um die Erneuerung der Linguistik damals. Die Sprachtheorie von de Saussure bot ausreichende Denkanstöße u. beeinflusste die Linguistik der folgenden Jahrzehnte. 9