Unternehmen Haushalte Konsumausgaben Einkommen

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KAPITEL 6
KAPITEL 6: MESSUNG DER WIRTSCHAFTLICHEN "LEISTUNGSKRAFT" UND „WOHLFAHRT“ VON VOLKSWIRTSCHAFTEN
Gliederung
6.1. Nationale Buchhaltung und Sozialprodukt
6.2. Wohlfahrtsmessung durch das Pro-Kopf-Einkommen?
6.3. Determinanten des Pro-Kopf-Einkommens
6.4. Multiplikatoranalyse
6.1 Nationale Buchhaltung und Sozialprodukt
Die nationale Buchhaltung hat zum Ziel, eine verlässliche Datenbasis für die
Messung der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit einer Volkswirtschaft zu
Verfügung zu stellen. Die erhobenen Daten lassen sich auf verschiedene
Weise zu einem Indikator aggregieren, welcher allgemein als „Sozialprodukt“
bezeichnet wird. Das Sozialprodukt gilt als einer der wichtigsten Indikatoren
zur Messung der Leistungsfähigkeit und der Wohlfahrt von Volkswirtschaften.
Güter- und Geldkreislauf
Es ist in der Makro-Ökonomie üblich, die ökonomischen Transaktionen
zwischen den Akteuren in Kreisläufen (ähnlich dem Blutkreislauf) darzustellen.
Hierbei werden verschiedene Gruppen von Akteuren, wie z.B. Unternehmen
und Haushalte, aber auch Staat und Ausland als Ganzes betrachtet. Der
Kreislauf wird als geschlossen angenommen.
In der einfachsten Form lässt sich der monetäre Wirtschaftskreislauf wie folgt
interpretieren (vgl. Abb. 6.1): Alle ausbezahlten Einkommen werden von den
Haushalten zum Kauf von Gütern und Dienstleistungen verwendet; alle
Einkommen aus Güterkäufen werden von den Unternehmen für den Kauf von
Produktionsfaktoren verwendet.
Konsumgüter
Abb. 6.1:
Einfacher
Wirtschaftskreislauf
Konsumausgaben
Unternehmen
Haushalte
Einkommen
Produktionsfaktoren
realwirtschaftliche Ströme
monetäre Ströme
Abb. 6.1: Einfacher Wirtschaftskreislauf (Vgl. Materialien zur Vorlesung)
Quelle: R.L. Frey: Wirtschaft, Staat und Wohlfahrt; 2002, S. 65
1
MESSUNG DER « LEISTUNGSKRAFT» UND « WOHLFAHRT » VON VOLKSWIRTSCHAFTEN
In komplexeren Modellen des Wirtschaftskreislaufs werden weitere Akteure
und weitere Transaktionen berücksichtigt (vgl. Abb. 6.2). Im einzelnen wird
folgendes mit erfasst:
Staat – Haushalte:
Staat – Unternehmen:
Unternehmen – Ausland:
Unternehmen – Haushalte:
Löhne, Steuern, Sozialtransfers
Steuern, Subventionen, Güterkäufe
Exporte, Importe (Waren und
Dienstleistungen)
Einkommen, Waren und Dienstleistungen,
Produktionsfaktoren
Abb. 6.2:
Erweiterter
Wirtschaftskreislauf
Abb. 6.2: Erweiterter Wirtschaftskreislauf
Quelle: R.L. Frey: Wirtschaft, Staat und Wohlfahrt; 2002, S. 67
Definition des Sozialprodukts
Die im Wirtschaftskreislauf dargestellten Transaktionen werden im Rahmen
der nationalen Buchhaltung erfasst. Diese liefert die Daten zur Berechnung
des Sozialprodukts.
Das Sozialprodukt kann auf verschiedene Weise berechnet werden (vgl. Abb.
6.3). Am häufigsten wird das sogenannte Brutto-Inlandsprodukt
herangezogen, da es als Indikator für die Leistung einer Volkswirtschaft
besonders geeignet erscheint.
Definition:
Sozialprodukt
Definition: Das Sozialprodukt (SP) ist der Wert aller während eines
Jahres produzierten Gütern und Dienstleistungen.
Inlandsprodukt
(Wert aller Güter und
Dienstleistungen, die im Inland
produziert werden, inkl. von
Ausländern)
Bruttoinlandsprodukt (BIP)
(Gross Domestic Product/GDP)
Inländerprodukt
Abb. 6.3:
Inlandsprodukt,
Inländerprodukt, BIP
und BSP
(Wert aller Güter und
Dienstleistungen, die von den
Inländern produziert werden)
Bruttosozialprodukt (BSP)
(Gross National Product/GNP)
Abb. 6.3: Inlandprodukt, Inländerprodukt, BIP und BSP
2
KAPITEL 6
Der Zusammenhang von Inlands- und Inländerprodukt kann der folgenden
Übersicht entnommen werden:
Abb. 6.4:
Ermittlung verschiedener
Sozialprodukts-Typen
Ermittlung verschiedener Sozialprodukts-Typen:
(Quelle: Bundesamt für Statistik: Statistisches Jahrbuch, 2003, S.241-243)
+
+
=
+
=
=
+
=
Wert der produzierten Waren und Dienstleistungen während
einer Periode
Vorleistungen
Nichtabzugsfähige Mehrwertsteuer
Nettoeinfuhrabgaben
Bruttoinlandsprodukt zu Marktpreisen
Kapital- und Arbeitseinkommen aus der übrigen Welt
Kapital- und Arbeitseinkommen an die übrige Welt
Bruttoinländerprodukt zu Marktpreisen (Bruttovolkseinkommen [ehemals BSP])
Abschreibungen
Nettoinländerprodukt zu Marktpreisen
Subventionen
Verbrauchssteuern und Einfuhrabgaben
Nettoinländerprodukt zu Faktorkosten (auch: Volkseinkommen)
Abb. 6.4: Ermittlung verschiedener Sozialprodukts-Typen
Erläuterungen zur Berechnung verschiedener Sozialprodukts-Typen:
Vorleistungen:
Die Vorleistungen werden von der gesamten Wertschöpfung oder dem
gesamten Umsatz für Güter und Dienstleistungen abgezogen. Vorleistungen
ergeben sich dadurch, dass Güter und Dienstleistungen in der Regel mehrere
Produktionsstufen durchlaufen und in jeder Produktionsstufe Wertschöpfung
entsteht. Die Vorleistung für eine Stufe ist die Wertschöpfung der
vorgelagerten Stufe. Damit keine Doppel-rechnungen auftreten, müssen auf
der Stufe des Endkonsums die Wertschöpfungen der verschiedenen
Vorstufen abgezogen werden.
Vorleistungen
Brutto versus Netto:
Die Differenz zwischen Bruttoinlands- bzw. -inländerprodukt und Nettoinlands- bzw. -inländerprodukt sind die Abschreibungen. Die Abschreibungen
sind der Wertverzehr an Maschinen, Produktionsanlagen u.ä. welcher
während einer Periode auftritt.
Problem: Die Abschreibungen beziehen sich nur auf das Sachkapital, jedoch
gibt es auch Wertverzehr bei anderen volkswirtschaftlichen Kapitalarten (etwa
bei Naturkapital).
Brutto versus Netto
Marktpreise versus Faktorkosten:
Beim Sozialprodukt zu Marktpreisen sind die erstellten Güter und
Dienstleistungen zu ihren Marktpreisen erfasst, d.h. die Preise enthalten auch
Steuern bzw. Subventionen. Durch die dahinter stehenden staatlichen
Eingriffe werden die Knappheitsverhältnisse der Güter und Dienstleistungen
künstlich verzerrt. Alternativ gibt es den Ansatz der Faktorkosten, der die
tatsächlichen Knappheitsverhältnisse abbildet. Der Unterschied zwischen
„Marktpreisen“ und „Faktorkosten“ besteht in der Höhe der Verbrauchssteuern
und der Subventionen. Steuern lassen die Preise zu hoch, Subventionen zu
tief erscheinen. Für Sozialproduktsangaben in Faktorkosten sind daher die
Steuern abzuziehen und die Subventionen hinzu zu addieren.
Marktpreise versus
Faktorkosten
3
MESSUNG DER « LEISTUNGSKRAFT» UND « WOHLFAHRT » VON VOLKSWIRTSCHAFTEN
BIP-Vergleich ausgewählter Länder
Bemerkung: Am 15.12.03 wurde in der Schweiz das Europäische System der
Volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung (ESVG 95) eingeführt. Das neue
System bildet die ökonomische Realität besser ab als das vorhergehende und
erlaubt aussagekräftigere internationale Vergleiche. Infolge des Übergangs
vom ESVG 78 zum ESVG 95 haben sich die bisherigen Werte für das BIP
(sowohl Niveaugrössen als auch Wachstumsraten) verändert. Näheres zur
Volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung (VGR): Stat. Jahrbuch der Schweiz
2005, 230ff.
Das BIP pro Kopf variiert stark zwischen verschiedenen Ländern bzw.
Ländergruppen. In Entwicklungsländern ist es typischerweise sehr viel kleiner
als in den Industrieländern (vgl. Tabelle 6.1).
Tabelle 6.1: Beispiele aus dem World Development Report 2008; für das Jahr
2006
China
USA
Japan
Germany
Switzerland
Israel
Niger
Bevölkerung
in Millionen
1’312
299
128
82
7
7
14
BIP
in Mrd US $
2’641.6
13'446.0
4'900.0
3’018.0
425.9
128.7
3.7
Pro-Kopf-BIP
in US $
2’010
44’970
38’410
33’620
57’230
18’580
260
BIP pro Kopf
in US $ (PPP)
7‘740
44‘260
33‘150
31’830
40‘930
25’480
830
Quelle: Weltbank: World Development Report 2008, S. 334f).
Bemerkung zu Tabelle 6.1
Kaufkraftkorrekturen
Beim Vergleich der für unterschiedliche Länder berechneten BIP’s wird
zunächst die unterschiedliche Kaufkraft in diesen Ländern nicht angemessen
berücksichtigt. Um diesem Problem abzuhelfen, werden in der letzten Spalte
der obenstehenden Tabelle Kaufkraftkorrekturen (Purchasing Power ParityKorrekturen) miteinberechnet. Es wird dabei erfasst, wie viele Einheiten eines
bestimmten Warenkorbes (in $) mit dem Pro-Kopf-BIP im jeweiligen Land
konsumierbar sind verglichen mit dem Konsum für 1$ in den USA. Man
vergleicht somit die Mengen, die ein Inländer im jeweiligen Land mit 1 $
kaufen könnte mit der Menge, die er in den USA für 1 $ erhielte. Die
Kaufkraftkorrektur führt für die meisten Entwicklungsländer zu einer Erhöhung
des Pro-Kopf-Einkommens, für die meisten Industrieländer zu einer Senkung.
Bemerkung zur Ermittlung des Sozialprodukts zu laufenden Preisen /
Preisen eines Basisjahres
In den Tabellen des Bundesamt für Statistik (www.bfs.admin.ch) erscheint das
Sozialprodukt sowohl zu laufenden Preisen (nominal) als auch zu Preisen
eines Basisjahres (real, z. B. 1990). Das Sozialprodukt zu Preisen eines
Basisjahres wird ermittelt, um denjenigen Teil einer Veränderung des
Sozialprodukts herausrechnen zu können, der ausschliesslich auf
Preisveränderungen zurückzuführen ist. Das Sozialprodukt zu Preisen eines
Basisjahres (z.B. reales BIP) ermöglicht einen Vergleich der real produzierten
Mengen von Waren und Dienstleistungen verschiedener Jahre (Ermittlung von
Wachstumsraten).
Man kann die oben erwähnte Preisbereinigung auf zwei Arten durchführen:
4
Tabelle 6.1:
Beispiele aus dem
World Bank Report
KAPITEL 6
1. Man erfasst die Mengen des laufenden Jahres zu den jeweiligen
Einzelpreisen eines Basisjahres, oder
2. man bereinigt die nominal (zu laufenden Preisen) erfassten Mengen mit
einem
geeigneten
Inflationsindikator
(z.B.
Landesindex
der
Konsumentenpreise, LIK, vgl. Kapitel 8.3. dieser Vorlesung) indem man
die nominal erfassten Werte werden durch einen geeigneten Preisindex
dividiert.
Die Erfassung der Mengen zu den jeweiligen Einzelpreise des Basisjahres
birgt ein statistisches Problem, denn einerseits wurden zum Zeitpunkt des
Basisjahrs einige Waren und Dienstleistungen noch nicht produziert
(Innovationen – z.B. DVD-Player), und andererseits sind einige Waren und
Dienstleistungen in ihrer Qualität besser geworden (technischer Fortschritt –
z.B. bei Computern). Es wird deshalb im allgemeinen ein geeigneter
Inflationsindikator zur Hilfe genommen (Art 2; Hinweis: analoge Probleme hat
man allerdings auch beim Inflationsindikator, siehe Kapitel 8.3. dieser
Vorlesung: Bedeutung von Inflation).
Mögliche Erfassungsarten des Sozialprodukts
1. Entstehungsrechnung/Produktionsansatz
Wert aller produzierten Waren und Dienstleistungen (Wertschöpfung/
Produktion im Inland). Hierzu zählen Landwirtschaftsproduktion, Industrie- und
Gewerbeproduktion sowie Produktion in den Dienstleistungsbranchen und
beim Staat. Alle produzierten Waren und Dienstleistungen werden gemäss
ihrer Umsätze erfasst (vgl. Tab. 6.2.).
Tabelle 6.2: Bruttoinlandsprodukt gemäss Produktionsansatz 2006 und 2007
Tabelle 6.2:
Bruttoinlandsprodukt
gemäss
Produktionskonto
Provisorisch, in Mio. Franken, zu laufenden Preisen
2006p
Verwendung
Produktionskonto
Produktionswert
Vorleistungen
Gütersteuern
Gütersubventionen
Bruttoinlandprodukt
2007p
Aufkommen
Verwendung
915’594
457’442
Aufkommen
966’560
484’491
32’914
-2’841
31’904
-3'016
487'041
Entstehungsrechnung
512’142
p=provisorisch, Quelle: BFS
http://www.bfs.admin.ch/bfs/portal/de/index/themen/04/02/01/key/bip_gemaes
s_produktionsansatz.html
2. Verwendungsrechnung
Verwendung der produzierten Waren und Dienstleistungen. Die produzierten
Waren und Dienstleistungen können entweder von den privaten Haushalten
bzw. den privaten Organisationen ohne Erwerbscharakter1 verwendet werden
(„letzter Verbrauch“ = Konsum der privaten Haushalte und POoE), vom Staat
(Staatsausgaben), vom Ausland (Nettoexporte = Exporte – Importe von Waren
und Dienstleistungen) oder von den Unternehmen (Investitionen = „Konsum“
der Unternehmen): (vgl. Tab. 6.3.). Verwendung bedeutet dabei vor allem
Konsum oder Investition. Die Teile des Einkommens der privaten Haushalte
und POoE, die nicht konsumiert werden, stellen die Ersparnis dar. Die
Ersparnis (S) entspricht ex-post gesehen den Investitionen (I) der
Unternehmen. Diese Identität lässt sich dadurch plausibel machen, dass die
Ersparnisse der privaten Haushalte und POoE den Banken zur Verfügung
1
Abgekürzt: POoE.
5
Verwendungsrechnung
MESSUNG DER « LEISTUNGSKRAFT» UND « WOHLFAHRT » VON VOLKSWIRTSCHAFTEN
stehen, die wiederum den Unternehmen Kredite gewähren, aus denen diese
ihre Investitionen finanzieren.
Ergänzung: Die Sparquote wird definiert als Quotient aus Gesamtersparnissen
und BIP. Diese Sparquote entspricht laut der Identitätsgleichung (I = S) der
Investitionsquote, d.h. dem Quotient aus Investitionen und BIP.
Tabelle 6.3: Bruttoinlandsprodukt nach Verwendungsarten
Provisorisch, zu laufenden Preisen (in Mio. Franken)
Konsumausgaben
Private Haushalte und POoE
Staat
Bruttoinvestitionen
Bruttoanlageinvestitionen
Ausrüstungen
Bau
Vorratsveränderungen
Nettozugang an Wertsachen
Exporte
Warenexporte
Dienstleistungsexporte
Importe
Warenimporte
Dienstleistungsimporte
Bruttoinlandsprodukt
2006p
2007p
341’310
286'723
54'587
108'323
104'328
57'779
46'549
-1
3’997
255’272
185’687
69'585
217'864
180'584
37'279
487'041
351’161
296’055
55’106
113’857
112’426
64’743
47’683
511
920
286’191
207’075
79’116
239’067
197’662
41’406
512’142
Tabelle 6.3:
Bruttoinlandsprodukt
nach Verwendungsarten
p=provisorisch,Quelle: BFS
http://www.bfs.admin.ch/bfs/portal/de/index/themen/04/02/01/key/bip_nach_ve
rwendungsarten.html
3. Verteilungsrechnung
Hier
wird
erfasst,
wie
sich
das
Bruttoinlandsprodukt
bzw.
Bruttonationaleinkommen auf verschiedene Gruppen verteilt (vgl. Tab. 6.4).
Man unterscheidet die funktionale Einkommensverteilung (Aufteilung der
Einkommen nach Produktionsfaktoren: unselbständige und selbständige
Arbeit [Löhne, Gewinne], Boden [Bodenrente] und Kapital [Zinsen]) und die
personelle Einkommensverteilung (Aufteilung der Einkommen nach
Personen).
Tabelle 6.4: Bruttoinlandsprodukt und Bruttonationaleinkommen (funktionale
Verteilung)
zu laufenden Preisen (in Millionen Franken)
2006p
2007p
302'512
82'460
86'163
34'604
-16'698
487'041
2'068
12'518
130'385
75'579
531'397
318’666
85’936
90’732
35’702
-18’895
512’142
2’035
13’765
149’582
103’910
546’084
Einkommensarten
Arbeitnehmerentgelt
Nettobetriebsüberschuss
Abschreibungen
Produktions- und Importabgaben
Subventionen
Bruttoinlandsprodukt
Arbeitnehmerentgelt aus der übrigen Welt
Arbeitnehmerentgelt an die übrige Welt
Vermögenseinkommen aus der übrigen Welt
Vermögenseinkommen an die übrige Welt
Bruttonationaleinkommen
p=provisorisch, Quelle: BFS
http://www.bfs.admin.ch/bfs/portal/de/index/themen/04/02/01/key/bip_nach_einkomme
nsarten.html
6
Verteilungsrechnung
KAPITEL 6
6.2 Wohlfahrtsmessung durch das Pro-Kopf-Einkommen?
Um die wirtschaftliche Leistungskraft von Volkswirtschaften vergleichen zu
können bzw. um einen Wohlstandsvergleich zwischen verschiedenen Ländern
machen zu können, ist es sinnvoll, die Bevölkerungsgrösse der
Volkswirtschaften zu berücksichtigen. Im Allgemeinen verwendet man das
Pro-Kopf-BIP (BIP / Bevölkerung) für die erwähnten Vergleiche. Die
Aussagekraft des Pro-Kopf-BIP als Wohlstandsindikator ist jedoch beschränkt.
Dafür lassen sich im wesentlichen 4 Gründe anführen:2
a) Nicht-Berücksichtigen von aussermarktlichen Leistungen
Wegen der Bewertung zu Marktpreisen bleiben ökonomische Aktivitäten, wie
etwa die Eigenproduktion der Haushalte (Nachbarschaftshilfe, Hausarbeit,
Subsistenzwirtschaft), die Freiwilligenarbeit in Firmen oder generell die
Schattenwirtschaft3 aussen vor. Das SP erfasst die ökonomischen Aktivitäten
also nur unvollständig (Schätzungen der OECD: zwischen 50 % und 80 % der
Leistungen fehlen). Informationen des Bundesamts für Statistik zeigen etwa,
dass in der Schweiz im Jahr 2000 8 Mrd. Stunden unbezahlt gearbeitet
worden sind (im Vergleich zu 6.7 Mrd. bezahlten Stunden), und dass ihr Wert
ca. 70 % des BIP anzusetzen ist (vgl. Medienmitteilungen des BFS:
„Unbezahlte Arbeit (...)“4, „Freiwilliges Engagement (...)“5).
b) Kontra-intuitive Effekte
Eine Reihe von wohlstands- bzw. wohlfahrtsverringernde Phänomenen
erhöhen das BIP-pro-Kopf, wie zum Beispiel:
• Naturkatastrophen (Reparaturmassnahmen Æ höheres BIP)
• Gesundheitswesen (mehr kranke Menschen Æ höheres BIP)
• Umweltschäden/Verkehrsunfälle (mehr Umweltreparaturen/ mehr
Verkehrsunfälle Æ höheres BIP)
Ergänzende Bemerkungen
Nationale Buchhaltung“ :
zum
Themenbereich
„Umweltaspekte
und
1. Abschreibungen, d.h. Wertverzehr von Kapital, beziehen sich ausschliesslich auf Maschinen bzw. Sachkapital. Im Sozialprodukt (BIP)
wird der Umwelt-Verbrauch (Verbrauch an natürlichen Ressourcen)
nicht ausgedrückt. Durch das BIP kann also keine Aussage über Umweltaspekte getätigt werden. Umweltaspekte, wie z.B. der Verlust an
natürlichen Ressourcen, werden bei der Berechnung des BIP nicht
beachtet.
Ausweg: Ergänzende Indikatorensysteme für den Umweltbereich. (Vgl.
http://www.bfs.admin.ch/bfs/portal/de/index/themen/systemes_d_indica
teurs/umwelt_indikatoren/introduction.html)
2. Reparaturen von Umweltschäden (Aufforstung, Einrichtung von Naturschutzgebieten) erhöhen das Bruttoinlandprodukt (generell: das SP).
Die Reparaturen sind jedoch nicht wirklich wohlfahrtssteigernd.
Bestenfalls können frühere Wohlfahrtsniveaus wieder erreicht werden.
2
Vgl. ZEW Konjunkturreport Oktober 2004: “Bruttonlansprodukt: Der falsche Kompass?”, S. 6f.
Der Schattenwirtschaft werden jene Tätigkeiten zugerechnet, die im Sinne der Konvention der
volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung eine Wertschöpfung darstellen, in den bestehenden
amtlichen Statistiken aber nur zum Teil ausgewiesen werden.
4
http://www.bfs.admin.ch/bfs/portal/de/index/news/medienmitteilungen.Document.49254.html
5
http://www.bfs.admin.ch/bfs/portal/de/index/news/medienmitteilungen.Document.49776.html
3
7
Wohlfahrtsrechnung durch
das Pro-Kopf-Einkommen?
MESSUNG DER « LEISTUNGSKRAFT» UND « WOHLFAHRT » VON VOLKSWIRTSCHAFTEN
Reparaturen von Umweltschäden sind höchstens Ersatz-, sicher keine
Erweiterungsinvestitionen (Vgl. Netto- versus Bruttoinvestitionen).
c) Qualitative/immaterielle Aspekte werden nicht berücksichtigt
Eine Reihe von immateriellen Faktoren sind für die Wohlfahrt eines Landes
wichtig, gehen aber nicht direkt in das BIP mit ein, dies sind zum Beispiel:
• Politische Sicherheit
• Einhaltung der Menschenrechte
• Soziale Integration von Randgruppen
• Meinungsfreiheit
d) Personelle Einkommensverteilung der privaten Haushalte
Die Einkommensverteilung wird ebenfalls nicht im BIP berücksichtigt. Es ist
zur Beurteilung der Wohlfahrt eines Landes aber wichtig, zu untersuchen, wie
sich das Einkommen auf die einzelnen Personen oder Gruppen verteilt (vgl.
Abb. 6.5). Hierbei bedient man sich in der Regel der Lorenzkurve bzw. des
Gini-Koeffizienten.
Die Lorenzkurve stellt die Verteilung des Einkommens auf die einzelnen
Haushalte dar. Auf der Ordinate werden die aufsummierten (kumulierten)
Einkommensanteile und auf der Abszisse die aufsummierten (kumulierten)
Anteile der Haushalte (bei den unteren Einkommensklassen beginnend)
abgetragen. Falls jeder Haushalt über ein gleich hohes Haushaltseinkommen
verfügen würde, entspräche die Verteilungskurve der Diagonalen in Abb. 6.6.
Je ungleicher die Verteilung ist, desto stärker ist die tatsächliche
Verteilungslinie (Lorenzkurve) gekrümmt und desto weiter liegt sie unter der
Diagonalen.
Abb. 6.5:
Einkommensverteilung
der privaten Haushalte
Abb. 6.5: Einkommensverteilung der privaten Haushalte (2000) 25 % der
Haushalte haben ein Einkommen unter 5'204 Franken (monatlich); sie haben einen
Anteil am Gesamteinkommen von 10 %. 25 % der Haushalte haben ein Einkommen
von 5‘204-7'683 Franken (monatlich); sie haben einen Anteil am Gesamteinkommen
von 19 %. 25 % der Haushalte haben ein Einkommen von 7‘684-10'661 Franken
(monatlich); sie haben einen Anteil am Gesamteinkommen von 26 %. 25 % der
Haushalte haben ein Einkommen von mehr als 10'661 Franken (monatlich); sie haben
einen Anteil am Gesamteinkommen von 45 %. Quelle: BFS, Statistisches Jahrbuch
der Schweiz 2003, S. 849
8
KAPITEL 6
100%
Abb. 6.6:
Lorenzkurve der
Einkommensverteilung
in der Schweiz
90%
80%
70%
60%
C
50%
40%
30%
20%
B
A
10%
0%
0% 10% 20% 30% 40% 50% 60% 70% 80% 90% 100%
Aufsummierte Anteile der Haushalte (in %)
Abb. 6.6: Lorenzkurve der Einkommensverteilung in der Schweiz (2000) Punkt A:
25 % der Haushalte (mit einem Einkommen unter 5000 Franken [monatlich]) haben
einen Anteil am Gesamteinkommen von 10 %. Punkt B: 50 % der Haushalte (mit
einem Einkommen unter 7300 Franken [monatlich]) haben einen Anteil am
Gesamteinkommen von 28 %. Punkt C: 75 % der Haushalte (mit einem Einkommen
unter 10400 Franken [monatlich]) haben einen Anteil am Gesamteinkommen von 54
%, d.h. auch, dass 25 % der Haushalte (mit einem Einkommen von mehr als 10400
Franken [monatlich]) 46 % des Gesamteinkommens erhalten. Die Diagonale ist die
Gleichverteilungslinie; Die faktische Verteilungslinie (Verbindung der Punkte A, B und
C) stellt die Lorenzkurve dar. Quelle: BFS, Statistisches Jahrbuch der Schweiz 2003,
S. 849
Gini-Koeffizient
Um die in der Lorenzkurve enthaltene Information über die Einkommensverteilung eines Landes in einem numerischen Indikator auszudrücken,
verwendet man den Gini-Koeefizienten. Dieser setzt die in der Abbildung 6.7
bezeichneten Flächen A und B zueinander in Beziehung.
Abb. 6.7:
Herleitung des GiniKoeffizienten mit Hilfe
der Lorenzkurve
Abb. 6.7: Herleitung des Gini-Koeffizienten mit Hilfe der Lorenzkurve
9
MESSUNG DER « LEISTUNGSKRAFT» UND « WOHLFAHRT » VON VOLKSWIRTSCHAFTEN
Die Fläche A umfasst den Bereich, welcher durch die Gleichverteilungslinie
und die Lorenzkurve begrenzt ist. Die Fläche A+B beinhaltet den Bereich
unterhalb der Gleichverteilungslinie.
Der Gini-Koeffizient ist folgendermassen definiert:
Gini - Koeffizient : G =
A
A+B
Zusammenhang Lorenzkurve - Gini-Koeffizient:
G = 0:
Lorenzkurve entspricht der Diagonalen im Schaubild Æ extreme
Gleichverteilung
G = 1: Fläche A ist identisch mit Fläche A+B, d.h. viele erhalten fast nichts
und genau einer erhält das gesamte Volkseinkommen Æ extreme
Verteilungsungleichheit
Je näher der Gini-Koeffizient also bei 0 liegt, desto gleichmässiger ist das
Einkommen verteilt. Der Gini-Koeffizient für die Schweiz aus dem Jahr 2000
beträgt gemäss dem Bundesamt für Statistik 0,289, und ist damit im
internationalen Vergleich eher klein.
Für eine detaillierte Analyse der Einkommensunterschiede
Privathaushalten
(vgl.
Medienmitteilung
des
BFS
Einkommensunterschiede (...)“)6.
zwische
„Grosse
Fazit zu 6.2:
Die Aussagekraft des BIP pro Kopf als Wohlstandsindikator ist eher gering. Es
ist allerdings möglich, Indikatoren zu verwenden, die die oben geschilderten
wohlfahrtsrelevanten Aspekte, welche nicht in das BIP eingehen, zusätzlich
berücksichtigen. Die Gewichtung der einzelnen Faktoren macht jedoch
Werturteile
erforderlich.
Wie
wichtig
ist
zum
Beispiel
die
Einkommensverteilung im Vergleich zum Pro-Kopf-Einkommen? Wegen
dieser Werturteils-Problematik sind die Indikatoren nicht unbedingt
überzeugender als das BIP/Kopf, wenn man eine Aussage über die Wohlfahrt
eines Landes machen will.
Ein Beispiel für einen einfachen kombinierten Indikator ist der “Human
Development Index” (HDI), der jedes Jahr vom Entwicklungsprogramm der
Vereinten Nationen (engl. United Nations Development Program, UNDP)
erstellt wird. Er kombiniert das Pro-Kopf-Einkommen mit einem Bildungs- und
einem Gesundheitsindikator und gewichtet alle drei Bereiche gleich stark.
Wegen seiner relativen Einfachheit hat sich dieser kombinierte Indikator bisher
international vergleichsweise gut durchgesetzt (vgl. Link auf der
Lernumgebung: HDI).
6.3 Determinanten des Pro-Kopf-Einkommens
Bei der Betrachtung des realen BIP über die letzten Jahrzehnte sind zwei
Phänomene zu beobachten:
In der langen Frist steigt das reale BIP. In anderen Worten: der Wert der
produzierten Güter und Dienstleistungen nimmt im Zeitverlauf zu. Man spricht
in diesem Zusammenhang von Wachstum des realen BIP. Die Trendlinie in
Abb. 6.8 bzw. 6.9 zeigt die Entwicklungs- oder Wachstumstendenz des realen
BIP.
In der kurzen und mittleren Frist schwankt das reale BIP um seinen
langfristigen Trend. Diese Schwankungen oder Fluktuationen nennt man
6
www.bfs.admin.ch/bfs/portal/de/index/news/medienmitteilungen.Document.49708.html
10
Determinanten des
Pro-Kopf-Einkommens
KAPITEL 6
Konjunkturschwankungen. Man teilt diese in verschiedene Zyklen ein. Von
Boom oder Hochkonjunktur spricht man, wenn das reale BIP höher ist als der
langfristige Trend, von Rezession oder „konjunktureller Flaute“, wenn das
reale BIP niedriger ist als der langfristige Trend (vgl. Abb. 6.8 und 6.9).
Abb. 6.8:
Die Entwicklung des
realen BIP mit Trendlinie
Reales BIP zu Preisen von 1980 mit Trendlinie
250
200
reales BIP
150
Trendlinie (hier grob geschätzt)
100
50
0
1948 1952 1956 1960 1964 1968 1972 1976 1980 1984 1988 1992 1996 2000
Abb. 6.8: Die Entwicklung des realen BIP (1948-2000) mit Trendlinie Quelle: BFS
Fluktuationen - idealisiert
Reales BIP
Boom
Rezession
Boom
Rezession
Abb. 6.9:
Fluktuationen –
idealisiert
Boom
W
hs
ac
m
tu
fa
sp
d
Laufendes BIP
Langfristiger Trend
Zeit
Abb. 6.9: Fluktuationen – idealisiert
In dieser idealisierten Darstellung der Entwicklung des realen BIP lassen sich der
langfristige Trend und die einzelnen Konjunkturzyklen erkennen. Für die Trendlinie ist
angenommen, dass das reale BIP über die Zeit steigt. Das laufende BIP (blaue Linie)
zeigt, dass die Werte des realen BIP kurz- bzw. mittelfristig schwanken. Wenn die
tatsächlichen realen BIP-Werte oberhalb der Trendlinie liegen, befindet sich die
Volkswirtschaft in einer Boomphase. Wenn die tatsächlichen realen BIP-Werte
unterhalb der Trendlinie liegen befindet sich die Volkswirtschaft in einer
Rezessionsphase.
11
MESSUNG DER « LEISTUNGSKRAFT» UND « WOHLFAHRT » VON VOLKSWIRTSCHAFTEN
6.3.1 Wachstumsdeterminanten
In den letzten Jahrzehnten ist das reale BIP der Schweiz mit mehr oder
weniger grossen Raten gewachsen (vgl. Bundesamt für Statistik:
Statistisches Jahrbuch der Schweiz 2005, S. 224-229). Generell wird ein
positives Wirtschaftswachstum als wünschenswert angesehen. Hierfür sind
vor allem vier Gründe ausschlaggebend:
• Wachstum ermöglicht eine bessere materielle Versorgung der Menschen,
was vor allem für Entwicklungsländer wichtig ist. Entwicklungsländer können indirekt – nicht zuletzt auf dem Weg höherer Mittel für die Entwicklungszusammenarbeit – vom Wachstum der Industrieländer profitieren,
vorausgesetzt, entsprechender politischer Wille ist vorhanden. Eine
bessere materielle Versorgung in Entwicklungsländern bringt weltweit und
gerade auch für Industrieländer verschiedene „Dividenden“, u.a. eine Friedensdividende und eine Handelsdividende (vgl. WBGU (2004): Welt im
Wandel – Armutsbekämpfung durch Umweltpolitik)
• Bei Wachstum ist eine Umverteilung in Richtung auf eine gleichere Einkommensverteilung leichter möglich als ohne Wachstum, da lediglich die
Zuwächse, nicht aber bereits vorhandene Besitzstände anders verteilt
werden können. Ob es tatsächlich zu solchen Umverteilungen kommt,
hängt vom politischen Willen der Länder ab. Wachstum ist in diesem Sinne
eine notwendige, aber nicht hinreichende Voraussetzung für Umverteilung.
• Beim Wachstum ist es relativ leicht möglich, dass zusätzliche Aufgaben,
etwa im Bereich des Aufbaus von Infrastruktur, Bildungs- oder Gesundheitssystemen durch den Staat wahrgenommen werden. Auch hier muss
wieder nur der BIP-Zuwachs in die entsprechenden Verwendungen geschoben werden. Aber auch hier ist der politische Wille eines Landes
entscheidend und Wachstum ist wieder nur eine notwendige, nicht aber
hinreichende Bedingung für eine Veränderung staatlicher Aktivitäten.
• Wachstum macht es möglich, dass Arbeitsplatzverluste in Bereichen mit
arbeitssparendem technischen Fortschritt durch zusätzliche Arbeitsplätze
in neu entstehenden oder wachsenden Bereichen kompensiert werden, so
dass netto keine Arbeitsplatzverluste eintreten. Voraussetzung hierfür ist
allerdings, dass einzelne Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer nicht
zuletzt durch Umschulungen in die Lage versetzt werden, entsprechende
Branchenwechsel oder Tätigkeitswechsel zu vollziehen. Der Abbau von
Arbeitsplätzen in einzelnen Bereichen ist im übrigen als sinnvolle strukturverändernde Dynamik anzusehen. Es wird auf diese Weise möglich, weltweit die komparativen Kostenvorteile zu nutzen (vgl. Kap. 7 zum
Aussenhandel). Darüber hinaus gibt es Anreize für technologische
Weiterentwicklungen und Neuentwicklungen von Prozessen und Produkten, wovon ein wohlfahrtssteigernder Effekt ausgeht.
Welches sind nun die wichtigsten Grössen, die für Wirtschaftswachstum
sorgen können?
Die folgende Abbildung 6.10 zeigt wichtige Wachstumsdeterminanten auf.
Relative Preise und Institutionen sowie deren Veränderungen haben direkt
(über die Produktionsfunktion) oder indirekt (über die Produktionsfaktoren)
Einfluss auf die mittel- und langfristigen Veränderungen des Sozialproduktes.
12
KAPITEL 6
Determinanten für Wirtschaftswachstum
Abb. 6.10:
Determinanten des
Wachstums
Produktionsfunktion: Y = f (Faktor 1, Faktor 2, ...)
Δ
Y
Faktormenge
Preise
f
Δ
Faktorqualität
(Innovation)
Institutionen
Abb. 6.10: Schematische Übersicht wichtiger Wachstumsdeterminanten
Bei den Produktionsfaktoren sind quantitative Veränderungen, wie etwa
zusätzliches Sachkapital, oder qualitative Veränderungen, wie etwa
Verbesserungen beim Humankapital als Folge besserer Aus- und
Weiterbildung und verbesserten technologischen Wissens zu beachten. Als
makroökonomische
Produktionsfaktoren
sind
dabei
Sachkapital,
Humankapital, Naturkapital und Sozialkapital anzusehen. Zwischen ca. 1950
und ca. 1980 wurde vor allem die Bedeutung von zusätzlichem Sachkapital für
das Wirtschaftswachstum betont. Dementsprechend war Wachstumspolitik vor
allem auf Massnahmen zur Erhöhung der gesamtwirtschaftlichen Ersparnis
(insbes. Sparquote) sowie der Investitionen ausgerichtet. Erst nach 1980
wurde zusätzlich auf die grosse Bedeutung des Humankapitals und
Naturkapitals für das Wirtschaftswachstum gesehen. So wurde
Wachstumspolitik zunehmend auf die Förderung von Forschungs- und
Entwicklungsanstrengungen in Firmen sowie auf Bildungspolitik ausgerichtet.
Man erkannte, dass mehr Wissen und bessere Bildung neben direkten
positiven Effekten auch indirekte positive Effekte (sogenannte spill-overs etwa
durch Lerneffekte in einer Branche, ausgelöst durch besseres Know How in
einer vor- oder nachgelagerten Branche) haben kann. Darüber hinaus wurde
auch den Aspekten der Nachhaltigkeit, speziell der Nachhaltigkeit in
ökologischer Hinsicht, mehr Bedeutung beigemessen. Wachstumspolitik
wurde in diesem Sinne auch zu einer Politik des “optimalen” Abbaus
natürlicher Ressourcen (vgl. Vorlesung Umweltökonomie).
6.3.2 Konjunkturdeterminanten
Interessante Fragen im Zusammenhang mit Konjunkturzyklen sind:
•
Aus theoretischer Sicht
Welches sind die Ursachen für besonders steile bzw. flache
Konjunkturzyklen?
•
Aus wirtschaftspolitischer Sicht:
Was kann man tun, um Konjunkturzyklen möglichst lang und flach zu
machen, um auf diese Weise die Anpassungskosten für die
Ökonomie möglichst gering zu halten?
13
MESSUNG DER « LEISTUNGSKRAFT» UND « WOHLFAHRT » VON VOLKSWIRTSCHAFTEN
Seit dem negativen Wachstum des BIP im Jahr 2003 ist die Schweizer
Wirtschaft wieder gewachsen, mit einer Rate von 1.9% im Jahr 2005 sogar
kräftig. Dies ist auf eine anhaltend starke Inlandnachfrage zurückzuführen.
Diese setzt sich aus dem Konsum der privaten Haushalte, POoE und des
Staats sowie aus den Investitionen zusammen. Während der Konsum der
privaten Haushalte und POoE gestiegen ist, hat jener des Staats leicht
nachgelassen. Die Investitionen haben insbesondere durch die
Finanzdienstleistungen, die Maschinen-, die chemische und die
Uhrenindustrie zum Wachstum beigetragen. Darüber hinaus hat auch die
ausländische Nachfrage zum Schweizer Wirtschaftswachstum im Jahr 2005
beigetragen7.
Grundsätzlich bestehen folgende Möglichkeiten zur Einflussnahme auf die
Gesamtnachfrage durch staatliche Wirtschaftspolitik:
• Direkte zusätzliche (oder verringerte) Staatsausgaben, zur kurzfristigen
Erhöhung (Senkung) des BIP
• Indirekte Einflussnahme auf die Konsum- oder Investitionsausgaben der
Privaten. So führt beispielsweise eine Verringerung (Erhöhung) von
Einkommenssteuern tendenziell zu einem Anstieg (Rückgang) der
Konsumausgaben. Oder eine Senkung (Erhöhung) der Zinsen erzeugt
tendenziell einen Anstieg (Rückgang) der Investitionsausgaben, weil die
Finanzierungskosten von Projekten – verglichen mit der Rendite der
Projekte – geringer (höher) werden. Eine Veränderung von Zinsen kann
durch geldpolitische Massnahmen herbeigeführt werden (vgl. dazu Kapitel
8 der Vorlesung).
Im Folgenden werden nun die Wirkungen zusätzlicher Staatsausgaben bzw.
verringerter oder erhöhter Einkommenssteuern auf die Höhe des BIP
betrachtet. Es geht dabei um den Versuch, die Höhe des BIP kurz- bis
mittelfristig zu beeinflussen. Langfristige Wachstumswirkungen sind in der
Regel weder beabsichtigt noch beobachtbar. Es zeigt sich, dass die BIPEffekte die Höhe der anfänglichen zusätzlichen Staatsausgaben bzw. der
reduzierten oder erhöhten Steuern um ein Vielfaches übersteigen können.
6.4 Multiplikatoranalyse
Multiplikatoranalyse
Frage: Wie kann mit Hilfe staatlicher Politik in eher kurzer Frist auf die Höhe
des Sozialproduktes Einfluss genommen werden?
Antwort:
Grundsätzlich ist möglich:
1. eine Erhöhung/Senkung der Staatsausgaben
2. eine Erhöhung/Senkung der Steuern
3. eine Kombination aus Veränderung von Staatsausgaben
und Veränderung von Steuern
Ein einfaches Modell:
Die Effekte von Veränderungen der Staatsausgaben bzw. Steuern werden
nun in einem einfachen Modell analysiert.
Folgende Annahmen werden gemacht:
a) Gesamtnachfrage:
YN = C + I + ASt + (X – M)
Vgl. Bundesamt für Statistik / BfS (2006). Volkswirtschaftliche Gesamtrechung der
Schweiz 2005. Erste Schätzungen. Neuchâtel: S. 5f.
7
14
KAPITEL 6
YN:
C:
I:
ASt:
X-M:
Gesamtnachfrage
Konsumausgaben der Privaten
Investitionen
Staatsausgaben
Saldo der Leistungsbilanz (Aussenbeitrag)
b) Gesamtangebot:
YA
c) Gleichgewicht am Gütermarkt:
YA = YN = Y
d) Bestimmung der Konsumausgaben:
c:
C = c ⋅ Y + Cautonom
marginale Konsumquote der privaten Haushalte (einkommensabhängig)
Man geht davon aus, dass der Konsum mit zunehmenden Einkommen steigt.
Die marginale Konsumquote c bringt zum Ausdruck, um wieviel die
Konsumausgaben steigen, wenn das Einkommen um eine zusätzliche Einheit
erhöht wird (0 < c ≤ 1).
Begriff:
Marginale
Konsumquote (c)
Cautonom: autonomer Konsum (einkommensunabhängiger Anteil des Konsums)
Zu 1: Herleitung des einfachen Staatsausgaben-Multiplikators:
In t = 0: Ausgangsgleichgewicht
Y0 = c ⋅ Y0 + Cautonom + I + A0St + ( X – M)
In t = 1: Erhöhung der Staatsausgaben (A1St > A0St)
Y1 = c ⋅ Y1 + Cautonom + I + A1St + ( X – M)
Differenz (t1 zu t0):
ΔASt = A1St − ASt0
Herleitung:
Einfacher
StaatsausgabenMultiplikator
ΔY = Y1 − Y0
ΔY = c ⋅ ΔY + ΔASt
ΔY ⋅ (1 − c) = ΔASt
1
ΔY =
⋅ ΔASt
1− c
Ergebnis: Zusätzliche Staatsausgaben erhöhen das Sozialprodukt um mehr
als den eigentlichen Ausgabenbetrag, und zwar wegen des MultiplikatorProzesses (siehe unten).
Beispiel: c = 0,8
Multiplikator : 5
1
1
=
=5
1 − 0,8 0,2
15
Beispiel:
Einfacher
StaatsausgabenMultiplikator
MESSUNG DER « LEISTUNGSKRAFT» UND « WOHLFAHRT » VON VOLKSWIRTSCHAFTEN
Eine Erhöhung der Staatsausgaben bei einer marginalen Konsumquote von
c = 0,8 erhöht das gleichgewichtige Sozialprodukt um das Fünffache des
ursprünglichen Betrages der Staatsausgabenerhöhung.
Interpretation des Multiplikatorprozesses bei einer Veränderung der
Staatsausgaben:
Eine Erhöhung der Staatsausgaben erhöht die Gesamtnachfrage und somit
auch das Volkseinkommen um den Betrag ΔASt. Dadurch werden
selbstverstärkende Kreislaufmechanismen ausgelöst, die dafür sorgen, dass
der Gesamteffekt grösser ist als der zusätzliche Ausgabenbetrag.
Versuchen wir uns dies an folgendem Beispiel zu verdeutlichen: Sei c = 0,8;
Δ ASt = 100 GE (GE: Geldeinheiten). Im Multiplikatorprozess passiert
folgendes:
• Die Gesamtnachfrage steigt durch die Staatsausgabenerhöhung zunächst
um 100 GE. Die Erhöhung der Gesamtnachfrage schafft Einkommen für
die privaten Haushalte (Arbeiter und Unternehmer) ⇒ Δ Y1 = 100 GE
• Einen Teil der verfügbaren Einkommen werden die privaten Haushalte
sparen. Bei einer marginalen Konsumquote von 0,8 werden die Haushalte
20 % des zusätzlichen Einkommens sparen, d.h. 20 GE, und 80 % des
zusätzlichen Einkommens konsumieren, d.h. 80 GE ⇒ Δ C1 = 80 GE
• Die ursprüngliche Staatsausgabenerhöhung wirkt dadurch ein zweites Mal
auf die Gesamtnachfrage. Die Erhöhung der Gesamtnachfrage durch den
höheren Konsum der privaten Haushalte erhöht das Volkseinkommen
nämlich um 80 GE, d.h. insgesamt steigt das Volkseinkommen durch die
Staats-ausgabenerhöhung bereits um 180 GE.
⇒ Δ Y2 = 80 GE; Δ Y1 + Δ Y2 = 180 GE
• Die Erhöhung des Volkseinkommens wirkt wiederum ein drittes Mal auf
den Konsum der privaten Haushalte.
• Die ursprüngliche Staatsausgabenerhöhung von 100 GE erhöht das
Volkseinkommen (bei einer marginalen Konsumquote von 0,8) durch den
Multiplikatorprozess insgesamt um 500 GE.
Der gesamte Effekt hat die Form einer unendlichen geometrischen Reihe:
ΔY = ΔY1 + c ⋅ ΔY1 + c ⋅ (c ⋅ ΔY1) + c ⋅ (c ⋅ (c ⋅ ΔY1)) + ... ⇒ ΔY = ΔY1/(1-c).
Bemerkung: Je kleiner die marginale Konsumquote ist, desto kleiner ist der
Multiplikator.
Zu 2: Herleitung des einfachen Steuer-Multiplikators:
Steuer-Multiplikator
Auch eine Veränderung der Steuereinnahmen kann zu einem Multiplikatoreffekt führen.
Im folgenden wird angenommen, dass der Staat durch eine Einkommensbesteuerung ein Steueraufkommen von T erzielt.
Da eine Besteuerung das für den Konsum verfügbare Einkommen verringert,
ergeben sich die Konsumausgaben aus folgender Gleichung:
C = c ⋅ Yv + Cautonom, mit Yv= Y – T.
Es wird nun angenommen, dass im Zeitpunkt t=1 die Steuern gesenkt werden.
In t = 0: Ausgangsgleichgewicht
16
KAPITEL 6
Y0 = c ⋅ Y0 – c ⋅ T0+ Cautonom + I + ASt + ( X – M)
In t = 1: Senkung der Steuer bei gleichbleibenden Staatsausgaben (T1 < T0):
Y1 = c ⋅ Y1 – c ⋅ T1 + Cautonom + I + ASt + ( X – M)
Differenz (t1 zu t0):
Herleitung:
Einfacher SteuerMultiplikator
ΔT = T1 − T 0
ΔY = Y1 − Y0
ΔY = c ⋅ ΔY − c ⋅ ΔT
ΔY ⋅ (1 − c) = −c ⋅ ΔT
ΔY =
−c
⋅ ΔT
1− c
Ergebnis: Eine Senkung der Steuern erhöht das Sozialprodukt, und zwar um
mehr als den ursprünglichen Steuersenkungsbetrag (|ΔT|).
Beispiel: c = 0,8 ⇒ Multiplikator: -0,8 / 0,2 = -4
Eine Senkung der Steuern erhöht das gleichgewichtige Sozialprodukt um das
Vierfache des ursprünglichen Betrags der Steuersenkung.
Vergleich von Steuer- und Staatsausgaben-Multiplikator
Beim Vergleich zwischen dem Staatsausgaben- und dem Steuer-Multiplikator
fällt auf, dass der Steuermultiplikator kleiner ist. Dies ist darauf zurückzuführen, dass eine Steuersenkung (-erhöhung) nicht unmittelbar in voller
Höhe nachfragewirksam wird, sondern nur mittelbar über eine Erhöhung der
privaten Konsumausgaben. Die Staatsausgabenerhöhung wirkt hingegen
direkt.
Wenn eine Regierung eine Budgetsanierung plant, sollte beachtet werden,
dass eine Rücknahme der Staatsausgaben eine grössere Verringerung des
Volkseinkommens nach sich zieht als eine Erhöhung des Steueraufkommens
um den gleichen Betrag. In dieser Hinsicht hätte also eine einnahmenseitige
Budgetsanierung weniger Nachteile.
Zu 3: Multiplikator für steuerfinanzierte Staatsausgaben (HaavelmoTheorem)
Die bisherigen Ergebnisse der Multiplikatoranalyse ändern sich, wenn
berücksichtigt wird, dass Staatseinnahmen über Steuereinnahmen finanziert
werden.
Es wird im folgenden angenommen, dass der Staat ein Steueraufkommen von
T erzielt, mit welchem Staatsausgaben in Höhe von ASt finanziert werden.
Es gelte:
ASt =T
und auch: Δ ASt =ΔT
Es müssen nun sowohl die Veränderungen der Staatsausgaben als auch des
Steueraufkommens berücksichtigt werden. Die Veränderung des gleichgewichtigen Sozialprodukts wird dann durch die Kombination beider
Multiplikatoren bestimmt:
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Haavelmo-Theorem
MESSUNG DER « LEISTUNGSKRAFT» UND « WOHLFAHRT » VON VOLKSWIRTSCHAFTEN
1
c
⋅ ΔA St −
⋅ ΔT
1-c
1-c
1-c
ΔY =
⋅ ΔA St = 1⋅ ΔA St
1-c
ΔY =
Ergebnis:
Bei einer steuerfinanzierten Erhöhung der Staatsausgaben erhöht/vermindert
sich das Volkseinkommen genau um den Betrag der Staatsausgaben. Dieser
Effekt wird als Haavelmo-Effekt bezeichnet.
Werden zusätzliche Staatsausgaben durch zusätzliche Steuern finanziert, so
fällt der expansive Effekt aus der Ausgabenerhöhung dem kontraktiven Effekt
aus der Steuererhöhung zum Opfer und es bleibt lediglich die
Ausgabenerhöhung an sich, welche das gleichgewichtige Sozialprodukt
erhöht. Weitergehende Multiplikatoreffekte fallen – netto betrachtet – nicht an.
Literatur
Mankiw, N. G. (2004): Grundzüge der Volkswirtschaftslehre, Stuttgart, S.
517-537
Frey, R. L. (2002): Wirtschaft, Staat und Wohlfahrt, 10. überarbeitete Auflage,
Basel - Frankfurt / M. S. 67-79
Kleinewefers, H./Pfister, R./Gruber, W. (1993): Die schweizerische
Volkswirtschaft, 4. vollständig neu bearbeitete Auflage, Frauenfeld, S. 337-361
WBGU; Wissenschaftlicher Beirat der Bundesregierung Globale
Umweltveränderungen (2004): Welt im Wandel – Armutsbekämpfung durch
Umweltpolitik. Berlin
Bundesamt für Statistik / BfS (2006). Volkswirtschaftliche Gesamtrechung
der Schweiz 2005. Erste Schätzungen. Neuchâtel: BfS.
Empfohlen
18
Haavelmo-Effekt
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