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Die Französische Revolution: Kulturelle Ursprünge und
Kulturelle Revolution
„Himmel! Wieviel Blut und Tränen kostet den Franzosen die
Freiheit!!“ – Einleitung
Von den französischen Zeitgenossen ist die Revolution von 1789 als
Revolution und als ein epochaler Einschnitt empfunden worden. Bei
vielen machte sich das Bewußtsein breit, eine Stunde Null zu erleben.
Bewußtseinshaltungen und Bewußtseinszustände sind genauso ein
historisches Faktum wie feste Daten und Jahreszahlen, Ereignisse
und statistisch meßbare Entwicklungen. Das enthebt uns nicht der
Frage nach dem eigentlich Revolutionären an der Revolution. Ausgiebig, gerade auch in Deutschland, wurde in der Geschichtsschreibung über den Anteil von Bruch und Kontinuität an der Revolution
diskutiert, was nicht zuletzt die Thesen von Tocqueville aufnimmt.
Ebenso ausgiebig wurde nach den Ursachen der Revolution geforscht, z. T. geriet dabei die ganze Frühe Neuzeit zu einer Art Vorgeschichte der Revolution. Richtig ist sicherlich, daß alle als Umwälzung empfundenen Epochen auch längerfristige Ursachen haben,
aber die sich kurzfristig entwickelnde Dynamik mit einschneidenden
Folgen darf nicht unterschätzt werden. Nach der Entlassung Turgots
und der Wiedereinsetzung der Parlamente beschleunigte sich der
Lauf der Ereignisse, ab 1787 überstürzte er sich und wurde zur unaufhaltsamen Lawine. Dennoch war 1789 noch längst nicht alles entschieden: 1789 war der Weg in die Republik noch nicht eindeutig
beschritten, auch die Terreur läßt sich nicht aus 1789 nachträglich
vorhersagen, obwohl es schon 1789 einzelne Plädoyers zugunsten
von – nicht der – Terreur gab.
Heute ist klar, daß in der als Revolution bezeichneten Epoche viel
Ungleichzeitiges gleichzeitig nebeneinander Bestand hatte und nicht
alles „Revolution“ war. Schaut man in Protokolle, die dörfliche Gemeinden über ihre Gemeindeversammlungen führten, so erscheint
1789 häufig überhaupt nicht als Einschnitt, die Dorfangelegenheiten
nahmen ihren Lauf, als sei nichts wirklich Weltbewegendes geschehen. In vieler Hinsicht gab es biographische Kontinuitäten: Von denen, die im Ancien Régime bereits politische Funktionen ausübten,
taten es viele auch 1789, 1790 und später noch. Und so ließen sich
viele Aspekte dieser Art anführen. Dem steht gegenüber, daß sich
Ereignisse in ungewohnt schneller Folge, ja überstürzt abwickelten.
Es gab individuelle biographische Brüche, verbunden etwa mit den
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Brüchen auf der Ebene der politischen und jurisdiktionellen Institutionen. Daß sich der Dritte Stand am 17. Juni 1789 zur Nationalversammlung und damit zum Gesamtrepräsentanten des französischen
Volks erhob, war ein eminent politischer Akt, mit dem zugleich ein
Schlußstrich unter die ständische Ordnung gezogen wurde. Nun stehen Historiker in der Regel auf einem Berg und schauen zurück ins
Tal der Geschichte, und da stellen sie dann fest, daß zwar die Dreiständegesellschaft 1789 abgewickelt wurde, aber, wie es Roland
Mousnier formulierte, neue, nämlich philosophische Stände etabliert
wurden. Im August 1789 wurde der Adel abgeschafft, Napoleon I.
führte ihn wieder ein. Überhaupt feierte das Ständeprinzip mittels
eines rigorosen Zensuswahlrechts noch während der Revolution und
im 19. Jh. fröhliche Urständ. Eine soziale Revolution dauerhaften
Ausmaßes nahm am 17. Juni 1789 nicht ihren Anfang, während die
Monarchie vom Typ des Ancien Régime trotz der sog. Restauration
im 19. Jh. nicht wieder hergestellt wurde. Die Jahre von 1789 bis 1814
bedeuten vor allem ein Maximum an kultureller (kulturell in umfassendem Wortsinn) Imagination, die weitgehend, aber in sehr unterschiedlicher Wirkungsweise, die Praxis des gesamten 19. Jh. mitbestimmte.
Die bis in die 1970er Jahre währende Auseinandersetzung zwischen marxistischer und ,bürgerlicher’ Interpretation der Revolution
soll nicht mehr aufgegriffen werden. Sie bietet ebensowenig hinreichende Erklärungen wie die wirtschafts- und sozialhistorische Erklärung der ,Ausbruchphase’ oder die politische Ereignisgeschichte,
die in vulgär- und pseudohistorischen Werken gepflegt wird. Die
Französische Revolution soll im Zeichen eines jüngeren Ansatzes, der
kulturgeschichtlichen Interpretation, vorgestellt werden. Rolf Reichardt hat hierzu 1998 eine Synthese unter dem Titel „Das Blut der
Freiheit. Französische Revolution und demokratische Kultur“ vorgelegt (Reichardt 1998). Demokratische Kultur als entscheidendes
Charakteristikum der Französischen Revolution herauszuarbeiten,
wird bei vielen, die ein anderes Bild der Revolution pflegen, auf
Widerspruch stoßen. Die einen reduzieren die Revolution auf die
Revolution von 1789, die, so wird es gelernt, die Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte gebar. Die anderen reduzieren sie auf die
Schreckensherrschaft und die Kriege. Freiheit heißt die eine Revolution – Blut die andere. Für die einen muß den Menschenrechten der
Schein der unbefleckten Empfängnis bewahrt bleiben, die sich mit
der „guten Revolution“ von 1789 vereinbaren läßt, für die anderen
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nährt das Blut der Revolution die These, daß die Französische Revolution weniger die Mutter der neuzeitlichen Revolutionen denn die
Mutter der neuzeitlichen Diktaturen sei. Wenn Reichardt seine Geschichte der Revolution als „Blut der Freiheit“ betitelt, geht es ihm um
die Anerkennung einer zentralen Aporie, das heißt eines unauflöslichen Widerspruchs, der nicht nur die Französische Revolution,
sondern die Entstehung der neuzeitlichen demokratischen Kultur
betrifft. Ein aus der Bretagne stammender Nationalgardist schrieb
sich am 11. August 1792 seinen Schmerz von der Seele: „Wir sind
starr vor Erschöpfung – weniger deswegen, weil wir zwei Nächte
unter Waffen verbracht haben, als wegen der Seelenschmerzen. [. . .]
Himmel! Wieviel Blut und Tränen kostet den Franzosen die Freiheit!!“ Die großen Redner wie Robespierre oder Danton formulierten
diesen unauflöslichen Widerspruch der Revolution, die Aporie des
Bluts der Freiheit, auch nicht besser als der einfache Nationalgardist.
Die Revolution bedeutete vor allem eine Revolution der politischen
Kultur, die sich weder mit Rousseau und Voltaire hinsichtlich ihrer
Ursprünge, noch mit Robespierre und Danton hinsichtlich ihres Verlaufs genügend erklären läßt. Die Revolution der politischen Kultur
wurde auch von Bauern auf dem Land, von den kleinen Leuten in
den Städten vorangetrieben und zuweilen vor den Ereignissen in
Paris selbst vollzogen.
6.1 Die Einberufung der Generalstände: Basisdemokratisches
Experiment?
Vorrevolution (1787–1789)
Seit 1614 waren keine Generalstände mehr einberufen worden. Als
sich in den 1780er Jahren die Finanzkrise der Monarchie u. a. wegen
der Beteiligung am amerikanischen Unabhängigkeitskampf gegen
England zuspitzte, wurde der Ruf nach Generalständen lauter. Zunächst versuchten es Ludwig XVI. und der Contrôleur Général Charles Alexandre de Calonne (1734 bis 1802) mit einer Notabelnversammlung, die am 22. Februar 1787 in Versailles zusammentrat. Sie
hatte 144 Mitglieder, im wesentlichen Prinzen, hohe Geistliche, Vertreter des Schwertadels, Parlamentsmagistrate, Vertreter von Provinzen mit Ständeversammlungen, Bürgermeister aus 25 Großstädten.
Konkrete Beschlüsse wurden nicht gefaßt, aber bedeutsam war, daß
ausgerechnet die Privilegierten des Landes sich darauf beriefen, daß
nur die Generalstände die notwendigen Entscheidungen zur Beile-
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gung der Finanzkrise treffen könnten. Die Magistrate des Parlement
von Paris machten sich diesen Ruf zu eigen. Das Parlement wurde
daraufhin nach Troyes in die Verbannung geschickt, was nur zu einer
weiteren Solidarisierung von Volk und Magistraten führte. Étienne
Charles Loménie de Brienne (1724 bis 1794), der inzwischen an die
Stelle Calonnes getreten war, versuchte sich wie seinerzeit Maupeou
an einer Abschaffung der Parlements. Das Pariser Parlement verkündete daraufhin am 3. Mai 1788 die „Rechte der Nation“. Darin
hieß es u. a.: „Frankreich ist eine Monarchie, die vom König unter
Beachtung der Gesetze regiert wird. Mehrere dieser Gesetze umfassen und bestätigen grundsätzlich das Recht der Nation, aus freien
Stücken Gelder durch das Organ der regelmäßig einberufenen Generalstände zu bewilligen. . ., das Recht, ohne das alle anderen unnütz
sind, daß eine Festnahme, durch wessen Befehl auch immer, nur
dann möglich ist, wenn der Betroffene unverzüglich in die Hände der
zuständigen Richter übergeben wird.“ Dem folgte die Abschaffung
des Parlement, was eine Flut antimonarchischer Publikationen in
Gang setzte. Alle Versuche der königlichen Seite, die öffentliche Meinung für sich zu gewinnen, scheiterten. Der Klerus solidarisierte sich
mit den Magistraten, in Grenoble kam es zu heftigen Volksaufständen. Berühmt geworden ist der „Tag der Ziegel“ in Grenoble, der 7.
Juni 1788, an dem die Bürger von Grenoble die Soldaten, die den
Aufstand brechen sollten, mit Dachziegeln bewarfen. Am 21. Juli
ergriffen die Notabeln der Stadt Grenoble die Initiative und beriefen
eine Ständeversammlung der Provinz nach Vizille ein, in der der
Dritte Stand 276 Mitglieder gegenüber 50 Geistlichen und 165 Adligen stellte. Mit anderen Worten: die Autorität von König und ständischer Tradition waren gebrochen.
In der weiteren Folge berief der König die Parlements zurück, und
es wurde die Einberufung der Generalstände des Königreichs für den
1. Mai 1789 beschlossen. Dies löste eine heftige Diskussion über den
Versammlungsmodus aus: Sollte man dem Beispiel des Dauphiné
folgen oder den Modus von 1614 beibehalten? Die Parlements begingen in dieser Frage politischen Selbstmord, weil sie sich für den
Modus von 1614 entschieden, der den beiden privilegierten Ständen
die Mehrheit über den Dritten Stand sicherte. Der König entschied
sich für eine Verdoppelung der Abgeordneten des Dritten Standes,
ließ aber den Abstimmungsmodus in der Versammlung selbst offen.
Im Wahlreglement vom 24. Januar 1789 wurde der Schutz der Meinungsfreiheit verkündet, was der politischen Diskussion zugute kam,
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aber ebensowenig wie das Toleranzedikt von 1787 zugunsten des
Protestantismus das Image der Monarchie nachhaltig aufbesserte.
Wahl der Generalstände
Der Klerus entsandte 291 Abgeordnete, der Adel ca. 270, der Dritte
Stand knapp 600. Der Erste und Zweite Stand bildeten pro bailliage/
sénéchaussée eine Wählerversammlung und wählten dort den oder
die Abgeordneten, beim Dritten Stand war das Wahlverfahren etwas
komplizierter: Grundsätzlich waren alle Franzosen über 25 Jahre mit
festem Wohnsitz und Eintragung in die Steuerliste (das schließt also
auch Frauen mit entsprechendem Status ein) wahlberechtigt. Es wurden zunächst Deputierte gemeindeweise (auf dem Land) bzw. in den
Städten zunftweise oder viertelsweise gewählt. Alle diese Abgeordneten bildeten dann eine Versammlung auf bailliage/sénéchausséeEbene und wählten wiederum pro Gerichtsbezirk zwei Abgeordnete,
so daß prinzipiell pro Bezirk zwei Abgeordnete des Dritten Standes
zwei Abgeordneten der beiden privilegierten Stände gegenüber standen. Begleitet wurden diese Wahlen von der Abfassung der cahiers de
doléances, die im großen und ganzen für eine Reform der Monarchie
nach konstitutionellem Muster, für Reformen in Justiz, Verwaltung
und Steuerwesen sowie im ökonomischen System plädierten und
bürgerliche Grundrechte einforderten.
Global gesehen bedeuteten die Wahlen 1789 eine politische Partizipation in einem noch nie dagewesenem Ausmaß, verbunden mit
intensiven politischen Diskussionen. Dazu kommt, daß vorgehende
Reformen wie die Munizipalreform und die Einführung von Provinzialversammlungen 1787 in den pays d’élection das Experiment politischer Partizipation vorbereitet hatten. In diesen Jahren profilierten
sich viele derer, die dann 1789 als Abgeordnete in die Generalstände
gewählt wurden oder die auf regionaler bzw. lokaler Ebene zu Trägern der politischen Revolution, ihrer Ideologie und ihrer Institutionen avancierten. Hervorhebenswert dürfte sein, daß gerade auf
dem Land eine recht hohe Partizipation erreicht wurde, während die
Wahlbeteiligung in Paris enttäuschend verlief: Die Zahl der tatsächlich Wahlberechtigten ist nicht zu rekonstruieren, nach der Rechnung von 1789 hätten 30.000 Pariser wahlberechtigt sein müssen,
von denen nur 11.716 an den Versammlungen der 60 Pariser Distrikte
teilnahmen. Andererseits wissen wir, welche Rolle das Volk von Paris
dann beim Sturm auf die Bastille spielte, wir wissen vom Zug der
Pariser Marktweiber im Oktober 1789 nach Versailles, um den König
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nach Paris zu holen. Das Volk von Paris partizipierte auf seine Weise
an der politischen Entwicklung. Wir wissen auch von den Aufständen im Sommer 1789 im Land im Zuge der Grande Peur und deren
politischen Auswirkungen auf die Arbeit der Nationalversammlung,
die sich im August 1789 unter dem Eindruck der Aufstände zur
Abschaffung des Feudalwesens und zur Verabschiedung der Menschen- und Bürgerrechtserklärung vor Abschluß der Arbeiten an
einer neuen Verfassung durchrang.
Es wäre mithin falsch, nach einem Schlagwort zu suchen, das 1789
auf einen Nenner bringt. Es gab basisdemokratische Tendenzen; erprobt wurde das Repräsentativsystem; fortgeführt wurde das Ancien
Régime der Aufstände. Recht spannend ist natürlich die Frage, wie
die Generalstände bzw. die Nationalversammlung arbeiteten. Eine
parlamentarische Versammlung diesen Ausmaßes, zudem ohne Tradition, hatte es bis dahin noch nirgendwo in Europa gegeben – vieles
mußte erst neu erfunden, gefunden werden.
Abgeordnetenprofile
Von den weit über Tausend Abgeordneten, die im Mai 1789 in Versailles (noch als États généraux) zusammenkamen, haben 129 der
Nachwelt reichhaltiges Material (andere nur weniges) hinterlassen:
gedruckte Memoiren, handschriftliche Tagebücher, Briefe und gedruckte politische Schriften, Pamphlete etc., Quellen, aus denen sich
das Profil des Durchschnittsabgeordneten rekonstruieren läßt. Untersuchen lassen sich das soziale Herkommen der Deputierten der drei
Stände, die politische Lehrzeit der künftigen Abgeordneten seit ca.
1770, die Struktur und ggf. Veränderung des politischen Denkens
desselben Personenkreises bis 1789. Detailliert darlegbar ist das Verhältnis der Untersuchungsgruppe (129 Abgeordnete) zur Aufklärung.
Die meisten sind unter die Pragmatiker einzuordnen, die in der Aufklärung vor allem praxisrelevante Problemlösungsstrategien suchten. Der Durchschnittsabgeordnete war auf Grund seiner Biographie
vor 1789 Pragmatiker, durchschnittlich gebildet, nicht irreligiös aber
antiklerikal und Deist, kein Rousseauist, gehörte beim Zusammentritt der États généraux der Mehrheitsgruppe in seinem Stand an: Für
den Ersten Stand war dies der Pfarrklerus, für den Zweiten Stand der
im Heer dienende Schwertadel, für den Dritten Stand die Juristen. Er
war durchschnittlich 46 Jahre alt. (Tackett 1996)
Neben einer Reihe praktischer Erfahrungen hatten die meisten
Abgeordneten allerlei Ideen, Bilder und Metaphern im Kopf und die
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Bereitschaft, dafür mit dem Wort einzutreten. Im Gegensatz zu heutigen Parlamenten zeichnet sich die Nationalversammlung dadurch
aus, daß die Entscheidungen in Rededebatten vor der Versammlung
und dem zahlreichen Publikum erstritten wurden. Allerdings wurden ziemlich bald auch Ausschüsse eingerichtet, die Entscheidungen
vorbereiten sollten. Berühmtheit hat das sog. 6e Bureau erlangt, dessen Vorschlag für eine Menschenrechtserklärung die etwas konfuse
Debatte strukturieren half und damit entscheidend zu ihrem Erfolg
beitrug. Es gab aber auch einen Verfassungsausschuß zur Vorbereitung einer neuen Verfassung, in dem sich Guy-Jean-Baptiste Target
einen Namen machte. Eine Karikatur zeigte den mit der Verfassung
schwangeren Target in der Nationalversammlung. Daneben pflegten
viele Abgeordnete eine lebhafte Korrespondenz mit ihren ,Urwählern’. Das Problem des Zwiespaltes zwischen individuellem Gewissen
und Wählermandat verspürten schon damals viele Deputierte. Ausgesprochene Parteien existierten noch nicht, aber es bildeten sich
politische Affinitäten heraus, in denen sich die Konturen von Fraktionen abzeichneten. So gab es Royalisten, dann Anhänger einer
konstitutionellen Monarchie und wenige Radikale, die bereits über
eine Republik diskutierten.
Begleitet wurde das Experiment der Nationalversammlung durch
die vielen politischen Klubs, allen voran die Jakobiner- und Frauenklubs. Institutionell wurde das Experiment auf der lokalen Ebene u. a.
durch die Einführung von Bürgermeisterwahlen fortgesetzt. Auch
wenn im Lauf der Revolution das Zensuswahlrecht auf allen Ebenen
immer mehr Männer sowie Frauen grundsätzlich ausschloß, wurde
ein Level repräsentativer politischer Partizipation erhalten, das eine
Rückkehr zum Ancien Régime ausschloß. Die Erfahrungen, die
1789 ff. gemacht wurden, waren also weder ephemer noch verloren,
sondern begründeten eine historische Erfahrung mit (Teil)Demokratie und Republikanismus, auf die im 19. Jh. zurückgegriffen wurde,
insbesondere ab 1875, als die Dritte Republik ideologisch zu festigen
war.
6.2 Die „vierte Gewalt“: Die öffentliche Meinung
„Diese Bücher werden zwischen ihren Beinen
hindurchschlüpfen.“ – Rückblenden
Wenn sich der Dritte Stand selber zur Nationalversammlung erklären
konnte, so nur, weil er sich der Unterstützung durch die „Öffentliche
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Meinung“ sicher sein konnte. Diese hatte im 18. Jh. den Status einer
„vierten Gewalt“ erobert. „Monsieur, säumen Sie alle Grenzen mit
Soldaten; bewaffnen Sie diese mit Bajonetten, um alle gefährlichen
Bücher abzuwehren, die dort erscheinen, und diese Bücher . . . werden zwischen ihren Beinen hindurchschlüpfen oder über ihre Köpfe
hinwegspringen und bis zu uns gelangen“, so schrieb Diderot in
einem Memorandum über die Pressefreiheit von 1763. Dies traf die
faktischen Verhältnisse genau: Bücher waren an den Grenzen nicht
aufzuhalten, sie waren überhaupt nicht aufzuhalten, trotz Zensur,
Polizeiüberwachung, Razzien, Grenzkontrollen usf. Die meisten
Druckerzeugnisse sollten in Wirklichkeit auch gar nicht verhindert
werden. Malesherbes, der 1750 zum directeur de la librairie („Zensor“)
berufen worden war und dieses Amt bis 1763 ausübte, legte in zwei
Memoranden 1758/59 in aller Offenheit die im Geiste der Aufklärung
konspirative Beziehung zwischen staatlicher Zensur, Druckern,
Buchhändlern und Schriftstellern dar. Der Druck offiziell verbotener
– bzw. nicht erlaubter, aber auch nicht verbotener Werke – im Ausland, war in das System der Buchkontrolle einkalkuliert. Diese Bücher sollten auf den von Diderot angedeuteten Wegen durchaus nach
Frankreich gelangen. Lediglich das Parlement von Paris durchkreuzte immer wieder dieses subtile Spiel der königlichen Verwaltung und erhob sich zum obersten Zensor, der Bücherverbrennungen
anordnete. Da das Spiel, das alle zusammen spielten, frivol war,
waren die Bücherverbrennungen durch das Parlement ebenfalls einkalkuliert: sie retteten die Fassade königlicher Autorität.
Republik der Lesenden und Schreibenden – vernunfterfüllte
Richter ihrer Zeit
Was sich oberflächlich betrachtet etwas korrupt ausnimmt, hatte
durchaus Sinn: in allen gesellschaftlichen Gruppen und Institutionen
gab es Menschen, die am Diskurs der Aufklärung teilhatten; sie
fanden sich in den Reihen der katholischen Kirche, in den Reihen der
königlichen Verwaltung, der Pariser Polizei, der obersten Gerichtshöfe, also auch des Parlement von Paris. Diese Menschen verstanden
sich nicht als Revolutionäre, sie glaubten aber an den Fortschritt des
Menschengeschlechts durch Vernunft. An dieser Vernunft hatten sie
Teil, bis zu einem gewissen Grad waren sie dadurch die einzigen
legitimierten Erzieher der Nation, sie bildeten das, was im 18. Jh.
unter „öffentlicher Meinung“ verstanden wurde, nämlich die Republik der Lesenden und Schreibenden – vernunfterfüllte Richter ihrer
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Zeit. Meinungsäußerungen des „niederen Volks“ wurden von der
Definition der öffentlichen Meinung ausgeschlossen, allerdings
wurde vehement für eine éducation nationale gestritten, eine allgemeine Alphabetisierung der Bevölkerung und Veränderung ihres
Wissens durch die Aufklärer.
Eine Liste von 1784 in La France littéraire führte alle gens de lettres auf,
d. h. Autoren, die mindestens einen Titel veröffentlicht hatten. 20%
von knapp 1.400 Autoren mit Berufsangabe (es gab insgesamt mehr
Autoren) waren Geistliche, 17% Ärzte und Apotheker, 15% Anwälte
und Verwaltungsbeamte, 14% Adlige, 11% Professoren, 2% Ingenieure und Architekten. Immer mehr Schriftsteller der zweiten Hälfte
des 18. Jh., wenn auch weniger als die Hälfte aller Autoren, lebten
von der Schriftstellerei allein. Nach 1785 konnten 47% der männlichen und 27% der weiblichen Bevölkerung lesen und (unter-)schreiben. Nicht alle kauften deshalb Bücher, aber der Büchermarkt drang
in neue Schichten vor: Handwerker und Ladenbesitzer wurden zu
regelmäßigen Buchbesitzern. Aufgrund von Nachlaßinventaren läßt
sich zeigen, daß um 1780 auch 40% der Dienstboten und 35% der
Handwerksgesellen Bücher hinterließen. Dieselbe Quelle illustriert
die Abhängigkeit des Buchbesitzes vom Vermögensstand: um 1750
gehörten in 25% der Fälle Bücher zur Erbschaft, wenn diese unter 500
Pfund lag, jedoch in 75% der Fälle, wenn die Erbschaft mehr als 2.000
Pfund betrug. Der Umfang der Bibliotheken wuchs gleichfalls: um
1780 hinterließen Bürger im Schnitt 20 bis 100 Bücher, Geistliche 100
bis 300, der Schwert- und Amtsadel mehr als 300. Dazu kommen als
Indikatoren seit 1760 die Lesekabinette, in denen für einen eher
geringen Jahresbeitrag Zeitungen, Gazetten, Bücher und Enzyklopädien gelesen werden konnten.
Die Definition von öffentlicher Meinung bedingte die Macht des
Gedruckten; nie war sie größer gewesen, weil das Gedruckte das
zentrale Medium der öffentlichen Meinung darstellte. Dazu kamen
freilich viele Formen der Geselligkeit und der Soziabilität, z. B. die
Pariser Cafés, in denen sich die Untergrundschriftsteller trafen, wo
die Spitzel der Pariser Polizei, oft selber Untergrundschriftsteller, verkehrten, oder das Palais Royal, einem der wichtigsten Orte der Vorrevolution und der Revolution von 1789. Hier bildete sich eine Öffentlichkeit, die wesentlich revolutionärer war als die Öffentlichkeit
der Aufklärer, wo der König respektlos als kinderverschlingender
Oger oder als schnarchender Hanswurst gehandelt wurde, der sich
von der Königin Marie-Antoinette permanent betrügen ließ. In dieser
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Öffentlichkeit des Untergrunds wurde Marie-Antoinette zur Pornokönigin erhoben, eine Erniedrigung, die ihr bis zur Hinrichtung anhaftete. (Hunt 1998)
Bestseller: Verursachen Bücher Revolutionen?
Schaut man auf die Liste der Bestseller, die Robert Darnton erstellt
hat, so gehörten dazu Themen, die auch für die Untergrundschriftstellerei und die ,Untergrundaufklärung’ kennzeichnend waren: Aus
der Auswertung der Order- und Verkaufslisten von Buchhändlern in
ganz Frankreich einschließlich der von Darnton besonders gründlich
erforschten Société typographique de Neuchâtel (STN), die Diderots
Encyclopédie verlegte, entsteht eine Bestsellerliste. Die Liste der 35
meistverkauften Werke wird von Louis-Sébastien Merciers „L’an
2440“ angeführt, gefolgt von den „Anecdotes sur Mme la comtesse du
Barry“, die im allgemeinen Matthieu-François Pidansat de Mairobert
zugeschrieben werden. Diese beiden Autoren, Voltaire, Holbach,
Linguet, Rousseau (Platz 23), Restif de la Bretonne, Helvétius, Lanjuinais sowie eine Reihe anonymer Autoren von politisch-erotischen
Werken beherrschten den Bestsellermarkt. Eine Aufteilung nach thematischen Kategorien ergibt ein Übergewicht „religiöser“ Titel
(31,5%), allerdings enthält diese Rubrik die Unterkategorie C (irreligious ribaldry, pornography; 3,9%), die sich auch in der Kategorie
„Sex“ (14%) und versteckt bei den „libels“, Hofsatiren und „chroniques scandaleuses“ wiederfindet. (Darnton 1996)
Darnton stellt die provozierende Frage, ob „Bücher Revolutionen
verursachen“? Neben einer Forschungsgeschichte – beginnend mit
Daniel Mornet, der 1933 mit einer Schrift über die Origines intellectuelles de la Révolution Française ein neues Forschungsfeld eröffnete –
bis zu François Furet, Roger Chartier und angloamerikanischen Autoren befaßt sich der Autor näher mit dem Problem der Rezeption
von Inhalten beim Publikum und deren Auswirkung auf Verhaltensweisen. Hierzu liegen durchaus zeitgenössische Belege vor. Deutlich
wird vor allem, wie die ungemein breit angelegte historische Thematik der Untergrundliteratur, einhergehend mit einer Verurteilung der
politischen Geschichte von der Renaissance bis zu Ludwig XVI., zu
dem zeitgenössischen Gefühl führen konnte, man befinde sich 1789
an einem point zéro der Geschichte. Deutlich wird außerdem, daß sich
die fortgesetzte Diskussion um die Wurzeln der Revolution in Rousseaus politischer Philosophie allmählich zu überleben beginnt. Rousseau wurde damals auch gelesen, aber nicht an erster Stelle.
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Die Revolution zeichnete sich durch eine Explosion aller Printmedien aus. Zahllose Zeitschriften wurden gegründet, die oft nur kurze
Zeit erschienen, während andere sich mehrere Jahre auf dem Markt
hielten wie der radikale Père Duchesne oder Le Patriote Français. Journal
libre, impartial et national, hrsg. von Jean-Pierre Brissot de Warville, der
es zwischen dem 28. Juli 1789 und dem 31. Dezember 1792 auf
immerhin 1.237 Ausgaben brachte. Die Zahl der Zeitschriften mit
nationaler, regionaler oder lokaler Verbreitung ging in die Tausende.
Dazu muß man unzählige Traktate und Pamphlete rechnen, nicht zu
vergessen die Dekrete etc. der Nationalversammlung und ihrer Nachfolgerinnen, die Flugblätter und die Bildpropaganda, die öffentlichen
Feste, die mit den Produkten der Printmedien eng verbunden waren.
Revolutionäre Symbolik
Besonders augenfällig war zweifelsfrei die Entwicklung der revolutionären Symbolik. Es besteht kein Zweifel, daß vieles dem Ancien
Régime entstammt, der monarchischen und religiösen Ikonographie,
selbst die Freiheitsmütze und die Kokarde, die im Garten des Palais
Royal „erfunden“ wurde, tauchten z. T. schon geraume Zeit vor der
Revolution auf. Die Gestalt des Herkules, die in der Ersten Republik in
der Zeit der Terreur bedeutsam werden sollte, besaß eine außerordentlich ehrwürdige Tradition, hatten doch viele der französischen
Könige der frühen Neuzeit sich als Herkules darstellen lassen. Für
Ludwig XVI. ist eine solche Darstellung allerdings nicht belegt, so daß
die Herkulesfigur als Symbol des starken und souveränen Volkes im
Grunde ohne bedeutsame Vorbelastung Verwendung finden konnte.
Interessant ist der Versuch, diese Symbolik, diese Zeichen in ein
System zu bringen. Das ist nicht ganz gelungen, weil eine Revolution
auf die andere folgte, andererseits sind bis heute eine Reihe der
Symbole geblieben, an denen sich die Wirksamkeit der revolutionären Ikonographie ablesen läßt. Diese Ikonographie muß man sich
in der Praxis in Verbindung mit der revolutionären Rhetorik vorstellen, Verbalisierung und Visualisierung der Revolutionsideen gehörten zusammen, beides diente der Vorantreibung des revolutionären Prozesses, der Stabilisierung der neuen politischen Kultur, der
Selbstversicherung, schließlich der Massenpädagogik.
178 Die Politische Zivilisation des Absolutismus
6.3 Radikale Republik, Terreur und bürgerliche Republik
(1791 – 1799)
Tag I der Republik
Die Nationalversammlung schloß im Herbst 1791 ihre Arbeit ab, d. h.
sie verabschiedete eine Verfassung des Typs einer konstitutionellen
Monarchie, in der der Nation, repräsentiert durch ein Parlament,
weitreichende Anteile an der Souveränität zukamen, in der der Monarch aber mehr als einen Präsidenten für Repräsentationszwecke
darstellte. Diese Verfassung atmete noch immer den Geist von 1789,
als Ludwig XVI. als „père de la patrie“ bezeichnet und bildlich dargestellt worden war. Es war ein Geist des Konsenses, der, wie im Fall der
Menschen- und Bürgerrechtserklärung, die Spannungen in Frankreich kitten sollte. Das Gebäude war brüchig, weil die Wirklichkeit
die Vorstellungen der Abgeordneten der Nationalversammlung
schon überholt hatte und die neue Versammlung, die Législative, aufgrund des Zensuswahlrechts eine schmalere Legitimationsbasis besaß. Konterrevolutionäre Tendenzen beim Adel, der z. T. emigrierte,
die Spaltung des Klerus, Volksbewegungen, die sich von gewählten
Deputierten nichts vorschreiben ließen, ein hin und her gerissener
König, der sich schließlich am 20. Juni 1791 zur Flucht entschloß und
in Varennes gefangen genommen wurde, das wachsende Mißtrauen
der europäischen Mächte, all dies trug dazu bei, daß die erste Verfassung kaum währte. Die sich radikalisierende politische Debatte, die
Föderationsbewegungen, der Beginn des Krieges am 20. April 1792
gegen den „König von Böhmen und Ungarn“ führten zu einer neuerlichen Beschleunigung und Zuspitzung der Ereignisse. Wieder waren es Aufstände in Paris, die die Weichen stellten. Am 9. und 10.
August 1792 wurde in Paris die Kommune gebildet, an deren Spitze
Georges Jacques Danton (1759 bis 1794) stand. Auf Druck der Kommune wurde Ludwig XVI. verhaftet und abgesetzt. Während es in
Paris zu Lynchjustiz in den Gefängnissen kam (Septembermassaker),
wurde eine neue Versammlung gewählt, der Konvent, der am 22.
September 1792 die Republik ausrief und diesen Tag zum Tag I der
Republik erklärte. Der neue Kalender, der eingeführt wurde, symbolisierte noch mehr als alle seit 1789 eingetretenen Veränderungen
den Bruch mit dem Ancien Régime, weil er mit der christlichen
(katholischen) Zeitrechnung brach. Weitere Maßnahmen wie die Unterdrückung der lokalen und regionalen Dialekte folgten einem Nationsbegriff, der dem Ancien Régime fremd gewesen war.
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Terreur
Die Republik war kein Konsensgebilde. Maximilien de Robespierre
(1758 bis 1794) formulierte dies am 25. Dezember 1793 wie folgt:
„Wenn es das Ziel einer konstitutionellen Regierung ist, die Republik
zu bewahren, so ist es das Ziel einer revolutionären Regierung, die
Republik zu gründen . . .; wenn diese den guten Bürgern jeden nationalen Schutz schuldet, so schuldet sie den Feinden des Volks nichts
als den Tod.“ Die „Terreur“, die sich darin als Prinzip andeutete, war
wesentlich mehr als eine nur verhängnisvolle Entwicklung oder Entgleisung der Revolution während der Ersten Republik. Es gab eine
Theorie der Terreur, die von einzelnen Personen im Kontext der
Niederschlagung des Vendée-Aufstandes zur Technik der Massenvernichtung ausgeweitet wurde. „Diese Geschichte des Terreur-Begriffs zeigt, wie ,Schrecken’ als Folge politischer Unterdrückung begriffen wurde und wie aus dem traditionellen Bedürfnis, Gewaltanwendung als Reaktion auf selbst befürchtete oder erlittene Gewalt
zu legitimieren, mit dem Instrumentarium eines neuen, durch die
Aufklärung bereitgestellten Begriffs- und Sinngebungspotentials, in
der Revolution nicht mehr nur ,Schrecken’ als Antwort auf ,Schrekken’ propagiert, sondern Terror zum zweckdienlichen Mittel stilisiert
wurde, um eine konfliktfreie, ,harmonische’ und ,glückliche’ Zukunft
zu schaffen. Insofern markiert die Entstehung des modernen Terrorbegriffs in der Französischen Revolution den Beginn der säkularisierten Heilserwartung totalitärer Ideologien.“ (Gerd van den Heuvel)
Terreur war keine Erfindung der Revolution. Öffentliche Hinrichtungen, Galgen usw. sollten in der Frühen Neuzeit Schrecken verbreiten,
in der Absicht, weitere Straftaten zu verhindern. Montesquieu formulierte terreur als Grundprinzip der Despotie. Als die französische Monarchie im 18. Jh. zunehmend in Mißkredit geriet, wurde ihr angelastet, mit dem Prinzip der terreur zu arbeiten. Beliebtes Beispiel zur
Illustration waren die lettres de cachet. Jean-Paul Marat propagierte
folgerichtig den Einsatz von terreur gegen den Despotismus, was in
der Praxis Volksaufstände meinte. Revolutionäre terreur wurde gegen
die despotische terreur gestellt. Im September 1793 erhob der Konvent
terreur zum Regierungsprinzip, dessen man sich bediente, um den
vielfältigen Bedrohungen entgegenzuwirken: außenpolitische Bedrohungen, innere Bedrohungen durch wirkliche oder vermeintliche
Revolutionsfeinde, z. T. war es eine Flucht der Machthaber nach vorn,
um die terreur nicht allein dem Volk auf der Straße zu überlassen, da
sich diese jederzeit auch gegen die Montagnards richten konnte (Er-
180 Die Politische Zivilisation des Absolutismus
mordung Marats; Attentate auf Robespierre u. a.). Ausgerechnet ein
Pfarrer (Royer) verlangte, am 30. August 1793, daß terreur auf die
Tagesordnung gesetzt werden müsse. Seine einprägsame Formulierung „Plaçons la terreur à l’ordre du jour!“ machte schnell Furore. In
diesen Kontext gehört auch der Einsatz der Guillotine als Tötungsmaschine. Der Überzeugung, daß Konterrevolutionäre massenhaft,
schnell und umstandslos zu töten seien, wurde offen Ausdruck verliehen. Robespierre schließlich verknüpfte Tugend und terreur, wobei
er terreur als schnelle, harte und unbeugsame Gerechtigkeit definierte. Institutionelle Instrumente der republikanischen terreur waren
das Wohlfahrtskomitee als eigentliche Regierung, unterstützt von
einem Überwachungskomitee (Comité de sûreté générale mit lokalen comités de surveillance), das die Gewissen der Menschen ausspionierte und „Suspekte“ an das Revolutionstribunal (Tribunal révolutionnaire), an die agents nationaux und die représentants en mission
auslieferte. Ludwig XVI. und Marie-Antoinette wurden zum Tode
verurteilt und hingerichtet – die Guillotine wurde zum wichtigsten
Arbeitsgerät der Revolutionsregierung.
Die Suche nach dem juste milieu
Der wachsenden Finanz- und Wirtschaftskrise sollte die dirigistische
Fixierung eines „Maximums“ für Preise und Gehälter Einhalt gebieten. Im März 1793 wurden 300.000 Männer für die Revolutionsarmee ausgehoben, im September noch einmal mehrere Hunderttausend (sog. levée en masse). Dies schürte in weiten Teilen Frankreichs
die Unzufriedenheit, doch vor allem im Westen, in der Vendée, kam
es in Verbindung mit dem Widerstand gegen die Entchristianisierung
zu bewaffneten Aufständen, die rücksichtslos und grausam niedergeschlagen wurden. Eine Reihe von Städten wie Lyon und Bordeaux
als Hochburg der Girondisten und andere Provinzen erhoben sich
gleichfalls („Föderalistenaufstand“) und ebenso erfolglos. Der Wohlfahrtsausschuß brachte sich im übrigen selbst zur Strecke, mit der
Hinrichtung Robespierres am 27. Juli 1794 (9. Thermidor Jahr II)
ergriffen gemäßigtere Kräfte die Macht, die sich allerdings als Republikaner verstanden, zum größeren Teil für die Hinrichtung des Königs gestimmt hatten und keineswegs zurück zum Ancien Régime
wollten. Prägend für die neue Stimmung wurde der Begriff des „juste
milieu“. Die Verfassung des Jahres I wurde durch die Verfassung des
Jahres III ersetzt: ein Direktorium aus fünf Mitgliedern bildete die
Exekutive, die Legislative bestand aus zwei Versammlungen, dem Rat
6 Die Französische Revolution 181
der Alten und dem Rat der Fünfhundert. Diese „bürgerliche Republik“ hatte von 1794 bis 1799 Bestand, obwohl die gesellschaftlichen,
wirtschaftlichen, politischen und religiösen Spannungen kaum geringer als vorher waren.
6.4 „Die Heilige Verfassung, das Evangelium des Tages“:
Entchristianisierung und politische Religion
„Wir haben keine anderen Wünsche“ – Die Verfassung als Ziel
In der Vielfalt dessen, was die Rezipienten damals zu lesen bekamen,
läßt sich ein Kern von Erkenntnissen und Schlüsselbegriffen feststellen, die den eigentlichen Aufklärungsdiskurs ausmachten. Zu diesem Kern zählen über 100 Schlüsselbegriffe, die seit 1985 im „Handbuch politisch-sozialer Grundbegriffe in Frankreich 1680 bis 1820“
aufgearbeitet werden. Wie im Brennglas zeigt der Begriff der „Verfassung“ (constitution) die im Aufklärungsdiskurs dokumentierten wesentlichen Verschiebungen im 18. Jh. „Verfassung“ bedeutete die gedankliche Vernetzung von grundlegenden Gesetzen, die die Ausübung der Macht im Staat regelten. Diese Verfassungsvorstellung
stützte sich nicht auf eine geschriebene Verfassung, sondern auf ein
allgemeines juristisch-politisches, vergangenheitsorientiertes Wissen,
das psychologische Erfahrungen einschloß. Darauf verweist die Charakterisierung als gewohnheitsrechtliche Verfassung. Dieses Netzwerk wurde von allen Seiten, insbesondere auch von den Parlements, der „Willkür“ und dem „Despotismus“ der Minister und gelegentlich des Königs entgegengesetzt. Die zur „Verfassung“ vernetzten
Gesetze sollten rechtliche Sicherheit gewährleisten. Entsprechend fundamentalistisch war die Ausdrucksweise. Hinter dem Begriff „Gesetz“
verbargen sich im Grunde politische Glaubenshaltungen: Gesetze zu
erlassen bzw. die grundlegenden Gesetze richtig anzuwenden erschien als wirksames Mittel zur Verbesserung der Welt. Diese Haltung
wurzelte im Rationalismus, nach dem der Mensch als vernunftbegabtes Wesen befähigt ist, die Welt in eigener Regie zu gestalten. Im
18. Jh. erschien Gott nur noch als der ursprüngliche, einmalige
Schöpfer, während das jeweils aktuelle Geschehen nicht mehr wie
früher auf das Eingreifen Gottes zurückgeführt wurde, sondern auf
das Handeln oder Nicht-Handeln des Menschen selbst. Der Glaube an
Gott und die Verheißungen der Bibel konnten den Menschen das
notwendige Gefühl einer existentiellen Sicherheit nicht mehr uneingeschränkt vermitteln. Mit der Änderung der Einstellung zu Gott
182 Die Politische Zivilisation des Absolutismus
änderte sich auch die Einstellung zum Menschen. Der Begriff „Menschenrechte“ (droits de l’homme) dokumentiert diesen Vorgang. Der
Weg zur gesuchten Sicherheit führte fortan über den Menschen statt
über Gott. Am Ende des Weges eröffnete sich ein ,metaphysischer’
Ausblick auf die „Natur“: Der Mensch verwirklicht, was er durch den
Gebrauch der Vernunft aus der Natur erkennt. Er war selbst zum
Handeln und Gestalten aufgefordert. Es ging nicht mehr darum, in
einer vorgefundenen Ordnung zu leben, sondern eine neue Ordnung
zu schaffen. Auch der sämtliche Probleme der Zeit überspannende
Reformwille, der u. a. in vielen cahiers de doléances zum Ausdruck kam,
war Teil dieser veränderten Bewußtseinshaltung. Sie war ungemein
optimistisch: „Wenn die Nationalversammlung die Verfassung verabschiedet haben wird, werden unsere Leiden beendet sein und für
Frankreich die schönen Tage beginnen. Wir haben keine anderen
Wünsche, und nur damit soll sich die Versammlung beschäftigen.“
(Chantreau 1790, 48)
Verfassung und Entchristianisierung
Die ab 1788 intensiv diskutierte Frage, ob Frankreich schon immer
eine ,Verfassung’ gehabt habe, verlangte vor allem eine Klärung,
welche Vorstellungen mit „der Verfassung“ insgesamt verbunden
werden sollten. Das Problem der Begrenzung der politischen Macht
und ihrer Ausübung war dabei nur ein Aspekt von vielen. Die Bekundung der Volkssouveränität unterstrich dagegen den tiefen Bewußtseinswandel: Der sich seiner eigenen Kräfte bewußt und zum „Bürger“ gewordene Mensch, bedurfte keines allmächtigen Königs von
Gottes Gnaden mehr. Im Gegenteil, der König ließ sich so recht nicht
mehr im veränderten Menschen- und Weltbild unterbringen. Folgerichtig wurde er zunächst in der Verfassung von 1791 (wenn auch
unter Beibehaltung eines gewissen Pathos) zum Chef der Exekutive
umdefiniert; 1793 wurde der Schritt zur republikanischen Verfassung
ohne König vollzogen.
War die Verfassungseuphorie 1789 schon groß, so erreichte sie
1792–94 einen absoluten Höhepunkt, als sich insbesondere die Jakobinerklubs der Verfassungsfrage annahmen und sie ins Zentrum des
Denkens rückten. Ihr Selbstverständnis war dabei missionarisch, und
so auch ihr Handeln, das sich mit der „von oben“ eingeleiteten Entchristianisierung 1793/94 verband. Im Kampf gegen den romtreuen
Klerus und den sog. „Fanatismus“ kam es zu einer einzigartigen
Zuspitzung der Vorstellungen: die Verfassung wurde zum Evange-
6 Die Französische Revolution 183
lium und ersetzte die Bibel. Es ist verständlich, daß sich unter dem
Eindruck der Terreur und nach ihrem Ende sehr viel nüchternere
Betrachtungen durchsetzten und der Glaube an die Verfassung, die
allein den Menschen glücklich mache, an Substanz verlor.
In vieler Hinsicht haben sich die Trägerschichten der Revolution
einer religiösen Bild- und Wortsprache bedient, um ihren Ansichten
Ausdruck zu verleihen. Es handelte sich um eine Verweltlichung des
Religiösen bzw. um eine weltliche Ersatzreligion. Insbesondere die
Verfassung erschien als „Heiliges Evangelium“, als der neue Gott
nach dem Gott der Bibel. Verwoben war diese Sprache mit dem
Prozeß der Entchristianisierung. Letzteres meint vor allem eine äußerlich greifbare Entwicklung, den Rückgang religiöser, vorrangig
frommer Praktiken schon während des Ancien Régime, und den
Kampf gegen die katholische Kirche in der heißesten Phase der
Revolution. Verbindungslinien ergeben sich zur Säkularisierung des
Denkens seit dem späteren 17. Jh., also zur Frühaufklärung und Aufklärung in Frankreich. Über den Wandel der inneren Einstellungen
der Menschen kann nur bedingt etwas gesagt werden; ob sie tatsächlich weniger gläubig waren als früher, ist schwer zu beantworten.
Michel Vovelle hat seinerzeit mit einem Buch über die Entchristianisierung in der Provence im 18. Jh. dieses Forschungsfeld neu
erschlossen. (Vovelle, 1978) Er untersuchte Testamente verschiedener
sozialer Gruppen und Schichten daraufhin, inwieweit sie religiöse
Formeln enthielten, Messen für Verstorbene stifteten, welche Dispositionen im Hinblick auf die Beerdigung getroffen wurden usw.
Während bis zu Beginn des 18. Jh. eher eine Intensivierung barocker
Frömmigkeit festzustellen war, wurde bis ca. 1750/60 ein gewisses
Level gehalten, bis dann ab 1760 die Frömmigkeitspraxis rapide
abnahm. Das Bedürfnis, sich um das Seelenheil nach dem Tod zu
kümmern, nahm eindeutig ab. Aufschlußreich mag sein, daß parallel
zunehmend Vorsorge für den Fall getroffen wurde, daß jemand nur
scheintot sein könne. Die Angst, scheintot zu sein und lebendig begraben zu werden, griff ein wenig um sich.
Gleichzeitig läßt sich feststellen, daß die Konflikte zwischen Gemeinden und Pfarrern regionalspezifisch anstiegen. Der Vorwurf an
die Pfarrer, Kirchen und Presbyterien luxussanieren zu wollen, war
oft genug zu hören; man war nicht mehr bereit, jedes finanzielle
Opfer für die symbolischen Orte der Religion zu bringen. Anderes,
wie der Bau von Gemeindehäusern für die politische Gemeinde,
erhielt Vorrang. Andererseits sind gerade unter dem Pfarrklerus viele
184 Die Politische Zivilisation des Absolutismus
jener kulturellen Mittler zu finden, die Aufklärungsmaximen in die
Dörfer trugen und die in der Nationalversammlung zur Verschmelzung der drei Stände zu einer Nation aktiv beitrugen und die sowohl
das Prinzip einer Menschenrechtserklärung wie einer geschriebenen
Verfassung mitverfochten. Pfarrer segneten Kokarden und waren bei
der Errichtung von Freiheits- und Maibäumen dabei. Am 4. August
1789 stimmte der Klerus der Abschaffung des Feudalwesens und des
Zehnten zu sowie der Einführung der Steuerpflichtigkeit für den
Klerus. Ende 1789 trennten sich jedoch zunehmend die Wege. Am 2.
November 1789 wurde mit 510 gegen 346 Stimmen in der Nationalversammlung die Verstaatlichung der Kirchengüter beschlossen; das
waren immerhin 12% des Grundbesitzes, die ab 1790 den Besitzer
wechselten. Am 13. 2. 1790 wurden all die Orden aufgehoben, die als
unnütz betrachtet wurden, die also nicht im Schul- oder Sozialwesen
aktiv waren. Das war eine alte Forderung der Aufklärung. Der „lüsterne, fette Mönch“ und die „lüsterne Nonne“ waren Topoi der politischen Pornographie und der populären Literatur gewesen. Das Bild
steckte noch in den Köpfen der Abgeordneten. Am 12. Juli 1790
wurde die Zivilkonstitution des Klerus verabschiedet: Die Diözesen
wurden nach den 83 Départements neu eingerichtet, die Zahl der
Pfarrgemeinden verringert; der Klerus wurde vom Staat entlohnt,
alle kirchlichen Dienstleistungen waren kostenlos zu erbringen; Pfarrer und Bischöfe sollten gewählt werden, den Bischöfen wurde ein
Priesterrat zur Seite gestellt. Diese Bestimmungen trennten die französische Kirche nicht nur von Rom, sondern auch von der Tradition
der gallikanischen Kirche, es ist überhaupt die Frage, ob hier noch
von „Kirche“ zu sprechen ist. Der Klerus war gespalten, viele leisteten
den geforderten Eid auf die Zivilkonstitution. Am 13. April 1791
verlangte jedoch der Papst den Widerruf des Eides, und 22.000 von
28.000 eidleistenden Priestern widerriefen. Der Konflikt zwischen
Staat und Kirche wuchs sich aus: im September 1791 wurden 300
Geistliche in Pariser Gefängnissen ermordet, die Kirche wurde in den
Untergrund gedrängt; schätzungsweise 30% der Gläubigen hingen
jedoch der nationalrevolutionären Kirche an. 1793–94 wurde die
Entchristianisierung, eine teils gelenkte, teils spontane Politik, von
dem Versuch begleitet, revolutionäre Ersatzkulte wie den des „Höchstens Wesens“ zu etablieren. Mittelfristig war dies nicht erfolgreich,
allerdings zeitigten sowohl die Trennung von Kirche und Staat, 1795
gesetzlich geregelt, und die Spaltung der Bevölkerung in Anhänger
des Katholizismus bzw. Laizismus bleibende Auswirkungen.
6 Die Französische Revolution 185
6.5 Napoleon: Synthese von Revolution und „Absolutismus“
(1799 – 1814)
„Bürger, die Revolution ist beendet“ – Brumaire
1799 war das Direktorium am Ende. Napoleon Bonaparte, der sich in
den Revolutionskriegen als militärischer Stratege hervorgetan hatte
und dessen Nimbus selbst die katastrophale Niederlage im Ägyptenabenteuer 1798/99 unbeschadet überstand, stürzte am 9. November
1799 (Brumaire-Staatsstreich) das Direktorium und bildete zunächst
ein Triumvirat. Noch im Dezember 1799 führte er eine neue Verfassung mit den Worten ein: „Bürger, die Revolution wurde auf die
Prinzipien fixiert, die an ihrem Anfang standen, sie ist beendet.“ Die
Verfassung sah ein Konsulat mit drei Konsuln vor. Die Macht lag
beim Ersten Konsul (Napoleon). Die Legislative wurde in drei Versammlungen aufgeteilt (Tribunat, Corps législatif, Sénat), also neutralisiert, das Zensuswahlrecht unterstrich den schon vorher eingeschlagenen Weg zur Notabelngesellschaft.
Es gelang, das Land im Innern zu befrieden. Die Verwaltung wurde
auf einen streng hierarchischen Kurs getrimmt, die Steuerverwaltung
optimiert, eine staatliche Kredittilgungskasse sorgte für Kreditwürdigkeit der öffentlichen Hand, die neu geschaffene Bank von Frankreich und der Franc erwiesen sich als funktionstüchtig und stabil.
1802 konnte ein ausgeglichener Staatshaushalt vorgelegt werden.
Das 1801 mit Papst Pius VII. geschlossene Konkordat bestätigte den
Katholizismus als die Religion der Mehrheit der Franzosen und legte
den Grundstein für die spektakuläre Rekatholisierung des Landes im
19. Jh. 1804 waren die Arbeiten am Code civil abgeschlossen, mit
dem im Grunde erstmals das Zivilrecht in Frankreich vereinheitlicht
wurde. Dieses Bürgerliche Gesetzbuch bestätigte einige Grundrechte
wie das Eigentumsrecht oder das Recht auf Freiheit der Arbeit, festigte aber auch den minderrechtlichen Status der Frauen, die ganz
der Autorität des Mannes unterstellt wurden. Eigentumsrecht und
Freiheit der Arbeit förderten eher die Besitzenden und die Arbeitgeber, eine sozialrevolutionäre Komponente fehlte ihnen ganz. Das
Schulwesen wurde reformiert, neues Herzstück waren die Lyzeen.
Die Antike gab die kulturelle Referenz für die inhaltliche Ausrichtung
ab, militärische Disziplin sorgte für eine gehorsame Jugend aus den
Notabelnschichten.
186 Die Politische Zivilisation des Absolutismus
Karl-Ludwig der Große
Am 25. März 1802 wurde zwischen Frankreich und den europäischen Mächten der Friede von Amiens geschlossen. Diesen Erfolg
sowie die Angst vor einer monarchistischen Welle nutzte Napoleon,
um sich zum Konsul auf Lebenszeit einsetzen zu lassen. Ende 1804
schien der Friede in Europa schon wieder brüchig geworden zu sein.
Napoleon ließ sich zum Kaiser erheben. Als Vollender der Revolution
war er 1799 angetreten, als Kaiser knüpfte er 1804 an die Nachfolge
Karls d. Gr. an. Sorgsam achtete Napoleon darauf, als „Held“ größer
als Karl dazustehen. Im Moniteur universel, dem einschlägigen Staatsblatt, wurden Lobbriefe und Oden auf den neuen Karl veröffentlicht.
Ihr Ton unterschied sich wenig von den seinerzeitigen Lobeshymnen
auf Ludwig XIV. Manch anderes schien auch von den Inszenierungskünsten jenes Ludwig ausgeborgt zu sein, wie die Reise nach Aachen
und an den Rhein im September 1804. Napoleon visitierte die Rheinischen Gebiete, die dem französischen Territorium zugeschlagen wurden, wie seinerzeit Ludwig XIV. die Nordgrenze oder das Elsaß; vor
allem besichtigte er, ganz wie Ludwig, die Festungen. Gerne ließ er
sich als „Napoléon le Grand“ (vgl. „Louis le Grand“) bezeichnen. In
Aachen besuchte er den Dom, besichtigte den Sarkophag und den
Thron Karls d. Gr., außerdem ließ er ein te Deum singen. Am 11.
September 1804, noch in Aachen, ließ er einen Beschluß (arrêté)
verkünden: Napoleon, Kaiser der Franzosen, wolle die Naturwissenschaften, die Literatur und die Kunst fördern, die zum Ruhme der
Nationen beitrügen. Er wünsche, daß Frankreich die erlangte Überlegenheit bewahre und daß das beginnende Jahrhundert den vorhergehenden überlegen sein möge. Zu diesem Zweck richte er Preise für
die Naturwissenschaften, Geschichte, die Schönen Künste und die
besten Gedichte aus, die sich mit den denkwürdigen Ereignissen der
französischen Geschichte oder mit für den französischen Charakter
ehrenwerten Taten beschäftigten. (Morrissey 1997) Bis ins Detail
ahmte Napoleon Ludwig XIV. als Protektor der Wissenschaften und
Künste nach. Das gilt im übrigen auch für die als Neoabsolutismus
oder Absolutismus bezeichnete Politik. Mit dem Bezug auf die Gestalt
Karls d. Gr. wurde der offensichtliche Widerspruch zwischen tatsächlichem Absolutismus („Despotismus“ nach Mme de Staël) und dem
Anspruch, die Revolution zu vollenden, überbrückt. Karl d. Gr. war
einer verbreiteten Ansicht nach derjenige Herrscher gewesen, der
nach einer Zeit des Chaos, der Barbarei und des moralischen Verfalls
die Ordnung wiederhergestellt habe. Napoleon stellte sich parallel als
6 Die Französische Revolution 187
denjenigen Herrscher dar, der die Terreur überwunden und den Zerfall der Gesellschaft abgewendet habe. Einflußreiche Aufklärer wie
Gabriel Bonnot de Mably (1709 bis 1785) und Étienne Bonnot de
Condillac (1715 bis 1780) hatten im 18. Jh. Karl d. Gr. als Wiederbegründer der ursprünglichen Republik dargestellt, der die Rechte
des Dritten Standes anerkannt, Gallier und Franken geeinigt habe
und zur alten Verfassung zurückgekehrt sei. Andere hatten in Karl
die Verkörperung der Nation gesehen, weil er die öffentliche Meinung vollkommen repräsentiert habe. Auf alle diese Punkte konnte
sich Napoleon stützen, vor allem gelang es ihm, durch Plebiszite wie
durch die Kontrolle der Presse sich als Herrscher darzustellen, der mit
der öffentlichen Meinung in Einklang stehe. Schließlich war die
Identifizierung mit Karl – Napoleon sagte bei Gelegenheit wörtlich:
„Ich bin Karl der Große“ – nützlich für die Beziehung zum Papst und
für die ideologische Untermauerung der Kriege in Europa.
Napoleon schuf sehr geschickt die Grundlagen für einen Mythos,
der die Niederlagen von 1814 und 1815 überdauerte und von dem
Napoleon III. 1848 profitierte.
6.6 Die Französische Revolution und der Körper der Nation
Die Nation als Körper (1788 – 1791)
Die Französische Revolution gilt als Katalysator der modernen Nationswerdung. Aber trifft dies wirklich zu? Es trifft dies für Frankreich
vor allem auf der Ebene der Imagination zu, während die tatsächliche Ausformung der Nation überwiegend ein Ergebnis der Anstrengungen seit der Dritten Republik war. Der europäische Prozeß
der Nationswerdung erhielt Impulse aus der Revolution, nicht nur
durch die Kriege. Aber auch hier sollte die eigentliche Revolutionsepoche nicht überschätzt, vielmehr auf die Auseinandersetzung mit
der Revolution im Lauf des 19. Jh. geblickt werden.
Antoine de Baecque (de Baecque 1993) hat in einem sehr spannenden Buch die Entwicklung der Körpermetapher(n) in der Revolutionspublizistik und -kunst analysiert. Ihm kommt das Verdienst zu,
erstmals die zentrale Bedeutung von Körpermetaphern für den Revolutionsdiskurs in ihrer ganzen Breite und Tiefe freigelegt zu haben.
Im Nachhinein erscheint es selbstverständlich, daß die Einheit der
Nation über bestimmte Körperbilder textuell und visuell gedacht und
vermittelt wurde. Seit 1788 baute Emmanuel Sièyes (1748 bis 1836)
seine Schriften auf einem vertrauten Körperbild auf: er übertrug
188 Die Politische Zivilisation des Absolutismus
gewissermaßen die Anschauung von den zwei Körpern des Königs
auf die Nation. Diese Übertragung wirkte insbesondere in die Debatte
um die Einrichtung der Départements hinein. Die zu schaffenden
Départements wurden mit dem Skelett des Körpers verglichen. Jacques-Louis David (1748 bis 1825) bediente sich derselben traditionellen, auf die Nation übertragenen Metapher für sein berühmtes, nicht
vollendetes Bild „Serment du Jeu de Paume“ (ab Frühjahr 1790 in
Arbeit). Der auf einem Tisch postierte, den Schwur verlesende Bailly
steht für den Kopf des Nation-Körpers, die drei Geistlichen vor ihm
(Dom Gerle, Grégoire, Rabaut Saint-Étienne – ein Ordensgeistlicher,
ein Weltgeistlicher, ein Pastor) bilden das Herz. Die ausgestreckten
Arme der Schwurleistenden folgen den Fluchtlinien des Gemäldes
und bilden das Körperskelett. Sièyes und David sind unbeschadet
ihrer formalen und künstlerischen Perfektion nur als Exponenten
und Instigatoren einer weitverbreiteten Bildvorstellung von der Einheit der Nation zu verstehen. Mit der Terreur wurde diese integrierende Vorstellung, die das monarchische Ancien Régime intelligent
in das Zeitalter der souveränen Nation überleitete, zu Grabe getragen.
„Travaux d’Hercule“ – die Zerstörung der Körpermetapher
(1770 – 1799)
Nicht übersehen werden darf, daß die integrative Metapher der
Sièyes’ und Davids’ jedoch in einem Umfeld ausgrenzender Körpermetaphern stand. Schon lange vor der Revolution wurde Frankreich
als kranker Körper begriffen, der geheilt, der „regeneriert“ werden
müsse. Da die Verursacher der Leiden mit den Privilegierten dingfest
gemacht werden konnten, wurden für sie, pauschal in der Revolution
als „aristocrates“ denunziert, Monster-Metaphern geschaffen, die
dem reinen und gesunden Körper der regenerierten Nation gegenübergestellt wurden. Ähnlich wurde seit den 1770er Jahren das ursprünglich positiv und mystisch besetzte Körperbild des Königs (und
der Königin) durch die Untergrundliteratur, speziell durch die politische Pornographie zerstört. Ludwig XVI. und Marie-Antoinette waren lange vor ihrer Hinrichtung metaphorisch tot.
Die politische Pornographie zählte zu den charakteristischen Eigenheiten der weiter oben angesprochenen Massenpädagogik, deren
textuelle und bildliche Ausdrucksmöglichkeiten je nach Publikum
grob oder subtil ausgereizt wurden. Der Begriff „Pornographie“
stammt aus dem 19. Jh. Zwar hatte Restif de la Bretonne 1769 eine
6 Die Französische Revolution 189
Schrift über die Prostitution unter dem Titel „Le Pornographe“ veröffentlicht, aber das Substantiv Pornographie wurde in Frankreich
erst um 1830/40 geläufig. 1806 allerdings hatte Etienne-Gabriel Peignot ein kritisches bibliographisches Wörterbuch herausgegeben, das
Bücher auflistete, die verboten, zensiert oder verbrannt worden waren. Hier sprach er von Pornographie, um obszöne Werke einer Kategorie zuzuordnen. Diese Kategorisierung, die sich seit dem frühen
19. Jh. in einem eigenen und neuen Wort ausdrückt, war der Frühen
Neuzeit noch fremd gewesen. Lynn Hunt liefert eine Beschreibung
von politischer Pornographie in der Frühen Neuzeit. Sie ist älter als
die Revolution, muß aber im Kontext der politischen Ikonographie
der Revolution zu deren charakteristischen Merkmalen gerechnet
werden. „In der frühen europäischen Moderne – d. h. zwischen 1500
und 1800 – war Pornographie meistens ein Vehikel, um durch den
Schock, den Sex auslöste, religiöse und politische Autoritäten zu
kritisieren. Pornographie entwickelte sich dennoch mit der Verbreitung der Druckkunst in den Jahrhunderten zwischen der Renaissance und der Französischen Revolution als eigenständige Kategorie.
Pornographie war das Ergebnis eines ineinandergreifenden Zusammenspiels der Intentionen von Autoren, Künstlern und Graveuren,
um die Grenzen des »Schicklichen« (und die Ziele der kirchlichen und
weltlichen Polizei, sie zu kontrollieren) auszutesten.“ (Hunt 1996, 8)
Wenn Hunt die ,Auslösung eines Schocks’, über den politische und
kirchliche Autoritäten kritisiert werden sollen, als Ziel nennt, dann
handelt es sich bei der sog. politischen Pornographie darum, wie der
menschliche Körper in sexueller Pose als Mittel der Bild- und Textsprache benutzt wird, um Inhalte darzustellen, die für sich genommen keine sexuelle, sondern politische Relevanz haben. Betrachtet
man dieses Kommunikationsmedium mit den Augen der frühneuzeitlichen Zensur, so fällt auf, daß sich deren Interesse weniger auf die
sexualisierte Wort- und Bildsprache richtete, als auf die zumeist politische und religiöse Kritik, die in den Werken steckte. Das Interesse der
Zensurbehörden und der Polizei an bestimmten Werken, die später
als Pornographie bezeichnet wurden, wuchs in dem Maße, wie die
zunehmende Alphabetisierung den potentiellen Leserkreis vergrößerte. In der Tat erreichte die – textuelle und visuelle – Bildsprache
der Pornographie während der Revolution ein sehr breites Publikum,
das dem über die Zeitungen bis hin zur billigen Massengraphik geknüpften Netz zwischen lediglich obszöner Sprache und harter Politpornographie nicht entkommen konnte.
190 Die Politische Zivilisation des Absolutismus
Die Schriften des Marquis de Sade (1740 bis 1814) bezeichneten den
Kulminationspunkt dieses Text- und Bildmediums. Er nutzte das von
ihm nicht erfundene metaphorische Potential der Sprache der Pornographie für eine fundamentalistische Gesellschaftskritik, für die Negation auch des Nations-Körpers. Das unterscheidet ihn von anderen
Werken der politischen Pornographie der Französischen Revolution
und der Zeit davor, die sehr häufig nur auf ganz bestimmte Personen
wie Marie-Antoinette oder ganz bestimmte soziale Gruppen wie
Nonnen und Mönche bzw. die Geistlichkeit insgesamt zielten. De
Sade ironisierte und persiflierte viele Aufklärungsschriften (Diderot,
Rousseau vor allem), aber auch ältere Werke wie das Dekameron von
Boccaccio. Seine Zielsetzung war anarchisch („Die hundertzwanzig
Tage von Sodom“, „Philosophie im Boudoir“, „Juliette“). Sade durchbrach sämtliche Tabus und moralischen Grenzen, die seine Zeit
kannte. Inzest und Sodomie, Gruppensex und sexuell-blasphemische
Handlungen ereignen sich bei ihm am laufenden Band. Diese Szenen
sind Chiffren für die Auflösung aller verwandtschaftlichen Beziehungen, aller religiösen Bindungen. In seinen häufigen Gruppensexszenen ging es um nur eine Kernfrage: „Wie kann ich gegen so
viele Konventionen wie möglich verstoßen?“ (Paglia, 1992, 299). De
Sade war Materialist: „Vor uns haben wir ein ebenso gigantisches wie
komplexes Sexualmolekül. . . Es ist der sich windende Polyp der Mutter Natur. De Sades vielgeschlechtlicher Bastard erinnert an die Scylla,
die Hydra oder an ein beliebiges anderes chthonisches Ungeheuer
[Erdgottheiten] der griechischen Mythologie. ( . . . ) Bei de Sade . . .
stehen die sexuellen für soziale Beziehungen ein. Seine Libertins
drängen sich zu Einheiten zusammen, in denen sie wechselseitig
voneinander profitieren, dann zerfallen sie wieder in feindliche
Atome.“ (Paglia, 299 f.)
Die politische Pornographie knüpfte an die tradierte Syntax der
Körpersprache an, d. h. die dargestellten Szenen müssen richtig gelesen werden. Bei homosexuellen und lesbischen Szenen ging es
nicht um diese Ausprägungen von Sexualität, sondern es handelte
sich um Chiffren für Dekadenz und politische Korruption. Bevorzugte Zielscheibe waren Priester und „Aristokraten“, gerade auch
konservative Mitglieder der Nationalversammlung. Das von de Sade
benutzte und auf die Spitze getriebene Muster wurde vor allem für
die Diffamierung von Marie-Antoinette eingesetzt. Umgekehrt wurden die Patrioten der Revolution in Szenen „gesunder“, d. h. heterosexueller, Liebe gezeigt wie in den „Travaux d’Hercule“ von 1790. Nicht
6 Die Französische Revolution 191
zufällig wurde hier Herkules als Chiffre genommen, der zugleich
Symbol des regenerierten französischen Volkes war! Herkules als
Metapher grenzte allerdings zu viele Gruppen aus. Die Metapher
richtete sich gegen die eben genannten Gruppen, außerdem gegen
die Konterrevolutionäre, also die Gegner im Innern und die Emigranten, gegen die europäischen Fürsten. Während der Terreur
schlug die Metapher in das Gegenteil des ursprünglich Gewollten
um: eine weitverbreitete Gravur zeigte eine Herkules nachempfundene Gestalt, die sich vom Blut der Guillotinierten nährt. Mit der
Terreur wurde die vorstellungsweltliche Grundlage der Körpermetapher zerstört, damit die Voraussetzung ihrer Wirkmöglichkeiten.
Am Ende der Revolution blieb nicht eine Metapher, sondern eine
Allegorie: die der Liberté, die ein Prinzip (Freiheit) darstellt. (de Baecque 1993, 388 f.) Weder verkörpert sie die Nation als gedachte Einheit, noch läßt sie sich in Organe und Glieder zerlegen, denen die
Teile des Ganzen der Nation organologisch wie 1788 bis 1791 zugeordnet werden könnten.
Die „Ordnung der Geschlechter“ oder
der point zéro der Nation
Die revolutionäre Epoche mündete paradoxerweise in den Neoabsolutismus. Die Entstehung des Begriffs „Absolutismus“, die im 5. Kapitel vorgestellt worden war, hing eng mit den Zeitumständen zusammen. Die Revolution führte in vieler Hinsicht das Ancien Régime
zum Ziel, wie es schon Alexis de Tocqueville im vergangenen Jahrhundert herausgefunden hatte. Auf der Ebene der Mentalitäten war
der Bruch jedoch enorm. Hier blieb 1789 bzw. 1792 als Jahr I der
Republik gleichbedeutend mit einem Bruch der Geschichte, weil die
Revolution als kulturelle Revolution, die sie gewesen war, das kulturelle Gedächtnis sehr gründlich transformiert hatte. Die neuen, erheblichen sozialen und politischen Spannungen und Gegensätze der
Epoche um 1800 waren nicht mehr mit einem morbiden Ancien
Régime zu erklären, sondern stellten sich als Folge der Revolution
dar. Der historisch-legitimierende Bezug auf Karl d. Gr. und seine zum
Mythos gewordene Epoche, die ein ganzes Jahrtausend zurücklag,
unterstrich nur den Charakter der Revolution als mentalen point zéro.
Das 19. und Teile des 20. Jh. sind durch dieses Paradox gekennzeichnet: Realpolitisch herrschte der Neoabsolutismus bis in die Dritte
Republik, mental blieb es beim Bruch von 1789/1792. Erst nach dem
Zweiten Weltkrieg setzte eine historische Rehabilitierung der Ge-
192 Die Politische Zivilisation des Absolutismus
schichte vor 1789 ein, die dazu beitrug, die politische Spaltung der
Nation je nach ihrer Stellung zur Revolution aufzuheben. Die heutige
Linke definiert sich kaum mehr über die Revolution, auch nicht über
die Erste Republik, die heutige Rechte hat mit der traditionellen
Rechten, die noch in der ersten Präsidentschaft Mitterands aufgrund
ihres gebrochenen Verhältnisses zur Revolution, wenn auch nicht zur
„guten Revolution“ von 1789 (!), klar zu definieren gewesen war, nur
mehr wenig gemein; sie ist in Auflösung begriffen und macht einer
radikalen, nationalistischen und rassistischen Rechten im Umkreis
von Jean-Marie LePen Platz.
Die Transformation des kulturellen Gedächtnisses durch die Revolution war nicht nur politisch-kultureller Art. Mehr als es im Ancien
Régime denk- und machbar gewesen war, wurde die Gesellschaft
fundamental nach Geschlechtern getrennt. Die politische und öffentliche Sphäre wurde vermännlicht, die Vorrangstellung der Männer in
der Familie gegenüber dem vor 1789 geltenden Recht nochmals
verstärkt. Mehr noch: Geschichte und ,Geschichte machen’ wurden
vermännlicht. Während Théroigne de Méricourt, Revolutionärin,
Kämpferin für Frauenrechte und politische Partizipation der Frauen
in eine psychiatrische Anstalt eingewiesen und dort zum Modellfall
der Psychiatrie des 19. Jh. wurde, leitete sich politische Identität ausschließlich von „Geschichte machenden“ Männern ab. Frauen wurden bis zum Ende des Zweiten Weltkrieges vom Wahlrecht ausgenommen, das in der Revolution eine zeitlang geltende Scheidungsrecht wurde eliminiert. Die Vermännlichung der politischen Sphäre
setzte sich auch in Frankreich weitgehend durch. Nicht zufällig verdrängte Herkules in der Phase der Terreur die weiblichen Allegorien
(nicht gänzlich).
Einer der wichtigsten Faktoren dieser Kolonisation von Politik und
Öffentlichkeit durch Männlichkeit bedeutete die Militarisierung des
Mannes. Augenfälligstes Anzeichen war die levée en masse für die
Revolutionskriege, die Einführung der Kriegsdienstpflicht für die
Männer, die Identifizierung von Patriotismus und der Bereitschaft,
dafür die Waffen zu tragen und ggf. nach innen wie nach außen zu
gebrauchen. Allerdings begann die Militarisierung des Mannes vor
der Revolution. Das Bild des soldat-citoyen erfreute sich schon vorher
wachsender Beliebtheit. Die im französischen Heer geschaffenen
Aufstiegsmöglichkeiten unabhängig vom Geburtsstand trugen mit
dazu bei, Soldatsein und Mannsein in das neue Bild vom Mann
einzuzeichnen. Letztlich ging dieser Prozeß auf die Schaffung stehen-
6 Die Französische Revolution 193
der Heere und der Miliz unter Ludwig XIV. zurück, die sich überwiegend aus Franzosen rekrutierten. Der Widerstand vieler Männer
gegen diese Art der Identitätsstiftung und Definition von Männlichkeit ist nicht zu unterschätzen, doch wurden die Instrumente der
militärischen Akkulturation im 19. Jh. vom Soldatenlied bis zum
Modell des sportlich gestählten Männerkörpers geschärft und verfeinert.
Die Spaltung der Gesellschaft in männlich und weiblich war schon
im Aufklärungsdiskurs in der dort propagierten „Ordnung der Geschlechter“ angelegt gewesen. (Honegger 1992) Sie machte sich zugleich im Verlust der ehemals integrierenden Körpermetapher, wie
sie im Bild vom corpus mysticum niedergelegt war, bemerkbar. Die
Wende hatte sich schon unter Ludwig XIV. abgezeichnet. Den „zwei
Körpern des Königs“ fügte er gewissermaßen einen dritten hinzu:
den des Mannes. Ludwig kombinierte die zahlreichen Beweise seiner
sexuellen Potenz mit weiteren typisch männlichen Körperleistungen
im Sattel oder unter dem Messer der Chirurgen (z. B. Operation einer
Fistel am After). Das wäre prinzipiell nichts Neues gewesen, wenn er
nicht diesen dritten ausdrücklich männlichen Körper permanent mit
den asexuierten zwei Körpern des Königs der Tradition vermischt
hätte. Ludwig XV. verschlimmerte die Dinge, insoweit er seine sexuelle Potenz großzügig auslebte, aber die übrigen Körperleistungen,
zu denen sich Ludwig XIV. verstanden hatte, nicht erbrachte. Ludwig
XVI. warf die Untergrundpresse schließlich Impotenz vor: während
Ludwig XV. im ersten Jahrzehnt seiner Ehe 10 Kinder zeugte, wurde
Marie-Antoinette erst gegen Ende des ersten Ehejahrzehnts schwanger. Medizinisch ist belegt, daß Ludwig XVI. nicht impotent war, aber
die Untergrundpresse war von dieser Vorstellung fasziniert und erklärte den Bruder des Königs, den Grafen von Artois, zum Vater des
schließlich geborenen Dauphins, dem zweiten Kind des Königspaares. Hier nahm die pornographische „Verwertung“ des Königspaares
ihren Anfang, wurde die Zerstörung der monarchischen Körpermetapher eingeleitet. Die Eroberung der Körper des Königs und der
Königin durch die politische Pornographie vor und in der Revolution
bezeichnete das Ende der traditionellen Körpermetapher, in der König, Volk und politisch-soziales Gemeinwesen zusammengefaßt werden konnten. Die Revolution erfand nach Sieyès und David neue
Körperbilder, die aber sexualisiert und instabil waren. Das Volk oder
die Nation wurden in Konkurrenz durch weibliche Allegorien (Allegorie der „France“, der „Liberté“) oder durch männliche Figuren wie
194 Die Politische Zivilisation des Absolutismus
vorzugsweise Herkules repräsentiert. Es wurde das Bild des regenerierten Menschen geschaffen, der einem auferstehenden Christus
ähnelte. Bei Festveranstaltungen und in der Bildpropaganda wurde
die Figur der „Natur“ herangezogen, an deren regenerierende Flüssigkeit spendenden Brüsten sich die Repräsentanten der Nation labten.
Beim Fest der Einheit und Unteilbarkeit der Republik am 10. August
1793 labten sich 86 Männer als Repräsentanten der Départements an
den Brüsten der göttinnenartigen Figur. Anschließend mußten sie zu
einer muskulösen schwertbewehrten Herkulesfigur ziehen und dort
der Revolution Treue schwören. Bei all dem war das Volk nur Zuschauer. Zum Schwur der Abgeordneten sollte sich das Volk in einer
militärischen Phalanx aufstellen. Die Regie des Festes, so die Interpretation von Sennett, trieb die Menschen vom Weiblichen zum
Männlichen, zum Militärischen und zum Gehorsam. (Sennett 1995,
386) Die großartige Einfachheit der mittelalterlichen Metapher, wo
die Erde den Korpus Christi bildete oder die vielen Glieder der Gesellschaft den Körper des Königs, konnte keine Verwendung mehr finden, auch nicht in der von Sieyès und David modifizierten Version.
Die traditionelle Körpermetapher war immer eine imaginäre Synthese gewesen, aber sie war asexuiert und darauf angelegt zu integrieren. Die Körpermetaphern der radikalen Revolution polarisierten nach weiblich und männlich und spiegelten die Desintegration
der Gesellschaft in eine öffentlich-politische männliche und eine
mütterliche nahrunggebende weibliche Sphäre.
Die Bilanz des Nationswerdungsprozesses in der Revolution gestaltete sich weniger eindeutig, als im allgemeinen unterstellt wurde.
Einerseits waren die politischen und verfassungsmäßigen Zustände
überall in ein einheitliches System eingeordnet worden. Das bedeutet, daß der Staatsanteil überall nachhaltig erhöht worden war. Andererseits durchzogen neue Gräben die Gesellschaft. Das kulturelle
Gedächtnis hatte einen Bruch erlitten, das mit großen Anstrengungen neu gebildete Selbstverständnis nahm seinen grundsätzlichen
Ausgangspunkt von der Revolution, wurde aber durch die sehr gegensätzlichen Haltungen zur Revolution gespalten. Die geschlechterorientierte Spaltung der Gesellschaft fügte dem vorrevolutionären
Nationsverständnis Schaden zu, das enggezurrte Zensuswahlrecht
karikierte die Gleichsetzung von Nation mit Volkssouveränität, der
Verlust einer integrativen Körpermetapher symbolisiert den vorstellungsweltlichen Bruch. Das vorstellungsweltliche Netz des Ancien
Régime, das dem alten kulturellen Gedächtnis Struktur und Substanz
7 Zwischen Monarchie und Republik 195
garantiert hatte, war zerrissen, eine neue Kohärenz hatte sich noch
nicht eingestellt. Diese wurde erst durch die Dritte Republik geschaffen, nach immer neuen Versuchen im Lauf des 19. Jh.
7
Der Neoabsolutismus: Zwischen Monarchie und Republik
7.1 Die konstitutionelle Monarchie als Sicherung der Revolution
und die Abwehr der Republik (1814 – 1848)
Der Souverän von Elba
Die fortgesetzten Niederlagen Napoleons, schließlich die Invasion
Frankreichs seit Beginn des Jahres 1814 durch preußische, schlesische, böhmische, russische und weitere Truppen ließ die innerfranzösische Zustimmung zu Napoleon schnell absinken. Führende Köpfe
wie Talleyrand (Charles Maurice, Herzog von Talleyrand-Périgord;
1754 bis 1838) waren bereit, bei sich bietender Gelegenheit Napoleon
die Treue aufzukündigen. Paris kapitulierte am 30. März 1814, ein
wichtiger militärischer und psychologischer Erfolg für die europäischen Alliierten, nachdem Napoleon noch einmal sein Feldherrngenie unter Beweis gestellt und die Alliierten in Bedrängnis gebracht
hatte. Bereits am 3. April setzte der Senat in Paris Napoleon mit der
verfassungsrechtlichen Begründung ab, dieser habe seinen Eid verletzt und die Rechte des Volks geschmälert, als er entgegen der Verfassung Männer ausheben und Steuern eintreiben ließ. Ein Teil der
Armee kündigte inzwischen Napoleon den Gehorsam auf, der russische Zar Alexander betrieb die Abdankung Napoleons, die am 6.
April 1814 erfolgte. In Fontainebleau wurde ein Vertrag geschlossen,
mit dem Napoleon die Souveränität über Elba erhielt; der französische Staat solle ihm jährlich 2 Mill. Francs an Pensionen zahlen. Am
selben Tag, als Napoleon abdankte, rief der Senat Ludwig XVIII., d. i.
Louis-Stanislas-Xavier de Bourbon, Bruder des hingerichteten Ludwigs XVI., zum König aus, wie es hieß „aus freien Stücken“ und „mit
dem Willen der Nation“.
Ultras und Liberale – Ludwig XVIII.
Ludwig erließ am 14. Juni 1814 eine neue Verfassung, die Charte
constitutionnelle. In seinen englischen Exiljahren hatte er Gelegenheit
gehabt, sich mit der englischen konstitutionellen Monarchie vertraut
zu machen, in Frankreich traf er auf ein entemotionalisiertes Verhält-
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