Die Exponentialfunktion exp(x) Wir erinnern: Ist f : R → R eine glatte Funktion, dann bezeichnet f ′(x) die Steigung von f im Punkt x. f ′ (x)∆x ∆x 0 x Wie sehen f Funktionen aus 3 mit 2 1 f ′(x) = f (x) -3 -2 -1 0 -1 für alle x ∈ R ? -2 -3 “Steigung gleich Funktionswert” x 0 1 2 3 Funktionen f mit f′ 3 =f 2 gibt es viele, 1 aber durch jeden Punkt 0 3 (x0, y0) 2 1 0 1 2 gibt es genau eine! 3 1 2 3 3 Speziell: 2 1 (x0, y0) = (0, 1) 0 3 2 1 0 1 f (0) = 1 2 3 1 2 3 Fakt: Es gibt genau eine Funktion f = f (x) mit f ′(x) = f (x), x ∈ R, und f (0) = 1. Man schreibt für diese Funktion exp(x) und nennt sie die (Standard-) Exponentialfunktion. exp′(x) = exp(x), x ∈ R, und exp(0) = 1. Wie kann man exp(x) berechnen? Hier ist ein Vorschlag. x2 x3 x4 x5 f (x) := 1 + x + + + + + ... 2 2·3 2·3·4 2·3·4·5 f (0) = 1 schon mal fein! Und: man darf summandenweise ableiten: 2x 3x2 4x3 5x4 f (x) = 0 + 1 + + + + + ... 2 2·3 2·3·4 2·3·4·5 ′ x3 x4 x2 + + + ... = f (x) =1+x+ 2 2·3 2·3·4 Wir haben gefunden: x2 x3 x4 x5 exp(x) = 1 + x + + + + + ... 2 2·3 2·3·4 2·3·4·5 Mit der Bezeichnung n! := 1 · 2 · · · n (lies: n Fakultät) und der Konvention 0! := 1 schreibt sich exp(x) als unendliche Summe exp(x) = ∞ X xn n=0 n! xn exp(x) = n=0 n! ∞ X ist die Darstellung von exp als “Exponentialreihe”. Die Euler’sche Zahl e ist der Wert von exp bei x = 1. ∞ X 1 exp(1) = n=0 n! 1 1 1 1 1 +... =1+1+ + + + + 2 6 {z24 120 720} | ≈2,718 Die wichtigste Eigenschaft der Funktion exp: exp(a + b) = exp(a) · exp(b) Wie sieht man das ein? Behauptung: Für jede feste Zahl a stimmen die Funktionen y1(x) = exp(a + x) und y2(x) = exp(a) · exp(x) überein. Beweis: Die Funktionen y1(x) = exp(a + x) und y2(x) = exp(a) · exp(x) erfüllen beide die Gleichung y ′(x) = y(x), x ∈ R, mit y(0) = exp(a). In der Tat: y1(x) = exp(a + x) y2(x) = exp(a) exp(x) y1′ (x) = exp(a + x) · 1 y2′ (x) = exp(a) exp(x) = y1(x) = y2(x) y1(0) = exp(a + 0) y2(0) = exp(a) exp(0) = exp(a) = exp(a) · 1 = exp(a) Es gibt aber nur eine Funktion y(x) mit y ′(x) = y(x) und y(0) = exp(a). Also sind y1(x) und y2(x) gleich! y1(x) = y2(x) exp(a + x) = exp(a) exp(x) Hier ist noch eine zweite Begründung für exp(a) exp(b) = exp(a + b) durch gliedweises Ausmultiplizieren von a2 a3 1 + a + 2! + 3! + ... b2 b3 1 + b + 2! + 3! + ... : 1 1 1 a a a2 a2 2! 2! a3 a3 3! 3! . . b b2 2! b3 3! 2 3 b b b 2! 3! 2 3 ab ab ab 2! 3! a2b a2b2 a2b3 2! 2!2! 2!3! a3b a3b2 a3b3 3! 3!2! 3!3! . . . . . . . . . 2 + 2ab + b2) (a 1+a+b+1 2 3 + 3a2b + 3ab2 + b3) + ... (a +1 3 1 (a + b)2 + 1 (a + b)2 + ... = 1 + (a + b) + 2! 3! a2 a3 1 + a + 2! + 3! + ... b2 b3 1 + b + 2! + 3! + ... 1 (a + b)2 + 1 (a + b)2 + ... = 1 + (a + b) + 2! 3! exp(a) exp(b) = exp(a + b) exp(2) = exp(1 + 1) = e · e = e2 n = e exp(n) = exp(1 + ... + 1 ) = e · ... · e | {z } | {z } n mal n mal ! ! 1 1 · exp = exp(1) = e exp 2 2 also ! √ 1 exp = e = e1/2 2 Analog: ! √ 1 1/k =e = ke exp k Wir haben gesehen (für ℓ ∈ N0, k ∈ N): ℓ exp(ℓ) = e , ! 1 = e1/k exp k Allgemeiner: ! ℓ exp = eℓ/k = k q k ℓ e = √ ℓ k e . 1 exp(−x) = exp(x) denn exp(−x) exp(x) = exp(−x + x) = exp(0) = 1. All dies zusammen macht klar, dass man auch für reelle Zahlen x und a mit Potenzen rechnen kann wie gewohnt: ex := exp(x), (ea)x := eax, x∈R a ∈ R, x ∈ R. Größenordnungen: Die o-Notation Wir haben gesehen: Die Exponentialfunktion lässt sich als (unendliche) Summe von Potenzfunktionen schreiben: xn exp(x) = n=0 n! ∞ X Wir fragen: Welche Potenzen geben den Ton an für (dem Betrag nach) – kleines x – großes x ? Eine Tatsache und eine Schreibweise: Sei p ∈ N. 1 wird beliebig klein, wenn nur x hinreichend groß wird. p x Man schreibt: 1 →0 xp für x → ∞ und liest: 1 strebt gegen Null für x gegen Unendlich. p x Analog: xp → 0 für x → 0. Vergleichen wir xk und xℓ im Fall k < ℓ. Dann gilt für den Quotienten xk 1 = →0 ℓ ℓ−k x x für x → ∞. Man schreibt: xk = o(xℓ) für x→∞ und sagt: xk ist von kleinerer Größenordnung als xℓ für x gegen Unendlich oder einfach xk ist klein gegen xℓ für große x. Die o-Notation: Man schreibt für zwei Funktionen f (x), g(x): f (x) = o(g(x)) für x → x0 und sagt : f (x) ist von kleinerer Größenordnung als g(x) für x gegen x0 oder einfach f (x) ist klein gegen g(x) bei x0 wenn f (x) →0 g(x) für x → x0. Speziell: g(x) ≡ 1: f (x) = o(1) für x → x0 ist gleichbedeutend mit f (x) → 0 für x → x0. Merkregel Höhere Potenzen sind zu vernachlässigen bei x = 0. Niedrigere Potenzen sind zu vernachlässigen bei x = ∞. Beispiele: 2x − 5x3 + x4 = o(1) für x → 0. 4 + 2x − 5x3 + x4 = 4 + o(1) für x → 0. −5x3 + x4 = o(x2) für x → 0. 4 + 2x−5x3 + x4 = 4 + 2x + o(x2) für x → 0. Mit o-Termen kann man (fast) wie gewohnt rechnen. Z. B. gilt (bei 0 ebenso wie bei ∞) o(x4) = x4 o(1). Damit: 4 + 2x − 5x3 + x4 = o(x4) + x4 = x4(1 + o(1)) für x → ∞. Zwei wichtige Abschätzungen für exp: Für kleine x ist ex ungefähr gleich 1 + x: ex = 1 + x + o(x) für x → 0. Das sieht man aus der Reihendarstellung: x3 x4 x5 x2 + + + + ... exp(x) = 1 + x + 2! 3! 4! 5! = 1 + x + o(x) über einen Vergleich mit der geometrischen Reihe: 3 4 5 x2 1 x x x 2 2 3 2 + + + + ... ≤ x (1+|x|+|x| +|x| +...) = x 2! 3! 4! 5! 1 − |x| 2,5 2 ex 1+x 1,5 ex = 1 + x + o(x) -1 -0,5 für x → 0 Für große x wird ex größer als jede Potenz von x: xn = o(ex ) für x → ∞. Denn in der Reihendarstellung von exp kommen beliebig große Potenzen von x vor, alle mit positivem Vorzeichen. n+1 x ex ≥ , (n + 1)! x ≥ 0, (n + 1)! xn → 0 ≤ ex x impliziert für x → ∞. Stammfunktionen Z f (x)dx Zur Erinnerung: F heißt Stammfunktion von f , falls F ′ (x) = f (x) für alle x aus dem Definitionsbereich von f . Man sagt dafür auch: F ist unbestimmtes Integral von f und schreibt F (x) = Z f (x) dx Ist F eine Stammfunktion von f , dann ist für jede Konstante C auch F + C eine Stammfunktion von f . Denn: Die Ableitung von F (x) + C ist F ′(x) = f (x) Außerdem: Je zwei Stammfunktionen von f unterscheiden sich nur um eine additive Konstante. Denn Wenn F ′(x) = f (x) und G′(x) = f (x), dann hat H(x) := F (x) − G(x) die Ableitung H ′(x) = F ′ (x) − G′(x) = f (x) − f (x) = 0, ist also konstant. Zusammen: Wenn F (x) eine Stammfunktion von f (x) ist, so sind F (x) + C alle Stammfunktionen von f (x) (wobei C alle rellen Zahlen durchläuft). Die Stammfunktionen von exp sind von der Form Z ex dx = ex + C. Wie findet man die Fläche zwischen der Kurve y = ex, der x-Achse und den Grenzen a und b? Wie findet man die Fläche zwischen der Kurve y = ex, der x-Achse und den Grenzen a und b? 10 y = ex 5 x 0 -3 -2 -1 0 1 2 a 3 b y = f (x) Φ(a, b) a b Φ(a, b) ist die Größe der Fläche zwischen der Kurve y = f (x) und der x-Achse zwischen x = a und x = b f (x) Φ(a, b) a b b+h Wie wächst Φ(a, b) mit b? f (x) Φ(a, b) a b b+h Φ(a, b + h) = Φ(a, b) + hf (b) + o(h) f (x) F (b) a b b+h F ′(b) = f (b) Die Größe der Fläche unter der Kurve f , aufgefasst als Funktion der oberen Grenze b, ist eine Stammfunktion von f . y = f (x) Rb a f (x)dx a b Man nennt Φ(a, b) auch das bestimmte Integral von f (x) zwischen a und b und schreibt Z b a f (x)dx := Φ(a, b) Wir haben gesehen: Die Beziehung Z b a f (x)dx = F (b) − F (a) gilt für die Stammfunktion F (x) = Φ(a, x) – und damit für jede Stammfunktion F . Fazit: 10 y = ex 5 Rb x e dx a 0 -3 -2 -1 0 1 2 a 3 b = eb − ea x