theorien der wortbedeutung und ihre - Linguistik

Werbung
Wolfgang Lörscher
Theorien der Wortbedeutung und ihre psychische Realität
Series A: General & Theoretical Papers
ISSN 1435-6473
Essen: LAUD 1993 (2nd ed. with divergent page numbering 2011)
Paper No. 330
Universität Duisburg-Essen
Wolfgang Lörscher
University of Hildesheim (Germany)
Theorien der Wortbedeutung und
ihre psychische Realität
Copyright by the author
1993 (2nd ed. with divergent page numbering 2011)
Series A
General and Theoretical
Paper No. 330
Reproduced by LAUD
Linguistic Agency
University of Duisburg-Essen
FB Geisteswissenschaften
Universitätsstr. 12
D- 45117 Essen
Order LAUD-papers online: http://www.linse.uni-due.de/linse/laud/index.html
Or contact: [email protected]
ii
Wolfgang Lörscher
THEORIEN DER WORTBEDEUTUNG UND IHRE PSYCHISCHE
REALITÄT
1.
EINFÜHRUNG
Das Thema dieses Aufsatzes "Theorien der Wortbedeutung und ihre psychische Realität"
enthält eine Ambiguität. Sie liegt im möglichen Bezug des Pronomens 'ihre' sowohl auf
'Wortbedeutung' als auch auf 'Theorien der Wortbedeutung'. Unter psycholinguistischer
Perspektive - und sie werde ich in diesem Aufsatz verfolgen – löst sich die Ambiguität des
Pronominalbezuges wie folgt auf: Dass Wortbedeutung psychische Realität besitzt und
damit im mentalen System von Individuen ein Pendant hat, scheint mir ein
selbstverständliches
Faktum
zu
sein,
ohne
dass
Sprachverstehensund
Sprachproduktionsprozesse - und damit verbale Kommunikation schlechthin nicht
stattfinden könnten. In welcher Weise aber Wortbedeutungen mental repräsentiert sind, und
in welcher Beziehung diese Repräsentationen zu den Wortbedeutungen stehen, ist noch
weitgehend ungeklärt und bildet einen Gegenstand psycholinguistischer Forschung. Sie
schlägt sich in unterschiedlichen Theorieansätzen nieder. Diese versuchen, die psychische
Realität von Wortbedeutung hypothetisch zu rekonstruieren (vgl. Lörscher 1991: 32-34;
55ff.).
2.
ANFORDERUNGEN AN EINE THEORIE DER WORTBEDEUTUNG
AUS PSYCHOLINGUISTISCHER SICHT
In der Psycholinguistik wird Wortbedeutung hauptsächlich unter zwei Fragestellungen
untersucht:
(1)
Wie wird/ist unser Wissen über Wortbedeutung im Gedächtnis
gespeichert?
Damit ist das vorab erwähnte Repräsentationsproblem angesprochen.
(2)
Wie wird unser Wissen über Wortbedeutung im Prozess des Verstehens
und Produzierens von Sprachäußerungen aus dem Gedächtnis verfügbar
gemacht?
Damit wird ein Teilbereich der komplexen retrieval-Problematik benannt.
Die beiden Fragestellungen thematisieren zugleich die beiden Aspekte psychischer Realität
von Wortbedeutung: ihre mentale Repräsentation und ihr Verfügbarmachen für die
Sprachverwendung.
Ob - und wenn ja inwieweit - die derzeit propagierten Theorien der Wortbedeutung
plausible und empirisch abgesicherte Antworten auf die beiden Fragen zu geben vermögen 1
und somit also psychische Realität tatsächlich modelltheoretisch rekonstruieren - soll in den
nachfolgenden Teilen 3. und 4. eruiert werden. Dabei müssen die Theorien die anschließend
skizzierten
Erkenntnisse
zur
Wortbedeutung
und
zur
menschlichen
Informationsverarbeitung berücksichtigen, die von der Linguistik, der Psychologie und
anderen Wissenschaften gewonnen wurden.
Der Unterscheidung Tulvings (1972) nach episodischen und semantischen Gedächtnis
folgend, ist unser Wortbedeutungswissen im semantischen Gedächtnis gespeichert. Eine
psycholinguistische Theorie der Wortbedeutung ist demnach als Teil einer umfassenderen
Theorie des semantischen Gedächtnisses anzusehen.
Für die Psycholinguistik ist es von zentralem Interesse, ob bzw. welche
Gemeinsamkeiten zwischen den mentalen Bedeutungsrepräsentationen von Wörtern im
semantischen Gedächtnis und den Definitionen von Wörtern in Wörterbüchern bestehen
(vgl. Garnham 1985: 114ff.). Einsprachige Wörterbücher definieren Wörter mithilfe anderer
Wörter, während das semantische Gedächtnis auch Beziehungen zwischen
Wortbedeutungen repräsentieren muss. Zudem haben semantisches Gedächtnis und
einsprachige Wörterbücher unterschiedliche Aufgaben und machen unterschiedlichen
Gebrauch von den Querverbindungen zwischen Wörtern. Wörterbücher werden konsultiert,
um die Bedeutung(en) und/oder Verwendungsweisen von dem Benutzer unbekannten
Wörtern zu ermitteln. In den Einträgen wird vorausgesetzt, dass die Benutzer die
Bedeutungen anderer Wörter, die zur Erklärung der 'neuen' Wörter verwendet werden,
kennen. Trifft dies, wie häufig im Falle der Benutzung einsprachig-fremdsprachlicher
Wörterbücher durch Sprachlerner, nicht zu, so müssen die unbekannten Wörter der
Erklärung selbst wieder unter ihren entsprechenden Einträgen nachgesehen werden. Für die
sinnvolle Benutzung einsprachiger Wörterbücher setzen deren Verfasser denn auch in aller
Regel voraus, dass die Benutzer über ein gewisses Maß an sprachlichem Wissen verfügen.
Demzufolge erscheinen die Definitionen der geläufigsten Wörter eher unter dem Aspekt der
Vollständigkeit eines Wörterbuchs als unter dem Aspekt, ihre Bedeutungen den Benutzern
zu vermitteln.
Darüber hinaus sollte eine Bedeutungserklärung einen sprachlichen Inhalt auf seinen
Referenten bzw. sein Denotat beziehen. Dies wird in Wörterbüchern nur implizit geleistet.
Wer z.B. die Bedeutung des Wortes 'Küvette' in Erfahrung bringen möchte, will wissen,
welche Dinge Küvetten sind. Einsprachige Wörterbücher geben diese Informationen i.d.R.
mittels Definitionen, in denen vorausgesetzt wird, dass die Benutzer mit den Referenten und
Denotaten, auf die sich die Einträge beziehen, vertraut sind.
Das semantische Gedächtnis kann nicht in der gleichen Weise arbeiten wie
Wörterbücher. Im Verstehensprozess muss die Bedeutung eines jeden Wortes in einem Text
verfügbar gemacht werden. Auch und besonders - die häufig vorkommenden Wörter
müssen in ihrer Bedeutung korrekt und in einer für die Informationsverarbeitung adäquaten
Weise repräsentiert sein. Metaphorisch gesprochen kann sich das semantische Gedächtnis
2
also nicht darauf verlassen, dass sein Benutzer die in ihm gespeicherten Informationen
sachkundig auf die Phänomene der Welt bezieht. Es muss vielmehr selbst diese Aufgabe
zumindest partiell erfüllen.
In formalen semantischen Theorien (z.B. Montague 1968; 1970) werden Beziehungen
zwischen sprachlichen Zeichen und Phänomenen der Welt festgelegt. Eine Theorie des
semantischen Gedächtnisses kann aber solche Festlegungen nicht übernehmen. Sie muss
vielmehr erklären können, wie Wörter auf Phänomene der Welt bezogen werden. Zudem
nehmen Menschen die gleichen Dinge wahr, über die sie sprechen und schreiben und
klassifizieren die wahrgenommenen Phänomene weitgehend so, wie sie sie beschreiben.
Eine Theorie des semantischen Gedächtnisses muss deshalb mit einer Theorie hochrangiger
perzeptueller Prozesse kompatibel sein.
Garnharn (1985) nennt zwei weitere Anforderungen an eine psycholinguistische
Theorie der Wortbedeutung:
i.
Eine solche Theorie muss in der Lage sein zu erklären, wie der
Wahrheitswert von sprachlichen Äußerungen festgestellt und überprüft
wird. Sie sollte z.B. explizieren können, wie Ambiguitäten erkannt und
aufgelöst werden, d.h. wie unterschiedliche Bedingungen des
Wahrheitswerts Äußerungen zuerkannt werden.
ii.
Eine Theorie der Wortbedeutung müsste schließlich ein
Phänomenerklären können, das erstmals von dem amerikanischen
Philosophen Hilary Putnam (1970; 1975) untersucht wurde: Obwohl
viele Sprachbenutzer wissen, dass unterschiedliche Wörter - z.B. 'Birke'
und
'Lärche' - unterschiedliche Referenten (Bäume) bezeichnen, besitzen sie keine weitere
Kenntnis von den Referenzobjekten und können sie dementsprechend auch nicht
voneinander unterscheiden. Wenn aber Wörter unterschiedliche Bedeutungen haben,
müssen auch Unterschiede hinsichtlich ihres Gebrauchs bestehen. Es gibt 'Experten', die die
Referenzobjekte kennen und unterscheiden können. Aber auch 'Laien' ohne diese Kenntnis
benutzen entsprechende Wörter. Eine Theorie der Wortbedeutung muss deshalb auch die
Gebrauchsbedingungen und -möglichkeiten für solche Wörter erklären können, deren
Bedeutung den Wortbenutzern - wie diese auch selbst wissen – weitgehend unklar ist.
3.
THEORIEN DBR WORTBBEDEUTUNG
In den vergangenen Jahren wurden in so unterschiedlichen wissenschaftlichen Disziplinen
wie Linguistik, Psychologie, Sprachphilosophie und Künstliche-Intelligenz-Forschung
Theorien der Wortbedeutung entwickelt. Sie unterscheiden sich in ihren Ausgangspunkten
z.T. erheblich voneinander hinsichtlich ihrer Vorannahmen, ihrer Zielsetzungen, ihres
Erkenntnisinteresses, ihrer Terminologie und der in ihnen benutzten Methodik. Im Verlauf
3
der Weiterentwicklung dieser Theorien, die teilweise erhebliche Revisionen der
ursprünglichen Konzeptionen mit sich brachte, haben sich die Wortbedeutungstheorien aber
prinzipiell gegenseitig angenähert. Im Falle der Merkmals- und der semantischen
Netzwerktheorien geht diese Annäherung so weit, dass heute beide Theorien experimentell
nicht von einander unterschieden werden können.
Im Folgenden sollen fünf einschlägige Theorien skizziert und daraufhin befragt
werden, welchen Beitrag sie für die Konzeption einer psycholinguistischen Theorie der
Wortbedeutung - im Sinne der vorab thematisierten Anforderungen an eine solche Theorie –
zu leisten vermögen.
Die Wortbedeutungstheorien sind in unterschiedlichem Maße daraufhin untersucht
worden, ob und inwieweit sie die psychische Realität von Wortbedeutungen adäquat und in
sich konsistent und plausibel rekonstruieren. Das am häufigsten benutzte experimentelle
Paradigma in der Erforschung des semantischen Gedächtnisses ist die sogenannte
Satzverifizierungsaufgabe (sentence verification task). Dabei werden den Testpersonen
Sätze vorgelegt, die einfache, zutreffende oder unzutreffende, Feststellungen beinhalten.
Typischerweise enthalten die Sätze Wörter, deren Bedeutungen im Verhältnis der Inklusion
zueinander stehen (z.B. 'Ein Adler ist ein Vogel'; 'Eine Batterie ist ein Nahrungsmittel'),
oder in ihnen werden Qualitätszuschreibungen vorgenommen (z.B. 'Ein Adler hat Federn';
'Eine Batterie hat Räder'). Die Testpersonen müssen dann über den Wahrheitswert der
Feststellungen befinden. Dabei wird die Reaktionszeit der Probanden gemessen, die
Aufschluss über die Art und Dauer bestimmter Operationen bei der Verfügbarmachung von
Wortbedeutung aus dem semantischen Gedächtnis geben soll. Daraus können dann
wiederum Rückschlüsse über die Art der mentalen Repräsentation von Wortbedeutung
gezogen werden.
3.1
MERKMALSTHEORIEN
Die Anfänge einer psycholinguistischen Beschäftigung mit Wortbedeutung reichen zurück
in die späten sechziger und frühen siebziger Jahre (u. a. Schaeffer/Wallace 1969; Clark
1970; Steinberg 1970). In Aspects of the Theory of Syntax (1965) propagierte Chomsky eine
Version der semantischen Theorie, die von Katz und Fodor (1963) entwickelt wurde und in
Einklang stand mit der Forderung Katz und Postals (1964), Transformationen dürften keine
bedeutungsverändernde Wirkung besitzen.
Die Grundidee der Merkmalstheorien besteht darin, Wortbedeutung als Konfiguration
von atomaren Bedeutungselementen zu interpretieren. Im Ansatz von Katz und Fodor
(1963) werden die Bedeutungselemente in Form von hierarchischen Baumdiagrammen
angeordnet. Jeder Weg von der Wurzel des Baumes bis hin zu einem seiner Blätter
entspricht einer Bedeutung des jeweiligen Wortes. In Parenthese sei gesagt, dass Katz und
Podor von einer Ambiguität der meisten, wenn nicht aller, Wörter ausgehen. - Chomsky
modifizierte die Konzeption der Stammbaumdarstellung, indem er aufzeigen konnte, dass
4
Wortbedeutungen exakter beschrieben werden können mittels eines Systems bivalenter
Merkmale, den semantic markers. Sie lassen sich nicht in Gänze in eine Hierarchie
eingliedern. So ist z.B. die Unterscheidung des Merkmalspaares MÄNNLICH/WEIBLICH
der Unterscheidung nach MENSCHLICH/NICHT-MENSCHLICH weder über- noch
untergeordnet. Charakteristikum bivalenter Merkmale ist es, dass sie nur zwei Wertigkeiten
annehmen können: entweder das Merkmal ist vorhanden (+) oder es fehlt (-). Die
hierarchischen Beziehungen, in denen semantische Merkmale zueinander stehen, werden
mittels Redundanzregeln erfasst. Eine Konfiguration mit dem Merkmal + MENSCHLICH
hat automatisch auch das Merkmal + BELEBT. Letzteres wird deshalb nicht eigens
aufgeführt.
Merkmalstheorien wurden in die Psycholinguistik durch Schaeffer und Wallace (1969)
eingeführt. Sie erfuhren eine wesentliche Weiterentwicklung durch Smith, Shoben und Rips
(1974), indem diese zwischen definierenden und charakteristischen Merkmalen
unterscheiden. Definierende Merkmale sind solche, die ein Objekt haben muss, um unter ein
bestimmtes Konzept zu fallen. So gehört z.B. HAT FLÜGEL und HAT SCHNABEL zu den
definierenden Merkmalen von 'Vogel'. Charakteristische Merkmale, die den meisten, aber
nicht allen Objekten eines Konzeptes zukommen, wären für 'Vogel' KANN FLIEGEN oder
BAUT NESTER. Smith et al. verstehen ihre Unterscheidung nicht im Sinne eines
ausschließlichen 'entweder-oder'. Sie schlagen vielmehr ein Merkmalskontinuum von
notwendig definierenden bis hin zu nur charakteristischen vor. Damit ergibt sich ein
wesentlicher Anknüpfungspunkt an die zur gleichen Zeit entstandenen Prototypentheorie
(siehe Teil 3.3).
Das von Smith et al. entwickelte Merkmalskonzept trägt einer Reihe von Ergebnissen
aus Satzverifizierungsaufgaben Rechnung. Das Verfügbarmachen von Wortbedeutung im
semantischen Gedächtnis erfolgt nach Auffassung der Autoren in zwei Phasen. In einer
ersten Phase werden die gesamten Merkmalskonfigurationen zweier Wörter miteinander
verglichen. Bei weitgehender Ähnlichkeit kann eine schnelle Ja-Antwort, bei geringer
Ähnlichkeit eine schnelle Nein-Antwort erfolgen. Die zweite Phase setzt nur dann ein, wenn
die Merkmalskonfigurationen zweier Wörter eine mittlere Ähnlichkeit besitzen. In diesen
Fällen werden nur die definierenden Merkmale der beiden Wörter miteinander verglichen,
wobei Deckungsgleichheit zu einer positiven und Nicht-Deckungsgleichheit zu einer
negativen Antwort führt. In den beiden letztgenannten Fäll en ist die Reaktionszeit der
Testpersonen im Vergleich zu den beiden erstgenannten Fällen deutlich länger. - Ob dieser
punktuelle Befund, der zudem in nicht unerheblichem Maße vom Experimentaldesign
'Satzverifizierungsaufgabe' abhängig sein dürfte, den Anspruch der Merkmalstheorien,
psychische Realität zu rekonstruieren, bestätigt, scheint mir eher zweifelhaft. Dieser
Eindruck wird noch bestärkt durch die Annahme von Smith et al. die Dekomposition von
Wörtern in semantische Merkmale finde in allen Wortverarbeitungsprozessen statt. Dies
erscheint intuitiv wenig plausibel. Es dürfte z.B. sehr unwahrscheinlich sein, dass auf die
5
Frage 'Wie ist Ihr Name?' das Wort 'Name' in semantische Merkmale dekomponiert werden
muss, um die Frage beantworten zu können. Auch die Reaktionszeiten dürften hier so
gering sein, dass die Kompositionsprozesse höchst unwahrscheinlich sind. Plausibler
scheint hingegen die Auffassung, dass Dekomposition nur unter bestimmten Bedingungen
notwendig sei, z. B. zum Erkennen von Inklusionsverhältnissen zwischen Wörtern. Der
Anspruch der psycholinguistischen Merkmalstheorien, psychische Realität hinsichtlich der
mentalen Verarbeitung von Wortbedeutung adäquat abzubilden und zu erklären, erscheint
deshalb äußerst zweifelhaft.
3.2
SEMANTISCHE NETZWERKTHEORIEN
Die erste, in der Psycholinguistik einschlägige, Netzwerktheorie geht auf Collins und
Quillian (1969) zurück und wurde durch Forschungen zur künstlichen Intelligenz stimuliert.
Ziel dabei war es, eine Gedächtnisstruktur zu modellieren, sie in einen Computer
einzugeben und ihn dann so zu programmieren, dass er Informationen zur Beantwortung
von Fragen abrufen kann. Collins und Quillian nehmen an, dass menschliche
Informationsverarbeitung weitgehend ähnlich funktioniert wie ein Computerprogramm.
Die Grundannahme der Netzwerkkonzeption besagt, dass die Bedeutungen von
Wörtern als Einheiten in einem Netzwerk repräsentiert sind. In einem solchen Netzwerk
existieren zwei Arten von Knoten, nämlich für Konzepte und für Eigenschaften und zwei
Arten von Kanten, nämlich ist-Kanten und hat-Kanten. Die Kanten werden als Relationen
bezeichnet. Die ist-Relation verknüpft Konzepte zu einer kategorialen Hierarchie, z.B. 'ein
Rotkehlchen ist ein Vogel'. Die hat -Relation ordnet Konzepten Eigenschaften zu, z. B. 'ein
Vogel hat Flügel'. In einem Netzwerk lassen sich also Konzepte und die sie verbindenden
Relationen (Kanten) unterscheiden und klassifizieren. Eine Kante ist zusammen mit den
beiden Knoten, die sie verbindet, eine Aussage. Für einen gegebenen Knoten, z. B. 'Vogel',
gibt ein anderer Knoten, z.B. 'Flügel', zusammen mit der hat-Relation, die die beiden
Knoten verbindet, eine Eigenschaft an.
Die entscheidende Annahme hinsichtlich der mentalen Verarbeitung von
Wortbedeutung besagt, dass diese entlang der Netzwerkrelationen, also der ist- und der hatKanten, verläuft. Die Aussage 'ein Rotkehlchen ist ein Tier' sollte demnach langsamer
verifiziert werden als die Aussage 'ein Rotkehlchen ist ein Vogel', Im ersten Fall müssen
zwei Instanzen der ist-ein-Relation, nämlich 'ein Rotkehlchen ist ein Vogel' und 'ein
Rotkehlchen ist ein Tier' aufgesucht und überprüft werden. Diese Vorhersage konnten
Collins und Quillian experimentell bestätigen.
Analog stellen sich die Autoren den Verifikationsprozess bei Sätzen mit hatRelationen vor. Sie machen aber noch die spezifische Strukturannahme, dass Eigenschaften
nur einmal, und zwar bei dem hierarchisch höchsten Knoten, gespeichert sind. Dadurch
wird Speicherplatz gespart; dem Gedächtnis wird eine Tendenz zur Ökonomie - in einer
wenngleich naiven Sichtweise zugeschrieben Aussagen wie 'ein Tier hat eine Haut' sollen
6
folglich schneller verifiziert werden können als Aussagen wie 'ein Vogel hat eine Haut', da
die Eigenschaft 'hat eine Haut' bei 'Tier' und nicht bei 'Vogel' gespeichert ist. Collins und
Quillian konnten auch diese Vorhersage bestätigen, doch haben neuere Untersuchungen
gezeigt, dass Eigenschaften nicht immer nach dem von den Autoren postulierten
Ökonomieprinzip gespeichert sind. Wichtige Informationen, d.h. solche von großer
praktischer Relevanz oder Häufigkeit werden offenbar dem betreffenden Konzept direkt
zugeschrieben und nicht nur dem Oberbegriff.
Diesem und weiteren Kritikpunkten an der Konzeption von Collins und Quillian trägt
das Modell der Aktivierungsausbreitung von Collins und Loftus (1975) Rechnung. Die
Autoren modellieren, sehr ähnlich wie Collins und Quillian, die mentale Repräsentation der
Wortbedeutung als Netzwerk. Das entscheidend Neue sind die Prozessannahmen, die
Aktivierung breitet sich über das Netzwerk entsprechend den unterschiedlichen
Assoziaztionsstärken zwischen den Konzepten aus. Die Verifikation von Aussagen
geschieht über diese Aktivierungsausbreitung. Es wird ein bestimmter Schwellenwert für
die Aktivierung postuliert, wenn diese für die Verifikation wirksam sein soll. Hierbei wird
angenommen, dass die Entscheidung über die Wahrheit oder Falschheit einer Aussage wie
bei Collins und Quillian geschieht: Die in der Gedächtnisstruktur spezifizierten Relationen
zwischen den aktivierten Konzepten und Eigenschaften werden mit der im Satz behaupteten
Relation verglichen. Bei Übereinstimmung gilt der Satz als verifiziert.
Bedeutungen von Wörtern als Konzepte anzusehen, die in einem Netzwerk verankert
sind, hat sich insgesamt bewährt und zu der fruchtbaren Unterscheidung zwischen
Konzepten und sie verbindenden Relationen geführt. Dass interkonzeptuelle Relationen sich
auch als Merkmale interpretieren lassen, führt zu einer Erkenntnis, die von Hollan (1975)
geäußert wurde. Demnach sind Merkmals- und Netzwerkkonzeptionen hinsichtlich ihrer
Repräsentationsebene keine wechselseitig sich ausschließenden Alternativen, sondern eher
unterschiedliche Betrachtungsweisen derselben Sache. Ein zentrales Problem betrifft daher
beide Theorien. Es besteht in der Frage, welche interkonzeptuellen Relationen die
Bedeutung eines Wortes aus machen oder in der merkmalstheoretischen Terminologie
welche Merkmale und Merkmalsrelationen die Bedeutung eines Worten konstituieren.
3.3
DIE PROTOTYPENTHEORIE
Die Prototypentheorie wurde von der amerikanischen Psychologin Eleanor Rosch (u. a.
1973; 1977) entwickelt und greift einen Gedanken auf, den Wittgenstein in seinen
Philosophischen Untersuchungen (1953) ausgeführt hat. Nach Wittgenstein ist es häufig
nicht möglich, jene notwendigen und hinreichenden Bedingungen anzugeben, die einzelne
Wörter zu Mitgliedern einer bestimmten Gruppe werden lassen. Als Beispiel führt
Wittgenstein das Wort 'Spiel' an. Es gebe, so argumentierter, keine Menge charakteristischer
Merkmale, die allen Spielen zukommt: Nicht alle Spiele werden zu Unterhaltungszwecken
gespielt oder beinhalten ein Moment an Können, Geschicklichkeit oder Glück. Ebenso gibt
7
es Spiele, die jenseits der Kategorien des Gewinnens oder Verlierens liegen. Stattdessen
existieren einander überlappende Mengen von Ähnlichkeitsmerkmalen zwischen Spielen,
was Wittgenstein mit dem Begriff der Familienähnlichkeit bezeichnet.
Die zentrale Annahme der Prototypentheorie besagt, dass Wortbedeutungen nicht
adäquat durch eine Konfiguration semantischer Merkmale mental repräsentiert sein können;
dass sie vielmehr in Form von Prototypen gespeichert sind. Unter 'Prototyp' wird dabei das
beste, weil typischste, Beispiel einer Gruppe verstanden, dass die vorherrschenden
Ähnlichkeitsmerkmale von Mitgliedern der Gruppe maximalisiert. Unter amerikanischen
Studenten, von denen die meisten der Daten für Roschs Untersuchungen stammen, gilt z. B.
das Rotkehlchen als der prototypische Vogel. In anderen Kulturkreisen, unter anderen
klimatischen und ökologischen Bedingungen dürften andere Vogelarten prototypischen
Charakter haben.
Prototypen erfassen die Eigenschaften, die einem besonders typischen Vertreter einer
Gruppe zukommen, somit auch Eigenschaften, die nicht allen Gruppe Mitgliedern
zukommen müssen. So ist z. B. die Eigenschaft 'kann fliegen' für Vögel prototypisch,
wenngleich sie nicht für alle Vögel gilt. Strauße und Pinguine können bekanntlich nicht
fliegen. Sie sind im Gegensatz zum Prototypen, der das Zentrum der Kategorie bildet, an
der Peripherie angesiedelt. Für manche Konzepte gilt zudem, dass die Grenze zwischen
dem, was noch und was schon nicht mehr als der Kategorie zugehörig betrachtet wird,
fließend ist und somit ein Kontinuum bildet. Dies kann z.B. an Farb- oder Gradadjektiven
(z.B. ' teuer', 'groß', 'gut') anschaulich dokumentiert werden.
Mittels der Konzeption der sogenannten basic level category wird versucht, die
Prototypentheorie mit Perzeptionstheorien und Theorien des semantischen Gedächtnisses zu
verbinden. Mit Blick auf die hierarchischen Netzwerkkonzeptionen des menschlichen
Gedächtnisses stellt Rosch die Behauptung auf, dass es eine Basiskategorie irgendwo im
mittleren Teil der Hierarchie gebe, wie z.B. bei 'Maurerhammer, Hammer, Werkzeug ' oder
bei 'Fliegenpilz, Pi1z, Pflanze'. Die Exemplare der Basiskategorie - Hammer und
Pilzvereinigen mehr erkennbare, typische Eigenschaften, die die Einordnung von
Exemplaren in unterschiedliche Kategorien erlaubt, als die spezifischeren Eigenschaften
von Exemplaren der unteren Ebene (Maurerhammer, Fliegenpilz) und die weniger
spezifischen Eigenschaften von Exemplaren der oberen Ebene (Werkzeug, Pflanze).
Betrachtet man die Prototypentheorie unter der Fragestellung, inwieweit sie
psychische Realität rekonstruiert, so muss zu nächst festgehalten werden, dass diese Theorie
im wesentlichen nur Aussagen über die Repräsentation von Bedeutung trifft, nicht aber
darüber, wie Bedeutungen aus dem Gedächtnis verfügbar gemacht werden. Insofern hat sie,
im Unterschied zu den neueren Merkmals- und Netzwerktheorien, keinen ganzheitlichen
Charakter und kann von daher nicht als eine Theorie angesehen werden, die die psychische
Realität von Wortbedeutung angemessen und vollumfänglich wiedergeben und plausibel
erklären kann.
8
Die von Rosch getroffenen Aussagen über die mentale Repräsentation von
Wortbedeutung konnten indessen weitgehend experimentell bestätigt werden. Schon Berlin
und Kay (1969) haben überzeugend belegt, dass für Farbbezeichnungen universelle
Prinzipien gelten. Informanten höchst unterschiedlicher Sprachen und Kulturkreise sollten
aus der von ihnen für eine Farbbezeichnung ausgesonderten Farbtonmenge denjenigen
Farbton bestimmen, der am besten mit der Bezeichnung übereinstimmt. Berlin und Kay
stellten fest, dass zwar bei der Grenzziehung eine große Variation zu beobachten war, die
Bestimmung des 'besten Vertreters' fiel dagegen einheitlich aus. Die Farbbezeichnungen in
den verschiedenen Sprachen unterscheiden sich also im Hinblick auf die Randbereiche
desjenigen Ausschnitts aus dem Farbspektrum, das mit einem Namen belegt ist. In Bezug
auf den prototypischen Vertreter gab es jedoch keine Unterschiede.
Eine Erklärung für die prototypische Strukturierung im Bereich der
Farbbezeichnungen sieht Rosch in der Salienz, dem spezifischen perzeptuellen Reiz, den
bestimmte Farbbereiche auf das menschliche Auge ausüben. Dieser Reiz stehe in einem
kausal en Zusammenhang mit der Benennung und Erinnerung solcher Farben. Rosch konnte
experi mentell nachweisen, dass die perzeptuell herausragenden Farbbereiche tatsächlich am
leichtesten benannt und am besten erinnert werden. Eine vergleichbare prototypische
Strukturierung konnte auch für geometrische Figuren dokumentiert werden. Der
Typikalitätseffekt typische Vertreter einer Kategorie werden schneller als Elemente der
Gruppe identifiziert als weniger typische – gilt auch hier.
Schließlich deutet auch eine Reihe experimenteller Befunde auf die psychische
Realität einer basic level category hin. Verschiedene Untersuchungen haben gezeigt, dass
Objekte der Basisebene am schnellsten und am häufigsten erkannt und benannt werden, und
dass die Bezeichnung auf dieser Ebene am frühesten und am schnellsten gelernt wird.
Wie bereits ausgeführt, macht die Prototypentheorie kaum Aussagen über die Prozesse
des Verfügbarmachens von Wortbedeutung und müsste - will sie psychische Realität
rekonstruieren - um eine Prozessebene erweitert werden. Die Repräsentationsebene der
Prototypentheorie lässt sich aber relativ problemlos in neuere Konzeptionen von Merkmalsoder Netzwerktheorien inkorporieren beide tragen schließlich auch dem so wesentlichen
Typikalitätseffekt Rechnung. Eine so entstehende hybride Theorie könnte dann die Stärken
der verschiedenen beteiligten Theorien - Repräsentationebene einerseits und Prozessebene
andererseits - vereinen.
3.4
DIE THEORIE DER BEDEUTUNGSPOSTULATE
Bedeutungspostulate wurden von Carna (1952) in die Semantik eingeführt, um die
Beziehungen zwischen Wortbedeutungen zu erfassen. Es sind analytisch wahre
Implikationen , die in prädikatenlogischer Notation formalisiert werden. Auf Wörter
übertragen , kann z. B. folgendes Bedeutungspostulat aufgestellt werden:
"für alle x gilt: wenn x ein Junggeselle ist, dann ist x unverheiratet"
9
Daraus lässt sich die lexikalische Relation "Junggeselle  unverheiratet" ableiten. Die
semantische Analyse eines Wortes besteht nun darin, alle lexikalischen Relationen zu
entdecken, die es zu anderen Wörtern unterhält, und diese in Form von
Bedeutungspostulaten zu fassen, wie z. B. "Junggeselle  unverheiratet, männlich,
erwachsen etc."
Bedeutungspostulate sind nach Auffassung Bar-Hillels (1967) semantischen
Merkmalen überlegen, da letztere keine Argumente lexikalischer Einheiten beinhalten
können, wie z.B. "für alle x,y,z gilt: x verkauft y an z dann und nur dann, wenn z von x y
kauft"
Im Gegensatz zu semantischen Merkmalen können Bedeutungspostulate mit ihrer
prädikatenlogischen Notation Beziehungen konverser Art, wie sie im o.a. Beispiel gegeben
sind, mühelos erfassen. Andererseits beruhen aber Dekompositionen und
Bedeutungspostulate letztlich auf demselben, sprachlich relevanten, Wissen der Sprecher
von der Welt und stellen damit zwei Spielarten derselben definitorischen Operationen dar.
In der Psycholinguistik wurde die Konzeption der Bedeutungspostulate bisher kaum
aufgegriffen und hat fast keine empirischen Untersuchungen stimuliert (vgl. Garnhom
1985). Lediglich Kintsch (1974) sowie - besonders - Fodor (1976) und Fodor et 81. (1975)
diskutieren in größerem Rahmen di e psycho1inguistische Relevanz von Bedeutungspostul
aten. Fodor verbindet sie mit seiner Konzeption einer mentalese genannten language of
thought. Er nimmt an, dass Bedeutungspostulate beim Sprachverstehen eine wichtige Rolle
spielen.
Auf empirische Untersuchungen zur psychischen Realität von Bedeutungspostul aten
sind in der relevanten Literatur keine Hinweise zu finden. Es kann je doch festgehalten
werden, dass die Konzeption der Bedeutungspotenziale – ähnlich wie die Prototypentheorie
– keinerlei Aussagen über das Verfügbarmachen von Wortbedeutungen trifft und somit
keine Prozessebene aufweist. Während es aber recht eindeutige Hinweise dafür gibt, dass
die Repräsentationsebene der Prototypentheorie tatsächlich psychische Realität
rekonstruiert, kann ähnliches für die Bedeutungspostulate nicht angeführt werden.
3.5
DIE THEORIE DER PROZENDURALEN SEMANTIK
Die Theorie der prozeduralen Semantik wurde im Zusammenhang mit der Fragestellung wie
Sätze - also nicht Wörter - mental repräsentiert sind, entwickelt. Als Alternative zu den
Konzeptionen, die eine propositionale Repräsentation annehmen, schlägt die prozedurale
Semantik vor, Sätze über eine Menge von Prozeduren, das sind Instruktionsprogramme zur
Ausführung bestimmter Operationen, zu repräsentieren. Unser Wissen, so die Hypothese
der prozeduralen Semantik, hat zu einem wesentlichen Teil prozeduralen Charakter. Die
Operationen selbst können kognitiver und/oder perzeptueller Art sein.
10
Die Unterscheidung zwischen propositionalem oder deklarativem und prozeduralem Wissen
entspricht der zwischen "wissen dass" und "wissen wie". Wir wissen, dass Tirana die
Hauptstadt Albaniens ist, und wir wissen, wie wir unsere Schuhe zuschnüren.
Die Anhänger der prozeduralen Semantik (u . a. Miller/Johnson-Laird 1976; JohnsonLaird 1977) gehen mit Gazdar (1979) davon aus, dass die Bedeutung von Propositionen
aufs engste mit ihrem Wahrheitswert verbunden ist. Die mentale Repräsentation von
Propositionen wird modelliert als eine Menge von Prozeduren, um den Wahrheitswert der
Propositionen im Hinblick auf die in einer Situation ausgehandelten Welt zu bestimmen.
Die Repräsentation von Wörtern wird in dieser Konzeption ebenfalls über Prozeduren
modelliert. Die Instruktionsprogramme geben an, wie Wörter mit anderen Wörtern
kombiniert werden können, damit eine Äußerung Wahrheitswert besitzt.
Prozeduren als Inhalte mentaler Repräsentation anzusehen, hat sich, nach Meinung
Garnhams (1985), im Vergleich zu Merkmalen oder Bedeutungspostulate als vorteilhaft
erwiesen. Mit letzteren teilen sie die Fähigkeit, Wortbedeutungen auch über andere als
bloße und-Relationen von Eigenschaften zu erfassen. So kann z.B. die Bedeutung von
'Schwägerin' mittels einer prozeduralen Definition mühelos erfasst werden: Eine
Schwägerin ist entweder die Ehefrau des eigenen Bruders oder die Schwester der eigenen
Ehefrau. Eine solche Bedeutungsrepräsentation mittels semantischer Merkmale würde
erhebliche Probleme mit sich bringen.
Die Vorzüge von Prozeduren gegenüber Bedeutungspostulaten sind vor allem darin zu
sehen, dass die Einheiten prozeduraler Definitionen nicht notwendigerweise den Status von
Wörtern haben müssen, sondern auch über Worteinheiten hinausgehen können, wie im o.a.
Beispiel zu sehen ist.
Ähnlich wie die Konzeption der Bedeutungspostulate hat die prozedurale Semantik
bisher kaum experimentelle Erprobung erfahren. Prozedurale Wortbedeutungsanalysen sind
jedoch in zahlreiche Computerprogramme der Künstlichen-Intelligenz-Forschung
eingegangen. Die detailliertesten prozeduralen Analysen liegen mit Miller und JohnsonLaird (1976) zur Wortbedeutung, sowie mit Johnson-Laird (1982) zur Bedeutung der
Raumausdrücke 'in front of', 'behind', 'on the right' und 'on the left' vor.
Die Theorie der prozeduralen Semantik besteht - wie die der Bedeutungspostulate lediglich aus einer Repräsentationsebene. Ob sie psychische Realität rekonstruiert, ist
derzeit noch ungeklärt. Der Stellenwert, der der prozeduralen Semantik als einer Theorie der
Wortbedeutung heute zuzuerkennen sein dürfte, wird m. E. nach dadurch deutlich, dass
Johnson-Laird, einer der Exponenten dieser Theorie, kürzlich (1987) eine Konzeption
entwickelt hat, in der Prozeduren nur noch einen relativ bescheidenen Teil einer Theorie der
Wortbedeutung ausmachen.
11
4.
KRITISCHE ANMERKUNGEN ZU DEN
WORTBEDEUTUNGSTHEORIEN
Von den fünf zuvor skizzierten Theorien der Wortbedeutung kann, das ist bereits deutlich
geworden, keine beanspruchen, psychische Realität in vollem Umfang zu rekonstruieren.
Dafür sind mehrere Gründe verantwortlich zu machen. Im Folgenden sollen die sechs mir
gewichtigst erscheinenden angegeben und erläutert werden.
1.
Die Repräsentations- und die Prozessebenen der Theorien sind in sehr
unterschiedlichem Maße als adäquat zu betrachten. Aussagen zum
Verfügbarmachen von Wortbedeutung treffen lediglich einige der
Merkmalstheorien, so z .B. die von Smith et al. (1974), und die
Netzwerktheorien. Während aber die Prozessebene bei Smith et al. ohne
größere Modifikationen als wenig plausibel erscheint - es wird
behauptet, semantische Dekomposition und Merkmalsvergleich finde bei
allen Wortverarbeitungsprozessen statt-, können eine Reihe empirischexperimenteller Befunde für die von Collins und Loftus (1975)
entwickelte Konzeption einer Aktivierungsausbreitung angeführt
werden.
In Bezug auf die Repräsentationsebene ergibt sich ein weitaus
uneinheitlicheres Bild. Die neueren Merkmals- und Netzwerktheorien,
sowie die Prototypensemantik haben zumindest partiell experimentelle
Bestätigung erfahren. Der Grundgedanke der prozeduralen Semantik, ein
Teil unseres Wissens um Wortbedeutungen könne in Form von
Instruktionsprogrammen modelliert werden. Erscheint zumindest
plausibel.
2.
Abgesehen von der Prototypensemantik gehen die verschiedenen
Theorien von einer. konzeptuellen. Repräsentation aus. Paivio (u.a. 1969;
1971) hat aber bereits darauf hingewiesen, dass eine solche Vorstellung
gravierende Defizite beinhaltet. In seiner dualen Kode Theorie
unterscheidet er zwischen zwei miteinander interagierenden
Repräsentationssystemen für Wörter: einem verbalen, Konzepte
betreffenden, und einem imaginalen, mentale Abbilder der
Referenzobjekte betreffenden. Damit wird die Bedeutungskonzeption
umfassender, indem sie auf Referenzobjekte der Außenwelt bezogen
wird. Engelkamp und Zimmer (1985) schließlich postulieren darüber
hinaus ein motorisches Repräsentationssystem. Es spielt insbesondere
bei der mentalen Repräsentation von Verben eine bedeutende Rolle.
Demnach wären z.B. beim Verb 'gehen' die motorischen Teilaktivitäten
wie 'den Fuß aufsetzen, abheben' etc. repräsentiert. Eine solche
12
Konzeption mit drei interagierenden Repräsentationssystemen erscheint
plausibel. Ob sie sich in der konkreten Anwendung bewährt, muss die
Zukunft zeigen.
3.
Bis auf die prozedurale Semantik haben die skizzierte Theorien der
Wortbedeutung ausschließlich oder vorwiegend untersucht wie Nomen
mit konkreter Bedeutung mental repräsentiert sein mögen. Verben,
Adverben und Adjektive wurden kaum berücksichtigt, Nomen mit
abstrakter Denotation sind überhaupt nicht systematisch betrachtet
worden und können von den Theorien auch kaum adäquat erfasst
werden. Die prozedurale Semantik hat sich mit der Repräsentation von
konkreten Nomen, Verben, Adjektiven, räumlichen Präpositionen und
Quantoren beschäftigt. Funkt ionswörter sind zwar nicht untersucht
worden, doch dürfte ihre Bedeutung insoweit repräsentiert sein, als sie
zur gesamten prozeduralen Bedeutung eines Satzes beiträgt. Nomen mit
abstrakten Denotaten stellen indessen ein schwerwiegendes Problem für
die prozedurale Semantik dar.
4.
Die vorgestellten Theorien der Wortbedeutung sind in sehr
unterschiedlichem Maße ausgearbeitet. Die Merkmals- und
Netzwerktheorien dürften den höchsten Grad, die Theorie der
Bedeutungspostulate und die prozedurale Semantik den niedrigsten Grad
an Elaboration besitzen. Eine abschließende Beurteilung der
Wortbedeutungstheorien erscheint auch aus diesem Grund weder
sinnvoll noch möglich.
5.
Keine der Theorien berücksichtigt angemessen das von Putnam
beschriebene Phänomen, dass Wörter ohne oder mit nur partieller
Kenntnis der jeweiligen Referenten oder Denotate in der
Kommunikation benutzt werden können. In seinem 1987 vorgelegten
Theorieansatz trägt Johnson-Laird zwar diesem Phänomen Rechnung,
doch bleiben seine Ausführungen dazu zunächst noch programmatisch.
Die weitere Entwicklung und Erprobung des Theorieansatzes wird
zeigen, welcher Stellenwert dem Phänomen zuerkannt wird.
6.
Schließlich wird von keiner der Theorien angemessen berücksichtigt,
dass Wörter in kommunikativen Prozessen benutzt werden. Weder die
mentale Repräsentation noch das Verfügbarmachen betrifft einzelne,
isolierte Wörter sondern letztendlich den gesamten zwischen den
Kommunikationspartnern entfalteten Text mit seinen vielfältigen
syntaktischen, semantischen und pragmatischen Strukturen. Daraus ist
die Folgerung und zugleich Forderung abzuleiten, dass eine Theorie der
13
Wortbedeutung nicht losgelöst von Satz- und Textverarbeitungstheorien
(u.a. Rickheit/Strohner 1985; Strohner 1990) existieren kann. Eine
Wortbedeutungstheorie muss viel mehr als ein integrativer Bestandteil
einer
Theorie
der
menschlichen
Kommunikation
und
Informationsverarbeitung konzipiert werden. Sie muss - im Gegensatz zu
den vorab skizzierten Konzeptionen - nicht nur semantisches sondern
auch enzyklopädisches, pragmatisches und anderes Wissen
berücksichtigen.
Aus den bisher gemachten Ausführungen ist, so meine ich, deutlich geworden, dass eine
Theorie der Wortbedeutung, die für sich beanspruchen kann, psychische Realität
vollumfänglich zu rekonstruieren, derzeit kaum mehr als ein Desiderat darstellt. Eine solche
Theorie müsste die Einseitigkeiten und Defizite der vorgestellten Konzeptionen beseitigen
und ihre erhaltenswerten Eigenschaften in einem umfassenden, integrativen Theoriesystem
vereinigen.
14
5.
BIBLIOGRAPHIE
Bar-Hille, J. 1967: "Dictionaries and meaning rules." Foundations of Language 3, 409-414.
Berlin, B./Kay, P. 1969: Basic Color Terms: Their Universality and Evolution. Berkeley.
Carnap, R. 1952: "Meaning Postulates." Philosophical Studies 3, 65-73.
Chomsky, N. 1965: Aspects of the Theory of Syntax. Cambridge/MA.
Clark, H.H. 1970: "Word associations and linguistic theory." In : Lyons 1970, 271-286.
Collins, A. M./Quillian, M.R. 1969 : "Retrieval time from semantic memory." Journal of
Verbal Learning and Verbal Behavior 8, 240-247.
Collins, A.M./Loftus, E.P. 1975: "A spreading-activation theory of semantic processing."
Psychological Review 82, 407-428.
Engelkamp, J./Zimmer, H.D. 1985: "Das integrative Modell." In: Schwarze/Wunderlich
1985, 310-313.
Fodor, J.A. 1976 : The Language of Thought. Hassocks .
Fodor, J.A. et al. 1975: "The psychological unreality of semantic representations."
Linguistic Inquiry 6, 515-531.
Garnham, A. 1985: Psycholinguistics. Central Topics. London.
Gazdar, G.J.M. 1979: Pragmatics: Implicature, Presupposition, and Logical Form. New
York .
Gunderson. K. (ed.) 1975: Language, Mind, and Knowledge. Minneapolis.
Hollan, J.D. 1975: "Features and semantic memory: set-theoretic or network model?"
Psychological Review 82, 154-155.
Johnson-Laird, P.N. 1977: "Procedural semantics." Cognition 5, 189-214.
Johnson-Laird, P.N. 1982: "Propositional representations, procedural semantics, and mental
models." In : Mehler et al. 1982, 111-131.
Johnson-Laird, P.N. 1987 : "The mental representation of the meaning of words." Cognition
25, 189-211.
Katz, J.J./Fodor, J.A. 1963: "The structure of a semantic theory." Language 39, 170- 210.
Katz, J.J./Postal, P.M. 1964: An Integrated Theory of Linguistic Descriptions.
Cambridge/MA.
Kilbansky, R. (ed.) 1968: Contemporary Philosophy: A Survey. Firenze.
Klntsch, W. 1974: The Representation of Meaning in Memory. Hillsdale/NJ.
Lörscher, W. 1991: Translation Performance, Translation Process, and Translation
Strategies. A Psycholinguistic Investigation. Tübingen.
Lyons, J. (ed.) 1970: New Horizons in Linguistics. Harmondsworth.
15
Mehler, J. et al. (eds.) 1982: Perspectives on Mental Representation: Experimental and
Theoretical Studies of Cognitive Processes and Capacities. Hillsdale/NJ.
Miller, G.A./Johnson-Laird, P.N. 1976: Language and Perception. Cambridge.
Montague , R. 1968: "Pragmatics." In: Kilbansky 1968, 102-121.
Montague, R. 1970: "Pragmatics and intensional logic." Synthese 22, 68-94 .
Paivio, A. 1969: "Mental imagery in associative learning and memory." Psychologica1
Review 76, 241-263.
Paivio, A. 1971: Imagery and Verbal Processes. New York.
Putnam, H. 1970: "Is semantics possible?" Metaphilosophy 1, 187-201.
Putnam, H. 1975: "The meaning of 'meaning' " In: Gunderson 1975, 131-193.
Rickheit, G./Strohner, H. (eds.) 1985: "Psycholinguistik der Textverarbeitung." Studium
Linguistik 17/18, 1-78.
Rasch, E. 1973: "Natural categories." Cognitive Psychology 4, 328-350.
Rosch, E. 1977: "Human categorization." In: Warren 1977, 3-49.
Schaeffer, B./Wallace, R. 1969: "Semantic similarity and the comprehensions of word
meanings." Journal of Experimental Psychology 82, 343-346.
Schwarze, Ch./Wunder1ich. D. (eds.) 1985: Handbuch der Lexikologie. Königstein/Ts.
Smith. E.E. et al. 1974: "Structure and process in semantic memory: a featural model for
semantic decisions." Psychological Review 81, 214-241.
Steinberg, D.D. 1970: "Analyticity, amphigory, interpretation of sentences." Journal of
Verbal Learning and Verbal Behavior 9, 37-51.
Strohner, H. 1990: Textverstehen: kognitive und kommunikative Grundlagen der
Sprachverarbeitung. Opladen.
Tulving, E. 1972: "Episodic and semantic memory." In: Tulving/Donaldson 1972, 381-403.
Tulving, E./Donaidson, W. (eds.) 1972: Organization of Memory. New York.
Warren, N. (ed.) 1977: Advances in Crosscultural Psychology. Vol. 1. London.
Wittgenstein, L. 1953/1967: Philosophical Investigations./Philosophische Untersuchungen.
Oxford/Frankfurt a.M.
16
Abstract
In the first part of this article general considerations are made as regards the psychological
reality of word meaning. Psychological reality is defined here as i. the way(s) word meaning
is stored in memory, and ii. the way(s) word meaning is retrieved from memory within the
processes of language use. Based on general findings about word meaning and information
processing provided by psychology, linguistics, artificial intelligence, and other disciplines,
essential requirements which a psycholinguistic theory of word meaning must fulfill are
formulated. The five different theories of word meaning discussed in the second part of the
article are critically evaluated in light of these requirements. It becomes obvious that no
single theory can fully and adequately capture the psychologica1 reality of word meaning.
In the concluding part, the deficits of the theories are considered ·and arguments for a
broader, integrative approach to word meaning are advanced.
17
Herunterladen