34 6 I. Zahlen, Konvergenz und Stetigkeit Exponentialfunktion und Logarithmus 6.1 Wachstumsprozesse. a) Bei einem Zinssatz von α > 0 (z. B. α = 0, 04 ) pro Jahr vermehrt sich ein Kapital K ohne Zinseszinsen innerhalb von t Jahren auf K (1 + αt) . Hat man in dieser Zeit dagegen zwei Zinstermine, so vermehrt sich K ) (1 + αt ) , bei dreien auf K (1 + αt )3 . Allgemein vermehrt sich das auf K (1 + αt 2 2 3 Kapital bei n ∈ N Zinsterminen auf den Betrag Kn (t) = K (1 + αt n ) n (1) . Analoges gilt etwa bei biologischen Wachstumsprozessen (mit meist viel größerem α ) oder beim radioaktiven Zerfall (mit negativem α ). b) Mit n → ∞ erhält man den Idealfall der stetigen Verzinsung“ ” K(t) = K exp (αt) (2) mit der Exponentialfunktion exp (x) := lim (1 + nx )n , n→∞ x ∈ R. (3) Die Existenz dieses Grenzwertes ist nicht offensichtlich. c) Nach (2) wächst das Kapital K in t1 Jahren auf den Betrag K exp (αt1 ) , dieser in weiteren t2 Jahren auf K exp (αt1 ) exp (αt2 ) . Dies stimmt natürlich mit dem Betrag K exp (α(t1 + t2 )) überein, auf den K in (t1 + t2 ) Jahren wächst. Folglich sollte für die Exponentialfunktion die folgende Funktionalgleichung gelten: exp (x1 + x2 ) = exp (x1 ) · exp (x2 ) , x1 , x2 ∈ R . (4) 6.2 Satz und Definition. Die Exponentialfunktion exp : R 7→ R wird definiert durch exp (x) := ∞ P k=0 xk k! = n→∞ lim (1 + nx )n , x ∈ R. (5) Beide Grenzwerte in (5) existieren, und es gilt die Funktionalgleichung (4). Ein Beweis ist bereits jetzt möglich (vgl. [K1], Abschnitt 11), aber etwas mühsam. Er wird uns später leichter fallen. 6.3 Die Eulersche Zahl e wird definiert als e := exp (1) = ∞ P k=0 Für En := n P k=0 1 k! 1 k! = n→∞ lim (1 + n1 )n . gilt die Abschätzung En ≤ e ≤ En + (6) 1 n·n! , und diese liefert bereits mit n = 35 die Eulersche Zahl e auf 40 Stellen genau: e = 2, 7182818284590452353602874713526624977572 . . . . 6 Exponentialfunktion und Logarithmus 35 6.4 Abschätzungen für Fakultäten. a) Man hat n n 3 ≤ n! ≤ n n 2 , n ≥ 6. (7) Dies folgt induktiv mittels 2 ≤ (1 + n1 )n ≤ 3 . b) Der richtige“ Nenner in (7) ist e . In der Tat gilt die Stirlingsche Formel (vgl. ” [K1], 36.13) 1 ≤ √ n! 1 ), ≤ exp ( 12n 2πn · e−n · nn n ∈ N. (8) c) Für n = 100 etwa liefern (7) bzw. (8) 1, 9403 · 10152 ≤ 9, 33262154 · 10157 ≤ 7, 88861..... · 10169 9, 3248 · 10157 ≤ 9, 33262154 · 10157 ≤ 9, 33262157 · 10157 . d) Verschärfungen von (8) findet man in [K1], 41.13. 6.5 Satz. a) Es ist exp(0) = 1 und exp(x) ≥ 1 + x für x ≥ 0 . b) Es gilt exp(−x) = (exp(x))−1 und exp(x) > 0 für x ∈ R . c) Es gilt die Ungleichung | exp(x) − 1 | ≤ (e − 1) | x | für | x | ≤ 1 . (9) d) Man hat lim exp(x) = 0 und exp(x) → +∞ für x → +∞ ; genauer gelten x→−∞ sogar die Aussagen ∀ n ∈ N0 : xn exp(x) x→+∞ lim = 0, lim xn exp(x) = 0 . x→−∞ (10) Die erste Aussage von (10) ist im wesentlichen äquivalent zu (4.9). 6.6 Satz. Die Exponentialfunktion exp : R → (0, ∞) ist stetig, streng monoton wachsend und bijektiv. 6.7 Definition. Die Umkehrfunktion der Exponentialfunktion exp : R → (0, ∞) heißt Logarithmus log : (0, ∞) → R . 6.8 Satz. Der Logarithmus log : (0, ∞) → R ist stetig, streng monoton wachsend und bijektiv. Es gilt die Funktionalgleichung log(xy) = log x + log y für x, y > 0 . (11) Speziell gilt log 1 = 0 , log e = 1 und log x → −∞ für x → 0+ , log x → +∞ für x → +∞ . (12) 36 I. Zahlen, Konvergenz und Stetigkeit 6.9 Beispiel. Für M, α > 0 bezeichne x(t) := M exp(−αt) die Masse einer zerfallenden (z. B. radioaktiven) Substanz zur Zeit t ≥ 0 . Die Halbwertszeit T des Zerfallsprozesses wird durch die Forderung x(T ) = 1 2 · x(0) (13) bestimmt. Dies bedeutet M exp(−αT ) = M 2 , also −αT = log 21 = − log 2 oder α T = log 2 . (14) Aufgrund von (4) ergibt sich nun, daß die zu irgendeinem Zeitpunkt t ≥ 0 vorhandene Masse x(t) in der Zeitspanne T auf die Hälfte 12 · x(t) fällt: x(t + T ) = M exp(−α(t + T )) = exp(−αT ) M exp(−αt) = 1 2 · x(t) . 6.10 Reelle Potenzen. a) Für festes a > 0 erhält man durch Iteration von (4) an = (exp(log a))n = exp(n log a) für n ∈ N . b) Weiter gilt für m ∈ N auch (exp( m1 log a))m = exp(m · √ m a = exp( m1 log a) . 1 m log a) = a , also c) In der elementaren Potenzrechnung definiert man √ √ 1 n n für n, m ∈ N . a /m := m an = ( m a)n , a− /m := n/ a m Wegen exp(−x) = (exp(x))−1 gilt also ar = exp(r log a) für a > 0 und r ∈ Q . d) Für a > 0 und b ∈ R definiert man daher ab = exp(b log a) . (15) e) Für a = e erhält man speziell exp(x) = ex , x ∈ R; (16) dies erklärt den Namen Exponentialfunktion für exp . Ab jetzt wird meist die Bezeichnung ex statt exp(x) verwendet. f) Nun werden die Funktionen expa : x 7→ ax , x ∈ R , pα : x 7→ xα , x > 0 , ( für a > 0) , (17) ( für α ∈ R) (18) betrachtet. Diese sind aufgrund von 5.6 stetig. Die Funktion pα ist streng monoton wachsend für α > 0 und streng monoton fallend für α < 0 . Weiter gilt lim xα = 0 x→0+ für α > 0 . (19) Mit 0α := 0 für α > 0 ist also pα : [0, ∞) 7→ R stetig. Weiter hat man lim+ xα log x = 0 , x→0 log x = 0 x→∞ xα lim für α > 0 . (20) 6 Exponentialfunktion und Logarithmus 37 6.11 Wachstumshierarchien. Die in 4.13 diskutierte Wachstumshierarchie“ für ” Folgen kann nun verfeinert werden; sie wird hier für Funktionen formuliert. Die Funktion g : [a, ∞) 7→ R strebt schneller gegen +∞ als f : [a, ∞) 7→ R , falls lim f (x) = 0 gilt. In der folgenden Liste strebt jede Funktion schneller nach +∞ x→+∞ g(x) als die vorhergehende: a) (log log x)α , α > 0 ; c) xγ , γ > 0 ; b) (log x)β , β > 0 ; d) exp(δ xη ) , δ, η > 0 . Dies folgt sofort aus oder analog zu (10) und (20). Bei den Funktionen in d) wird das Wachstum primär von η bestimmt; erst bei gleichen η spielt δ eine Rolle. Zwischen den Typen b) und d) liegen die Funktionen exp(γ (log x)σ ) , γ, σ > 0 , wobei c) genau den Fall σ = 1 beschreibt. Die Funktion xx = ex log x liegt zwischen den Funktionen eδx und exp(δ xη ) mit η > 1 . 6.12 Spezielle Grenzwerte. Es gelten die Aussagen ex − 1 = 1, x→0 x √ lim n ( n x − 1) = log x , lim n→∞ (21) x > 0. (22)