Gastvorlesung an der Katholischen Fakultät der Universität Tübingen Die Rezeption des Zweiten Vatikanischen Konzils in der Ökumene: ein evangelischer Beitrag Von André Birmelé, Strasbourg Rezeption ist ein komplexer Vorgang. Einige Jahre nach dem II Vatikanischen Konzil hat Yves Congar folgendes Verständnis der Rezeption vorgeschlagen, ein Verständnis, das heute in Kirche und Theologie weitgehend übernommen wird: „Unter Rezeption verstehen wir den Prozess, in welchem eine kirchliche Tradition sich eine Wahrheit aneignet, die sie sich nicht selbst gegeben hat, die sie jedoch anerkennt und als Glaubensformulierung übernimmt. Zur Rezeption gehört noch manch anderes als was die Scholastiker unter Gehorsam verstehen. Für letztere ist sie der Akt, durch den ein Untergebener seinen Willen und seinen Wandel nach den legitimen Vorschriften eines Vorgesetzten aus Respekt vor dessen Autorität ausrichtet. Die Rezeption ist nicht einfach die Verwirklichung der Beziehung secundum sub et supra; sie umfasst einen besonderen Beitrag der Zustimmung, eventuell der Beurteilung, in dem sich das Leben eines Wesens ausdrückt, das aus eigenen geistlichen Quellen schöpft.“1 Die Rezeption des Konzils und seiner Texte ist solch ein Prozess. Er geschieht zunächst innerhalb der (römisch-)katholischen Kirche. Dieser Prozess ist polymorph und verlangt Zeit.2 Er ist noch längst nicht abgeschlossen. Auch eine Zeit von 40 Jahren reicht nicht aus, um diese Rezeption in ihrer Fülle bewerten zu können. Wie wurde das Konzil in den evangelischen Kirchen rezipiert? Hält man sich an das Verständnis Congars, so kann man, im Blick auf die reformatorischen Kirchen, nicht von einer direkten Rezeption sprechen, da die aus der Reformation hervorgegangenen christlichen Familien nicht in der Pflicht sind, die vom Konzil bestimmten Wahrheiten zu rezipieren. Es war ja nicht ihr Konzil. Doch ist auch für diese Kirchen das II. Vatikanum ein entscheidendes Moment in der Kirchengeschichte der zweiten Hälfte des XX. Jahrhunderts. Sie haben es hauptsächlich „indirekt“ rezipiert. Man 1 Y. Congar, La « réception » comme réalité ecclésiologique, in: RSPhTh 56 (1972) 369403, hier: 370. 2 Siehe z.B.: G. Routhier: La reception d’un concile, Paris 1993. 1 könnte gewiss Momente und Ansätze des Konzils nennen, die auch für evangelische Kirchen direkt relevant waren wie z.B. der katholische Versuch den Herausforderungen der Zeit gerecht zu werden, um zu einem besseren Zeugnis in der säkularisierten Gesellschaft zu gelangen. Das Bemühen um ein Aggiornamento, einer größeren Öffnung zur Welt und zu den Religionen, wurde von allen Christen mit Interesse verfolgt, da sich ja diese Fragen in allen christlichen Familien stellen. Noch wichtiger für die zwischenkirchlichen Beziehungen waren aber andere Ansätze. Die großen Konzilsentscheide, die neuen theologischen Orientierungen und kirchlichen Reformen haben den Katholizismus grundlegend verändert. Durch das Konzil öffnete er sich für den Dialog mit anderen christlichen Traditionen. Solch eine Entwicklung hat notwendigerweise Konsequenzen für alle christlichen Familien. Auch wenn die volle Gemeinschaft noch nicht gegeben ist, so betrifft doch solch ein Ereignis im Leben eines Partners auch alle anderen Partner. Unser Interesse gilt der heutigen Situation, 40 Jahre nach dem Konzil. Wir werden uns nicht näher einlassen auf die Art und Weise wie das Konzil von den evangelischen Beobachtern, die daran teilgenommen haben, wahrgenommen wurde. Dies wurde mehrmals dargelegt und untersucht.3 Es soll vielmehr in einem ersten Schritt darum gehen, die Gegebenheiten festzuhalten, die sich, 40 Jahre danach, als Durchbrüche des Konzils erweisen, die das Verhältnis der reformatorischen Traditionen zur römischen Kirche grundlegend verändert haben. In einem zweiten Teil sollen die durch das Konzil entwickelten ekklesiologischen Fortschritte angesprochen werden, die auch für die evangelischen Kirchen zu Herausforderungen wurden. In einem dritten Teil geht es dann um die schwierigere – aber wichtige – Frage wie ein lutherischer Theologe die derzeitige Rezeption des Konzils im Katholizismus versteht und bewertet. I. Wichtige Durchbrüche, die neue Beziehungen ermöglichten Der evangelische Beobachter wird heute insbesondere zwei Entwicklungen hervorheben, die eine neue Beziehung der reformatorischen Kirchen zur römischen Kirche eröffnet haben. 3 Ich erlaube mir, auf eine eigene Studie hinzuweisen: A. Birmelé: Le Concile Vatican II vu par les observateurs des autres traditions chrétiennes. In : J. Doré – A. Melloni (Hg.): Volti di fine Concilio. Studi di storia e teologia sulla conclusione del Vaticano II, Bologna 2001, 225-264. 2 1. Das katholische Eintreten in die Ökumene und in die ökumenische Bewegung Es gab gewiss vor dem Konzil gewisse Ansätze. Denen standen jedoch eine ganze Reihe von deutlichen Absagen gegenüber, wie die bekannte Enzyklika Mortalium Animos, die 1928 als Antwort auf die erste Vollversammlung von Glaube und Kirchenverfassung (Lausanne 1927) jegliche katholische Beteiligung an ökumenischen Entwicklungen untersagte. So war der Durchbruch, den am 21. November 1964 das Ökumenismusdekret leistete, alles andere als selbstverständlich. Unitatis Redintegratio wurde – nicht nur in den reformatorischen Kirchen aber auch dort – als erste konkrete Umsetzung des neuen ekklesiologischen Verständnisses verstanden, welches das gleiche Konzil in der dogmatischen Konstitution über die Kirche, Lumen Gentium, der katholischen Kirche gegeben hatte. Der evangelische Theologe wird insbesondere drei wichtige neue Orientierungen festhalten. Sie wurden durch 40 Jahre Dialog weitgehend bestätigt, sowohl in den bilateralen Dialogen, die sofort nach dem Konzil begannen, wie auch in der multilateralen Arbeit von Glaube und Kirchenverfassung, an welcher sich die katholische Kirche nach dem Konzil voll beteiligte auch wenn sie weiterhin nicht Mitglied des Ökumenischen Rates der Kirche ist. 1. Die klassische bellarminische Identifizierung zwischen der Kirche Jesu Christi und der (römisch-)katholischen Kirche wurde dahingehend verändert, dass nun behauptet wurde, dass die Kirche Jesu Christi in der katholischen Kirche verwirklicht ist – das subsistit in von LG 8. Diese kleine Veränderung ist grundlegend, denn die Nicht-Gleichsetzung von Kirche Jesu Christi und katholischer Kirche bedeutet, dass es die Kirche Jesu Christi auch außerhalb der katholischen Kirche geben kann, auch wenn letztere sich auch weiterhin als einzige volle Gestalt der wahren Kirche versteht (UR 3 und 4). So kann das Ökumenismusdekret auch von anderen „christlichen Kirchen“ sprechen, ein vor dem Konzil unvorstellbarer Tatbestand. Das Dekret bleibt vorsichtig und spricht nur die orthodoxen Kirchen als Kirchen an, die reformatorischen Kirchen hingegen sind „christliche Gemeinschaften“. Der Schritt ist jedoch entscheidend. Die bisherigen „Häretiker“ wurden zu „getrennten Brüdern“ mit denen eine neue Gemeinschaft anzustreben ist, auch wenn die katholische Kirche weiterhin 3 sehr vorsichtig blieb, im Blick auf die ekklesiale Qualität der anderen christlichen Familien. 2. Eine zweite wichtige Entwicklung, die dieses Dekret leistete, war das Einfügen des Gedankens einer „Hierarchie der Wahrheiten“ (UR 11). Nicht alle biblischen Wahrheiten stehen auf ein und derselben Ebene. So muss es auch nicht in allen Lehraussagen eine volle Übereinstimmung geben. Einige sind wichtiger als andere und verlangen nach Einstimmigkeit, andere hingegen können der Ort einer legitimen Vielfalt sein. Das Konzil lehrt „dass es … zur Wiederherstellung oder Erhaltung der Gemeinschaft und Einheit notwendig sei, ‘keine Lasten aufzuerlegen, die über das Notwendige hinausgehen’ (Apg 15,28)“ (UR18). Eine der Hauptaufgaben der ökumenischen Bewegung bestand und besteht darin, das „Notwendige“ zu definieren und die von einer Tradition zur anderen oft sehr unterschiedlich verstandenen „Hierarchien“ zu harmonisieren. Diese Arbeit ist längst nicht abgeschlossen. Das Ökumenismus Dekret hat eine wichtige Tür geöffnet: die Einheit verlangt keine Einstimmigkeit, sie umfasst und befürwortet eine legitime Vielfalt. 3. Eine dritte neue Perspektive ist die Behauptung der notwendigen und steten Reform der Kirche. Die Kirche „ist zugleich heilig und stets der Reinigung bedürftig“ (LG 8). Man spricht nicht mehr von der makellosen katholischen Kirche wie dies Papst Pius XII. in seiner Enzyklika Mystici Corporis 1943 noch tat. Das Dekret spricht gewiss nicht von den Fehlern der Kirche selbst, diese jedoch ist in ihren „Gliedern der Sünde ausgesetzt“ (LG 3). Der Grund der Trennung liegt nicht nur bei den anderen. Alle Kirchen bedürfen der Erneuerung, alle müssen sich bekehren, sich einander annähern, gemeinsam beten, damit in einer erneuerten Kirche alle die von Gott geschenkte Einheit erleben (UR 5 bis 12). Diese drei neuen Orientierungen waren das Zeichen eines neuen katholischen Selbstverständnisses. Bisherige Verhärtungen eines eher bellarminischen Kirchenverständnisses schienen sich aufzulösen. Die Rahmenbedingungen für ein mögliches Gespräch mit anderen waren gegeben. Dies ist der erste Durchbruch des Konzils, der in den reformatorischen Kirchen rezipiert wurde: diese haben diese Entwicklung nicht nur zur Kenntnis genommen sondern sich auf das Angebot eingelassen. 4 2. Die Dialoge und ihre Ergebnisse Dieser Durchbruch hatte eine bisher noch nie gekannte Zeit des Dialogs zur Folge. Diese Dialoge und ihre Ergebnisse bilden den zweiten Aspekt der Konzilsrezeption. Auch wenn manche „offene Fragen“ weiterhin ungeklärt sind, haben doch diese Dialoge alle kirchlichen Identitäten „verschoben“. Als vorläufiger Abschluss dieser 40 Jahre Dialoge kann die „Gemeinsame Erklärung zur Rechtfertigungslehre“ (GE) verstanden werden. Sie wurde im Oktober 1999 in Augsburg durch die katholische Kirchen und die lutherischen Kirchen unterzeichnet.4 Diese GE besiegelt, den seit über 30 Jahren von den Theologen festgestellten Konsens:5 Es besteht zwischen den katholischen und lutherischen Traditionen eine Übereinstimmung im Verständnis des Heils. Solch eine Erklärung wäre ohne das II. Vatikanische Konzil undenkbar gewesen. Das Konzil hat an vielen Stellen neue christologische Akzente gesetzt: den Tod und die Auferstehung Jesu Christi zum Heil der Welt, das aus Gnade allein dem Gläubigen geschenkte neue Leben betont – die Elemente, die man in den reformatorischen Kirchen als den articulus stantits et cadentis ecclesiae versteht. Auch wenn evangelischerseits bisher nur die Lutheraner die GE unterzeichnet haben, so ist doch dieser Durchbruch entscheidend für alle reformatorischen Kirchen. Ohne nun auf Einzelheiten der GE einzugehen, gilt es festzuhalten, dass seit 1999 beide Traditionen offiziell erklären, dass die andere Gemeinschaft das gleiche Heil in Christus verkündet. Dieser Durchbruch ist eine direkte Konsequenz der erwähnten Ansätze des Konzils. Es handelt sich dabei nicht nur um die Frage des Heils sondern um die Rezeption und Umsetzung der methodologischen Öffnungen, die durch das Konzil im Katholizismus ermöglicht wurden. 1. Die Unterschrift der GE bedeutet eine neue Beziehungsqualität zwischen zwei Familien. Die Zeit des gegenseitigen Ausschlusses ist vorbei. Nun hat man es mit zwei Gemeinschaften zu tun, die sich auf einen gleichen Grund berufen und sich dies offiziell bestätigen. Auch wenn noch so 4 Deutscher Text der GE: Texte aus der VELKD 87/1999, herausgegeben durch das lutherische Kirchenamt Hannover; vgl. auch DH 5073f.; 5081 (40. Aufl.). 5 Siehe die vorausgegangenen Berichte der internationalen lutherisch – römischkatholischen Kommission die bereits 1972 im Maltabericht von einem „weitreichenden Konsens“ spricht. Dieser wird mehrmals überprüft und behauptet in den weiteren Texten der Kommission und auch in der Arbeiten von nationalen Kommissionen sowohl in Deutschland (Lehrverurteilungen kirchentrennend?) wie auch in den USA. 5 manches Hindernis auf dem Weg zur Kirchengemeinschaft besteht, so sind doch die Voraussetzungen ganz anders als bisher. Da wo bisher Trennung als Ausgangspunkt stand, steht von nun an ein Konsens im Heilsverständnis. Dieser Konsens wurde von den Kirchen offiziell ratifiziert. Zum ersten Male in der Geschichte der reformatorisch-katholischen Beziehungen ist ein Vorschlag einer Dialoggruppe von den Kirchenleitungen und Synoden der jeweiligen Partner verabschiedet worden. Dies sollte nicht unterbewertet werden. 2. Die GE behauptet nicht, dass die Verständnisse der beiden Partner nun identisch – im Sinne von deckungsgleich – wären. Lutheraner und Katholiken schlagen keine einheitliche Formulierung vor. Konsens ist nicht Vereinheitlichung. Der Konsens duldet nicht nur den Unterschied sondern schließt ihn ein. Nach einer gemeinsamen Aussage und den biblischen Ausführungen behandelt die GE die 7 Punkte, die traditionell zu Lehrverurteilungen zwischen den beiden Familien geführt haben. Für jeden dieser Punkte werden zunächst das Gemeinsame und danach die verschiedenen Akzente genannt. Ein gemeinsames Grundverständnis (GE 14-17) führt zu besonderen Akzenten, die weiterhin lutherische und katholische Verständnisse voneinander unterscheiden. Dabei wird deutlich „dass die weiterhin unterschiedlichen Entfaltungen nicht länger Anlass für Lehrverurteilungen sind“ (GE 5, vgl. GE 40). Die Einheit kennt eine gewisse (legitime) Verschiedenheit in den Lehrformulierungen. 3. In seiner Eröffnungsrede des Konzils hatte Papst Johannes XXIII. am 11. Oktober 1962 vorgeschlagen, zwischen der unantastbaren und unveränderlichen „offenbarten Wahrheit“ und den verschiedenen „Formulierungen“ zu unterscheiden, die sie im Laufe der Jahrhunderte angenommen hat: „Eines ist in der Tat der Glaubensschatz selber, das heißt die in unserer verehrungswürdigen Lehre enthaltenen Wahrheiten, ein anderes ist die Form, unter der diese Wahrheiten verkündet werden, wobei sie jedoch denselben Sinn und dieselbe Tragweite bewahren.“6 Die Behauptung, dass die geschichtliche Kontinuität der Kirche in der Substanz ihrer Botschaft und nicht in den Formulierungen dieser Botschaft gründet, eröffnete eine neue Epoche. In der Geschichte getroffene Formulierungen der Wahrheit können im Dialog hinterfragt werden. Es kann Situationen geben, wo die gleiche Wahrheit anderer Formulierungen bedarf. Dieser 6 Zweites Vatikanisches Konzil, 1. Sitzungsperiode (Dokumente, Texte, Kommentare), Osnabrück 1963, 9-22. 6 hermeneutische Ansatz des Papstes Johannes XXIII. wird an manchen Stellen des II. Vatikanums umgesetzt. Im ökumenischen Dialog ist der deutlichste Niederschlag die erwähnte GE. Die letzten Schlussfolgerungen dieser Entwicklung sind noch längst nicht gezogen. Solch ein Ansatz hat nicht mit Höflichkeit oder Kompromiss zu tun. Es geht um die Grundüberzeugung, dass eine gleiche Sache in verschiedenen Sprachgestalten ausgedrückt werden kann. Die reformatorischen Kirchen begrüßen diesen Durchbruch und sind bereit zu neuen konkreten Umsetzungen dieses Ansatzes des Konzils. Im Augenblick fällt es Rom nicht leicht, besonders im Bereich der Ekklesiologie andere Gestalten als wahren Ausdruck des einen Glaubens anzuerkennen. In der Heilslehre war dies möglich. Es sollte auch in anderen Bereichen möglich sein. Das II. Vatikanische Konzil hat hier eine Tür geöffnet. II. Das Konzil der ekklesiologischen Klärungen Das II. Vatikanum hat ein erneuertes Kirchenverständnis entwickelt, den Communio-Gedanken hervorgehoben, die Kirche als Volk Gottes verstanden, die Eucharistie neu betont, das Amt auf das Bischofsamt zentriert, eine Liturgiereform eingeleitet. Innerhalb des Katholizismus ist die Rezeption dieser Entwicklungen auch in diesem Bereich noch längst nicht abgeschlossen, wie die vielen Debatten innerhalb dieser Tradition belegen. Auch wenn die reformatorischen Kirchen nicht direkt angesprochen waren, so stellen doch diese ekklesiologischen Entwicklungen auch für letztere eine Herausforderung dar, denn auch sie waren in den vergangenen Jahrzehnten gezwungen, ihr Kirchesein neu zu klären. Es hat wohl kaum eine Zeit in der Geschichte gegeben, wo die Ekklesiologie in den evangelischen Kirchen so eifrig diskutiert wurde wie in den letzten 40 Jahren. Dass das II. Vatikanische Konzil auch dazu beigetragen hat, ist unbestritten. Daher kann die weitreichende Debatte über ekklesiologische Fragen, die in den letzten Jahren in allen Kirchen geführt wurde, als Moment der Rezeption des II. Vatikanums verstanden werden. Dabei geht es um zwei Dinge: die Verdeutlichung sowohl des Konsenses wie der bleibenden Divergenzen im Dialog der reformatorischen Kirchen mit Rom und die ekklesiologischen Entwicklungen im innerreformatorischen Raum. 7 1. Konsens und Divergenzen im Dialog Dass ekklesiologische Fragen zum Mittelpunkt des Dialogs zwischen der katholischen und den reformatorischen Kirchen werden würden, war zunächst nicht selbstverständlich. Es waren ja andere Themen, die im 16. Jahrhundert die Trennung verursachten, Themen wie die Frage nach der Schrift und ihrem Gebrauch oder das Heilsverständnis. Diese Fragen wurde lange Zeit als die größten zwischenkirchlichen Hindernisse angesehen. In den neueren Dialogen erwiesen sie sich schnell als sekundäre Probleme neben den Fragen der Eucharistie, der Ämter und dem Verständnis der Kirche im Heilsplan Gottes. Man stellte bald fest, dass die weiterhin bestehenden Divergenzen, die so genannten „offenen Fragen“, hauptsächlich dem Bereich der Ekklesiologie zuzuordnen sind. Man hat sich ihnen nicht ohne Grund zugewandt. Die bilateralen und multilateralen Dialoge wurden zu Anfragen an die Kirchenverständnisse aller Traditionen. Auch wenn diese auch heute noch der Ort von kirchentrennenden Unterschieden sind, so konnte doch der Dialog so manche Missverständnisse überwinden und auch die Konsense im Bereich der Ekklesiologie deutlich machen. Die Ekklesiologie des II. Vatikanums bildete dafür den Hintergrund: 1. Man muss zunächst von dem vorhandenen Konsens ausgehen, der sich im Dialog immer deutlicher herausstellt. Alle Traditionen bekennen mit den altkirchlichen Glaubenssymbolen die una, sancta, catholica et apostolica ecclesia. Sie ist Werk des Heiligen Geistes und eine zentrale Aussage des Glaubens. Sie ist nicht nur eine Versammlung von Menschen, „eine Gesellschaft von Bekehrten“. Sie ist Leib Christi und hat ihr Ziel nicht in sich selbst. Sie gründet auf Christus, dem inkarnierten Gotteswort, und wird durch Ihn erhalten. Er steht der Kirche gegenüber, sie verfügt nicht über Ihn. Die Kirche ist die Gemeinschaft der Gläubigen. Auch wenn das NT den Begriff der koinônia (communio) nicht direkt auf die Kirche anwendet, so ist doch dieser für das Konzil zentrale Begriff der Begriff, der für die reformatorische Ekklesiologie immer zentral war, die ekklesiologische Grundaussage schlechthin: koinônia beschreibt das neue Verhältnis zwischen Gott und dem Gläubigen und deshalb die Gemeinschaft unter den Gläubigen. Indem sie durch die Taufe an Tod und Auferstehung Christi teilhaben (Röm 6), die Eucharistie feiern (1 Kor 10 u.11) und durch das Glauben weckende Wort ergriffen werden (Röm 10, 14f.), werden die 8 Christen zu einem Leib, dem Leib Christ, der Kirche zusammengefügt. Das neue Verhältnis zu Gott ist zugleich Eingliederung in die kirchliche Gemeinschaft, in die Kirche, welche ein neues Verhältnis unter Gläubigen mit einschließt. Dies führt nicht dazu, dass die Kirche eine spirituelle, abstrakte Sache wäre. Dieser geglaubten Kirche entspricht eine gelebte Kirche in ihren vielfältigen sozialen, ethnischen, historischen und geographischen Ausdrücken. Sie lebt im sozialen Gefüge des Alltags und nimmt dort ihr Amt wahr. Als Geheimnis Gottes hat sie sowohl eine göttliche wie auch eine menschliche Gestalt. Die kurze Auflistung einiger ekklesiologischer Grundaussagen ist notwendig um den weitreichenden Konsens auch in der Ekklesiologie zu verdeutlichen. Nur auf diesem Hintergrund lassen sich die noch offenen Fragen verstehen. So ein Konsens wäre vor dem Konzil undenkbar gewesen. 2. Auch die schwierigen, weiterhin trennenden Fragen im Bereich der Ekklesiologie wurden aufgrund der Entfaltungen des II. Vatikanums deutlicher. Die wichtigste Frage ist wohl die des Verständnisses der Natur der Instrumentalität der Kirche im Heilsplan Gottes. Dabei handelt es sich weder um das Wortverständnis, noch um das Sakramentsverständnis noch um die Heilsfrage und letztlich auch nicht um die Amtsfrage als solche, sondern um die Art und Weise, in welcher Gott die Kirche braucht als instrumentum für das Heil der Menschen. Das französische Comité mixte catholique protestant formulierte dies 1987 auf folgende Weise: „Die Divergenz betrifft nicht die Instrumentalität der Kirche in der Vermittlung des Heiles, sondern die Art dieser Instrumentalität: ist die Kirche so geheiligt, dass sie selbst heiligend handeln kann?“7 Daher wird die evangelische Theologie sehr zurückhaltend sein im Blick auf ein – vom Konzil vorgeschlagenes – sakramentales Verständnis von Kirche, denn sie befürchtet eine Vermischung, wenn nicht sogar Verwechslung zwischen der kirchlichen Vermittlung und der einzigen Mittlerschaft Christi. Die Kirche ist gewiss Zeichen und Werkzeug Gottes und seines Reiches, sie verkündigt das Wort und feiert die Sakramente, doch Gott selbst und er allein weckt Glauben und schenkt Gnade. Die Kirche ist nicht Quelle oder Grund des Heils der Menschen. Jedes Verständnis der Kirche als Christus prolungatus, 7 Comité mixte catholique protestant, Consensus œcuménique et différence fondamentale, Paris 1987: §11. 9 jeder Gedanke einer Mittlerschaft der Kirche, von der die Präsenz Christi abhängen würde, jede Betonung der Notwendigkeit der Kirche im Blick auf das eucharistische Opfer werden evangelischerseits auf größte Vorbehalte stoßen. Die Kirche hört, predigt, bekennt, feiert, bezeugt, singt und freut sich. Sie ist Haushalterin über Gottes Geheimnisse (1 Kor 4,1). Doch indem sie dies tut, ist Gott allein am Werk. Das der Kirche eigene Handeln ist rezeptives Handeln. In ihr und durch sie handelt Gott alleine. All ihr Tun ist stets durchsichtig für das einzige Handeln Gottes. So dargestellt ist die Divergenz mit einer gewissen Schärfe formuliert und die katholische Theologie wird, nicht ohne Grund, behaupten, dass sie selbst solche Missverständnisse vermeiden will. Es gibt jedoch in den Konzilsaussagen so manche Hinweise, die eben auch so ausgelegt werden können, und dies macht die reformatorischen Kirchen hellhörig. So hat das II. Vatikanum auch die Punkte angesprochen, die einer genauen Weiterarbeit bedürfen. Es muss z.B. geklärt werden, welcher Art die in LG 8 angesprochene Analogie zwischen Christus und der Kirche ist. Ähnliches gilt im Blick auf das Amt, dessen Notwendigkeit auch evangelischerseits betont wird. Evangelische Theologie wird darauf bedacht sein, das Amt stets der Verkündigung des Wortes und der Feier der Sakramente unterzuordnen und kritisch nachfragen, worin der Unterschied zwischen dem gemeinsamen Priestertum der Gläubigen und dem hierarchischen Priestertum besteht, der nach LG 10 nicht nur im Grade sondern im Wesen liegt. Was ist diese „heilige Gewalt“, die dem Priester durch Ordination übertragen ist und ihm erlaubt „in der Person Christi das eucharistische Opfer“ zu vollziehen (LG 10)? Man könnte andere Beispiele anführen. Sie würden in die gleiche Richtung weisen. Am Tatbestand würden sie nichts ändern. Das II. Vatikanum ist das Konzil der ekklesiologischen Klärung. Es hat sowohl den Konsens wie die bleibenden Unterschiede verdeutlicht. Es hat den Dialogen ihre Tagesordnung vorgegeben. Dies ist ein wesentlicher Bestandteil der Rezeption des Konzils. 2. Die ekklesiologische Reflexion in den reformatorischen Kirchen Die Rezeption der ekklesiologischen Ansätze des Konzils hat auch die reformatorischen Kirchen dazu geführt, ihre Ekklesiologie neu zu überdenken. Es gab gewiss auch andere Faktoren wie die Säkularisierung, 10 die raschen Veränderungen gesellschaftlicher Identitäten oder bisheriger traditioneller Institutionen, die dieses neue Nachdenken verlangten. Fest steht jedoch, dass die ökumenischen Dialoge mit anderen Traditionen ein ganz entscheidender Grund waren für so manches neue Nachdenken. So haben Lutheraner und Reformierte Europas zum ersten Mal seit dem 16. Jahrhundert eine gemeinsame Ekklesiologie vorgelegt, die von der Vollversammlung der Signatarkirchen der Leuenberger Konkordie 1994 in Wien verabschiedet wurde.8 Dieser Text verdeutlicht die zentrale Rolle der Kirche im reformatorischen Denken, auch wenn dieser Platz nicht derjenige ist, den das II. Vatikanum der Kirche beimisst. Er betont die wahre Verkündigung des Evangeliums und die authentische Feier der Sakramente als Kennzeichen der wahren Kirche. Er stellt das einzige Heilshandeln Gottes in den Mittelpunkt: das Heil in Christus ist der Schlüssel für die Auslegung der Schrift und der einzige Maßstab für jegliches kirchliche Handeln. An ihm muss sich jedes kirchliche Leben stets ausweisen. Das Bischofsamt ist für die Kirche notwendig, doch wird im Unterschied zum II. Vatikanum betont, dass es in den verschiedenen Kirchen verschiedene Gestalten annehmen kann. Es ist wichtig ohne jedoch die zentrale Rolle einzunehmen, die es im Katholizismus hat. Ähnliches gilt für das Einheitsverständnis. Für Lutheraner, Reformierte, Anglikaner und Methodisten ist die Einheit Kirchengemeinschaft in legitimer Verschiedenheit. Es gilt die andere Gemeinschaft als wahren Ausdruck der einen Kirche Jesu Christi anzuerkennen. Die eigene Tradition und auch die anderen Traditionen sind wahre, aber nicht die einzigen Ausdrücke der einen Kirche Christi. Letztere hat viele Gesichter und ist verwirklicht in verschiedenen kirchlichen Gestalten. Deshalb wird es im Dialog mit einer anderen Familie darum gehen, dort die wahre Feier von Wort und Sakrament festzustellen. Wenn dem so ist, so ist die notwendige und ausreichende Bedingung erfüllt, um diese Gemeinschaft als authentischen Ausdruck der Kirche Christi anzuerkennen. Konsequenz ist die Erklärung von Kirchengemeinschaft, die gemeinsame Feier von Wort und Sakrament, die in den meisten Fällen auch die Austauschbarkeit der Ämter miteinschließt. Dieser Ansatz ist ein anderer als der des Konzils, auch wenn das Konzil einige Ansätze in diese Richtung durchaus hergibt. Er 8 Leuenberger Kirchengemeinschaft [W. Hüffmeier (Hg.)], Die Kirche Jesu Christi. Der reformatorische Beitrag zum ökumenischen Dialog über die kirchliche Einheit (Leuenberger Texte 1), Frankfurt 1995. 11 ist in der Lage, die eigene kirchliche Gestalt zu relativieren und sich selbst als ein mögliches Gesicht der Kirche Christi neben anderen zu verstehen. Der differenzierte Konsens gilt auch für den ekklesiologischen Bereich. Auch wenn dieses Nachdenken zu anderen Schlussfolgerungen kommt als das Konzil, so kann es doch als indirekte Rezeption des Konzils verstanden werden. Der Konsens und die bleibenden Divergenzen in der Ekklesiologie, die im Dialog mit Rom in den letzten 40 Jahren deutlich wurden, sowie die erneuerten ekklesiologischen Darlegungen der verschiedenen reformatorischen Kirchen können, auch in ihrer Verschiedenheit, nicht ohne Beziehung zu den Entwicklungen im Katholizismus verstanden werden. Man kann auch hier von einer „indirekten Rezeption“ des Konzils sprechen. III. Reformatorische Anfragen an die Rezeption des Konzils im Katholizismus Der dritte und letzte Teil dieses Beitrages möchte das evangelische Interesse an der Rezeption des Konzils im Katholizismus unterstreichen. Reformatorische Kirchen und ihren Theologen fragen sich, welche Interpretation der Konzilsentwicklungen und der damals entstandenen Texte sich letztendlich in der katholischen Kirche durchsetzen wird. Man kann dies die evangelische „Rezeption der Rezeption vom II. Vatikanum“ nennen. An dieser Frage entscheidet sich die Zukunft der zwischenkirchlichen Beziehungen. Der evangelische Theologe weiß, dass die Rezeption des Konzils im Katholizismus vielschichtig und vielfältig ist. Sie ist längst nicht abgeschlossen und was man heute meint feststellen zu können, kann morgen bereits widerlegt sein. Es besteht jedoch eine gewisse Sorge, denn man befürchtet in vielen evangelischen Kreisen, dass eine „konservative“ Rezeption des Konzils im Katholizismus die Oberhand gewinnt. Das Beispiel, das in diesem Kontext in den letzten Jahren immer wieder erwähnt wird und erwähnt werden muss, ist die Erklärung Dominus Iesus über die Einigkeit und die Heilsuniversalität Jesu Christi und der Kirche, welche im Sommer 2000 von der Glaubenskongregation veröffentlicht wurde.9 Der Text hat so manche Reaktion hervorgerufen sowohl innerhalb wie auch außerhalb der katholischen Kirche. Obwohl der Schwerpunkt 9 Erklärung Dominus Iesus über die Einigkeit und die Heilsuniversalität Jesu Christi und der Kirche, Vatikanstadt 2000. 12 dieser Erklärung auf der Frage des interreligiösen Dialogs liegt, haben ganz andere Fragen die Diskussion beherrscht. Die Paragraphen 16 und 17 dieser Erklärung besagen, dass es nur eine einzige wahre Kirche gibt, diejenige die durch den Bischof von Rom, dem Nachfolger Petri und den Bischöfen in Gemeinschaft mit ihm, geleitet wird. Es gibt eigentlich nur einen Weg zur Wiederherstellung der Einheit: die Rückkehr aller Christen in diese eine Gemeinschaft. Die Erklärung bietet eigentlich nichts wirklich Neues und es hat in den letzten Jahren immer wieder ähnliche Töne aus dem Vatikan gegeben. Interessant und neu ist aber die Hermeneutik der Konzilstexte, die in dieser Erklärung angewandt wird. Verschiedene Konzilsaussagen werden so ausgewählt, zusammengestellt und interpretiert, dass sie am Ende nur noch restriktiv gelesen werden können. Dies führt evangelischerseits zu ernsthaften Anfragen. 1. Ein entscheidender Durchbruch des Konzils war – wir haben es bereits erwähnt – das Ersetzen des „est“ durch das „subsistit in“. Die übliche katholische Lehre der Identifizierung der Kirche Jesu Christi mit der römischen Kirche, die noch in der ersten Fassung von Lumen Gentium vorhanden war, wurde dahingehend geändert, dass die Kirche Jesu Christi „subsistit in“ der katholischen Kirche.10 Diese wichtige Veränderung hat den ökumenischen Dialog ermöglicht. Auch wenn das Konzil es nicht expressis verbis betonte, war es nun denkbar, dass die Kirche Jesu Christi auch in anderen Traditionen verwirklicht sein könnte. Diesem Verständnis schiebt Dominus Iesus einen Riegel vor. Auch katholische Theologen weisen darauf hin, dass die von Dominus Iesus vorgeschlagene Auslegung nicht den Aussagen des Konzils entspricht. Der französische Kardinal Liénart hatte in der damaligen Debatte ausdrücklich darum gebeten, das „est“ durch ein „subsistit in“ zu ersetzen, um „die radikale Gleichsetzung der katholischen Kirche und des mystischen Leibes Christi“ zu vermeiden.11 Auch der spätere Kardinal Grillmeier betont in seinem Kommentar des Konzils im LThK, dass die theologische Kommission das „subsistit in“ einsetzte, um bewusst ein neues Nachdenken über das Verhältnis der einen Kirche zu den Kirchen anzustoßen und so die Tür zu den anderen 10 LG 8. Der katholische Theologe Hervé Legrand verweist auf die Acta des Konzils, die dies belegen, zuletzt in einem Artikel, der nach der Veröffentlichung von Dominus Iesus im Oktober 2000 in der Zeitschrift Témoignage chrétien erschienen ist. Vergleiche auch den Kommentar von Peter Hünermann in HThK Vat.II, Bd. 2, 367f. 11 13 christlichen Traditionen zu öffnen. Dominus Iesus schlägt eine andere Interpretation vor: „Mit dem Ausdruck ‚subsistit in’ wollte das Zweite Vatikanische Konzil zwei Lehrsätze miteinander in Einklang bringen: auf der einen Seite, dass die Kirche Christi trotz der Spaltungen der Christen voll nur in der katholischen Kirche weiterbesteht, und auf der anderen Seite‚ ‘dass außerhalb ihres sichtbaren Gefüges vielfältige Elemente der Heiligung und der Wahrheit zu finden sind’ (UR 3), nämlich in den Kirchen und kirchlichen Gemeinschaften, die nicht in voller Gemeinschaft mit der katholischen Kirche stehen.“ (Dominus Iesus 16) Der erste Teil dieser Aussage ist das Problem, denn er schlägt eine eigenartige Hermeneutik der Konzilstexte vor. Er bringt zwei Aussagen zusammen, die in den Konzilstexten nicht verbunden sind, verschiedene Sachverhalte aussagen und an verschiedenen Stellen stehen. Einerseits sagt das Konzil, dass die katholische Kirche Kirche im vollen Sinne des Wortes sei (UR 3), eine Selbstaussage, die auch jede andere christliche Tradition so formulieren würde. Auf der anderen Seite und auf einer anderen Ebene steht das „subsistit in“. Diese Aussage wird im Konzilstext nicht mit dem Gedanken der plenitudo verbunden. Dominus Iesus vermischt bewusst beides und fügt in die Aussage des „subsistit in“ ein „voll nur“ ein, das in den Konzilstexten nicht steht. So heißt es nun „dass die Kirche Jesu Christi …voll nur in der katholischen Kirche weiter besteht (subsistit in)“. Dies wird der Intention der Konzilsväter, die dieses „subsistit in“ einfügten, nicht gerecht. 2. Ein weiteres Beispiel der gleichen Erklärung belegt diese bewusst „restriktive“ Hermeneutik in der Auslegung der Konzilstexte. Nachdem im Paragraphen 17 zunächst von den orthodoxen Kirchen die Rede war, sagt Dominus Iesus im Blick auf die auf die Reformationszeit zurückgehenden kirchlichen Gemeinschaften, „dass sie nicht Kirchen im eigentlichen Sinn“ seien. Auch hier werden die verschiedensten Konzilsaussagen geschickt nebeneinander gestellt, so dass der Leser am Ende der Meinung sein muss, dies sei ein einfacher Rückgriff auf das Konzil. Letzteres spricht gewiss von Mängeln in den reformatorischen Gemeinschaften, z.B. im Blick auf das Amt (UR 3 und 22). Diese sollen im Dialog bearbeitet werden. Es vermeidet aber ausdrücklich eine genauere Bewertung der ekklesialen Qualität dieser Gemeinschaften und stellt fest: „es wäre eine überaus schwierige Aufgabe, sie recht zu beschreiben, was wir hier zu unternehmen nicht beabsichtigen“ (UR 19). Für Dominus Iesus gibt es nun keinen Zweifel mehr. Selektive 14 Hinweise auf das Konzil erlauben es, zu Aussagen zu gelangen, die über das Konzil und auch über spätere offizielle Texte der Kirche12 hinausgehen und so die ekklesiale Qualität der reformatorischen Kirchen radikal ablehnen. Diese beiden Aussagen dieser Erklärung sollten beispielhaft belegen, wie neuere römische Texte in ihren Deutungen des Konzils oft über das Konzil hinausgehen. Sie wenden eine Hermeneutik an, die so manche durch das Konzil geöffnete Tür wieder schließt. Die Rezeption eines Konzils ist ein langer Prozess. Die Kirchengeschichte kennt aber viele Beispiele einer von den Gläubigen rezipierten Wahrheit (sensus fidelium), die nicht unbedingt den objektiven Tatbeständen der Konzilsgeschichte entspricht. Es ist zu befürchten, dass dies auch mit wichtigen Aussagen des II. Vatikanums so sein könnte. Es scheint als würden wichtige vatikanische Stellen eine offensichtlich restriktive Rezeption des Konzils fördern. Dass dies evangelischerseits so manche Frage aufwirft, versteht sich von selbst. Die drei in diesem Beitrag dargelegten Dimensionen der Rezeption des II. Vatikanischen Konzils in den reformatorischen Kirchen weisen in sehr unterschiedliche Richtungen. Sie sollen nun abschließend nicht harmonisiert werden. Die Durchbrüche des Konzils, die eine neue Beziehung zwischen katholischer und evangelischen Kirchen eröffneten, die ekklesiologische Problematik, die deutlich wurde, und auch die Anfragen an die heute angewandte Konzilshermeneutik sind drei Bereiche, die verschiedene Weisen und Ebenen der Rezeption des Konzils darstellen. Auch wenn die evangelische Rezeption des II. Vatikanums eine „indirekte“ Rezeption ist, so weist sie doch auf den großen Reichtum dieses Ereignisses hin. Auch für reformatorische Kirchen ist die Auseinandersetzung mit diesem wichtigen Moment der neueren Kirchengeschichte noch längst nicht abgeschlossen. 12 Auch die Enzyklika von Johannes Paul II, Ut unum sint, aus dem Jahre 1995 vermeidet jede Aussage über die ekklesiale Qualität der „anderen Kirchen und kirchlichen Gemeinschaften des Westens“ (Paragraphen 64 ff.). 15