Die Rezeption des Zweiten Vatikanischen Konzils in der Ökumene

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Gastvorlesung an der Katholischen Fakultät der Universität Tübingen
Die Rezeption des Zweiten Vatikanischen Konzils in der
Ökumene: ein evangelischer Beitrag
Von André Birmelé, Strasbourg
Rezeption ist ein komplexer Vorgang. Einige Jahre nach dem II
Vatikanischen Konzil hat Yves Congar folgendes Verständnis der Rezeption
vorgeschlagen, ein Verständnis, das heute in Kirche und Theologie
weitgehend übernommen wird:
„Unter Rezeption verstehen wir den Prozess, in welchem eine kirchliche
Tradition sich eine Wahrheit aneignet, die sie sich nicht selbst gegeben hat, die
sie jedoch anerkennt und als Glaubensformulierung übernimmt. Zur Rezeption
gehört noch manch anderes als was die Scholastiker unter Gehorsam verstehen.
Für letztere ist sie der Akt, durch den ein Untergebener seinen Willen und seinen
Wandel nach den legitimen Vorschriften eines Vorgesetzten aus Respekt vor
dessen Autorität ausrichtet. Die Rezeption ist nicht einfach die Verwirklichung
der Beziehung secundum sub et supra; sie umfasst einen besonderen Beitrag der
Zustimmung, eventuell der Beurteilung, in dem sich das Leben eines Wesens
ausdrückt, das aus eigenen geistlichen Quellen schöpft.“1
Die Rezeption des Konzils und seiner Texte ist solch ein Prozess. Er
geschieht zunächst innerhalb der (römisch-)katholischen Kirche. Dieser
Prozess ist polymorph und verlangt Zeit.2 Er ist noch längst nicht
abgeschlossen. Auch eine Zeit von 40 Jahren reicht nicht aus, um diese
Rezeption in ihrer Fülle bewerten zu können.
Wie wurde das Konzil in den evangelischen Kirchen rezipiert? Hält man
sich an das Verständnis Congars, so kann man, im Blick auf die
reformatorischen Kirchen, nicht von einer direkten Rezeption sprechen, da
die aus der Reformation hervorgegangenen christlichen Familien nicht in
der Pflicht sind, die vom Konzil bestimmten Wahrheiten zu rezipieren. Es
war ja nicht ihr Konzil. Doch ist auch für diese Kirchen das II. Vatikanum
ein entscheidendes Moment in der Kirchengeschichte der zweiten Hälfte des
XX. Jahrhunderts. Sie haben es hauptsächlich „indirekt“ rezipiert. Man
1
Y. Congar, La « réception » comme réalité ecclésiologique, in: RSPhTh 56 (1972) 369403, hier: 370.
2
Siehe z.B.: G. Routhier: La reception d’un concile, Paris 1993.
1
könnte gewiss Momente und Ansätze des Konzils nennen, die auch für
evangelische Kirchen direkt relevant waren wie z.B. der katholische
Versuch den Herausforderungen der Zeit gerecht zu werden, um zu einem
besseren Zeugnis in der säkularisierten Gesellschaft zu gelangen. Das
Bemühen um ein Aggiornamento, einer größeren Öffnung zur Welt und zu
den Religionen, wurde von allen Christen mit Interesse verfolgt, da sich ja
diese Fragen in allen christlichen Familien stellen. Noch wichtiger für die
zwischenkirchlichen Beziehungen waren aber andere Ansätze. Die großen
Konzilsentscheide, die neuen theologischen Orientierungen und kirchlichen
Reformen haben den Katholizismus grundlegend verändert. Durch das
Konzil öffnete er sich für den Dialog mit anderen christlichen Traditionen.
Solch eine Entwicklung hat notwendigerweise Konsequenzen für alle
christlichen Familien. Auch wenn die volle Gemeinschaft noch nicht
gegeben ist, so betrifft doch solch ein Ereignis im Leben eines Partners auch
alle anderen Partner.
Unser Interesse gilt der heutigen Situation, 40 Jahre nach dem Konzil.
Wir werden uns nicht näher einlassen auf die Art und Weise wie das Konzil
von den evangelischen Beobachtern, die daran teilgenommen haben,
wahrgenommen wurde. Dies wurde mehrmals dargelegt und untersucht.3 Es
soll vielmehr in einem ersten Schritt darum gehen, die Gegebenheiten
festzuhalten, die sich, 40 Jahre danach, als Durchbrüche des Konzils
erweisen, die das Verhältnis der reformatorischen Traditionen zur
römischen Kirche grundlegend verändert haben. In einem zweiten Teil
sollen die durch das Konzil entwickelten ekklesiologischen Fortschritte
angesprochen werden, die auch für die evangelischen Kirchen zu
Herausforderungen wurden. In einem dritten Teil geht es dann um die
schwierigere – aber wichtige – Frage wie ein lutherischer Theologe die
derzeitige Rezeption des Konzils im Katholizismus versteht und bewertet.
I. Wichtige Durchbrüche, die neue Beziehungen ermöglichten
Der evangelische Beobachter wird heute insbesondere zwei Entwicklungen
hervorheben, die eine neue Beziehung der reformatorischen Kirchen zur
römischen Kirche eröffnet haben.
3
Ich erlaube mir, auf eine eigene Studie hinzuweisen: A. Birmelé: Le Concile Vatican II vu
par les observateurs des autres traditions chrétiennes. In : J. Doré – A. Melloni (Hg.): Volti
di fine Concilio. Studi di storia e teologia sulla conclusione del Vaticano II, Bologna 2001,
225-264.
2
1. Das katholische Eintreten in die Ökumene und in die ökumenische
Bewegung
Es gab gewiss vor dem Konzil gewisse Ansätze. Denen standen jedoch eine
ganze Reihe von deutlichen Absagen gegenüber, wie die bekannte
Enzyklika Mortalium Animos, die 1928 als Antwort auf die erste
Vollversammlung von Glaube und Kirchenverfassung (Lausanne 1927)
jegliche katholische Beteiligung an ökumenischen Entwicklungen
untersagte. So war der Durchbruch, den am 21. November 1964 das
Ökumenismusdekret leistete, alles andere als selbstverständlich.
Unitatis Redintegratio wurde – nicht nur in den reformatorischen Kirchen
aber auch dort – als erste konkrete Umsetzung des neuen ekklesiologischen
Verständnisses verstanden, welches das gleiche Konzil in der dogmatischen
Konstitution über die Kirche, Lumen Gentium, der katholischen Kirche
gegeben hatte. Der evangelische Theologe wird insbesondere drei wichtige
neue Orientierungen festhalten. Sie wurden durch 40 Jahre Dialog
weitgehend bestätigt, sowohl in den bilateralen Dialogen, die sofort nach
dem Konzil begannen, wie auch in der multilateralen Arbeit von Glaube
und Kirchenverfassung, an welcher sich die katholische Kirche nach dem
Konzil voll beteiligte auch wenn sie weiterhin nicht Mitglied des
Ökumenischen Rates der Kirche ist.
1. Die klassische bellarminische Identifizierung zwischen der Kirche Jesu
Christi und der (römisch-)katholischen Kirche wurde dahingehend
verändert, dass nun behauptet wurde, dass die Kirche Jesu Christi in der
katholischen Kirche verwirklicht ist – das subsistit in von LG 8. Diese
kleine Veränderung ist grundlegend, denn die Nicht-Gleichsetzung von
Kirche Jesu Christi und katholischer Kirche bedeutet, dass es die Kirche
Jesu Christi auch außerhalb der katholischen Kirche geben kann, auch wenn
letztere sich auch weiterhin als einzige volle Gestalt der wahren Kirche
versteht (UR 3 und 4). So kann das Ökumenismusdekret auch von anderen
„christlichen Kirchen“ sprechen, ein vor dem Konzil unvorstellbarer
Tatbestand. Das Dekret bleibt vorsichtig und spricht nur die orthodoxen
Kirchen als Kirchen an, die reformatorischen Kirchen hingegen sind
„christliche Gemeinschaften“. Der Schritt ist jedoch entscheidend. Die
bisherigen „Häretiker“ wurden zu „getrennten Brüdern“ mit denen eine neue
Gemeinschaft anzustreben ist, auch wenn die katholische Kirche weiterhin
3
sehr vorsichtig blieb, im Blick auf die ekklesiale Qualität der anderen
christlichen Familien.
2. Eine zweite wichtige Entwicklung, die dieses Dekret leistete, war das
Einfügen des Gedankens einer „Hierarchie der Wahrheiten“ (UR 11). Nicht
alle biblischen Wahrheiten stehen auf ein und derselben Ebene. So muss es
auch nicht in allen Lehraussagen eine volle Übereinstimmung geben. Einige
sind wichtiger als andere und verlangen nach Einstimmigkeit, andere
hingegen können der Ort einer legitimen Vielfalt sein. Das Konzil lehrt
„dass es … zur Wiederherstellung oder Erhaltung der Gemeinschaft und
Einheit notwendig sei, ‘keine Lasten aufzuerlegen, die über das Notwendige
hinausgehen’ (Apg 15,28)“ (UR18). Eine der Hauptaufgaben der
ökumenischen Bewegung bestand und besteht darin, das „Notwendige“ zu
definieren und die von einer Tradition zur anderen oft sehr unterschiedlich
verstandenen „Hierarchien“ zu harmonisieren. Diese Arbeit ist längst nicht
abgeschlossen. Das Ökumenismus Dekret hat eine wichtige Tür geöffnet:
die Einheit verlangt keine Einstimmigkeit, sie umfasst und befürwortet eine
legitime Vielfalt.
3. Eine dritte neue Perspektive ist die Behauptung der notwendigen und
steten Reform der Kirche. Die Kirche „ist zugleich heilig und stets der
Reinigung bedürftig“ (LG 8). Man spricht nicht mehr von der makellosen
katholischen Kirche wie dies Papst Pius XII. in seiner Enzyklika Mystici
Corporis 1943 noch tat. Das Dekret spricht gewiss nicht von den Fehlern
der Kirche selbst, diese jedoch ist in ihren „Gliedern der Sünde ausgesetzt“
(LG 3). Der Grund der Trennung liegt nicht nur bei den anderen. Alle
Kirchen bedürfen der Erneuerung, alle müssen sich bekehren, sich einander
annähern, gemeinsam beten, damit in einer erneuerten Kirche alle die von
Gott geschenkte Einheit erleben (UR 5 bis 12).
Diese drei neuen Orientierungen waren das Zeichen eines neuen
katholischen Selbstverständnisses. Bisherige Verhärtungen eines eher
bellarminischen Kirchenverständnisses schienen sich aufzulösen. Die
Rahmenbedingungen für ein mögliches Gespräch mit anderen waren
gegeben. Dies ist der erste Durchbruch des Konzils, der in den
reformatorischen Kirchen rezipiert wurde: diese haben diese Entwicklung
nicht nur zur Kenntnis genommen sondern sich auf das Angebot
eingelassen.
4
2. Die Dialoge und ihre Ergebnisse
Dieser Durchbruch hatte eine bisher noch nie gekannte Zeit des Dialogs zur
Folge. Diese Dialoge und ihre Ergebnisse bilden den zweiten Aspekt der
Konzilsrezeption. Auch wenn manche „offene Fragen“ weiterhin ungeklärt
sind, haben doch diese Dialoge alle kirchlichen Identitäten „verschoben“.
Als vorläufiger Abschluss dieser 40 Jahre Dialoge kann die „Gemeinsame
Erklärung zur Rechtfertigungslehre“ (GE) verstanden werden. Sie wurde im
Oktober 1999 in Augsburg durch die katholische Kirchen und die
lutherischen Kirchen unterzeichnet.4 Diese GE besiegelt, den seit über 30
Jahren von den Theologen festgestellten Konsens:5 Es besteht zwischen den
katholischen und lutherischen Traditionen eine Übereinstimmung im
Verständnis des Heils. Solch eine Erklärung wäre ohne das II. Vatikanische
Konzil undenkbar gewesen. Das Konzil hat an vielen Stellen neue
christologische Akzente gesetzt: den Tod und die Auferstehung Jesu Christi
zum Heil der Welt, das aus Gnade allein dem Gläubigen geschenkte neue
Leben betont – die Elemente, die man in den reformatorischen Kirchen als
den articulus stantits et cadentis ecclesiae versteht. Auch wenn
evangelischerseits bisher nur die Lutheraner die GE unterzeichnet haben, so
ist doch dieser Durchbruch entscheidend für alle reformatorischen Kirchen.
Ohne nun auf Einzelheiten der GE einzugehen, gilt es festzuhalten, dass seit
1999 beide Traditionen offiziell erklären, dass die andere Gemeinschaft das
gleiche Heil in Christus verkündet. Dieser Durchbruch ist eine direkte
Konsequenz der erwähnten Ansätze des Konzils. Es handelt sich dabei nicht
nur um die Frage des Heils sondern um die Rezeption und Umsetzung der
methodologischen Öffnungen, die durch das Konzil im Katholizismus
ermöglicht wurden.
1. Die Unterschrift der GE bedeutet eine neue Beziehungsqualität
zwischen zwei Familien. Die Zeit des gegenseitigen Ausschlusses ist vorbei.
Nun hat man es mit zwei Gemeinschaften zu tun, die sich auf einen gleichen
Grund berufen und sich dies offiziell bestätigen. Auch wenn noch so
4
Deutscher Text der GE: Texte aus der VELKD 87/1999, herausgegeben durch das
lutherische Kirchenamt Hannover; vgl. auch DH 5073f.; 5081 (40. Aufl.).
5
Siehe die vorausgegangenen Berichte der internationalen lutherisch – römischkatholischen Kommission die bereits 1972 im Maltabericht von einem „weitreichenden
Konsens“ spricht. Dieser wird mehrmals überprüft und behauptet in den weiteren Texten
der Kommission und auch in der Arbeiten von nationalen Kommissionen sowohl in
Deutschland (Lehrverurteilungen kirchentrennend?) wie auch in den USA.
5
manches Hindernis auf dem Weg zur Kirchengemeinschaft besteht, so sind
doch die Voraussetzungen ganz anders als bisher. Da wo bisher Trennung
als Ausgangspunkt stand, steht von nun an ein Konsens im Heilsverständnis.
Dieser Konsens wurde von den Kirchen offiziell ratifiziert. Zum ersten Male
in der Geschichte der reformatorisch-katholischen Beziehungen ist ein
Vorschlag einer Dialoggruppe von den Kirchenleitungen und Synoden der
jeweiligen Partner verabschiedet worden. Dies sollte nicht unterbewertet
werden.
2. Die GE behauptet nicht, dass die Verständnisse der beiden Partner nun
identisch – im Sinne von deckungsgleich – wären. Lutheraner und
Katholiken schlagen keine einheitliche Formulierung vor. Konsens ist nicht
Vereinheitlichung. Der Konsens duldet nicht nur den Unterschied sondern
schließt ihn ein. Nach einer gemeinsamen Aussage und den biblischen
Ausführungen behandelt die GE die 7 Punkte, die traditionell zu
Lehrverurteilungen zwischen den beiden Familien geführt haben. Für jeden
dieser Punkte werden zunächst das Gemeinsame und danach die
verschiedenen Akzente genannt. Ein gemeinsames Grundverständnis (GE
14-17) führt zu besonderen Akzenten, die weiterhin lutherische und
katholische Verständnisse voneinander unterscheiden. Dabei wird deutlich
„dass die weiterhin unterschiedlichen Entfaltungen nicht länger Anlass für
Lehrverurteilungen sind“ (GE 5, vgl. GE 40). Die Einheit kennt eine
gewisse (legitime) Verschiedenheit in den Lehrformulierungen.
3. In seiner Eröffnungsrede des Konzils hatte Papst Johannes XXIII. am
11. Oktober 1962 vorgeschlagen, zwischen der unantastbaren und
unveränderlichen „offenbarten Wahrheit“ und den verschiedenen
„Formulierungen“ zu unterscheiden, die sie im Laufe der Jahrhunderte
angenommen hat: „Eines ist in der Tat der Glaubensschatz selber, das heißt
die in unserer verehrungswürdigen Lehre enthaltenen Wahrheiten, ein
anderes ist die Form, unter der diese Wahrheiten verkündet werden, wobei
sie jedoch denselben Sinn und dieselbe Tragweite bewahren.“6 Die
Behauptung, dass die geschichtliche Kontinuität der Kirche in der Substanz
ihrer Botschaft und nicht in den Formulierungen dieser Botschaft gründet,
eröffnete eine neue Epoche. In der Geschichte getroffene Formulierungen
der Wahrheit können im Dialog hinterfragt werden. Es kann Situationen
geben, wo die gleiche Wahrheit anderer Formulierungen bedarf. Dieser
6
Zweites Vatikanisches Konzil, 1. Sitzungsperiode (Dokumente, Texte, Kommentare),
Osnabrück 1963, 9-22.
6
hermeneutische Ansatz des Papstes Johannes XXIII. wird an manchen
Stellen des II. Vatikanums umgesetzt. Im ökumenischen Dialog ist der
deutlichste Niederschlag die erwähnte GE. Die letzten Schlussfolgerungen
dieser Entwicklung sind noch längst nicht gezogen. Solch ein Ansatz hat
nicht mit Höflichkeit oder Kompromiss zu tun. Es geht um die
Grundüberzeugung, dass eine gleiche Sache in verschiedenen
Sprachgestalten ausgedrückt werden kann.
Die reformatorischen Kirchen begrüßen diesen Durchbruch und sind
bereit zu neuen konkreten Umsetzungen dieses Ansatzes des Konzils. Im
Augenblick fällt es Rom nicht leicht, besonders im Bereich der
Ekklesiologie andere Gestalten als wahren Ausdruck des einen Glaubens
anzuerkennen. In der Heilslehre war dies möglich. Es sollte auch in anderen
Bereichen möglich sein. Das II. Vatikanische Konzil hat hier eine Tür
geöffnet.
II. Das Konzil der ekklesiologischen Klärungen
Das II. Vatikanum hat ein erneuertes Kirchenverständnis entwickelt, den
Communio-Gedanken hervorgehoben, die Kirche als Volk Gottes
verstanden, die Eucharistie neu betont, das Amt auf das Bischofsamt
zentriert, eine Liturgiereform eingeleitet. Innerhalb des Katholizismus ist
die Rezeption dieser Entwicklungen auch in diesem Bereich noch längst
nicht abgeschlossen, wie die vielen Debatten innerhalb dieser Tradition
belegen. Auch wenn die reformatorischen Kirchen nicht direkt
angesprochen waren, so stellen doch diese ekklesiologischen Entwicklungen
auch für letztere eine Herausforderung dar, denn auch sie waren in den
vergangenen Jahrzehnten gezwungen, ihr Kirchesein neu zu klären. Es hat
wohl kaum eine Zeit in der Geschichte gegeben, wo die Ekklesiologie in
den evangelischen Kirchen so eifrig diskutiert wurde wie in den letzten 40
Jahren. Dass das II. Vatikanische Konzil auch dazu beigetragen hat, ist
unbestritten. Daher kann die weitreichende Debatte über ekklesiologische
Fragen, die in den letzten Jahren in allen Kirchen geführt wurde, als
Moment der Rezeption des II. Vatikanums verstanden werden. Dabei geht
es um zwei Dinge: die Verdeutlichung sowohl des Konsenses wie der
bleibenden Divergenzen im Dialog der reformatorischen Kirchen mit Rom
und die ekklesiologischen Entwicklungen im innerreformatorischen Raum.
7
1. Konsens und Divergenzen im Dialog
Dass ekklesiologische Fragen zum Mittelpunkt des Dialogs zwischen der
katholischen und den reformatorischen Kirchen werden würden, war
zunächst nicht selbstverständlich. Es waren ja andere Themen, die im 16.
Jahrhundert die Trennung verursachten, Themen wie die Frage nach der
Schrift und ihrem Gebrauch oder das Heilsverständnis. Diese Fragen wurde
lange Zeit als die größten zwischenkirchlichen Hindernisse angesehen. In
den neueren Dialogen erwiesen sie sich schnell als sekundäre Probleme
neben den Fragen der Eucharistie, der Ämter und dem Verständnis der
Kirche im Heilsplan Gottes. Man stellte bald fest, dass die weiterhin
bestehenden Divergenzen, die so genannten „offenen Fragen“,
hauptsächlich dem Bereich der Ekklesiologie zuzuordnen sind. Man hat sich
ihnen nicht ohne Grund zugewandt. Die bilateralen und multilateralen
Dialoge wurden zu Anfragen an die Kirchenverständnisse aller Traditionen.
Auch wenn diese auch heute noch der Ort von kirchentrennenden
Unterschieden sind, so konnte doch der Dialog so manche
Missverständnisse überwinden und auch die Konsense im Bereich der
Ekklesiologie deutlich machen. Die Ekklesiologie des II. Vatikanums
bildete dafür den Hintergrund:
1. Man muss zunächst von dem vorhandenen Konsens ausgehen, der sich
im Dialog immer deutlicher herausstellt. Alle Traditionen bekennen mit den
altkirchlichen Glaubenssymbolen die una, sancta, catholica et apostolica
ecclesia. Sie ist Werk des Heiligen Geistes und eine zentrale Aussage des
Glaubens. Sie ist nicht nur eine Versammlung von Menschen, „eine
Gesellschaft von Bekehrten“. Sie ist Leib Christi und hat ihr Ziel nicht in
sich selbst. Sie gründet auf Christus, dem inkarnierten Gotteswort, und wird
durch Ihn erhalten. Er steht der Kirche gegenüber, sie verfügt nicht über Ihn.
Die Kirche ist die Gemeinschaft der Gläubigen. Auch wenn das NT den
Begriff der koinônia (communio) nicht direkt auf die Kirche anwendet, so
ist doch dieser für das Konzil zentrale Begriff der Begriff, der für die
reformatorische Ekklesiologie immer zentral war, die ekklesiologische
Grundaussage schlechthin: koinônia beschreibt das neue Verhältnis
zwischen Gott und dem Gläubigen und deshalb die Gemeinschaft unter den
Gläubigen. Indem sie durch die Taufe an Tod und Auferstehung Christi
teilhaben (Röm 6), die Eucharistie feiern (1 Kor 10 u.11) und durch das
Glauben weckende Wort ergriffen werden (Röm 10, 14f.), werden die
8
Christen zu einem Leib, dem Leib Christ, der Kirche zusammengefügt. Das
neue Verhältnis zu Gott ist zugleich Eingliederung in die kirchliche
Gemeinschaft, in die Kirche, welche ein neues Verhältnis unter Gläubigen
mit einschließt.
Dies führt nicht dazu, dass die Kirche eine spirituelle, abstrakte Sache
wäre. Dieser geglaubten Kirche entspricht eine gelebte Kirche in ihren
vielfältigen sozialen, ethnischen, historischen und geographischen
Ausdrücken. Sie lebt im sozialen Gefüge des Alltags und nimmt dort ihr
Amt wahr. Als Geheimnis Gottes hat sie sowohl eine göttliche wie auch
eine menschliche Gestalt.
Die kurze Auflistung einiger ekklesiologischer Grundaussagen ist
notwendig um den weitreichenden Konsens auch in der Ekklesiologie zu
verdeutlichen. Nur auf diesem Hintergrund lassen sich die noch offenen
Fragen verstehen. So ein Konsens wäre vor dem Konzil undenkbar
gewesen.
2. Auch die schwierigen, weiterhin trennenden Fragen im Bereich der
Ekklesiologie wurden aufgrund der Entfaltungen des II. Vatikanums
deutlicher. Die wichtigste Frage ist wohl die des Verständnisses der Natur
der Instrumentalität der Kirche im Heilsplan Gottes. Dabei handelt es sich
weder um das Wortverständnis, noch um das Sakramentsverständnis noch
um die Heilsfrage und letztlich auch nicht um die Amtsfrage als solche,
sondern um die Art und Weise, in welcher Gott die Kirche braucht als
instrumentum für das Heil der Menschen. Das französische Comité mixte
catholique protestant formulierte dies 1987 auf folgende Weise: „Die
Divergenz betrifft nicht die Instrumentalität der Kirche in der Vermittlung
des Heiles, sondern die Art dieser Instrumentalität: ist die Kirche so
geheiligt, dass sie selbst heiligend handeln kann?“7 Daher wird die
evangelische Theologie sehr zurückhaltend sein im Blick auf ein – vom
Konzil vorgeschlagenes – sakramentales Verständnis von Kirche, denn sie
befürchtet eine Vermischung, wenn nicht sogar Verwechslung zwischen der
kirchlichen Vermittlung und der einzigen Mittlerschaft Christi. Die Kirche
ist gewiss Zeichen und Werkzeug Gottes und seines Reiches, sie verkündigt
das Wort und feiert die Sakramente, doch Gott selbst und er allein weckt
Glauben und schenkt Gnade. Die Kirche ist nicht Quelle oder Grund des
Heils der Menschen. Jedes Verständnis der Kirche als Christus prolungatus,
7
Comité mixte catholique protestant, Consensus œcuménique et différence fondamentale,
Paris 1987: §11.
9
jeder Gedanke einer Mittlerschaft der Kirche, von der die Präsenz Christi
abhängen würde, jede Betonung der Notwendigkeit der Kirche im Blick auf
das eucharistische Opfer werden evangelischerseits auf größte Vorbehalte
stoßen. Die Kirche hört, predigt, bekennt, feiert, bezeugt, singt und freut
sich. Sie ist Haushalterin über Gottes Geheimnisse (1 Kor 4,1). Doch indem
sie dies tut, ist Gott allein am Werk. Das der Kirche eigene Handeln ist
rezeptives Handeln. In ihr und durch sie handelt Gott alleine. All ihr Tun ist
stets durchsichtig für das einzige Handeln Gottes.
So dargestellt ist die Divergenz mit einer gewissen Schärfe formuliert und
die katholische Theologie wird, nicht ohne Grund, behaupten, dass sie selbst
solche Missverständnisse vermeiden will. Es gibt jedoch in den
Konzilsaussagen so manche Hinweise, die eben auch so ausgelegt werden
können, und dies macht die reformatorischen Kirchen hellhörig. So hat das
II. Vatikanum auch die Punkte angesprochen, die einer genauen
Weiterarbeit bedürfen. Es muss z.B. geklärt werden, welcher Art die in LG
8 angesprochene Analogie zwischen Christus und der Kirche ist. Ähnliches
gilt im Blick auf das Amt, dessen Notwendigkeit auch evangelischerseits
betont wird. Evangelische Theologie wird darauf bedacht sein, das Amt
stets der Verkündigung des Wortes und der Feier der Sakramente
unterzuordnen und kritisch nachfragen, worin der Unterschied zwischen
dem gemeinsamen Priestertum der Gläubigen und dem hierarchischen
Priestertum besteht, der nach LG 10 nicht nur im Grade sondern im Wesen
liegt. Was ist diese „heilige Gewalt“, die dem Priester durch Ordination
übertragen ist und ihm erlaubt „in der Person Christi das eucharistische
Opfer“ zu vollziehen (LG 10)?
Man könnte andere Beispiele anführen. Sie würden in die gleiche
Richtung weisen. Am Tatbestand würden sie nichts ändern. Das II.
Vatikanum ist das Konzil der ekklesiologischen Klärung. Es hat sowohl den
Konsens wie die bleibenden Unterschiede verdeutlicht. Es hat den Dialogen
ihre Tagesordnung vorgegeben. Dies ist ein wesentlicher Bestandteil der
Rezeption des Konzils.
2. Die ekklesiologische Reflexion in den reformatorischen Kirchen
Die Rezeption der ekklesiologischen Ansätze des Konzils hat auch die
reformatorischen Kirchen dazu geführt, ihre Ekklesiologie neu zu
überdenken. Es gab gewiss auch andere Faktoren wie die Säkularisierung,
10
die raschen Veränderungen gesellschaftlicher Identitäten oder bisheriger
traditioneller Institutionen, die dieses neue Nachdenken verlangten. Fest
steht jedoch, dass die ökumenischen Dialoge mit anderen Traditionen ein
ganz entscheidender Grund waren für so manches neue Nachdenken. So
haben Lutheraner und Reformierte Europas zum ersten Mal seit dem 16.
Jahrhundert eine gemeinsame Ekklesiologie vorgelegt, die von der
Vollversammlung der Signatarkirchen der Leuenberger Konkordie 1994 in
Wien verabschiedet wurde.8 Dieser Text verdeutlicht die zentrale Rolle der
Kirche im reformatorischen Denken, auch wenn dieser Platz nicht derjenige
ist, den das II. Vatikanum der Kirche beimisst. Er betont die wahre
Verkündigung des Evangeliums und die authentische Feier der Sakramente
als Kennzeichen der wahren Kirche. Er stellt das einzige Heilshandeln
Gottes in den Mittelpunkt: das Heil in Christus ist der Schlüssel für die
Auslegung der Schrift und der einzige Maßstab für jegliches kirchliche
Handeln. An ihm muss sich jedes kirchliche Leben stets ausweisen. Das
Bischofsamt ist für die Kirche notwendig, doch wird im Unterschied zum II.
Vatikanum betont, dass es in den verschiedenen Kirchen verschiedene
Gestalten annehmen kann. Es ist wichtig ohne jedoch die zentrale Rolle
einzunehmen, die es im Katholizismus hat.
Ähnliches gilt für das Einheitsverständnis. Für Lutheraner, Reformierte,
Anglikaner und Methodisten ist die Einheit Kirchengemeinschaft in
legitimer Verschiedenheit. Es gilt die andere Gemeinschaft als wahren
Ausdruck der einen Kirche Jesu Christi anzuerkennen. Die eigene Tradition
und auch die anderen Traditionen sind wahre, aber nicht die einzigen
Ausdrücke der einen Kirche Christi. Letztere hat viele Gesichter und ist
verwirklicht in verschiedenen kirchlichen Gestalten. Deshalb wird es im
Dialog mit einer anderen Familie darum gehen, dort die wahre Feier von
Wort und Sakrament festzustellen. Wenn dem so ist, so ist die notwendige
und ausreichende Bedingung erfüllt, um diese Gemeinschaft als
authentischen Ausdruck der Kirche Christi anzuerkennen. Konsequenz ist
die Erklärung von Kirchengemeinschaft, die gemeinsame Feier von Wort
und Sakrament, die in den meisten Fällen auch die Austauschbarkeit der
Ämter miteinschließt. Dieser Ansatz ist ein anderer als der des Konzils,
auch wenn das Konzil einige Ansätze in diese Richtung durchaus hergibt. Er
8
Leuenberger Kirchengemeinschaft [W. Hüffmeier (Hg.)], Die Kirche Jesu Christi. Der
reformatorische Beitrag zum ökumenischen Dialog über die kirchliche Einheit
(Leuenberger Texte 1), Frankfurt 1995.
11
ist in der Lage, die eigene kirchliche Gestalt zu relativieren und sich selbst
als ein mögliches Gesicht der Kirche Christi neben anderen zu verstehen.
Der differenzierte Konsens gilt auch für den ekklesiologischen Bereich.
Auch wenn dieses Nachdenken zu anderen Schlussfolgerungen kommt als
das Konzil, so kann es doch als indirekte Rezeption des Konzils verstanden
werden. Der Konsens und die bleibenden Divergenzen in der Ekklesiologie,
die im Dialog mit Rom in den letzten 40 Jahren deutlich wurden, sowie die
erneuerten
ekklesiologischen
Darlegungen
der
verschiedenen
reformatorischen Kirchen können, auch in ihrer Verschiedenheit, nicht ohne
Beziehung zu den Entwicklungen im Katholizismus verstanden werden.
Man kann auch hier von einer „indirekten Rezeption“ des Konzils sprechen.
III. Reformatorische Anfragen an die Rezeption des Konzils im
Katholizismus
Der dritte und letzte Teil dieses Beitrages möchte das evangelische Interesse
an der Rezeption des Konzils im Katholizismus unterstreichen.
Reformatorische Kirchen und ihren Theologen fragen sich, welche
Interpretation der Konzilsentwicklungen und der damals entstandenen Texte
sich letztendlich in der katholischen Kirche durchsetzen wird. Man kann
dies die evangelische „Rezeption der Rezeption vom II. Vatikanum“
nennen. An dieser Frage entscheidet sich die Zukunft der
zwischenkirchlichen Beziehungen. Der evangelische Theologe weiß, dass
die Rezeption des Konzils im Katholizismus vielschichtig und vielfältig ist.
Sie ist längst nicht abgeschlossen und was man heute meint feststellen zu
können, kann morgen bereits widerlegt sein. Es besteht jedoch eine gewisse
Sorge, denn man befürchtet in vielen evangelischen Kreisen, dass eine
„konservative“ Rezeption des Konzils im Katholizismus die Oberhand
gewinnt.
Das Beispiel, das in diesem Kontext in den letzten Jahren immer wieder
erwähnt wird und erwähnt werden muss, ist die Erklärung Dominus Iesus
über die Einigkeit und die Heilsuniversalität Jesu Christi und der Kirche,
welche im Sommer 2000 von der Glaubenskongregation veröffentlicht
wurde.9 Der Text hat so manche Reaktion hervorgerufen sowohl innerhalb
wie auch außerhalb der katholischen Kirche. Obwohl der Schwerpunkt
9
Erklärung Dominus Iesus über die Einigkeit und die Heilsuniversalität Jesu Christi und
der Kirche, Vatikanstadt 2000.
12
dieser Erklärung auf der Frage des interreligiösen Dialogs liegt, haben ganz
andere Fragen die Diskussion beherrscht. Die Paragraphen 16 und 17 dieser
Erklärung besagen, dass es nur eine einzige wahre Kirche gibt, diejenige die
durch den Bischof von Rom, dem Nachfolger Petri und den Bischöfen in
Gemeinschaft mit ihm, geleitet wird. Es gibt eigentlich nur einen Weg zur
Wiederherstellung der Einheit: die Rückkehr aller Christen in diese eine
Gemeinschaft. Die Erklärung bietet eigentlich nichts wirklich Neues und es
hat in den letzten Jahren immer wieder ähnliche Töne aus dem Vatikan
gegeben. Interessant und neu ist aber die Hermeneutik der Konzilstexte, die
in dieser Erklärung angewandt wird. Verschiedene Konzilsaussagen werden
so ausgewählt, zusammengestellt und interpretiert, dass sie am Ende nur
noch restriktiv gelesen werden können. Dies führt evangelischerseits zu
ernsthaften Anfragen.
1. Ein entscheidender Durchbruch des Konzils war – wir haben es bereits
erwähnt – das Ersetzen des „est“ durch das „subsistit in“. Die übliche
katholische Lehre der Identifizierung der Kirche Jesu Christi mit der
römischen Kirche, die noch in der ersten Fassung von Lumen Gentium
vorhanden war, wurde dahingehend geändert, dass die Kirche Jesu Christi
„subsistit in“ der katholischen Kirche.10 Diese wichtige Veränderung hat
den ökumenischen Dialog ermöglicht. Auch wenn das Konzil es nicht
expressis verbis betonte, war es nun denkbar, dass die Kirche Jesu Christi
auch in anderen Traditionen verwirklicht sein könnte. Diesem Verständnis
schiebt Dominus Iesus einen Riegel vor. Auch katholische Theologen
weisen darauf hin, dass die von Dominus Iesus vorgeschlagene Auslegung
nicht den Aussagen des Konzils entspricht. Der französische Kardinal
Liénart hatte in der damaligen Debatte ausdrücklich darum gebeten, das
„est“ durch ein „subsistit in“ zu ersetzen, um „die radikale Gleichsetzung
der katholischen Kirche und des mystischen Leibes Christi“ zu vermeiden.11
Auch der spätere Kardinal Grillmeier betont in seinem Kommentar des
Konzils im LThK, dass die theologische Kommission das „subsistit in“
einsetzte, um bewusst ein neues Nachdenken über das Verhältnis der einen
Kirche zu den Kirchen anzustoßen und so die Tür zu den anderen
10
LG 8.
Der katholische Theologe Hervé Legrand verweist auf die Acta des Konzils, die dies
belegen, zuletzt in einem Artikel, der nach der Veröffentlichung von Dominus Iesus im
Oktober 2000 in der Zeitschrift Témoignage chrétien erschienen ist. Vergleiche auch den
Kommentar von Peter Hünermann in HThK Vat.II, Bd. 2, 367f.
11
13
christlichen Traditionen zu öffnen. Dominus Iesus schlägt eine andere
Interpretation vor:
„Mit dem Ausdruck ‚subsistit in’ wollte das Zweite Vatikanische Konzil zwei
Lehrsätze miteinander in Einklang bringen: auf der einen Seite, dass die Kirche
Christi trotz der Spaltungen der Christen voll nur in der katholischen Kirche
weiterbesteht, und auf der anderen Seite‚ ‘dass außerhalb ihres sichtbaren
Gefüges vielfältige Elemente der Heiligung und der Wahrheit zu finden sind’
(UR 3), nämlich in den Kirchen und kirchlichen Gemeinschaften, die nicht in
voller Gemeinschaft mit der katholischen Kirche stehen.“ (Dominus Iesus 16)
Der erste Teil dieser Aussage ist das Problem, denn er schlägt eine
eigenartige Hermeneutik der Konzilstexte vor. Er bringt zwei Aussagen
zusammen, die in den Konzilstexten nicht verbunden sind, verschiedene
Sachverhalte aussagen und an verschiedenen Stellen stehen. Einerseits sagt
das Konzil, dass die katholische Kirche Kirche im vollen Sinne des Wortes
sei (UR 3), eine Selbstaussage, die auch jede andere christliche Tradition so
formulieren würde. Auf der anderen Seite und auf einer anderen Ebene steht
das „subsistit in“. Diese Aussage wird im Konzilstext nicht mit dem
Gedanken der plenitudo verbunden. Dominus Iesus vermischt bewusst
beides und fügt in die Aussage des „subsistit in“ ein „voll nur“ ein, das in
den Konzilstexten nicht steht. So heißt es nun „dass die Kirche Jesu Christi
…voll nur in der katholischen Kirche weiter besteht (subsistit in)“. Dies
wird der Intention der Konzilsväter, die dieses „subsistit in“ einfügten, nicht
gerecht.
2. Ein weiteres Beispiel der gleichen Erklärung belegt diese bewusst
„restriktive“ Hermeneutik in der Auslegung der Konzilstexte. Nachdem im
Paragraphen 17 zunächst von den orthodoxen Kirchen die Rede war, sagt
Dominus Iesus im Blick auf die auf die Reformationszeit zurückgehenden
kirchlichen Gemeinschaften, „dass sie nicht Kirchen im eigentlichen Sinn“
seien. Auch hier werden die verschiedensten Konzilsaussagen geschickt
nebeneinander gestellt, so dass der Leser am Ende der Meinung sein muss,
dies sei ein einfacher Rückgriff auf das Konzil. Letzteres spricht gewiss von
Mängeln in den reformatorischen Gemeinschaften, z.B. im Blick auf das
Amt (UR 3 und 22). Diese sollen im Dialog bearbeitet werden. Es vermeidet
aber ausdrücklich eine genauere Bewertung der ekklesialen Qualität dieser
Gemeinschaften und stellt fest: „es wäre eine überaus schwierige Aufgabe,
sie recht zu beschreiben, was wir hier zu unternehmen nicht beabsichtigen“
(UR 19). Für Dominus Iesus gibt es nun keinen Zweifel mehr. Selektive
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Hinweise auf das Konzil erlauben es, zu Aussagen zu gelangen, die über das
Konzil und auch über spätere offizielle Texte der Kirche12 hinausgehen und
so die ekklesiale Qualität der reformatorischen Kirchen radikal ablehnen.
Diese beiden Aussagen dieser Erklärung sollten beispielhaft belegen, wie
neuere römische Texte in ihren Deutungen des Konzils oft über das Konzil
hinausgehen. Sie wenden eine Hermeneutik an, die so manche durch das
Konzil geöffnete Tür wieder schließt. Die Rezeption eines Konzils ist ein
langer Prozess. Die Kirchengeschichte kennt aber viele Beispiele einer von
den Gläubigen rezipierten Wahrheit (sensus fidelium), die nicht unbedingt
den objektiven Tatbeständen der Konzilsgeschichte entspricht. Es ist zu
befürchten, dass dies auch mit wichtigen Aussagen des II. Vatikanums so
sein könnte. Es scheint als würden wichtige vatikanische Stellen eine
offensichtlich restriktive Rezeption des Konzils fördern. Dass dies
evangelischerseits so manche Frage aufwirft, versteht sich von selbst.
Die drei in diesem Beitrag dargelegten Dimensionen der Rezeption des II.
Vatikanischen Konzils in den reformatorischen Kirchen weisen in sehr
unterschiedliche Richtungen. Sie sollen nun abschließend nicht harmonisiert
werden. Die Durchbrüche des Konzils, die eine neue Beziehung zwischen
katholischer und evangelischen Kirchen eröffneten, die ekklesiologische
Problematik, die deutlich wurde, und auch die Anfragen an die heute
angewandte Konzilshermeneutik sind drei Bereiche, die verschiedene
Weisen und Ebenen der Rezeption des Konzils darstellen. Auch wenn die
evangelische Rezeption des II. Vatikanums eine „indirekte“ Rezeption ist,
so weist sie doch auf den großen Reichtum dieses Ereignisses hin. Auch für
reformatorische Kirchen ist die Auseinandersetzung mit diesem wichtigen
Moment der neueren Kirchengeschichte noch längst nicht abgeschlossen.
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Auch die Enzyklika von Johannes Paul II, Ut unum sint, aus dem Jahre 1995 vermeidet
jede Aussage über die ekklesiale Qualität der „anderen Kirchen und kirchlichen
Gemeinschaften des Westens“ (Paragraphen 64 ff.).
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