Grundriss der Logotherapie und Existenzanalyse nach Viktor Frankl Hinweise zur Sprachform und Rechtschreibung des Textes: Die verwendete maskuline Sprachform dient der besseren Lesbarkeit, meint aber jeweils auch immer die feminine Form und sollte keinesfalls als diskriminierend bewertet werden. Zitate sind in ihrer ursprünglichen Rechtschreibung wiedergegeben. Grundriss der Existenzanalyse/ Logotherapie Unser tägliches Streben und Mühen wird von einem nicht sichtbaren Fundament des Sinns getragen. Allzu oft kann es aber vorkommen, dass unsere Grundfesten von anderen Schichten überdeckt werden. Ein Streben nach Macht, nach Prestige, nach Lust, nach Geld oder Ähnliches bewegt uns zu widersinnigen Handlungsweisen, die unseren innersten Sinnvorstellungen und Werten gar nicht mehr eigen sind. Diese Spannung zwischen real gelebten und verschütteten, nicht gelebten inneren Idealen, führt irgendwann zu einer Sinnkrise, innerer Leere, Frustration und einem Leiden am sinnlosen Leben, die in ihrer radikalsten Ausformung in eine suizidale Handlung münden kann. Diese Erkenntnis wurde vom Begründer der Existenzanalyse und Logotherapie, Viktor Emil Frankl, bereits im vorhergehenden Jahrhundert formuliert: „Die Industriegesellschaft versucht, alle menschlichen Bedürfnisse zu befriedigen; und die Konsumgesellschaft ist bemüht, darüber hinaus immer neue Bedürfnisse zu erzeugen, um dann hingehen zu können und sie zu befriedigen. Aber ein Bedürfnis und das ist vielleicht das menschlichste aller Bedürfnisse - bleibt unbefriedigt, nämlich das Bedürfnis im Leben - oder vielleicht besser gesagt in jeder einzelnen Lebenssituation, mit der wir konfrontiert sind, einen Sinn zu sehen und ihn womöglich zu erfüllen. Heute haben die Menschen im Allgemeinen genug, wovon sie leben können; aber sie finden nicht immer etwas, wofür zu leben es auch dafürstünde. Ohne ein Wozu wird das Leben schal, muss das Leben sinnlos erscheinen.“ (Frankl 1994:286) Diese Äußerung verliert heutzutage, besonders in unserer schnelllebigen Gesellschaft, weder an Bedeutung noch an Aktualität und wird den Sinn suchenden Menschen stärker denn je weiterbeschäftigen. Allgemeines zur Existenzanalyse und Logotherapie Die Existenzanalyse und Logotherapie wurde in ihrer Entstehungsgeschichte überwiegend von dem Wiener Arzt und Psychologen Viktor E. Frankl (1905 bis 1997) geprägt. Die Existenzanalyse und Logotherapie, auch als die „Dritte Wiener Richtung der Psychotherapie“ bezeichnet, entstand im Kontext zu Sigmund Freuds Psychoanalyse und Alfred Adlers Individualpsychologie und kann einer humanistisch, existenziellen Richtung zugeordnet werden. Größere Bekanntheit und Anerkennung fand die Existenzanalyse und Logotherapie anfangs vorwiegend in den Vereinigten Staaten von Amerika. In Europa wurde diese Psychologierichtung erst Ende der Achtziger Jahre verbreitet. Die Existenzanalyse und Logotherapie findet mittlerweile verstärkt im psychologischen, therapeutischen, psychohygienischen, sozialarbeitsrelevanten, suchtpräventiven, pflegerischen, pädagogischen und seelsorglichen Bereich ihre Anwendung. Die Existenzanalyse und Logotherapie versteht sich als eine eigenständige, existenzielle und humanistische Psychotherapierichtung. Während in der herkömmlichen analytischen Theorie der Mensch als trieb- und lustgesteuert gilt, mit dem Streben nach einem inneren stabilen Gleichgewicht, geht das logotherapeutische Menschenbild davon aus, dass der Mensch primär ein eigenständiges, sinnorientiertes und entscheidungsfähiges Wesen ist. (vgl. Frankl 2005:40f) Das Gesamtbild der Existenzanalyse und Logotherapie lässt sich anschaulich anhand eines Dreisäulenmodells erklären. Die 1. Säule beschreibt den Menschen mit seinem Menschenbild als nicht determiniert und potenziell „willensfrei“. Die 2. Säule bildet den Ansatzpunkt der Heilkunde im Sinn der Logotherapie und betrachtet den Menschen als grundsätzlich „willensorientiertes“ Wesen. Die 3. Säule spiegelt mit seinem Weltbild das Postulat wieder, dass das Leben einen bedingungslosen Sinn hat. In der Gesamtbetrachtung ist die Existenzanalyse und Logotherapie ein Themenfeld aus einer Mischung von Anthropologie, Psychotherapie und Philosophie. (vgl. Lukas 2006:15ff) [siehe Abbildung 1] Abbildung 1: Säulenmodell der Existenzanalyse und Logotherapie Quelle: eigene Darstellung In der Gestaltungsweise der Therapieform wählte Frankl die Bezeichnungen „Existenzanalyse“ und „Logotherapie“. Die beiden Begriffe beinhalten unterschiedliche theoretische Strukturen, sind aber voneinander abhängig und ergeben erst im Kontext die eigentliche sinnorientierte Therapieform. Die Existenzanalyse kann als die Grundlagentheorie der Logotherapie verstanden werden. Die Einzelbegriffe werden nachfolgend in diesem Kapitel noch näher erläutert. Das nachfolgende Zitat von Frankl soll dessen Sichtweise auf die Begriffe „Existenzanalyse“ und „Logotherapie“ zeigen: „Es ist das Anliegen dessen, was wir Logotherapie genannt haben, daß sie den Logos in die Psychotherapie einbezieht. Und es ist die Aufgabe dessen, was wir Existenzanalyse genannt haben, daß sie die Existenz in die Psychotherapie hereinnimmt. Psychotherapeutische Rückbesinnung auf den Logos bedeutet soviel wie Rückbesinnung auf den Sinn und auf die Werte. Psychotherapeutische Selbstbesinnung auf die Existenz heißt soviel wie Selbstbesinnung auf die Freiheit und die Verantwortlichkeit. Rückbesinnung auf den Sinn und auf die Werte ist soviel wie Rückbesinnung auf ein Sein-sollen, und Selbstbesinnung auf die Freiheit und die Verantwortlichkeit soviel wie Selbstbesinnung auf ein Sein-können. Sofern beide sowohl die Logotherapie als auch die Existenzanalyse - eine „am Geistigen orientierte“ Psychotherapie darstellen, gliedert sich diese Psychotherapie auf einerseits in die Logotherapie als Therapie „vom Geistigen“ her und andererseits in die Existenzanalyse als Analyse „auf Geistiges hin“. Während die Logotherapie vom Geistigen ausgeht, führt die Existenzanalyse zum Geistigen hin.“ (Frankl 1996,171f) (siehe Abbildung 2) anthropologischer Ansatz „auf geistiges hin“ psychotherapeutischer Ansatz vom geistigen her“ Existenzanalyse Logotherapie Freiheit, Verantwortung „sein-können“ Sinn, Werte „sein-sollen“ Abbildung 2: Funktionale Bereiche der Existenzanalyse und Logotherapie Quelle: eigene Darstellung Frankl führt dazu noch näher aus: „Die Existenzanalyse und Logotherapie sind je eine Seite ein und derselben Theorie. Und zwar ist die Logotherapie eine psychotherapeutische Behandlungsmethode, während die Existenzanalyse eine anthropologische Forschungsrichtung darstellt.“ (Frankl 1994:57f) Einzelbegriff der Existenzanalyse Die Existenzanalyse befasst sich mit der Selbstbesinnung einer Person auf deren Freiheit und Verantwortlichkeit, das „Sein-können“ einer Existenz wird damit in seinem Dasein erschlossen. Diese beleuchtet die Grundmöglichkeiten sozusagen das Potenzial und die Fähigkeiten eines Menschen auf eine geistige Ebene hin z. B. in seiner Selbsttranzendierungs-, Selbstdistanzierungsfähigkeit und seinem Werteerleben. Die Existenzanalyse liefert somit ein strukturiertes Bild der grundlegenden Bedingungen eines erfolgreichen sowie erfolglosen menschlichen Daseins und ist die Grundlage einer anthropologischen Psychotherapie. (vgl. Riedel/Deckart/Noyon 2002:49-70). Einzelbegriff der Logotherapie Die Logotherapie baut auf das in der Existenzanalyse gewonnene strukturierte Bild einer Person auf und ist dessen Rückbesinnung auf den Sinn und Wert seiner Existenz, dass seinem „Sein-sollen“ entspricht. Der von Frankl geschaffene Kunstbegriff „Logotherapie“, weist schon in seiner Zusammensetzung vom Wort „Logos“, in der Bedeutung von Sinn und Geist und dem Wort „Therapie“ auf seine Intention hin. Die Logotherapie als sinnstiftendes Element erweitert die geistige Ebene um seine Sinnorientierung und ist eine Hilfestellung für den sinnsuchenden Menschen mittels Beratung, Begleitung und Therapie. (vgl. Riedel/Deckart/Noyon 2002:49-70) Die Logotherapie darf aber nicht als eine „Sinn gebende“, sondern soll als eine „Sinn suchende“ Therapieform verstanden werden. Diese Einschränkung ergibt sich aus der logotherapeutischen Weltsicht, die Sinnmöglichkeiten im Überfluss vorhanden sieht. Die Logotherapie nimmt sich mit der „Sinnsuche“ dem Leiden am sinnlosen Leben an. Sinn kann aus Sicht der Logotherapie nur „aufgefunden“ und nicht „erschaffen“ werden. (vgl. Frankl 1996:32) Die Logotherapie sieht die Ganzheit des Menschen im Zusammentreffen von drei verschiedenen Seinsformen, die eine untrennbare Einheit in ihm bilden. Der Mensch ist leiblich (somatisch), seelisch (psychisch) und geistig (noetisch) zugleich. Der Mensch setzt sich nicht aus diesen drei Dimensionen einfach zusammen, sondern er entsteht vielmehr erst als Einheit dadurch, dass sich das Geistige mit dem Psychosomatischen auseinandersetzt. (vgl. Frankl 1990:176) Durch das Hinzufügen einer weiteren Dimension, einer dritten Komponente des „geistigen“, unterscheidet sich das psychotherapeutische Gedankenmodell der Existenzanalyse und Logotherapie wesentlich von der Psychoanalyse Freuds und der Individualpsychologie Adlers, in denen nur die physische und psychische Dimension des Menschen, also nur zwei Dimensionen, betrachtet werden. (siehe Abbildung 3) 1. physische Dimension 2. psychische Dimension Abbildung 3: Strukturmodell der Logotherapie Quelle: eigene Darstellung Die physische und die psychische Dimension stehen in einem engen Zusammenhang, Frankl spricht von einem „unumgänglichen Parallelismus“. Die geistige Dimension ist aber unabhängig und steht den beiden anderen Dimensionen divergent gegenüber und stellt den Antagonismus des Geistigen dar, der erst den Menschen als geistiges Wesen definiert. (vgl. Frankl 1975:220) Dimensionalontologie Der dreidimensionale Betrachtungsansatz Frankls, der von ihm sogenannten „Dimensionalontologie“, kann über die Gesetze der darstellenden Geometrie sinngemäß abgeleitet werden. In der darstellenden Geometrie werden Gegenstände in ihrem Gesamtbild erst anhand ihrer drei Projektionen Grundriss, Aufriss und Seitenriss vollkommen und eindeutig bestimmt. Mittels dieser Darstellungsmethode lassen sich folgende zwei Gesetzmäßigkeiten ableiten (Abbildung 4): 1. Ein Gegenstand in unterschiedlichen Projektionen abgebildet kann einander widersprechende Abbilder ergeben. 3. 1. 2. 2. Verschiedene Gegenstände in nur einer Projektion abgebildet, sind nicht eindeutig und können mehrdeutige Abbilder ergeben. 3. 1. 2. Abbildung 4: Gesetze der Dimensionalontologie Quelle: eigene Darstellung Diese Ableitung der ersten geometrischen Gesetzmäßigkeit auf die Anthropologie beschrieb Frankl folgendermaßen: „Nun, auch der Mensch, um die Dimension des spezifisch Humanen reduziert und in die Ebene der Biologie und der Psychologie projiziert, bildet sich auf eine Art und Weise ab, daß die Abbildungen einander widersprechen. Denn die Projektion in die biologische Ebene ergibt somatische Phänomene, während die Projektion in die psychologische Ebene psychische Phänomene ergibt. Im Lichte der Dimensionalontologie aber widerspricht der Widerspruch nicht der Einheit des Menschen. Er tut es ebenso wenig wie der Widerspruch zwischen dem Kreis und dem Rechteck der Tatsache widerspricht, daß es sich um Projektionen ein und desselben Zylinders handelt.“ (Frankl 2005:48) Ebenso kann die zweite geometrische Gesetzmäßigkeit auf die Anthropologie übertragen werden: „Projiziere ich nicht dreidimensionale Gebilde in eine zweidimensionale Ebene, sondern Gestalten wie Fedor Dostojewski oder Bernadette Soubirous in die psychiatrische Ebene, dann ist für mich als Psychiater Dostojewski nichts als ein Epileptiker wie jeder andere Epileptiker und Bernadette nichts als eine Hysterikerin mit visionären Halluzinationen. Was sie darüber hinaus sind, bildet sich in der psychiatrischen Ebene nicht ab. Denn sowohl die künstlerische Leistung des einen als auch die religiöse Begegnung der anderen liegt außerhalb der psychiatrischen Ebene.“ (Frankl 2005:50f) Die Schlussfolgerung aus Frankls Überlegungen stellt die Notwendigkeit einer möglichst wahrheitsgetreuen Abbildung des Menschen in drei Dimensionen, der somatischen, psychischen und noetischen, dar. Umgesetzt auf den therapeutischen Heilungsprozess bedeutet dies ein verstärktes Eingreifen auf der jeweils beeinträchtigten Dimension unter Rücksichtnahme auf die anderen zwei Dimensionen, welches im Extremfall auch ein Behandeln auf allen drei Ebenen nicht ausschließt. (vgl. Lukas 1986:30f) Die Gefahr der Regression Die Bedeutung des Geistigen, die dritte Dimension, ist in der Psychotherapie nicht ganz unumstritten, da diese eine reine Hypothese darstellt. Dennoch wäre es unbesonnen, sämtliche geistigen Phänomene in nur zwei Dimensionen abbilden zu wollen. Frankl veranschaulicht die logischen Folgen einer Reduktion auf nur zwei Dimensionen, auf ein Psychophysikum, anhand von vier Beispielen im Determinismus, Psychologismus, Reduktionismus und Kollektivismus und nennt diese die „kritischen Zerrbilder des Menschen“. (vgl. Lukas 2006:24f) Determinismus: Wer an keine geistige Freiheit des Menschen glaubt, muss konsequenterweise an ein Schicksal glauben. Psychologismus: Wer die Intaktheit geistiger Existenz nicht beachtet, sieht den Menschen bald nur noch als anfälligen seelischen Apparat. Reduktionismus: Wer die Sinnorientierung des Menschen vernachlässigt, gerät leicht in Versuchung, jedes Motiv als Triebbedürfnis zu deuten. Kollektivismus: Wer die Persönlichkeit des Einzelnen ignoriert, ist schnell bereit, diesen nach seinem Charakter zu beurteilen. (vgl. Lukas 2006:25) Existenzanalyse und Logotherapie im Kontext von Krisenintervention und Suizidprävention Die Existenzanalyse und Logotherapie fand ihren gedanklichen Ursprung in der Krisenintervention und Suizidprävention und geht auf die Lebenserfahrung Frankls zurück. Den genauen Lebensweg Frankls wiederzugeben, soll nicht Gegenstand dieser Arbeit sein. Es werden daher nur einige Schwerpunkte im Leben Frankls im Zusammenhang mit dem Thema dieser Ausarbeitung genannt. Bereits im Jugendalter nach dem Selbstmord eines Mitschülers, setzte sich Frankl intensiv mit dem Thema Suizid und Lebenssinn auseinander, dieser Themenbereich begleitete Frankl durch sein gesamtes Leben. Frankl leitete ein Jahrzehnt lang die von Wilhelm Börner gegründete „Wiener-Lebensmüden-Stelle“ zur Suizidprävention. Von 1933 bis 1937 arbeitete Frankl im psychiatrischen Krankenhaus „Am Steinhof“ in Wien, wo er im „Selbstmörderinnenpavillon“ pro Jahr ca. 3000 Patienten behandelte. Frankl arbeitete während der nationalsozialistischen Besetzung Österreichs als Oberarzt im Wiener Rothschildspital, wo er sich mit suizidgefährdeten Personen, meist jüdischer Abstammung, die sich vor einer Deportation durch Suizidversuche entziehen wollten, auseinandersetzen musste. Frankl, selbst jüdischer Abstammung, widerfährt wie auch seinen Eltern, seinem Bruder und seiner Frau, das grauenhafte Schicksal der Deportation. Seine Internierung erfolgte über drei Jahre in vier verschiedenen Konzentrationslagern, in denen Suizid und Suizidgedanken allgegenwärtig waren. Frankls Eltern, Bruder wie auch seine Frau überlebten den Holocaust nicht. Trotz dieser extremen Lebensumstände in den Lagern verlor Frankl nie seinen Lebensmut und fühlte sich infolge seiner Erkenntnisse in der Bedeutung seines vor der Internierung begonnenen Werkes über die „Ärztliche Seelsorge“ nur bestätigt. (vgl. Lukas 1990:1-6) Frankl führte später über diese Zeit aus: "In den Konzentrationslagern hatte ich Gelegenheit, die Logotherapie auf die Feuerprobe zu stellen. Tatsächlich war die Lektion von Auschwitz, dass der Mensch ein sinnorientiertes Wesen ist. Wenn es überhaupt etwas gibt, das ihn auch noch in einer Grenzsituation aufrecht zu erhalten vermag, dann ist es das Wissen darum, dass das Leben einen Sinn hat, und sei es auch nur, dass sich dieser Sinn erst in der Zukunft erfüllen lässt. Die Botschaft von Auschwitz lautete: Der Mensch kann nur überleben, wenn er auf etwas hin lebt. Und wie mir scheint, gilt dies nicht nur vom Überleben des einzelnen Menschen, sondern auch vom Überleben der Menschheit." (Fabry 1985:24) Arbeiten im logotherapeutischen Sinn In Österreich berufen sich zwei Ausbildungsinstitute, die Gesellschaft für Existenzanalyse und Logotherapie (GLE) und das Ausbildungsinstitut für Existenzanalyse und Logotherapie (ABILE), auf den Gründer der Existenzanalyse und Logotherapie, Frankl. Diese Bildungsstätten setzen jedoch in ihren Lehren unterschiedliche Schwerpunkte. Die Ausführungen in dieser Arbeit beziehen sich im Wesentlichen auf das ABILE, das die originäre Lehre Frankls vertritt. Das Besondere an der Logotherapie ist nicht eine psychologische Taktik, Strategie oder Technik, sondern ihre auf die jeweilige Problematik eines Patienten abgestimmte Improvisationskunst unter dem Leitstern eines würdigen Menschenbildes. Im logotherapeutischen Sinn wird „arbeiten“ zunächst als ein „in Beziehung treten“ von Patient und Therapeut verstanden. Entscheidend für den psychotherapeutischen Prozess ist die dabei entstehende Qualität der Beziehung zwischen Therapeut und Patient. Der Aufbau einer tragfähigen Beziehung und das „Halten“ dieser speziellen Beziehungsqualität sind ein wesentlicher „Arbeitsbestandteil“. Erst eine belastbare und vertraute Beziehung schafft die Grundlage für ein existenzanalytisches Gespräch, das herauszufinden versucht, auf welche Werte sich die Existenz eines Menschen gründet. Die logotherapeutischen Interventionen bedürfen ebenfalls dieser besonderen Beziehungsqualität und sind nur in dieser speziellen „Atmosphäre“ erfolgreich wirksam. Ebenso ist der Transport des logotherapeutischen Menschenbildes mittels z. B. sokratischen Dialogs nur möglich, wenn die Beziehungstiefe zwischen Patient und Psychotherapeut einen gewissen emotionalen Austausch erlaubt. So gesehen ist die Existenzanalyse und Logotherapie eine sehr „beziehungslastige“ Psychotherapieform. (vgl. Frankl 1982:217f) Als ein wesentlicher Aspekt hat sich dabei die „Passung“ von therapeutischem (Beziehungs-)Angebot und den Erwartungen und Bedürfnissen des Patienten herausgestellt. (vgl. Orlinsky/Howard 1988:281-308, Faller 2000:349-367, Strauß 2000:22-26, Eckert/Biermann-Ratjen 2004:192-211) Zusammenfassend kann gesagt werden, dass eine effiziente Wirkung der Existenzanalyse und Logotherapie durch eine starke Ausrichtung auf die Beziehungsebene zustande kommt. Die Qualität der Beziehung entsteht im logotherapeutischen Kontext durch eine weitgehend vorurteilsfreie, wertschätzende, menschliche Begegnung, einer Anteil nehmenden Kommunikation und dem echten Interesse am Gegenüber und seiner Problematik. Logotherapeutische Schlüsselbegriffe In diesem Abschnitt werden die wesentlichen logotherapeutischen Grundbegriffe zusammengefasst und genauer erläutert um das Verstehen des theoretischen Hintergrunds zu erleichtern. Die geistige Dimension Die Logotherapie sieht in der geistigen Dimension des Menschen seine speziellen menschlichen Werte begründet. Die geistige Person allein ist es, die zu Körper und Psyche „Stellung“ zu beziehen vermag. Der Spannungsbogen zwischen „SEIN“ und „SOLLEN“ ist es, der den Menschen zu seinen Handlungen motiviert. (vgl. Riedel/Deckart/Noyon 2002:82-89) Die geistige Dimension des Menschen ist jene Dimension die eine Existenz erst zum Menschen macht und uns von anderen Lebewesen unterscheidet. Diese vorher beschriebene Begabung des Menschen zur freien Stellungnahme schließt die Fähigkeit zur „Selbstdistanzierung“ und „Selbsttranszendenz“ mit ein. Auf diese beiden Begriffe wird weiter unten in diesem Kapitel nochmals genauer eingegangen. Die Logotherapie sieht den Menschen vor allem als ein Wesen auf der Suche nach Sinn, wobei das Wort Sinn durch „Richtung“ oder „Ziel“ ersetzt werden kann. Die „geistige Ebene“ wird als die „spezifisch humane“ Dimension des Menschen gesehen. Es ist die Dimension der Lebenspläne und Lebensgestaltung, der Zielwahrnehmung und Willensvorgänge; der Empfänglichkeit für Sinnfragen, Ethos und religiöse Erfahrung, Liebe, Güte usw. Es ist die Dimension künstlerischer Intuition und wissenschaftlicher Inspiration, die Quelle jedweder kulturellen Entwicklung. Ihr Charakteristikum ist die Annahme der Wahlfreiheit, auch wenn diese nur in der freien Einstellung zu unfreien Gegebenheiten besteht. Verantwortung für das Handeln oder Nicht-Handeln besteht gegenüber sich selbst, den Mitmenschen und einer höheren Instanz. (vgl. Frankl 1988:16-18) „Wille zum Sinn“ Wie schon zuvor ausgeführt beschäftigt sich die Logotherapie vor allem mit der Sinnsuche. Doch Sinn ist nach logotherapeutischer Sichtweise nicht einfach, etwas was Menschen als wünschenswert, begehrlich oder zweckmäßig charakterisieren. Sondern Sinn besitzt die Qualität des objektiv Guten in dieser Welt, ungeachtet dessen, ob ein irdisches Bewusstsein genügend entwickelt ist, diesen Sinn zu begreifen. Im Weltbild der Logotherapie ist die gesamte Schöpfung voll Sinn, abgeleitet davon hat das Leben einen bedingungslosen Sinn, den es unter keinen Umständen verliert. Jede einzelne Lebenssituation enthält ihre besondere Sinnchance und ihre besonderen Sinnangebote. (vgl. Frankl 2001:223) Als Ebenbild dazu ist der Mensch, als geistiges Wesen, über alle Triebdynamik hinaus, erfüllt vom „Willen zum Sinn“. Ausgestattet mit dem „Sinnorgan“ des Gewissens hat der Mensch die Möglichkeit, Sinnkonstrukte als solche zu erkennen. (vgl. Frankl 1992:15f) Wird der einem Menschen angeborene „Wille zum Sinn“ frustriert, manifestiert sich das daraus resultierende Sinnlosigkeitsgefühl in psychischen Störungen und findet seinen pathologischen Ausdruck in Depression, Aggression und Süchten. (vgl. Frankl 1982:9f) Mit anderen Worten ausgedrückt, zeigt sich das Geistige im Menschen durch das Bewusstsein der eigenen Verantwortung und in der Fähigkeit zur Sinnfindung. Nach Frankl sucht der Mensch in seinem Leben vor allem eines: Sinn. Die Logotherapie stellt dem Begriff des triebhaften Unbewussten Freuds den Begriff der unbewussten Geistigkeit gegenüber. Eigentliches Menschsein ist erst dort gegeben, wo nicht die Triebe (ES) den Menschen determinieren, sondern wo die Vernunft des Menschen (ICH) sich entscheidet. (vgl. Frankl 1992:17) Das „Warum“ ist ein Sinnkonstrukt – ein „Sinnanruf“ gemäß der logotherapeutischen Theorie. Tatsächlich hat das Wissen um eine Lebensaufgabe einen eminenten psychotherapeutischen und psychohygienischen Wert. (vgl. Frankl 2005:101) Menschen werden „ungefragt“ in dieses Leben „geworfen“ (vgl. Binswanger 1961:32f) und haben die Freiheit, das Geschenk „Leben“ anzunehmen oder zu verwerfen. Der Grundgedanke der Existenzphilosophie - M. Heideggers, E. Husserls, J.-P. Sartres - postuliert, dass sich das menschliche Dasein im Spannungsfeld zwischen unbeeinflussbarem "Geworfensein" in die Welt und selbst gewähltem Entwurf bewegt. Frankl meint, wer um einen Sinn seines Lebens weiß, dem verhilft dieses Bewusstsein mehr als alles andere dazu, äußere Schwierigkeiten und innere Beschwerden zu überwinden. Unter Sinn wird die wertvollste Möglichkeit in einer Situation verstanden. Sinn kann, wie schon angesprochen, nicht willkürlich geschaffen oder beliebig gefunden werden. Sinnfindung setzt daher einen Prozess der Suche voraus. (vgl. Längle 1998:233ff) Frankl zitiert Nietzsche mit: „Wer ein Warum zum Leben hat, erträgt fast jedes Wie.“ (Frankl 2005:101) Zum Problem wird Sinn üblicherweise erst, wenn dieser verloren geht. Dieser Sinnverlust kann z. B. durch körperliche oder seelische Krankheiten, Verlust, Trennung, Einsamkeit, Abstumpfung usw. erfolgen. In diesem Zustand wird die Sinnfrage zum quälenden Problem, welches sich letztendlich bis zum Suizid zu steigern vermag. Frankl versteht Sinn als die primäre Motivationskraft des Menschen. Als geistiges Wesen strebt der Mensch danach, sein Leben eigenverantwortlich sinnvoll zu gestalten. Die psychischen Bedingungen beeinflussen zwar die geistige Dimension des Menschen, determinieren diese aber nicht gänzlich. Der Mensch wird also nicht zum Spielball seiner Bedürfnisse aus Ängsten, Trieben usw. – der Mensch ist frei, „dazu“ Stellung zu nehmen. Frankl leitet daraus das Konzept der „Trotzmacht des Geistes“ ab, auf das nachfolgend genauer eingegangen wird. Trotzmacht des Geistes Der grundlegende Ansatzpunkt der Logotherapie ist die divergente Distanzierungsfähigkeit der geistigen Dimension gegenüber der „psychophysischen“ Dimension und wird von Frankl mit der „Trotzmacht des Geistes“ bezeichnet. Es wird außerdem die Annahme getroffen, dass die geistige Dimension des Menschen nicht erkranken kann. Sondern nur durch einen „Störfall“ dem Menschen der Zugang zu seiner geistigen Ebene nicht oder nur eingeschränkt möglich ist. Diese Sichtweise ist ein wesentlicher Bestandteil der Logotherapie und wird von Frankl in folgendem Zitat ausgeführt: „Auf die geistige Person, auf die Macht des Geistes, sich dem Psychophysicum entgegenzustellen, ihm zu trotzen, - auf diese „Trotzmacht des Geistes“ rechnet die Logotherapie. […] Der noo-psychische Antagonismus ist somit von exquisiter therapeutischer Relevanz. An ihm muss letzten Endes alle Psychotherapie ansetzen, im Besonderen aber die Logotherapie einklinken.“ (Frankl 1975:227) Der Mensch als Person definiert sein Werte über eine freie Stellungnahme seiner geistigen Ebene zu seiner „psychophysischen“ Dimension und ist damit verantwortlich für seinen Entwicklungsprozess. Dieser Gestaltungsfreiraum eröffnet die Möglichkeit aus jeder Situation das persönlich am Sinnvollsten erscheinende auszuwählen. Der Mensch wird dadurch Gestalter seines Lebens. Zu den Selbstgestaltungspotenzialen, die ihren Ursprung in der geistigen Dimension haben, wird die Selbstdistanzierung und Selbsttranszendenz gezählt. Eine nähere Beschreibung dieser Fähigkeiten, die nur dem Menschen eigen sind, wird nachfolgend gegeben. Selbstdistanzierung Die Selbstdistanzierung wie auch die Selbsttranszendenz setzt das dreidimensionale Strukturmodell der Logotherapie voraus, wonach das Menschsein als Einheit der Dimensionen Körper, Psyche und Geist verstanden wird. Die Selbstdistanzierung bezeichnet die Fähigkeit eines Menschen, von sich selbst Abstand nehmen und sich gegenübertreten zu können. Durch die Selbstdistanzierung eröffnet sich der Mensch einen “inneren Freiraum”. Als Person sich selbst überlassen, erfährt diese sich dennoch nicht als ausgeliefert, sondern als sich selbst gestaltend. Die Selbstdistanzierung ist die Basis einer gelebten Freiheit und Voraussetzung der Selbstwahrnehmung, der Auseinandersetzung mit sich selbst und der Stellungnahme zu sich selbst und seiner Umgebung. Bei Frankl liegt die Selbstdistanzierung in der Distanznahme zum Psychophysikum. (vgl. Frankl 1996:144-149) Die Fähigkeit zur Selbstdistanzierung ermöglicht dem Menschen innerhalb seiner Befindlichkeit, gegenüber seinen Bedürfnissen und seinen psychophysischen Verhältnissen einen Freiraum zur sinnvollen aktiven Lebensgestaltung zu nutzen. Diese führt letztendlich zu einer neuen Selbst- und Situationsbewertung. (vgl. Riedel/Deckart/Noyon 2002:99-102) Selbsttranszendenz Die Selbsttranszendenz erschließt das Selbstgestaltungspotenzial des Menschen, über sich selbst hinaus zu wachsen. Sie besteht in der Fähigkeit des Menschen, sich anderen Dingen als sich selbst zuzuwenden. Als geistiges Wesen kann der Mensch sich selbst nicht bis ins Letzte begreifen, er kann sich nur selbst über andere oder anderes hinweg definieren. Der Mensch verwirklicht sich also nicht, indem er unmittelbar sich selbst sucht, sondern indem er aus sich herausgeht und mit seiner Umgebung in Beziehung tritt. Mit anderen Worten ausgedrückt, kann sich der Mensch nur selbst finden und verwirklichen, indem er seinen Blick weg von sich selbst, auf Andere oder Anderes hin lenkt. In der Fähigkeit zur Selbsttranszendenz wird die Kompetenz zur Selbstverwirklichung verstanden, sich trotz genetischer Konstitution, Triebe und emotionaler Bedürfnisse eine freie Stellungnahme zu beziehen. Die Selbsttranszendenz ist die Verwirklichung der persönlichen Freiheit in Gegenwart von Determinanten, unter denen sich das Leben vollzieht. (vgl. Riedel/Deckart/Noyon 2002:96-97) Mit den Worten Frankls ausgedrückt: „Die Selbsttranszendenz ist die Fähigkeit des Menschen, über den Dingen zu stehen […] die Möglichkeit, über sich selber zu stehen.“ (Frankl 1996:143) Gewissen als Sinnorgan Wie schon angesprochen wird dem Gewissen in der Existenzanalyse eine sprichwörtlich entscheidende Rolle zugesprochen: die eines Werkzeugs mit der Fähigkeit zur objektiven Sinnwahrnehmung. Frankl definiert das Gewissen folgendermaßen: „Das Gewissen gehört zu den spezifisch menschlichen Phänomenen. Es ließe sich definieren als die intuitive Fähigkeit, den einmaligen und einzigartigen Sinn, der in jeder Situation verborgen ist, aufzuspüren. Mit einem Wort, das Gewissen ist ein Sinn-Organ.“ (Frankl 1995:75) Das Gewissen funktioniert wie eine auf die Person ausgerichtete und instinktive Entscheidungsinstanz. Entscheidungen des Gewissens sind meist von essenzieller Bedeutung, die einen wesentlichen Einfluss auf den Sinn des persönlichen Lebens nehmen. Das Gewissen kann als Schnittstelle zwischen objektiver Wertewelt und persönlichem „Willen zum Sinn“ gesehen werden. Die Entscheidungen des Gewissens erfolgen unreflektiert und unbewusst. Der im Unbewussten wurzelnde Instinkt des Gewissens entscheidet in einer konkreten Situation, was für die Person jeweils notwendig und sinnvoll ist. (vgl. Raskob 2005:180f) Lukas vergleicht das Gewissen mit einem Kompass, dessen Nadel sich unabhängig von der örtlichen Befindlichkeit immer zum magnetischen Pol nach Norden ausrichtet. Die Aufgabe des Gewissens besteht in einer ähnlichen Funktion, in der Erschließung des einzigartigen und einmaligen Sinns einer Situation, der jeweils situationsbezogenen Möglichkeiten im Hintergrund eines objektiven Wertehorizonts. (vgl. Lukas 2006:32ff) Der Mensch aber selbst, als Persönlichkeit muss entscheiden, ob er der inneren Stimme seines Gewissens folgt oder den richtig gemeinten Sinn der Lage erkennen kann oder will. In ähnlichen Situationen können verschiedene Menschen aufgrund ihrer persönlichen Fähigkeiten und Konstitution verschiedene Möglichkeiten als sinnvoll entdecken, mit dem Hintergrund das situativ Sinnvollste zu tun. (vgl. Riedel/Deckart/Noyon 2002:94) Der Mensch hat die freie Wahl, Entscheidungen zu treffen und kann sich der Freiheit seiner Wahlmöglichkeiten letztendlich auch nicht entziehen. (vgl. Längle 2007:46) Diese menschliche Freiheit der Sinnfindung führt unweigerlich zur persönlichen Verantwortung, die mit dem Verwirklichen oder Verwirken einer Sinnchance entsteht. Die Freiheit trägt also gewissermaßen den Preis der Verantwortung, welches im folgenden Unterkapitel näher beschrieben wird. Freiheit und Verantwortung Die Freiheit und Verantwortung sind die Voraussetzungen zur Sinnfindung. Persönliche Freiheit und Verantwortung werden in der Existenzanalyse als die Selbstbesinnung einer Person auf deren Freiheit und Verantwortlichkeit, dem „Seinkönnen“ einer Existenz, im Spannungsfeld von biologischen, psychologischen und sozialen Umgebungsbedingungen gesehen. Es handelt sich hier um jene Freiheit des Menschen, mittels seiner geistigen Dimension in einem determinierten Umfeld freie Entscheidungen treffen zu können. (vgl. Frankl 1990:58f) „Der Mensch ist nicht frei von Bedingungen, sondern nur frei, zu ihnen Stellung zu beziehen.“ (Frankl 1982:156) Weder Triebe noch Erbe oder Umwelt können eine Person auf einen bestimmten Menschentypus hin fixieren. Eine Person, die aus einem denkbar schlechten Elternhaus kommt und in einer denkbar gewalttätigen Umwelt lebt, kann sich dafür oder dagegen entscheiden, selbst Gewalt anzuwenden - eine Freiheit, die sie dank ihrer geistigen Dimension und ihrem Gewissen besitzt. Diese Freiheit zur persönlichen Stellungnahme findet in der geistigen Innenwelt des Menschen sowie in seiner äußeren Umwelt zu jedem Zeitpunkt seiner Existenz statt. (vgl. Lukas 2006:26ff u. 57) Die Existenzanalyse sieht dementsprechend den Menschen als Mitgestalter seiner selbst, welches Freiräume zur individuellen Gestaltung voraussetzt. Durch die freie Wahlmöglichkeit verbleibt der Mensch in seiner persönlichen Verantwortung für sein Handeln. Das Sosein des Menschen wird als eine subjektive Entscheidung verstanden, so und nicht anders sein zu wollen. Charakter und Persönlichkeit In der Existenzanalyse wird zwischen Charakter und Persönlichkeit unterschieden. Der Charakter beschreibt die genetische Konstitution des Menschen, die durch Faktoren wie Milieu, genetische Veranlagung und Erfahrung bestimmt ist. Die Persönlichkeit dagegen leitet sich aus den vorher genannten Fähigkeiten der Selbstdistanzierung, Selbsttranszendenz und der Ausprägung des Gewissens einer Person ab, sind deren konkreten Potenziale und zeichnet sich durch deren Willensfreiheit und Verantwortungsübernahme aus. Die Persönlichkeit wird dementsprechend durch die Stellungnahme der geistigen Dimension und mithilfe der Selbstdistanzierungs- und Selbsttranszendenzfähigkeiten gestaltet und stellt den Gegenpol zum Charakter dar. (vgl. Lukas 2006:56f) Eine Gegenüberstellung zwischen Charakter und Persönlichkeit ist in nachfolgender Abbildung 5 dargestellt. Abbildung 5: Gegenüberstellung von Charakter und Persönlichkeit, Quelle: Lukas 2006:58 „Die Charakteranlage ist daher auf keinen Fall das jeweils Entscheidende; letztlich entscheidend ist vielmehr immer die Stellungnahme der Person. In „letzter Instanz“ entscheidet somit die (geistige) Person über den (seelischen) Charakter, und in diesem Sinne läßt sich sagen: zuletzt entscheidet der Mensch über sich selbst. (Daß er dies nicht immer faktisch tut, wohl aber fakultativ, ändert nichts an der prinzipiellen Gültigkeit dieser Aussage.) Der Mensch hat also nicht nur Freiheit gegenüber Einflüssen aus seiner Umwelt, sondern auch gegenüber seinem eigenen Charakter.“ (Frankl 1996:145) Frankl spricht sehr drastisch über das Thema der menschlichen Persönlichkeit in diesen Zusammenhang aus seinen persönlichen Erfahrungen im Konzentrationslager: „[…] Was also ist der Mensch? Er ist das Wesen, das immer entscheidet, was es ist. Er ist das Wesen, das die Gaskammern erfunden hat, aber zugleich ist er auch das Wesen, das in die Gaskammern gegangen ist mit stolz erhobenem Haupt und mit dem Vaterunser auf den Lippen oder dem Sch’ma Jisrael.“ (Frankl 1997:139) Wertekategorien und Sinnuniversalien In der Logotherapie ist das Auffinden und bewusst machen von Wertvorstellungen von großer Bedeutung und dient als Grundlage dieser Therapieform. Diese Werte werden in der Logotherapie in drei Wertkategorien eingeteilt: 1. Erlebniswerte: Durch das Erleben von etwas Schönem, Gutem, Gefälligem, Wahrem nimmt der Mensch Wertvolles in sich auf und realisiert dadurch Sinn. Es sind vor allem die „ästhetischen Werte“ wie z. B. Beziehungen, Liebe, Kunst, Weisheit usw. Zu den stärksten Erlebniswerten zählt die Begegnung mit anderen Menschen. Im Besonderen zeigen sich Erlebniswerte in der Liebe zu einem Menschen, wo der andere in der Einzigartigkeit seines Wesens erfasst und geschätzt wird. Erlebniswerte offenbaren uns die ursprüngliche Schönheit des Lebens und stiften jene Kraft dafür andere Bereiche unseres Lebens sinnvoll gestalten zu können. (vgl. Längle 2007:49) 2. schöpferische Werte: Durch das Schaffen von etwas Wertvollem setzt der Mensch Werte in die Welt und erlebt sich selbst dadurch als sinnvoll. Unter diese Werte auch „Schaffenswerte“ genannt wird im Allgemeinen die Welt des aktiven Gestaltens mit Arbeit, Beruf und Freizeit verstanden. Beim menschlichen Schaffen kommt es nicht auf die Großartigkeit des Geschaffenen an, sondern viel mehr auf einen sinnvollen Gestaltungs- oder Lebensbewältigungsprozess. Das größte „Werk“, an dem jeder Mensch Tag für Tag arbeitet, stellt eine sinnvolle Bewältigung des Lebens dar. (vgl. Längle 2007:51) Frankl schrieb im Zusammenhang mit schöpferischen Werten: „In diesem Aspekt könnte kein großer Gedanke untergehen, selbst wenn er nie bekannt geworden, wenn er ins Grab mitgenommen würde. Die innere Lebensgeschichte eines Menschen in ihrer ganzen Dramatik und sogar Tragik wäre dann nie „umsonst“ geschehen, auch wenn sie nie bemerkt würde, auch wenn kein Roman von ihr zu erzählen wüsste. Der „Roman“, den einer gelebt hat, ist noch immer eine unvergleichlich größere schöpferische Leistung als der, den jemand geschrieben hat.“ (Frankl 2005:46f) 3. Einstellungswerte: Das Schicksal selbst ist nicht veränderbar, aber die Einstellung dazu. Dies wird als die „letzte menschliche Freiheit“ verstanden. Die so genannten „Leidenswerte“ sind nicht von äußeren Umständen bedingt und umfassen die innere Einstellung zu z. B. Leid, Schuld und Tod. Der Mensch ist seinem Schicksal nie gänzlich ausgeliefert, er hat immer die Freiheit seine persönliche Einstellung dazu auszuwählen. Eine noch so schwerwiegende Schicksal-Situation kann auch immer als eine neue Lebensherausforderung verstanden werden. Im Leiden einen Sinn zu finden, stellt einen der höchsten Zustände der geistigen Transzendenzmöglichkeiten des Menschen dar. (vgl. Längle 2007:52-57) Die vorher beschriebenen Werte sind sehr individuell bestimmt und daher von Mensch zu Mensch unterschiedlich. Im Gegensatz dazugibt es auch Werte, die von unserer Gesellschaft getragen werden, diese Werte werden in der Logotherapie unter dem Begriff „Sinnuniversalien“ zusammengefasst. Darunter einzuordnen sind allgemein geltende Werte, wie ethische und moralische Prinzipien einer Gesellschaft, die deren Wandel unterlegen sind. (vgl. Raskob 2005:173f) In der Logotherapie werden vor allem die drei Wertkategorien als die Wege zur Sinnfindung herangezogen, um einem Menschen das Bewusstsein für seine bestimmten Lebensaufgaben zu erweitern. Lebenstatsachen: Leid, Schuld und Tod In seinem Leben trifft jeder Mensch auf drei unausweichliche Lebenssituationen wie Leid, Schuld und Tod, in der Existenzanalyse auch unter dem Begriff „tragische Trias“ zusammengefasst. Der logotherapeutische Ansatz besteht darin, diesen allgemein negativen Gegebenheiten einen individuellen Sinn mithilfe der schon beschriebenen personalen Kompetenz, der „Trotzmacht des Geistes“, abzugewinnen. (vgl. Riedel/Deckart/Noyon 2002:111ff) 1. Leid: Das Leid gehört unabwendbar zum menschlichen Leben, bestimmt aber den Betroffenen nicht vollständig. Der Gestaltungsspielraum, die innere Einstellung des Leidenden entscheidet über die Einflussnahme des Schicksals auf dessen Leben. Unter dem Aspekt der Umgestaltung von Einstellungswerten kann Leiden Werte und Sinn wie Leistung, Wachstum und Reife vermitteln. 2. Schuld: Genauso wie Leid ist Schuld im Leben des Menschen allgegenwärtig und gewissermaßen der Preis für die Wahlmöglichkeit seiner Freiheit und Verantwortung. Der Mensch hat die Freiheit sich zwischen Sinn und Widersinn zu entscheiden und macht sich somit mit einer unverantwortlichen Entscheidung schuldig. Die positive Perspektive der Schuld liegt im Akt der Reue als distanzierte Bewertung und Erkenntnis des Widersinns. Die Freiheit und Verantwortung kann durch Wandlung des Widersinns in Sinn erneut erreicht werden. 3. Tod: Der Tod steht gegenüber Leid und Schuld jedem Menschen absolut sicher in vollem Umfang bevor. Der Tod stellt eine unüberwindbare Grenze für unsere Wahlmöglichkeiten und Zukunft dar. Das Leben des Menschen ist zeitlich beschränkt und besiegelt damit dessen Einmaligkeit, Freiheit und Verantwortlichkeit. Es kann daraus die Maxime abgeleitet werden: „Lebe so, als ob du zum zweiten Mal lebst und das erste Mal alles falsch gemacht hättest, wie du es zu machen – im Begriffe bist.“ (Frankl 1996:198) Im nachfolgenden Abschnitt skizziert Frankl mit seinen „Zehn Thesen über die Person“ das allgemeine Menschenbild der Existenzanalyse und Logotherapie, welches dieses Kapitel abschließen und nochmals grundlegend zusammenfassen soll. „Zehn Thesen über die Person“ 1. Die (geistige) Person ist ein Individuum, d. h., sie ist eine unteilbare Einheit. 2. Die Person ist nicht zu höheren Ordnungen organisierbar (Insummabilität), denn sie ist eine Ganzheit. 3. Jede Person ist eine absolut neue Existenz (Novum). 4. Die Person ist geistig, d. h. ein nicht analysierbarer und damit nicht reduzierbarer Akt. 5. Die Person vollzieht sich als Mensch-Sein im Horizont ihrer Möglichkeiten (fakultative Existenz) und wählt sich sein spezifisches Dasein durch die Entscheidung Möglichkeiten Realität werden zu lassen. 6. Die Person ist „ichhaft“ und als „ichlicher“ Akt unbewusst. 7. Die Person stiftet die Einheit und die Ganzheit der drei Dimensionen, die den Menschen ausmachen. 8. Die Person als Sein bezieht sich dynamisch auf ein Sollen. 9. Der Mensch hat im Unterschied zur tierischen Umwelt eine Welt, auf die er sich aus der geistigen Distanz heraus bezieht. 10. Die Person begreift sich letztlich von der Transzendenz her. (vgl. Frankl 1997:108-118) Das Menschenbild der Logotherapie versteht den Menschen als ganzheitliches, einzigartiges und einmaliges Wesen. Die Grundlage zur freien Gestaltung seines Daseins bildet seine unzerstörbare geistige Dimension. Diese noetische Ebene steht dem Psychophysikum kritisch gegenüber und besitzt die Fähigkeit zur Transzendenz mit dem allgemeinen Streben nach Wert und Sinn. Der Mensch vollzieht seine Verwirklichungsform aus seiner geistigen Selbsttranszendenz und Selbstdistanz und kann sich letztendlich nur aus dieser heraus begreifen. (vgl. Riedel/Deckart/Noyon 2002:102-104) Der Mensch ist gebunden und frei zugleich. Einerseits wird er durch seine Umgebung, Gene und Erfahrungen festgelegt, anderseits bietet seine geistige Dimension die freie Wahlmöglichkeit über eine persönlich sinnige bzw. widersinnige Entscheidung. Bewertung von Krise und Krankheit in der Existenzanalyse Im ganzheitlichen Menschenbild der Existenzanalyse und Logotherapie ist das persönliche Potenzial jeder Person von entscheidender Bedeutung. Der Mensch ist selbst Schöpfer und Gestalter seiner eigenen Lebensqualität. Ein sinnvolles Gelingen des Lebens hängt davon ab, in welchem Umfang eine Person mithilfe ihrer geistigen transzendentalen Fähigkeiten sich ihren Lebensaufgaben in ihrem Umfeld stellen kann. Die freie Entscheidungsfähigkeit bedingt aber ein Wissen nach einem grundlegenden Lebenssinn. Diesen zu finden stellt für den Menschen nicht immer eine einfache Aufgabe dar und kann letztendlich auch in einer Krise enden. „Im Gegensatz zum Tier sagen dem Menschen keine Instinkte, was er muß; und dem Menschen von heute sagen keine Traditionen mehr, was er soll; und oft scheint er nicht mehr zu wissen, was er eigentlich will.“ (Frankl 1997:12) Die Sichtweise und demzufolge die Bewertung von psychischen Erkrankungen haben sich in den letzten Jahrzehnten stark gewandelt. Alte Krankheitsbegriffe wie z. B. die „Neurose“, eine Erkrankung der Psyche des Menschen, wurden vollkommen aufgegeben und durch den allgemeinen Begriff der „Störung“ ersetzt. Die „International Classification of Diseases“, in ihrer zehnten Überarbeitung, abgekürzt „ICD-10“ genannt, geht in ihrer Gliederung von sichtbaren, wie z. B. Angst, Depression oder Sucht, und nicht von ursachenspezifischen krank machenden Symptomen aus. Dieser Ansatz führt in der Beschreibung von Krankheitsbilden, wie es in der Existenzanalyse und Logotherapie üblich ist, zu Unklarheiten. Die Nomenklatur des ICD-10 kennt z. B. die auf Ursachen hinweisenden Bezeichnungen wie „endogen“, „psychogen“ und „somatogen“ nicht mehr. Spezielle Neurosenbegriffe aus der Logotherapie wie z. B. iatrogene Neurosen, somatogene (Pseudo)Neurosen sowie auch noogene Neurosen sind in dieser Klassifikation verständlicherweise nicht enthalten. Bewertung von Krise Äußere Umstände können dazu führen, dass ein Mensch keinen Sinn in seinem Leben finden kann und diese Frustration sich in Folge in einer Sinnkrise abbildet. Das Sinnlosigkeitsempfinden wird in der Existenzanalyse in zwei große Gruppen eingeteilt, welche in ihrem Ursprung der geistigen Dimension des Menschen zugeordnet werden können. Existenzielle Frustration Der Mensch lebt in einem Spannungsfeld zwischen „Sein-wollen“, „Sein-sollen“ und seinem tatsächlichen Dasein mit seiner Antriebskraft dem „Willen zum Sinn“. Die existenzielle Frustration stellt eine Krise in der Sinnfindung dar und gehört nach Auffassung der Existenzanalyse zum Leben eines jeden gesunden Menschen. Diese Krise drückt das Suchen und Auseinandersetzen um Werte und Sinn aus. Die Erkenntnis um das Vorhandensein von Werten und Sinn ist dementsprechend noch gegeben. Der existenziellen Frustration kann daher nur ein potenziell pathogener Charakter zugewiesen werden, sie ist aber selbst kein pathogener Zustand. „Wir dürfen nur nicht vergessen, daß nicht nur der Sinnwille das menschlichste Phänomen darstellt, das es überhaupt geben mag, sondern auch seine Frustration noch immer nichts Krankhaftes vorstellt. Man muß nicht krank sein, wenn man sein eigenes Dasein für sinnlos hält, ja man muß deswegen nicht einmal krank werden. Die existentielle Frustration ist somit weder etwas Krankhaftes, noch ist sie in jedem Falle etwas Krankmachendes; mit anderen Worten, sie ist an sich nichts Pathologisches, ja nicht einmal etwas unbedingt Pathogenes; denn sofern sie pathogen ist, ist sie nur fakultativ pathogen. Wann immer sie aber faktisch pathogen wird, also tatsächlich zu neurotischer Erkrankung führt, bezeichnen wir solche Neurosen als noogene […].Neurosen.“ (Frankl 1970:124f) Existenzielles Vakuum Im Vergleich mit der existenziellen Frustration ist das existenzielle Vakuum keine Krise der Sinnfindung mehr, sondern bereits eine pathogene Steigerung und stellt einen konkreten Sinnverlust dar. Ausgelöst durch eine Sinnkrise zeichnet sich im Menschen ein pathogenes Leeregefühl mit dem Charakter einer Persönlichkeitsstörung ab. Der Betroffene ist nicht mehr in der Lage seine geistige Ebene zweckmäßig anzusprechen. Die menschlichen Fähigkeiten zur Selbsttranszendenz und Selbstdistanz sind nicht mehr gegeben. Das existenzielle Vakuum besteht aus einem Gefühl der absoluten Sinnleere, welche keine Motivation durch Sinn und Werte mehr zulässt. In ihrer verstärkt pathogenen Form äußert sich das existenzielle Vakuum als noogene Störung oder noogene Neurose. „In einem leer und sinnlos gewordenen Leben, in einem „existenziellen Vakuum“ hypertrophiert der Hang und die Neigung, sich selbst zu bespiegeln, sich selbst zu beobachten, alles vor jedem auszubreiten, alles mit jedem zu diskutieren. Ins existenzielle Vakuum hinein wuchert anscheinend nicht nur die Neurose, sondern auch ihre Pseudo-Therapie.“ (Frankl 1997:232) Bewertung von Krankheit Die dreidimensionale Betrachtung einer Person bildet die Grundstruktur für die Neurosenlehre in der Logotherapie. Der früher verwendete Begriff der Neurose beschreibt eine meist umweltbedingte unbewusste psychische Störung, die sich im Zusammenhang mit chronischen physischen Krankheitsbildern äußern kann. Neurosen sind grundsätzlich mehr psychisch als physisch bedingt, deren Ursache sich meist auf einen nicht gelösten Konflikt im Entwicklungs- und Lernprozess in der Lebensgeschichte einer Person rückführen lässt. (vgl. Riedel/Deckart/Noyon 2002:232f) Eine Grundauffassung der Logotherapie ist, dass die geistige Dimension des Menschen nicht erkranken kann. Im Krankheitsfall ist dementsprechend nur der Zugang zur geistigen Dimension verhindert bzw. blockiert. Die Person ist also einer Dimension ihres Wirkungsraumes allegorisch „beraubt“ worden. Die Zuordnung von Krankheit sprich Neurose wird den drei Betrachtungsdimensionen Leib, Seele und Geist zugeordnet. Unter Frankl wird im Zusammenhang mit Neurosen der Zusatzbegriff „Pseudo“ etabliert. Mit dem Index „Pseudo“ sind jene Neurosen klassifiziert, deren Ursache nicht eindeutig psychischer Natur, entsprechend der eigentlichen Neurosendefinition, ist. (vgl. Raskob 2005:189ff) In der nachfolgenden Abbildung 6 sind die fünf Neurosegruppen, die in der Logotherapie unterschieden werden, angeführt. 1 2 3 4 5 Abbildung 6: Neuroseneinteilung Quelle: Lukas 2006:102 mit Änderungen In der unteren Abbildung 7 ist das Ursachen – Wirkungsprinzip der Neurosen grafisch dargestellt, welches im anschließenden Text noch näher erläutert wird. Im Grundgedanken der Existenzanalyse und Logotherapie kann die geistige Dimension wie schon erwähnt nicht erkranken. Es führt daher folglich kein Wirkungspfeil in die noetische Ebene hinein, nur im Fall einer noogenen Neurose aus dieser Ebene heraus. 1 2 3 4 5 Abbildung 7: Ursachen – Wirkungsprinzip der Neurosengruppen Quelle: eigene Darstellung Noogene Neurosen (Pseudoneurosen) Eine noogene Neurose hat ihre Ursache in Form von subjektiven Gewissens- und Wertkonflikten in der geistigen Dimension und ist eine neurotische Entwicklung aus dem Ursprung eines permanenten Sinnlosigkeitsgefühls. Ihr Krankheitsbild zeigt sich in der existenziellen Frustration oder in ihrer stärkeren Ausprägung dem existenziellen Vakuum. Bei der Sinnkrise eines ganzen Gesellschaftssystems kann auch von einer soziogenen Neurose gesprochen werden. (vgl. Lukas 2006:102f) „Im Gegensatz zur Neurose im engeren Wortsinn, die per definitionem eine psychogene Erkrankung darstellt, geht diese noogene Neurose nicht auf Komplexe und Konflikte im herkömmlichen Sinne zurück, sondern auf Gewissenskonflikte, Wertkollisionen und, last but not least, auf eine existentielle Frustration, die das eine oder andere Mal eben auch in neurotischer Symptomatologie ihren Ausdruck und Niederschlag finden kann.“ (Frankl 1959:13) Psychogene Neurosen Eine psychogene Neurose entspricht genau dem Krankheitsbild der Neurosendefinition. Diese Neurose ist eine krankhafte Einflussnahme der Psyche auf den Körper. Obwohl die Ursache im psychogenen Bereich zu finden ist, versucht die Logotherapie ihren ganzheitlichen Ansatz zu bewahren. Die dreidimensionale Betrachtungsweise in der physischen, psychischen und geistigen Dimension gibt Aufschluss über unterschiedliche Bedingungen - wie z. B. Veranlagung, Beschaffenheit, Auslösung und Fixierung - des Entstehens psychogener Neurosen. Das Hauptinteresse in der Logotherapie gilt den „krank machenden“ Faktoren und hat nicht ihren Ansatz in der Tiefenpsychologie z. B. im Aufdecken von erlittenen frühkindlichen seelischen Traumata. (vgl. Raskob 2005:209-212) Somatogene Neurosen (Pseudoneurosen) Wie schon einleitend im Unterkapitel erwähnt, beschreibt die klassische Definition der Neurose, eine rein psychische Störung, deren Ursache auf traumatisierende Erlebnisse in der Lebensgeschichte eines Menschen rückzuführen ist. Die Ursache einer somatogenen Neurose ist im physischen Bereich zu finden und daher unter Berücksichtigung der Neurosendefinition, eine Pseudoneurose. Ihr Ausgangspunkt ist eine somatische Störung, meist z. B. eine Drüsenstörung in Form einer Über- bzw. Unterfunktion oder eine Funktionsstörung des vegetativen Nervensystems. Die somatogene Neurose kann sich in ihrem Krankheitsbild nur auf den physischen Bereich in Form einer rein funktionellen Störung auswirken. Sie bildet aber meist die Basis einer psychogenen Neurose. (vgl. Raskob 2005:203-207) Psychosomatische Erkrankungen Bei psychosomatischen Erkrankungen handelt es sich um zwei gleichzeitig auftretende Krankheitsbilder. Einerseits um eine somatische Erkrankung oder Vorschädigung und anderseits um eine psychische Belastung. Deren Ursachen, ausgelöst durch etwas Psychisches, liegen sowohl im somatischen wie auch im psychischen Bereich. (vgl. Lukas 2006:102) Reaktive Neurosen Eine reaktive Neurose, in ihrer Sonderform „iatrogene Neurose“ genannt, verhält sich rückwirkend auf das Psychische und kann ihren Ursprung im Somatischen oder auch Psychischen haben. (vgl. Lukas 2006:103) Das reaktive Verhalten der Neurose gründet sich auf neurotische Verhaltensmuster z. B. aus Angst vor einer fiktiven oder realen somatischen Funktionsstörung kommt es zu einer wirklichen psychischen Erkrankung. Die Ursache nimmt ihren Auslöser im Psychischen oder Somatischen und erzeugt rückwirkend ein tatsächliches Krankheitsbild in der psychischen Ebene. (vgl. Raskob 2005:194f) Eine iatrogene Neurose setzt das Vorhandensein einer neurotischen Grundtendenz voraus und wird durch eine unbedachte bzw. unsensible Intervention eines Arztes oder Therapeuten ausgelöst. Der um seine Gesundheit besorgte und überängstliche Patient entwickelt eine Hyperreflexion und erkrankt daran psychisch oder somatisch. (vgl. Riedel/Deckart/Noyon 2002:239) Das nachfolgende Fallbeispiel soll den pathogenen Charakter einer iatrogenen Neurose näher veranschaulichen: „Ein 45 Jahre alter Patient kommt nach der ärztlichen Behandlung einer schwerwiegenden Verletzung des Hörorgans mit einem sehr lautem und als belastend empfundenen Ohrgeräusch völlig verstört in die psychotherapeutische Praxis, nachdem ihm sein behandelnder Arzt gesagt hat: “Entweder Sie gewöhnen sich an das Geräusch, oder Sie können sich gleich einen Strick nehmen!“ Der Patient wirkt gleichsam vernichtet von dieser Aussicht und wiederholt ein ums andere Mal diesen Satz und fügt in gleichzeitig hilflos-anklagendem Tonfall noch hinzu: “Aber ich kann mich nicht an das Geräusch gewöhnen, und ich kann auch nicht noch 20 Jahre damit leben…“ Der nachbehandelnde Psychiater hatte ihm Suizidalität attestiert.“ (Riedel/Deckart/Noyon 2002:239f) Freud schrieb an Marie Bonaparte: “Im Moment, da man nach Sinn und Wert des Lebens fragt, ist man krank.“ (vgl. Frankl 2005:38) Diese von Freud vermutete „psychisch-geistige“ Erkrankung hält Frankl für ein nicht pathologisches, zutiefst menschliches Verhalten, denn „[…] nur der Mensch kann die Sinnfrage stellen, den Sinn seines Daseins in Frage stellen“. (Frankl 2005:21) Logotherapeutisches Arbeiten In der Logotherapie werden „soziale und psychiatrische“ Interventionsformen berücksichtigt, da die Logotherapie grundsätzlich ein „offenes System“ darstellt. Bewährte, ethisch vertretbare Interventionstechniken, die zum Menschenbild der Logotherapie passen, werden übernommen. Darüber hinaus bedient sich die Existenzanalyse und Logotherapie eigenständiger Techniken und Methoden. Frankl betrachtet den Menschen als ein primär vom „Willen zum Sinn“ motiviertes Wesen. Der Mensch strebt danach, Sinn zu verwirklichen, welches er indes nur tun kann, indem er einen Wert findet, dessen Verwirklichung ihm sinnvoll erscheint. (vgl. Riedel/Deckart/Noyon 2002:223) Gerade dieses Finden von Sinn und Werten ist es jedoch, welches in unserer heutigen Zeit oft sehr schwer fällt. Es soll an dieser Stelle auf das in der Einleitung gewählte Zitat von Frankl hingewiesen werden, dessen Inhalt kurz wiedergegeben besagt, dass unsere moderne westliche Gesellschaftsform zum überwiegenden Teil auf eine materielle Konsumbefriedigung ausgerichtet ist, den geistigen Bedürfnissen aber wenig Aufmerksamkeit schenkt. Das innerste Bedürfnis und Verlangen einer Person zielt, nach Auffassung der Logotherapie, nicht auf den Status der „Homöostase“ ab, nach Befriedigung der Eigenbedürfnisse mit dem Ziel der egozentrischen Bedürfnislosigkeit. Das Prinzip der Homöostase hat ausschließlich das Ego des Menschen im Blickfeld. Diese Ansicht stellt die gesamte bisherige „Glücksphilosophie“ infrage, denn bisher war „Glück“ die restlose Erfüllung von Bedürfnissen. Im Gegensatz zu dieser allgemeinen psychoanalytischen Auffassung erkennt Frankl im Menschen einen „Willen zum Sinn“, sich nicht nur vordergründig befriedigen lassen zu wollen, sondern nach einem tiefgründigeren Ziel und vor allem einem Sinn zu streben. Dieses menschliche Streben nach Sinn wird in der Logotherapie unter dem Begriff „Noodynamik“ zusammengefasst und bezieht sich auf einen dynamischen Prozess einer Sinnbefriedigung des Menschen zwischen seiner geistigen Dimension und seiner Umwelt. Im Menschen steckt aber beides, auf psychischer Ebene das Streben nach Lust und Triebausgleich und auf geistiger Ebene das Streben nach Sinn- und Wertverwirklichung. Eine Gegenüberstellung von Lust- und Sinnorientierung ist in der Abbildung 8 dargestellt. Abbildung 8: Gegenüberstellung von Lust- und Sinnorientierung Quelle: Lukas 2006:44 „Stellen wir nunmehr das Prinzip der Noodynamik dem Homöostaseprinzip gegenüber, so verstehen wir den Menschen als in einem Spannungsbogen zwischen Sein und Sollen stehend, wobei unter dem Sein ein gegenwärtiger Zustand gemeint ist, während das Sollen eine Veränderung im eigenen Auftrag darstellt. Das Soll entstammt mithin keiner externen Vorschreibung, die jemandem übergestülpt wird, sondern der Erkenntnis eines sinnvollen Zieles, das zu verwirklichen jemandem erstrebenswert dünkt.“ (Lukas 1993:54f) Der Mensch befindet sich in einem Spannungsfeld zwischen seiner psychischen und geistigen Dimension. Dieses Phänomen wird von Frankl als „noo-psychischer Antagonismus“ bezeichnet und beschreibt die grundsätzlich gegebene Chance des Geistes, sich von allen äußeren Umständen loszusagen oder zumindest zu diesen „Stellung“ beziehen zu können. Die logotherapeutische Behandlung setzt an der geistigen Dimension einer Person an. Es ist die geistige Seinsebene des Menschen, die durchströmt wird vom „Willen zum Sinn“, die getragen wird von den menschlichen Fähigkeiten zur Selbstdistanzierung und Selbsttranszendenz. Die Logotherapie differenziert sich von den anderen psychotherapeutischen Richtungen durch das Motivationskonzept. Unter Berücksichtigung der geistigen Dimension des Menschen bedeutet Glück innere Sinnfindung. Der Mensch ist in seiner existenziellen Natur auf Sinnfindung hin angelegt und deshalb bereit, für seine Sinnfindung Verzichte in Kauf zu nehmen. Die Logotherapie geht davon aus, dass die Mobilisierung des „Willens zum Sinn“ gleichzeitig die Selbstheilungskräfte der Person aktiviert. Somit ist der „Wille zum Sinn“, der in jedem Menschen innewohnt, ein Ansatzpunkt der therapeutischen Intervention. Gemeinsam mit dem Therapeuten sucht der Patient in seiner Individualität nach Sinnperspektiven. Inhalt dieser Sinnsuche sind neben dem oft nicht bestimmbaren konkreten Sinn der jeweiligen Lebenssituation Werteverwirklichungsmöglichkeiten. Das Ziel der Existenzanalyse ist gemeinsam mit dem Patienten nach tragfähigen Werten zu suchen, auf die „aufgesattelt“ werden kann. Im existenzanalytischen Gespräch finden sich, bei noch so verzweifelten Personen meist dennoch intakte Werte. Werden alle Werte verneint, werden dem Patienten Möglichkeiten aufgezeigt, Einstellungswerte zu realisieren. Mit der Technik der Selbstdistanzierung versucht der Therapeut, den Patienten zu einem „kognitiven Abstand“ zu sich selbst und seiner derzeitigen Situation zu bewegen. Lässt sich ein „innerer Dialog“ beim Patienten provozieren, verbessert sich die Erreichbarkeit des Patienten. Der Betroffene lernt damit, aus sich selbst „herauszusteigen“, sich selbst zu „übersteigen“ und sich und seine Gegebenheiten in einer neuen Perspektive zu sehen. Interventionen mittels der Selbsttranszendenz zielen in die Richtung, die Verantwortung gegenüber Einzelpersonen, der Gemeinschaft und gegebenenfalls gegenüber Gott bewusst zu machen. Mittels Deeskalationstechniken kann versucht werden, hypersensibilisierte Affekte zu normalisieren, welche besonders bei reaktiv angestoßener Suizidalität ein sehr bewährtes Verfahren darstellen kann. Die grundlegende Vorgangsweise in der Logotherapie besteht darin, den „intakten“ Teilbereich des Patienten zu stärken, zu erweitern und damit den „kranken“ Teilbereich einzuschränken. Die Logotherapie befasst sich im Gegensatz zu sonstigen Psychotherapierichtungen mit dem gesunden Teil des Menschen. [siehe Abbildung 9] Stärkung + Erweiterung auf noetischer Ebene Stärkung + Erweiterung auf psychischer Ebene intakter Bereich kranker Bereich Abbildung 9: Logotherapeutische Intervention Quelle: eigene Darstellung Narrative Interventionsformen Die Logotherapie bedient sich der narrativen Technik – des „Geschichten“-Erzählens. Von Frankl selbst stammen einige Texte, die von suizidal gestimmten Menschen positiv aufgenommen werden und Umdenkprozesse in Gang setzen. Ein Beispiel soll hier angeführt werden: „Einst wurde ein Mann, der zu lebenslänglicher Zwangsarbeit verurteilt worden war, in Marseille nach den Teufelsinseln eingeschifft. Auf hoher See brach auf dem Dampfer – es handelt sich um den damals untergegangenen „Leviathan“ – ein Brand aus. Der Sträfling, ein außergewöhnlich kräftiger Mann, wurde von seinen Handschellen befreit und rettete zehn Menschen das Leben. Später wurde er daraufhin begnadigt. Wenn man diesen Menschen noch am Hafenkai von Marseille gefragt hätte, ob seiner Ansicht nach sein weiteres Leben Sinn haben könnte – er hätte wohl mit dem Kopf schütteln müssen. Es kann aber überhaupt kein Mensch wissen, ob er vom Leben noch etwas zu erwarten hat und welche große Stunde auf ihn vielleicht noch wartet.“ (Frankl 2005:103) Solche und ähnliche Geschichten sollten Gesprächspartner von Menschen in existenzieller Krise ganz beiläufig erzählen können. Es geht darum, die gefühlte Gewissheit, „dass der Tod für den Betroffenen eine Lösung ist“, zu erschüttern, und die Fähigkeit des Menschen wieder herzustellen, an Hoffnung zu glauben. Frankl argumentiert gegen Suizid folgendermaßen: „Wir müssen den zum Suizid Entschlossenen vor allem und immer wieder vorhalten, dass ein Suizid kein Problem lösen kann. Wir müssen ihm vor Augen führen, wie sehr er einem Schachspieler gleicht, der vor ein ihm allzu schwierig erscheinendes Schachproblem gestellt ist und die Figuren vom Brett wirft. Damit löst man kein Schachproblem. Aber auch im Leben wird kein Problem dadurch gelöst, dass man das Leben wegwirft. Und so wie jener Schachspieler sich nicht an die Spielregeln hält, genauso verletzt ein Mensch, der den Freitod wählt, die Spielregeln des Lebens. Diese Spielregeln verlangen von uns nicht, dass wir um jeden Preis siegen, wohl aber, dass wir den Kampf niemals aufgeben.“ (Frankl 2005:100) „Auch wenn nur ein einziger von den vielen, die aus Überzeugung von der Ausweglosigkeit ihrer Lage Selbstmord versuchen, nicht Recht behalten hätte, wenn sich auch nur bei einem einzigen nachträglich trotzdem noch ein anderer Weg gefunden hätte – dann wäre schon jeder Selbstmordversuch unberechtigt gewesen: denn die subjektive Überzeugung ist ja bei allen die sich zum Selbstmord entschließen, die gleiche feste Überzeugung, und keiner kann im voraus wissen, ob gerade seine Überzeugung auch objektiv ist und zu recht besteht oder aber bereits durch das Geschehen der nächsten Stunden Lügen gestraft wird, jener Stunden, die er unter Umständen nicht mehr erlebt.“ (Frankl 2005:99) Dazu ein „Experiment“ aus dem Tierreich, das vom Mainzer Forscher Rudolf Bilz durchgeführt wurde, und welches Watzlawick in seinem Buch „Die Möglichkeit des Andersseins“ zitiert: Der Forscher führte zahlreiche Versuche an Ratten durch. Ratten können im Durchschnitt bis zu 80 Stunden im Wasser schwimmen. Wirft man jedoch eine Ratte in einen Wasserkessel, dessen glatte Wände es rundum verwehren, aus dem Kessel hinauszuklettern, ertrinkt die Ratte innerhalb von 15 Minuten. Der ungewöhnlich rasche Tod der Ratte ist nicht anders zu erklären, als dass diese die Hoffnung auf Rettung verliert und sich selbst aufgibt. Diese Erklärung wird durch eine weitere experimentelle Erfahrung gestützt. Wirft man nämlich eine Ratte in einen Wasserkessel und reicht man ihr, nachdem sie zehn Minuten verzweifelt herumgeschwommen ist ein Holzstäbchen, über das sie entkommen kann, und wirft man sie dann wieder in den Wasserkessel, schwimmt sie rund 80 Stunden, bis sie vor Erschöpfung ertrinkt, weiter. Sobald die Ratte folglich einmal erlebt hat, dass Rettung möglich ist, gibt sie bis zum Schluss die Hoffnung nicht auf und bewahrt sich das Leben, solange ihre körperlichen Kräfte es ihr ermöglichen. (vgl. Watzlawick 1986:38) Watzlawick deutet daraus, dass auch Tiere auf Leben und Tod von ihren Weltbildern abhängen. (vgl. Watzlawick 1986:36) Abgleitet auf den Menschen geht es also darum, das Weltbild des Menschen in einer existenziellen Krise dermaßen zu beeinflussen, dass aus der gegeben, vielleicht momentan ausweglosen Situation, wieder Sinnbilder zum Weiterleben gestiftet werden können. Sokratischer Dialog Eine wirkungsvolle logotherapeutische Technik für Menschen in einer Krisensituation ist der sokratische Dialog. Der sokratische Dialog bezeichnet einen philosophisch orientierten, durch eine nicht-wissende, naiv fragende, um Verständnis bemühte, zugewandte, akzeptierende Beraterhaltung geprägten Gesprächsstil, der chronologisch verschiedene Phasen durchläuft. Dies dient der Zielsetzung, dass der Patient durch geleitete „naive“ Fragen des Therapeuten seine alten Sichtweisen reflektiert, Widersprüche und Mängel erkennt, selbständig funktionale Einsichten und Erkenntnisse erarbeitet und seine alten dysfunktionalen Ansichten zugunsten der selbst – und eigenverantwortlich – erstellten aufgibt. Je nach Art der vorliegenden lebensphilosophischen Fragestellung wählt der Psychotherapeut die hierfür passende sokratische Gesprächsführungsmethode. Nachfolgend werden drei Möglichkeiten der Dialogführung angegeben: Der explikative sokratische Dialog dient der Beantwortung der „Was ist das?“Frage und somit der Klärung von Begriffen. Der normative sokratische Dialog dient der Beantwortung der „Darf ich das?“ Frage und somit der Prüfung, ob gewisse Einstellungen oder Handlungen vor einem bestimmten Sozialisierungshintergrund und einer ethisch-moralischen Grundeinstellung „moralisch in Ordnung“ sind. Der funktionale sokratische Dialog dient der Beantwortung der „Soll ich das?“Frage und somit der Prüfung, welche alternativen Einstellungen oder Handlungen bei gegebenen (Lebens-)Zielen erfolgsversprechender sind. Beim sokratischen Dialog geht es um die Art und Weise, wie das behauptete Wissen hinterfragt werden kann, sodass der Patient, in den für neue Erkenntnisse wichtigen Zustand, der „inneren Verwirrung“ gerät. (vgl. Staveman 2007:81-82) Eine andere Möglichkeit besteht darin, mit oder ohne Einsatz von regressiven Methoden, in typisch mäeutischer Weise, der „Hebammenkunst“ – mittels geschickter Fragen, die im Gesprächspartner schlummernden und unbewussten richtigen Antworten oder Einsichten heraufzulocken. Das Ziel ist es, gemeinsam mit dem Patienten, zu anderen funktionalen Erkenntnissen oder Entscheidungen gelangen zu können, ohne selbst neue eigene Ansichten oder Wissen vermitteln zu müssen. Zur Reflexion und Widerlegung des Behaupteten bedient sich der Psychotherapeut dabei verschiedener Frage- und Disputtechniken und der Methode der regressiven Abstraktion. Diese Technik arbeitet mit Alltagsbeispielen, Analogien, Metaphern, Reframing-Methoden, Humor, Ironie, Überzeichnung, Rollentausch, Modellen und Verhaltensübungen. (vgl. Stavemann 2007:81-82) Gesichtsfelderweiterung gegen eine situative Einengung Frankl betonte stets, dass es bei jeder erfolgreichen Intervention um ein „Herausführen“ – nicht im Sinne eines „Herausziehens“, sondern eines Verweisens auf die in der Person steckenden Talente und Chancen geht und um ein „Zurücktreten“ sobald die Talente entwickelt und die Chancen wahrgenommen werden können. (vgl. Lukas 2002:49) Schon Aristoteles argumentierte ähnlich, indem er meinte, der Mensch wird dann glücklich, wenn er seine Talente entwickelt und seine Vernunft gebraucht. (vgl. Weischedel 2005:55-58) Nicht immer wird die eigene Existenz als sinnvoll erlebt, welches sich ändert, wenn sinnvolle Möglichkeiten bewusst werden. Eine Situation erträgt der Mensch durch das Wissen, dass dem so sein könnte, weil er diese Situation schon so erlebt hat. Erst wenn diese Hoffnung verloren geht, ist der Mensch geneigt aufzugeben. Es muss daher therapeutisch so argumentiert werden, dass der Glaube an die Hoffnung wieder hergestellt wird. Wenn das Vorhandensein von Hoffnung bei Ratten, wie zuvor im Unterkapitel „Narrative Intervention“ beschrieben, einen derartigen Unterschied im eingesetzten Energiepotenzial ausmachen kann, um wie viel mehr vermag das geistige Potenzial eines Menschen erst zu bewirken. Es gibt in jedem menschlichen Leben Phasen, die dieser bloß in der Hoffnung durchstehen kann, dass eines Tages ein neuer „Silberstreif“ am Horizont erscheinen wird. Ohne diese Hoffnung ist niemand lebensfähig. Die Argumentationslinie von Frankl beruht darauf, dass es gar nicht so wichtig ist, was der Mensch vom Leben zu erwarten hat, sondern darauf, was das Leben von ihm erwartet. Bei Frankl ist der Mensch nicht in erster Linie ein Fragender oder Fordernder – vielmehr ist es das Leben selbst, das dem Menschen die Fragen stellt. Der Mensch wählt aus seinen Möglichkeiten und gibt damit die Antwort auf Fragen, die das Leben an ihn herangetragen hat. In einer existenziellen Krise könnte das Bedeuten sich aufzuheben für sinnträchtigere Momente des Lebens, die wieder kommen werden. Damit wird Hoffnung zur gedachten Zukunft. Menschen, die wieder in die Zukunft blicken können, bewegen sich aus der Krise, aus ihrer situativen Einengung. Nur verständnisvolles Zuhören und Spiegeln des Pessimismus wie z. B. mit der Spiegeltechnik in der personenzentrierten Psychotherapie nach Carl R. Rogers erweitert das Gesichtsfeld des Patienten nicht. Dazu sind in das Gespräch eingestreute Anregungen und Metaphern heranzuziehen, Visionen und Imaginationen anzuzapfen, kurz das geistige Potenzial des Gegenübers herauszufordern. (vgl. Lukas 2002:47-52) Unterstützend zu dieser Technik können physische Standortwechsel oder eine Änderung der körperlichen Haltung wirken. Ein gemeinsamer Spaziergang, sportliche Betätigung oder auch nur der Besuch eines Kaffeehauses, helfen Menschen in Krisen, „die Welt anders zu sehen“. Paradoxe Intention Die paradoxe Intention ist eine, bereits in den 20er-Jahren von Frankl beschriebene, Interventionstechnik. Mit dieser auf Erkenntnis beruhenden Therapietechnik wird durch bewusstes Provozieren der Angst machenden Situation versucht, einen pathogenen Symptomkreislauf zu unterbrechen. Der Patient wird nach dem Aufbau einer entsprechend gefestigten und vertraulichen therapeutischen Arbeitsbeziehung dazu aufgefordert, sich das Eintreten des gefürchteten Symptoms in einer Angstsituation intensiv zu wünschen. Ein gutes Hilfsmittel dazu, um eine gewisse neutrale Stellung in Form von Selbstdistanzierung zu erreichen, ist eine humoristische Überzeichnung des beängstigenden Sachverhalts. Die wesentliche Vorarbeit dazu ist eine völlige Transparenz anhand eines verständlichen Erklärungsmodells der Störung zu schaffen. Die Wirkung von möglichen therapeutischen Ansatzpunkten ist dem Patienten darzulegen. (vgl. Riedel/Deckart/Noyon 2002:152-157) Die Herausforderung besteht darin mit dem Patienten eine möglichst passende, wirkungsvolle und einfache „paradoxe Intentionsformel“ zu erarbeiten, die vor dem absehbaren Krisenfall vom Patienten ohne therapeutische Begleitung angewandt werden kann. (vgl. Riedel/Deckart/Noyon 2002:152-157) Eine Zusammenfassung in der Vorgangsweise der paradoxen Intention ist in der Abbildung 10 dargestellt. Abbildung 10: Arbeitsschritte der paradoxen Intention, Quelle: Riedel/Deckart/Noyon 2002:159 mit Änderungen Anhand eines einfachen Fallbeispiels von Frankl, einer Hydrophobie (Angst vor Schweißausbrüchen), wird der Grundgedanke der paradoxen Intention gut sichtbar: „[...] und zwar nehmen wir den Fall des jungen Kollegen wieder auf, der an einer schweren Hidrophobie leidet. Von Haus aus ist er vegetativ labil. Eines Tages reicht er seinem Vorgesetzten die Hand und beobachtet hiebei, daß er in auffallendem Maß in Schweiß gerät. Das nächste Mal bei analoger Gelegenheit, erwartet er bereits den Schweißausbruch, und die Erwartungsangst treibt ihm auch schon den Angstschweiß in die Poren. Unser hidrophober Kollege wurde nun von uns angewiesen, gegebenenfalls - in ängstlicher Erwartung eines Schweißausbruchs - geradezu sich vorzunehmen, demjenigen, dem er da begegnet, recht viel „vorzuschwitzen“. „Bisher hab’ ich nur 1 Liter zusammengeschwitzt", so sagte er jeweils zu sich selbst [...]; „jetzt will ich 10 Liter herausschwitzen!“[…]“ (Frankl: 1970:85) Im zuvor dargestellten Beispiel, der paradoxen Intention, ging es darum mithilfe eines humorvollen Gedankenspiels, sich explizit kognitiv mit einer Problematik auseinanderzusetzen, um auf diese Weise einen eskalierenden Symptomzyklus zu unterbrechen. Eine andere Wirkungsweise mittels „Paradoxie“ ein System zu deeskalieren soll dieses Fallbeispiel zeigen: „[…] eine Frau, die wegen heftiger Streitigkeiten mit ihrem Mann eine Beratung suchte. Fast täglich gebe es um eine Schranktür Streit, die sie meist offenzulassen pflegte, während ihr Mann darauf bestünde, daß sie geschlossen sei. Nach der Diskussion mit dem Team erhielt sie den Auftrag, dem Mann mitzuteilen, das Team sei der Ansicht, daß das Offenlassen des Schrankes eine unbewußte, vielleicht sogar vorbewußte Geste sei, mit der die Frau ihre Bereitschaft signalisiere, mit ihm zu schlafen. Drei Wochen später berichtete sie lachend, es habe überhaupt keinen Streit mehr gegeben, ihr Mann habe gesagt, dies sei das Verrückteste, was er je gehört habe - und die Tür mache er nun immer selbst zu.“ (Furman u. Ahola: 1995:102f) Dereflexion Die Dereflexion ist eine therapeutische Strategie mit dem Ziel, pathogene Hyperreflexionen abzubauen und die Aufmerksamkeit des Patienten auf andere sinnstiftende Werte seines Leistungspotenzials zu lenken. „Substantiell geht es darum, den Patienten von einer krankhaften Selbstbeobachtung zu befreien, indem andere Inhalte vorrangig im Blickfeld erscheinen. Es ist das herrliche „Sich-selbst-vergessen-Können“, das allein schon den halben Therapieerfolg ausmacht, das mittels dieser Methode gelingen soll. Die Dereflexion ist praktisch eine therapeutische Aufmerksamkeitsregulierung, denn es genügt nicht, an einen bestimmten Inhalt nicht zu denken, die Aufmerksamkeit muß zugleich auf einen anderen, positiven Inhalt hingelenkt werden.“ (Lukas 1996:84) Dereflexion mittels Ausdauertraining Körperliche Betätigungen leiten psychische Veränderungen ein und unterstützen diese. Durch die ontische Verbundenheit von Körper, Seele und Geist zeigen sich psychische Veränderungen bei physischer Betätigung. Speziell Ausdauertraining begünstigt diese Veränderungen. Intensive körperliche Bewegung sorgt für eine höhere Verfügbarkeit der Gehirnbotenstoffe Dopamin, Serotonin und Noradrenalin. Ein Mangel an diesen Substanzen verursacht z. B. Depressionen. Existenzielle Krisen aber auch Angst- und Panikstörungen werden effektiv gelindert, in manchen Fällen beseitigt. Ausdauertraining schwächt Stress ab, die Konzentration der Stresshormone wie z. B. Cortisol wird deutlich verringert. Bewegung beseitigt unter anderem Schlafstörungen, fördert den gesunden, erholsamen Schlaf und hat einen positiven Einfluss auf die innere Uhr des Menschen. Sportliche Dauerbelastung stärkt das Selbstbewusstsein, die emotionale Stabilität, den Optimismus, den Antrieb, die soziale Offenheit und die Fähigkeit sich zu erholen. Der Mensch wird selbstsicherer und fühlt sich von Training zu Training wohler im eigenen Körper. Bewegung pumpt Sauerstoff ins Gehirn, welcher den Geist beflügelt. Es bilden sich neue Blutgefäße, das neuronale Netz wächst, die Hirnleistung verbessert sich, die Gedächtnisleistung und die Kreativität steigen durch die etwa doppelte Sauerstoffversorgung des Gehirns. Ausdauertraining baut Stresshormone ab, Schäden am Gefäßsystem werden somit verhindert. Das Hormon Adrenocorticotropin (ACTH) wird vermehrt gebildet, die einzige bekannte Substanz, die in der Lage ist, Fettablagerungen zwischen den Gehirnzellen wieder aufzulösen. Ein Krisengespräch „in Bewegung“, also im Gehen, eröffnet zuweilen durch die reale Veränderung des Blickfeldes dem suizidal Eingeengten neue Perspektiven. Dereflexion mittels Ernährung Ähnlich unterstützende Wirkung wie Bewegung kann bewusste Nahrungsaufnahme entwickeln. Die Beeinflussung der Psyche durch die Ernährung ist noch wenig erforscht. Aber seit langem bekannt ist der Einfluss von Inhaltsstoffen der Nahrung auf Gehirnfunktionen. Diese werden durch Gehirnzellen (Neuronen), auf die zahlreiche Botenstoffe (Neurotransmitter) einwirken, gesteuert. Die Fähigkeit spezialisierter Neurone, bestimmte Neurotransmitter z. B. Epinephrine, Norepinephrine oder Serotonin zu produzieren, hängt von der Verfügbarkeit ihrer Vorstufen in Form von Eiweißbausteinen ab. Hier spielen Eiweißbausteine wie Aminosäuren eine große Rolle aus dem das Gehirn seine Botenstoffe herstellt. Stimmungen werden im Gehirn vor allem durch das serotonerge System gesteuert. Diese Systeme werden durch Drogen wie "Ecstasy", LSD oder sonstige "Glückspillen" aktiviert. Die Ausgangssubstanz für die Serotoninsynthese im Gehirn ist die Aminosäure „L-Tryptophan”, die als Eiweißbaustein im Essen enthalten ist. Tryptophan gelangt besonders gut in das Gehirn, je mehr Kohlenhydrate aufgenommen werden. Erst bei ausreichender Aufnahme werden andere Eiweißbausteine durch das Hormon Insulin gebunden und Transportmechanismen frei für das Tryptophan. Auch fettreiche Mahlzeiten steigern die Serotoninsynthese. Die vermehrte Ansammlung freier Fettsäuren im Blut nach einer Mahlzeit setzt Tryptophan frei, das dann vermehrt in das Gehirn transportiert werden kann. Die sich gegenseitig verstärkende Wirkung einer gleichzeitig kohlenhydrat- und fettreichen Speise erklärt, warum Schokolade als "Seelentröster" die Stimmung so besonders positiv beeinflusst. Auf der anderen Seite gilt Schokolade aber als "Dickmacher" und "ungesunde Speise", welches im Gegenzug dazu oft Schuldgefühle hervorruft, falls Schokolade als Trostspender gegessen wird. So können gerade diese Lebensmittel wie fett- und kalorienreiche Nahrung, die primär das Wohlbefinden steigern, sekundär zum Frust beitragen und dadurch das erneute Bedürfnis zum Verzehr auslösen. Eine schwierige Ambivalenz, die sich nicht selten zu Heißhungerattacken aufschaukelt. Es liegen dazu zum Teil widersprüchliche Forschungsergebnisse und Publikationen vor. (vgl. Grunert/Beckmann 1996:67–70, Westenhöfer 2000:3f) Es kommt oft bei einer intensiveren Beschäftigung mit der Ernährung wie beim Ausdauertraining zum Phänomen der Dereflexion. Die Person beschäftigt sich mit den für sie oft neuen Erfahrungsfeldern, die Aufmerksamkeit gilt somit nicht nur mehr ihrer Krise. Die „Problemfixierung“ lockert sich dadurch, und das „Gesichtsfeld“ erweitert sich. Der Betroffene sieht wieder durch den „Krisennebel“ Sinnchancen und erhält im Idealfall sogar einen „Sinnanruf“. Einstellungsmodulation Aus logotherapeutischer Perspektive ist die grundlegende Kraft, die bei Vorliegen schicksalhafter Tatsachen zu aktivieren ist, die „Trotzmacht des Geistes“. Aus seiner geistigen Dimension heraus sind dem Menschen Freiheit, Fähigkeit und Möglichkeit gegeben schwerwiegenden Schicksalsschlägen durch eine angemessene Einstellung zu trotzen. (vgl. Lukas 1986:24) Die Angemessenheit dazu ergibt sich aus der jeweiligen Lebenssituation der betroffenen Einstellung. In diesem Sinn hat „jede Einstellungsmodulation eine gesündere, bessere, ethisch wertvollere, hoffnungsvollere Einstellung zum Ziel.“ (Lukas 1998:115) Die Notwendigkeit von Einstellungsmodulationen ergibt sich aus erkennbaren Gründen, besonders in schwerwiegenden Lebenssituationen. Die Anwendungsgebiete der Einstellungsmodulation sind weit gefächert, da sich komplexe Lebenseinstellungen im Rahmen aller psychischen Störungen und ebenfalls bei Menschen ohne psychische Störungen entwickeln können. Im Beratungsbereich handelt es sich meistens um Lebenseinstellungen, die sich angesichts negativer Tatsachen etabliert haben. Der erste Schritt einer Einstellungsmodulation ist die Abklärung, ob nicht eine „tatsächliche“ Veränderung der Problemlage möglich ist. Nur wenn keine Veränderung möglich erscheint, liegt eine Indikation für eine Einstellungsmodulation vor. Es geht darum, das unabänderliche Schicksal anzuerkennen und die Einstellung „dazu“ zu verändern. Die Einstellungsmodulation versucht, wo der Mensch mit einem an sich unaufhebbaren Schicksal konfrontiert ist, in der richtigen Einstellung zu eben diesem Schicksal, im „aufrechten Leiden“, eine Möglichkeit zur Sinnverwirklichung aufzuzeigen. Es geht um die Transformation, Leid in eine individuelle Leistung umzuwandeln. Trotz schicksalhaften Leidens ist Sinnerfüllung möglich. Es geht darum, die „Trotzmacht des Geistes“ im Leidenden zu aktivieren, den Gestaltungsraum für das Leben angesichts und trotz des Leidens und im Leiden zu entdecken und auszufüllen. Das Schicksal determiniert den Leidenden nicht vollständig, er hat die Freiheit, zu seinem Leiden Stellung zu beziehen. Leiden ist Leistung, insofern im Leiden Werte verwirklicht werden. Leiden ist Wachstum, insofern das Leid die Existenz erweitert. Leiden ist ein Reifungsprozess zu innerer Freiheit. Leiden ist eine Bereicherung des Lebens, da im Leiden der Mensch hellsichtig und die Welt durchschaubarer wird. Frankl entgegnete einem Arzt, der sich darüber beklagte, den Verlust seiner Frau nicht verschmerzen zu können, „ob er sich überlegt habe, was geschehen wäre, wenn er früher als seine Frau gestorben wäre“. Die Reaktion des Arztes eröffnete jenem selbst den Blick darauf, dass so seiner Frau verzweifelter Schmerz und eine gewisse Hilflosigkeit in ihrer Lebensbewältigung erspart geblieben sind. (vgl. Riedel/Deckart/Noyon 2002:111f und 201) Sinnfahndung – ein existenzanalytisches Aktivierungskonzept Mit der Analyse der Wertsysteme wie es die Existenzanalyse darstellt gewinnt der Beratungsprozess die Grundlage, auf der die Reifung an der Krise und damit deren Bewältigung aufbaut. Das wiedererwachte Gespür für den Wert des eigenen Lebens wird in der „Sinnfahndung“ aufgegriffen. Eine Methode dafür ist die von Lukas entwickelte „Was wäre wenn“ Technik. (vgl. Lukas 1994:135f) Diese Technik besteht in einem Abwägen von tatsächlich Erlebten und einer möglichen Lebensvariante, die dem Rat suchenden Menschen noch weniger „ins Konzept gepasst“ hätte. Das Ziel der Sinnfahndung ist eine angemessene Bewertung des faktisch Erlebten zu erleichtern. Eine Variante dieser Technik besteht darin, den Patienten seine nächste Zukunft ohne die Belastungen der Gegenwart in einer bildhaften Vorstellung erleben zu lassen, sodass dieser einen Blick auf die Gestaltungsmöglichkeiten und den unbewusst intendierten „Krankheitsgewinn“ seiner Krise erhält. (vgl. Riedel/Deckart/Noyon 2002:200) In einer kurzen Imagination in Form einer Gedankenreise wird das reale Schicksal eines Menschen gegenüber einem frei gewählten Schicksal abgewogen. Das Ziel der Abwägung ist zu zeigen, dass das reale Schicksal dem konditionalen Schicksal in Hinblick auf den Sinngehalt immer noch überlegen ist. (vgl. Lukas 1994:137f) Dadurch, dass sich ein situativer und personenbezogener Sinngehalt in der realen Lage abzeichnet, verändert sich deren Bewertung. Dies wirkt entlastend auf den Ratsuchenden. Dieser gewinnt Distanz zu sich selbst und wird zur konkreten Sinnsuche angeregt. Die Imagination der unangemessenen Alternativen verändert die Bewertung der eigenen Lage dadurch, dass der Patient sich in einen anderen Menschen, in eine andere Situation einfühlen muss. Auf diese Weise distanziert sich die Person von ihrer Befindlichkeit. Bei der Vorstellung einer belastungsfreien Zukunft wird der Blick eher auf die Gestaltungsmöglichkeiten der Situation und die Potenziale des Patienten gelegt. (vgl. Riedel/Deckart/Noyon 2002:201) Voraussetzung dieser Technik ist, dass aufseiten des Beratenden die Bewertung der Krise durch den Ratsuchenden möglichst präzise zu erfassen ist. Der Patient liefert mit der Beschreibung seiner Befindlichkeit meist den Kristallisationspunkt für die Imagination. Der Psychotherapeut regt also seinen Patienten an, sich Folgen einer weitaus unangemesseneren Lage vorzustellen, als es die vorliegende ist. So zeichnet sich der Sinn der Situation, die der Patient als belastend empfindet, deutlich ab. In einer anderen Variante, sich in die Zukunft ohne Schatten der gegenwärtigen Krise hineinzufühlen, entdeckt der Patient seine unangemessene Bewertung der Lage durch die Konfrontation damit, dass seine Krise längst zu seiner lebensthematischen Mitte geworden ist. So kann die Fixierung auf die emotionale Lage der Krise und auf die Einseitigkeit der Bewertung, möglicherweise des ganzen Wertsystems, verdeutlicht werden. Zugleich gewinnt der Beratungsprozess Raum für kreative Fantasien zu der imaginären und tatsächlichen Krise. In einem letzten Schritt wird die neue Sicht der Dinge für die konkrete Sinnentdeckung genützt. Dem Betroffenen gelingt es, seine Krise selbst distanziert und unter veränderten Wertgesichtspunkten zu sehen. Dadurch erlebt er eine Entlastung von den Qualen seiner Krise und erlangt zugleich die Freiheit, durch das veränderte Wertgesichtsfeld den konkreten Sinnanruf zu entdecken. (vgl. Riedel/Deckart/Noyon 2002:20) Zeitliche Vorwegnahme – die Zeitreise als Visionstechnik Bei der Methode der „Zeitreise“ handelt es sich wie zuvor um ein imaginatives Verfahren, das nach einer kurzen Entspannungsübung oder einer entspannten Situation begonnen werden sollte. Der Patient schließt die Augen und versetzt sich in eine mentale Zukunftswelt – er träumt sozusagen einen Tagtraum. Dies kann z. B. durch eine konkrete Aufgabenstellung sein. Die betroffene Person stellt sich vor, die derzeitige schwierige Situation überwunden zu haben und fünf oder mehr Jahre älter zu sein. Sie feiert gerade einen „runden“ Geburtstag und hat dazu ihre Familienmitglieder und Freunde eingeladen. Als Gastgeber und Geburtstagskind hält sie nun ihre Geburtstagsrede. In dieser Rede beschreibt der Patient, wie sich sein Leben in den Jahren nach der Verzweiflung entwickelt hat. Gewünscht wird die optimale Version dessen, was sich der Patient in seiner Vorstellung ausmalen kann. Nicht erlaubt in dieser Vorstellung sind allzu zufällige „Glückswendungen“, wie z. B. ein unerwartet großer Lottogewinn usw. Diese Traumreisen sollen mehrmals in verschiedenen Varianten versucht und erlebt werden. Wichtig ist, welche Variante sich durchsetzt und wie intensiv Details mental erlebt werden können. Wenn emotionale innere Bilder entstehen und die Vision alle Sinneskanäle wie sehen, riechen, hören, schmecken und fühlen anspricht, dann sprechen diese „inneren Bilder“ besonders das Unbewusste des Menschen an. Der Vorteil dieser Technik besteht darin, dass Visionsvarianten so lange verändert werden können, bis die Vorstellung als vollkommen stimmig erlebt wird. Speziell dann, wenn diese Visionen in Schlaftraumvarianten wieder auftauchen, sind sie bestens verinnerlicht. Der Psychotherapeut versucht, die mentale Welt des Patienten zu erfassen und Wege aufzuzeigen, Erdachtes ein Stück weiter wahr werden zu lassen. Sinnwahrnehmungstraining nach Lukas Elisabeth Lukas hat ein mehrstufiges Verfahren entwickelt, um Patienten zu helfen, angesichts einer spezifischen Problematik die „sinnvollste“ der sich bietenden Möglichkeiten auffinden zu können. Diese Technik beinhaltet folgende Fragestellungen: Was ist mein Problem? Rationales erfassen und darstellen des Problemgegenstandes. Wo ist mein Freiraum? Zu unterscheiden ist zwischen schicksalhaft gegebenen und verbleibenden Handlungsspielräumen. Sind keine Freiräume mehr definierbar, dann sollte in die Methode der Einstellungsmodulation gewechselt werden. Welche Wahlmöglichkeiten habe ich? Es geht darum, die Möglichkeiten des Freiraums mittels eines „Brainstormings“ zu sammeln. Welche davon ist die Sinnvollste? Die gefundenen Varianten werden nach ihrer Sinnhaftigkeit bewertet. Diese will ich verwirklichen! Wie kann ich diese sinnvollste Alternative verwirklichen? Sinnwahrnehmungstraining eignet sich nicht für aktiv suizidale Menschen, denn diese nützen es für die Bestätigung ihrer Ansicht, dass es keine Perspektiven mehr gibt. (vgl. Lukas 1995:18f u. 1988:169) Existenzanalytisches Gespräch Frankl sieht die Existenzanalyse als Aufruf zur Freiheit und Verantwortlichkeit. (vgl. Frankl 1996:176) Das existenzanalytische Gespräch ist eine „Sinnerhellung“, eine Analyse auf den Sinn einer konkreten Person. Es ist die explizite Existenzanalyse des individuellen menschlichen Daseins. Die Existenzanalyse untersucht die Existenz eines Menschen auf ihre Bedingungen hin. Dadurch gewinnt sie ein strukturiertes Bild der konstruktiven Bedingungen des gelingenden menschlichen Daseins, der prinzipiellen Daseinsmomente und Möglichkeiten einer ätiologischen Beschreibung von Daseins hinderlichen Bedingungen, Krisenauslösern, Störungsanlässen und Krankheitsbildern. (vgl. Riedel/Deckart/Noyon 2002:69-70) Die Existenzanalyse stellt eine „Forschungsrichtung“ nach unbewusst oder bewusst gelebten Sinnkonstrukten und den daraus resultierenden Verantwortungen in der Existenz eines Menschen dar. Es wird nach noch belastbaren, tragfähigen Werten oder Verantwortlichkeiten Ausschau gehalten. Hauptsächlich Menschen in einer suizidalen Einengung sind besonders auf ihre Egozentrik fixiert, verleugnen Werte oder werten diese ab. Je eingeengter ein Patient ist, desto „wertloser“ erscheint diesem die Welt. Trotzdem gibt es belastbare Werte, denn Menschen in einer suizidalen Einengung leben in einer Doppelwertigkeit: manche Werte lassen sich nicht unterdrücken ausblenden oder umdeuten. Im existenzanalytischen Gespräch werden die den Menschen berührenden, noch tragfähigen Werte erkundet und auf ihre Stellung in der Werthierarchie des Betroffenen untersucht. Diese Werthierarchie liefert eine Basis für weiterführende Gespräche. Schema einer logotherapeutischen Interventionsabfolge Logotherapeutische Interventionen setzen meist bei den Menschen an, die an keinen Sinn in ihrer Lebenssituation mehr glauben und dadurch keine Lebensaufgabe erkennen. Die logotherapeutische Intervention beginnt bereits mit dem Erstkontakt von Patient und Psychotherapeut. Es geht darum, ins Gespräch zu kommen, eine einfache, offene und direkte Frage ist oft eine gute Einstiegsmöglichkeit. Im Gespräch wird versucht, möglichst viel Information über den Patienten einzuholen. Anamnese, Existenzanalyse und Reflexion der Befindlichkeit fließen ineinander über. Der Beziehungsaufbau und die Entlastung des Patienten haben vor dem Informationsgewinn vorerst Vorrang. Die Frage: „Hatten Sie schon andere schwierige Situationen – in der Vergangenheit – zu lösen?“, führt zu den gelungenen Problemlösungstechniken der Vergangenheit und weg von der aktuellen Situation. Lebenslagen, die in der Vergangenheit als geglückt erlebt wurden, sind hervorzuheben, zu betonen und zu bewundern. Ebenso kann das Ertragen von Leid z. B. der Tod von nahen Angehörigen, Krankheiten, Unfälle usw. positiv gewürdigt werden. Die Gesprächsführung sollte nicht richtungsbestimmend und möglichst einfühlsam ablaufen. Erst wenn der erste – oft aufgestaute – Leidensdruck abgeflossen ist, kann tiefer nachgefragt werden. In der Phase der Reflexion der inneren Befindlichkeit sollen Suizidneigungen direkt angesprochen und ein eventueller Überweisungskontext festgestellt werden. Wenn der Beziehungsaufbau gefestigt ist, kann versucht werden, eine erste distanzierende Intervention zu setzen. Diese kann z. B. mit einer Frage so gestaltet werden: „Hätten Sie einen Zwillingsbruder, was würden Sie diesem jetzt sagen?“ Der Patient sollte sich mit seinem „geistigen Auge“ selbst zusehen und mit sich in einen Dialog treten, also eine Metaposition einnehmen. Diese Selbstbetrachtung kann in eine Selbstdistanzierung übergehen, da sich der Betroffene aus der direkten Situation in eine indirekte Position begibt. Durch die geringere emotionale Verstrickung ist die Person, die von der Metaposition auf ihre Problemlage blickt, in der Lage, Zusammenhänge mit geringerer emotionaler Verstrickung zu sehen. Im Interventionsfortschritt werden Bezugspersonen in die Überlegungen miteinbezogen und deren Standpunkte beleuchtet. Es folgt die Frage, welche Glücksmöglichkeiten in der Zukunft vielleicht noch verwirklichbar sein könnten, wenn der Betroffene nicht Suizid begeht. Es ist die Frage zu beantworten, ob der Suizidant mit absoluter Sicherheit ausschließen kann, dass es weitere Glücksmomente in dessen Leben geben wird. Ist das nicht der Fall, sollte dieser weiter leben. Mittels einer Zeitreise wird versucht zu erkunden, was alles möglich sein könnte. Narrative Methoden werden jetzt eingesetzt, ebenso wie einfache Trancetechniken, um Visionen zu generieren. Wie könnte sich das Leben des Betroffenen im idealsten Fall entwickeln, sollte er am Leben bleiben? Tagträume schaffen starke mentale Bilder. Nach dieser intensiven „Fantasiephase“ wird versucht zu erkunden, welche Werte des Patienten in den Zukunftsfantasien verwirklicht werden würden. Warum hat der Patient den Wunsch, so oder so zu leben, dieses oder jenes zu erleben? Die in der existenzanalytischen Gesprächsphase gefundenen belastbaren Werte werden jetzt in das Szenario des Patienten mit eingebaut. Zum dem „Wie“ er gerne leben würde, wird ein „Wofür“ gestellt, das über die Egozentrik des Patienten hinaus reicht. Wie belastbar sind diese Konstrukte? Was wäre der Patient bereit, für die Verwirklichung seiner Idealvorstellungen zu tun? Wozu ist dieser konkret bereit? Was könnte er alles verändern, dass manches vom Geplanten wahr werden könnte? Wie könnte das erdachte Leben oder ein Teil davon zur Realität werden? Könnte es sich lohnen, so ein Leben zu führen? Vorerst sind alle diese gestellten Fragen und möglichen Antworten nur ein Gedankenspiel der Fantasie. Im „Reich der Möglichkeiten“, im Sinn von „Was wäre wenn?“ Der Patient beginnt, in der mentalen Welt neue Chancen zu konstruieren, sieht „Freiräume“, schöpft Hoffnung, sieht eine mögliche Zukunft. Es ist die Kunst des Therapeuten aufzuzeigen, dass einiges aus der Fantasie des Patienten durchaus unter Voraussetzung einer gewissen Bereitschaft und Anstrengung zu realisieren wäre. Sobald ein Sinnanruf gelungen ist, zieht sich der Therapeut auf die Position des lobenden Beobachters zurück. Pathologische Anteile des Patienten werden oft erst nach einigen Gesprächen von diesem thematisiert. Im therapeutischen Geschehen zeigt dies erste Fortschritte an. Die Beziehungsebene zwischen Psychotherapeut und Patient korreliert häufig mit den Arbeitsfortschritten. Mit dem Fokus auf die angestrebten, oft durch die Umfeldbedingungen eingeschränkt umsetzbaren, Sinnverwirklichungschancen des Patienten, ergeben sich therapierelevante Themen meist mühelos. In der nachfolgenden Abbildung 11 ist eine mögliche logotherapeutische Interventionsabfolge, wie sie zuvor im Text beschrieben wurde, mit ihren Schwerpunkten grafisch dargestellt. Abbildung 11: Skizze einer logotherapeutischen Interventionsabfolge Quelle: eigene Darstellung Im zuvor vorgestellten Interventionskonzept wird in der Phase „Zukunftsfantasie“ nach stark emotional besetzten, positiven Lebenswelten, Werten, Wünschen, Visionen geforscht. Durch Verstärkung, Konkretisierung und Vernetzung der vom Patienten kommenden Konstrukte wird gemeinsam und spielerisch eine realisierbar scheinende Variante definiert. In einer mentalen Vorwegnahme des Erdachten prüft und spürt der Patient nach, ob das Erwünschte, Anstrebenswerte wirklich das ist, dem er vorbehaltlos innerlich zustimmen kann. In diesem Stadium der Intervention ist dies vorerst lediglich ein Gedankenspiel im Sinn einer geistigen Exkursion. Oft werden mehrere und verschiedene Varianten konstruiert und durchgespielt, speziell dann, wenn es noch einige unerfüllte Lebensträume gibt. Der Patient sollte sich aber für eine konkrete und in einer realistischen Weise verwirklichbare Variante entscheiden. Im geistigen Freiraum entstehen die Wunschwelten des Patienten. Die herausfordernde Aufgabe des Patienten ist es, daraus eine konkrete Auswahl zu treffen und das zu wählen, was von ihm als „das Sinnvollste“ erkannt und erfühlt wurde. Der raffinierte Nebeneffekt des Vorgehens ist, dass der Patient sich in tiefster Verzweiflung und am „Ende seines Lebensmutes“ beginnt, mit seiner Zukunft zu beschäftigen. Wer das Ende seines Lebens vor sich hatte, plant unversehens seine Zukunft. Frankl meint zur Frage des Schicksals: „Wir können zwar nicht die für uns „schicksalhaften“ Bereiche verändern (Herkunft, Umwelt, Veranlagung etc.), aber wir sind frei dazu zu unserem Schicksal Stellung zu beziehen.“ (Frankl 1982:91) Frankl sprach von der „Stimme des Gewissens“, die als sprichwörtliches „Sinnorgan“ fungiert und die „sinnvollste“ Entscheidung trifft. (vgl. Frankl 1992:23) Dieser Stimme soll reichlich Zeit und Raum gegeben werden, damit sie hörbar werden kann, denn der kognitive „Geist“ allein ist schnell, wendig, sprunghaft, täuschbar. Das „Geistige in uns“, das „emotionale Geistige“, das „spezifisch Humane“ braucht Zeit, um sich zu manifestieren. Der Mensch, vor die Wertewahl gestellt, ist auf sein Gewissen „zurückgeworfen“; darauf, dass das Gewissen verantwortlich eine Entscheidung trifft. (vgl. Frankl 2001:239) Viele Vorhaben scheitern, weil der Mensch sie zwar kognitiv will, sein Projekt aber aus welchem Grund auch immer physisch, psychisch oder geistig ablehnt. Erst wenn es gelingt, alle drei Ebenen „menschlichen Seins“ Körper, Psyche und Geist „deckungsgleich“ zu einem einzigen bejahenden „Wollen“ zu bringen, ergibt sich der initiatorische Sinnanruf. (vgl. Frankl 1982:32f) Die Redewendung im Volksmund mit: „Der Wille kann Berge versetzen“ stimmt im Grunde genommen nicht, denn die Affekte und der Geist sind langfristig gesehen immer mächtiger als der Wille. Frankl selbst meinte, dass der Mensch nicht „wollen - wollen“ kann im Zusammenhang mit der Unmöglichkeit, Glaube, Liebe, Hoffnung oder Glück willentlich herzustellen. (vgl. Frankl 1982:76 u. 237) Je mehr die Innenwelten in ihrer Gesamtheit hinter dem Sinnanruf stehen, desto mehr konzentriert sich die Verwirklichungsenergie. Entscheidungen gegen „besseres Wissen“ oder „gegen das Gefühl“ sind solange zu variieren, bis beide Paritäten vorbehaltlos hinter dem „Entschiedenen“ stehen. Frankl spricht in diesem Zusammenhang von der „Ungewissheit“ und vom „Wagnis“, dem Gewissen zu gehorchen; trotzdem haben wir dem Sinnanruf zu folgen, da wir den „Übersinn“ unserer Anrufung oft nicht zu erfassen imstande sind. (vgl. Frankl 1982:56) Mit dem „Übersinn“ nimmt Frankl auf sein Modell der „Selbsttranszendenz“ Bezug. Dementsprechend auf Werte, die den jeweiligen Menschen „übersteigen“ im Sinn von etwas tun für Mitmenschen, Visionen, Ideen, Überzeugungen usw. Missglückt ein Änderungsvorhaben, dann erlebt der Mensch in der Krise dieses Scheitern als bedeutende persönliche Tragödie. Sinnanrufe sind daher besonders sorgfältig zu entwickeln und auf ihre Intensität, Tragfähigkeit und „Zielklarheit“ zu prüfen. Es geht vor allem darum, die Zeit bis zu den ersten kleinen Erfolgen durchzuhalten. Bis dorthin hat der Patient nur seine meist schwankende Eigenmotivation, „gewissermaßen nur eine magere Reserve“, bis ihm durch das Erreichen eines Zwischenziels neue Energie zufließt. Ein möglicher Sinnanruf wird nachfolgend näher beschrieben. Sinnanruf Ein Sinnanruf an den Patienten könnte folgende Fragen beinhalten: Ob der Patient bereit wäre, sich für die Erreichung seiner eigenen Visionen anzustrengen, ob er bereit wäre, ein „persönliches Opfer“ für die Verwirklichung seiner „fantasierten“ Ziele zu bringen? Diese Fragen sind so harmlos wie nur möglich zu stellen, gleichsam in einem bedeutungslosen Halbsatz. Die Antwort kann nur ein „Ja, schon“ sein, denn die Konsequenz aus einem „Nein“ wäre entweder eine Ablehnung jeglicher Hilfestellungen oder ein schlichtes NichtVerstehen der Frage. Das „Ja“ ist aber nie ein Problem, es wird meist schon früher signalisiert. Eine genauere Untersuchung verlangt die Einschränkung des hörbaren oder unhörbaren „schon“. Zu welchen Opfern ist der Patient wirklich bereit? Was traut er sich wirklich zu? Wie weit ist er tatsächlich belastbar? Nach Klärung der zuvor gestellten Fragen ist der Zeitpunkt gekommen nachzuprüfen, wie intensiv der Sinnanruf den Patienten erreicht hat: „Was wird denn dieses Mal anders sein als bei den vielen bereits gescheiterten Versuchen?“ Es geht um überzeugende Argumente, mit denen der Patient versuchen sollte, seinen Psychotherapeuten zu überzeugen, warum er meint, es diesmal schaffen zu können. Das „Wollen“ wird auf die Patientenseite gelegt, und es ist die Rolle des Psychotherapeuten so zu tun, als ob er seinem Patienten das Vorhaben ausreden will. Durch diesen Wechsel der Positionen beginnt der Patient, seinen Veränderungsversuch gegenüber dem Psychotherapeuten zu verteidigen und „ankert“ dadurch sein Vorhaben. „Initiatorische Hürde“ Die meisten Patienten wollen zu viel auf einmal, mehr als ihre derzeitige Leistungsmöglichkeit meist zulässt. Ein erstes durchaus ambitioniertes „Etappenziel“ ist zu vereinbaren, dessen Erreichung den Psychotherapeuten überzeugten soll, dass diesmal „mehr dahinter steht“. Die großen Ziele werden beibehalten. Fokussiert wird begonnen, an der ersten, naheliegenden Aufgabe zu arbeiten. Der „Motivationstest“, die erste kleine Aufgabe, wird vom Patienten meistens übermotiviert angegangen. Mit dem Patienten in Zukunftsfantasien zu schwelgen, mental Zukunft vorwegzunehmen, zu beschließen und davon gleich ein kleines Stück „wahr“ werden lassen, ist ein simples aber wirksames Motivationskonzept. Frankl schrieb darüber: etwas vom „Reich der Möglichkeiten“ über die Gegenwartslinie zu bringen, hinein ins „Reich des Gewesenseins“. (vgl. Frankl 1982:54f); etwas, das zu unserer „Lebensernte“ zählen wird, weil wir es „ins Leben“, in unsere Gegenwart, gebracht haben. (vgl. Frankl 1982:56) Die „Schwelle“ des Motivationstests sollte durchaus fordernd angelegt werden. Trotz Hilfestellungen ist es aber immer eine persönliche Leistung des Patienten. Finalisierung „Aber wie soll das weitergehen?“, leitet den Prozess ein, nach den Verwirklichungsmöglichkeiten, den konkreten langfristig realisierbaren Freiräumen zu forschen, was nützlich oder hinderlich sein könnte, ein selbst gewähltes verwirklichbares Etappenziel zu erreichen. Viele Hindernisse bauen sich nur in den Vorstellungswelten des Patienten auf. Dieser beginnt sofort nach Argumenten zu suchen, um ein Scheitern vor sich selbst entschuldigen zu können. Diese negativen Denkprozesse „auszuräumen“, ist eine wahre Herausforderung, da viele der betroffenen Menschen auf ein Scheitern „programmiert“ sind. Immer wieder wird das, was sich der Patient vornimmt, durchgesprochen. Die Rolle des Psychotherapeuten ist dabei die eines Moderators. Finalisiert wird die Sinnfindung durch eine schriftliche Zieldefinition und durch die ins Auge gefassten Maßnahmen zur Erreichung dieser Ziele. Die Suche nach Argumenten, warum der Patient das, was bis jetzt eigentlich eine „Konstruktion“ war, wirklich realisieren soll, das konkrete „Wofür“, ist das „Herzstück“ des Prozesses. Kann in diesem Sinne nichts haltbar Erscheinendes zutage gefördert werden, ist etwas nicht richtig abgelaufen. „Festgemacht“ werden kann der Erfolg an der Anzahl und der emotionalen Intensität der Argumente, die über die eigene Egozentrik des Patienten hinaus reichen. Nochmals wird mittels „Tagträumen“ in einer „mentalen“ Vorwegnahme des Angestrebten geprüft, ob der Patient wirklich bereit ist, die Mühsal, Entbehrungen, Opfer, Rückschläge usw. auf sich zu nehmen, „ob die Zielerreichung dem Patienten diese absehbaren „Leiden“ wert ist?“ Die in Zeitreisen erarbeiteten lebensnahen Konstrukte aus dem „virtuellen“ Raum des Patienten verhelfen dazu, einen verwirklichbaren, den Patienten „aus der Reserve lockenden“ Sinnanruf zu erhalten. Immer wieder prüft der Patient seine Wunschszenarien, indem er möglichst intensiv in die von ihm ersehnte, anstrebenswert erscheinende Realität hineingeht und sie gegebenenfalls so lange verändert, bis es wirklich die „Seine“ ist. (vgl. Riedl 2000:15f) Je intensiver der Patient sich das Angestrebte vorzustellen imstande ist, desto mehr an „Kraft“ zur Zielerreichung wird ihm zufließen. Der Realitätsbezug wird durch die Umsetzungsplanung hergestellt. Wenn die geistige, die psychische und die somatische Ebene möglichst in eine Wunschrichtung ausgerichtet werden, können sich die „inneren Bilder“ unbelastet und intensiv „verselbständigen“, dann startet die Phase der „Umsetzung“ von selbst. Der Patient wird aktiv und beginnt von sich aus mit der Verwirklichung. Ein Patient, der sinnmotiviert ist, ist selbstmotivierend und dadurch selbstbefehlend im Rahmen seiner Möglichkeiten. Die durchgeplante Verwendung seiner Zeit mit dem Setzen von engen Zwischenzielen ermöglicht eine tägliche Selbstkontrolle. Die therapeutische Arbeit beschränkt sich nach diesen Arbeitsschritten auf die Bearbeitung von aktuellen Anlässen und auf das Aufrechthalten der vom Patienten errichteten mentalen Welten. Präventiv wird der Umgang mit Rückschlägen besprochen und Strategien zu deren Bewältigung erarbeitet. Dazu zählen die „Trotzmacht des Geistes“, positive und intensive „innere Bilder“ das „Wofür“ betreffend, die Technik der Selbstdistanzierung. Diverse Stimmungslöcher und Schwankungen der Motivation werden vom Patienten selbst mittels einer „Zieltrance“ ausgeglichen. Das Potenzial an Vorwänden, Ausreden und sonstigen Störversuchen wird umso größer je beeinträchtigter der Patient ist. Vorhandene pathologische psychische Störungen rücken danach verstärkt in die Aufmerksamkeit des Patienten. Der positiv gestimmte Patient bekommt Mut, nun auch seine z. B. sozialen Ängste oder Aggressionsdurchbrüche zu bearbeiten. Eine Kontrollmöglichkeit, ob der Prozess in die beabsichtigte Richtung läuft, ergibt sich durch das geäußerte Motivationsniveau, und das Einhalten des Zeitplanes kann durch planmäßiges Erreichen von Zwischenzielen überprüft werden. Logotherapeutische Paartherapie Von Elisabeth Lukas stammt die sehr praxistaugliche Technik der Logotherapeutischen Paartherapie. Vor den eigentlichen Paargesprächen wird mit den Beteiligten in Einzelgesprächen deren Erwartungshaltung und Flexibilität in Erfahrung gebracht. Die Beziehung, welche in den Einzelgesprächen zwischen den Beteiligten und dem Psychotherapeuten entsteht, schafft den Raum für eine neue Beziehungsarbeit. Die Bereitschaft für neue Kompromisse wird wechselseitig vom Psychotherapeuten verhandelt da dieser jeweils eine geringere emotionale Hürde zu überwinden hat als der Lebenspartner. In den eigentlichen Paargesprächen werden die erarbeiteten neuen Beziehungsmodelle verfestigt und geankert. Zirkuläre Fragen zur Befindlichkeit des Partners nach Elisabeth Lukas: Wie glaube ich, geht es meiner Frau zurzeit mit mir? Was glaube ich, heute und in Zukunft tun zu können, dass es meiner Frau mit mir besser geht? Wie glaube ich, geht es meinen Mann zurzeit mit mir? Was glaube ich, heute und in Zukunft tun zu können, dass es meinen Mann mit mir besser geht? Schnorrenberg schreibt: Probleme in der Partnerschaft, im Beruf usw. entstehen meist, weil man es nicht zulassen kann, dass die Anderen einen anders sehen, als man sich selbst sieht. Wie sieht „Mann“ sich selbst, wie sieht „Frau“ sich selbst? „Übertragung“ bezeichnet einen Prozess von Verzerrung der Wahrnehmung und des Erlebens in einer Beziehung auf der Basis früherer Beziehungsmuster, die unbewusst vom Mann auf die Frau übertragen werden. Diese reagiert mit einer so genannten Gegenübertragung, einer emotionalen Reaktion auf die Übertragung des Mannes usw. Ein „Spiel“ hat seinen Anfang genommen: Spiele sind grundsätzlich betrügerische und deshalb unehrliche Manöver und Vorgänge, denen die Absicht zugrunde liegt, eine abhängige Beziehung zu erzwingen und Unselbstständigkeit fortbestehen zu lassen, um Sicherheit zu haben. Sie bietet voraussagbare Zuwendung, und auf diese Weise die Erfüllung biologischer Wünsche und mancher existenzieller Bedürfnisse, die zu der Ansicht von Welt, die der Betreffende hat in Beziehung stehen. Veränderung geschieht, wenn jemand wird, was er ist, und nicht wenn er versucht, etwas zu werden, was er nicht ist. Veränderung ergibt sich nicht aus dem Versuch des Individuums oder anderer Personen seine Veränderung zu erzwingen, aber sie findet statt, wenn man sich Zeit nimmt und die Mühe macht, zu sein, was man ist. Das heißt, sich voll und ganz auf sein gegenwärtiges Sein einzulassen. Der Therapeut gibt dem Suchenden nur, was er bereits besitzt, und nimmt ihm dafür, was er noch nie hatte. Was der Therapeut dem Suchenden an Wissen voraus hat, ist, dass wir alle Pilger sind. Den Menschen zum Leben in dieser Welt dadurch fähig zu machen, dass er den moralischen Mut bekommt, nicht nur nicht schlechter, sondern auch nicht besser sein zu wollen, als er ist. (vgl. Schnorrenberg 2007:117-121) Logotherapeutische Gruppenarbeit 90 Minuten Sitzungen in denen jedes Gesprächsthema erlaubt ist, wenn es positiv also lebensbejahend ist. Nihilistische Thematik ist strikte Verboten – die Gruppenmitglieder achten gegenseitig auf die Einhaltung dieser „einzigen Regel“. Logotherapeutische Biografiemethode Die vorgegebenen Kapitel ergeben letztendlich das „Drehbuch des eigenen Lebens“. Abbildung 12: Traggerüst schematisch nach Pelzold Literaturverzeichnis Eckert, Jochen/Biermann-Ratjen, Eva-Maria (2004): Zur Notwendigkeit einer differenziellen Indikation für Psychotherapie. 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