54 BZB April 13 Wissenschaft und Fortbildung Zahnerhaltung bei älteren Patienten Schwerpunkt Endodontie Ein Beitrag von Dr. Sebastian Bürklein, Münster, und Prof. Dr. Michael Hülsmann, Göttingen Die Zahnerhaltung durch Wurzelkanalbehandlungen gehört unabhängig vom Alter der Patienten zu den Standardbehandlungen in der täglichen Praxis, auch wenn im Zeitalter der dentalen Implantate künstlicher Ersatz zur Verfügung steht. Eine gestiegene Lebenserwartung, verbesserte Mundgesundheit sowie intensivierte Prophylaxemaßnahmen und Aufklärung sorgen dafür, dass heute die Patienten im fortgeschrittenen Alter glücklicherweise mehr Zähne aufweisen, die zur Verankerung festsitzenden oder herausnehmbaren Zahnersatzes beitragen und die Lebensqualität positiv beeinflussen können. Solche Pfeilerzähne benötigen intensive konservierende Vor- und Nachsorge, um dem physiologischen Alterungsprozess aller beteiligten Gewebe Rechnung zu tragen. Des Weiteren müssen im Vorfeld der Behandlung etwaige systemische Erkrankungen, die mit zunehmendem Alter gehäuft auftreten, in die Therapieentscheidung einbezogen werden. Unter Berücksichtigung aller Parameter und Begleitumstände kann dann im Einklang mit dem Patienten der Entschluss sowohl für als auch gegen den Versuch der Zahnerhaltung gefällt werden. Aufgrund des demografischen Wandels wird sich in naher Zukunft die Altersstruktur der Patienten zwangsläufig verändern. Bis zum Jahr 2020 soll sich der Anteil von Menschen mit einem Alter von ≥ 65 Jahren weltweit verdreifachen und auf etwa 700 Millionen Menschen anwachsen. Damit kommen auf den Zahnarzt, das Praxisteam und die Praxisorganisation spezifische Adaptationsprozesse zu, da es eine Reihe patientenbezogener und altersassoziierter Besonderheiten gibt, die zu berücksichtigen sind. Wie epidemiologische Daten belegen, sind endodontische Behandlungen bei alten und älteren Patienten mittlerweile keine Seltenheit mehr. Es konnte gezeigt werden, dass zwischen 38 und 78 Prozent der älteren Menschen mindestens einen Zahn mit Wurzelfüllung oder apikaler Parodontitis aufweisen [13,50,51]. Die Prävalenz der Parodontitis apicalis liegt insgesamt über derjenigen der marginalen Parodontitis. Während bei 30- bis 40-Jährigen die Relation von apikaler zu marginaler Parodontitis noch bei 40 zu 14 Prozent liegt, sind bei über 60-Jährigen bereits 62 Prozent mit Parodontitis apicalis versus 26 Prozent mit marginaler Parodontitis zu finden [23]. Individuelle Bedürfnisse, Prioritäten und die Erwartungshaltung jedes Patienten und insbesondere der älteren Mitbürger sollten für die Behandlungsplanung ermittelt werden. Einerseits tut man nicht jedem älteren Patienten mit Zahnerhaltung um jeden Preis wirklich einen Gefallen, andererseits kann aus psychologischer Sicht die Erhaltung eines Zahnes auch bei unsicherer oder sogar schlechter Prognose für den Patienten wichtig sein. Eigene Zähne zu haben, wird häufig nicht nur mit Kau-, sondern auch mit Lebensqualität assoziiert. Entscheidend für die Einteilung des alternden Menschen ist in der Regel das kalendarische Alter (Tab. 1). Per se stellt diese Klassifikation nur eine numerische dar, ohne auf das Individuum und seine Fähigkeiten einzugehen. Grundsätzlich betrifft der Alterungsprozess alle Menschen und ist progressiv, irreversibel und genetisch bedingt [55]. Äußere Einflüsse wie zum Beispiel die Ernährung oder körperliche Fitness stehen ebenfalls mit dem Altern in Zusammenhang. Neue Studien belegen, dass der Höhepunkt der körperlichen Leistungsfähigkeit bereits zwischen dem 20. und 30. Lebensjahr liegt, aber die Leistungskurve des Menschen besonders steil nach dem Alter von 45 Jahren abfällt. Dies gilt für Männer in stärkerem Maße als für Frauen [31]. 50 – 61 Jahre Der alternde Mensch 62 – 77 Jahre Der ältere Mensch 78 – 94 Jahre Der alte Mensch 95 – 105 Jahre Der sehr alte Mensch älter als 105 Jahre Der langlebige Mensch Tab. 1: Altersdefinition der WHO [38] Medikation im Alter Mit fortschreitendem Alter nehmen bestimmte Erkrankungen wie zum Beispiel Alzheimer, Parkinson, Krebs, koronare Herzerkrankungen, Schmerzen, Kurzatmigkeit, Verminderung der Organfunktionen, Änderung des Immunsystems, Depressionen und Gewichtsverlust statistisch gesehen zu. Diese Patienten sind oft auf Medikamente ange- Wissenschaft und Fortbildung wiesen, deren Interaktionen mit endodontisch relevanten Pharmaka präoperativ überprüft werden sollten. Etwa 12 Prozent aller Patienten gelten aufgrund ihrer Medikation als kompromittiert und weisen folglich eine schwerwiegende Grunderkrankung auf [22]. Die Prävalenz der Multimorbidität, die durch das gleichzeitige Vorliegen mehrerer Erkrankungen mit steigendem Schweregrad definiert ist [59], steigt ebenfalls [45]. Die häufigsten Grunderkrankungen bei Patienten über 65 Jahre sind die arterielle Hypertension (45 %), gefolgt von generellen Knochen- und Gelenkerkrankungen (34 %) (Arthrose, Arthritis, Osteoporose etc.) sowie anderen Herzerkrankungen (20 %) und Diabetes (meist Typ II) (10 %) [16,53]. Eine Medikation mit Antikoagulantien, Diuretika, Antihypertonika, Schmerzmitteln, Antidepressiva und oralen Antidiabetika kommt relativ häufig vor. Während ein nicht unerheblicher Anteil der betagten Patienten (etwa 22 %) überhaupt keine Medikamente benötigt, sind 21 Prozent auf ein, je 18 Prozent auf zwei beziehungsweise drei und 26 Prozent auf mehr als drei Medikamente angewiesen. Insgesamt benötigen folglich fast 80 Prozent der älteren Menschen Medikamente [25,32], die unter Umständen mögliche Nebenwirkungen auf die Speichelfließrate oder die Gingiva (Hyperplasie) aufweisen. Es sind mehr als 400 Medikamente bekannt, die mit einer Xerostomie assoziiert sind, und man geht davon aus, dass ungefähr 75 Prozent der Patienten über 65 Jahre eine solche Medikation bekommen [20,54]. Aufgrund der Grunderkrankung und der dazugehörigen Medikation werden Patienten dann zu sogenannten Risikopatienten. Medikamente mit Einfluss auf die Hämostase Für die (endo-)chirurgische Behandlung sind vor allem Medikamente von klinischer Relevanz, die einen Effekt auf die Hämostase haben. Diese Medikation kommt entweder prophylaktisch (Vermeidung von Thrombosen und Embolien) oder therapeutisch (Herzrhythmusstörungen, Thrombosen, APC-Resistenz, Klappenersatz, fortgeschrittene Arteriosklerose oder hämodynamische Störungen) zum Einsatz. Medikamente, die mit den Blutplättchen interferieren oder die Koagulation durch die Hemmung der Prothrombinsynthese beeinflussen, zählen dazu. Acetylsalicylsäure, Heparin, Hirudin und Cumarinderivate sind gängige Vertreter dieser Gruppe. Die Evaluation des Grundes für die Antikoagulantientherapie sowie die Einschätzung des Risikos der Weiterführung versus Unterbrechung BZB April 13 der Medikation (immer nur in Absprache mit dem entsprechenden Haus- oder Facharzt) gehören zur Planung eines chirurgischen Eingriffes. Aktuelle Gerinnungsparameter (INR und gegebenenfalls Blutungszeit) sollten vorhanden sein. Meistens ist es jedoch nicht erforderlich, die Antikoagulantientherapie für einen Eingriff zu unterbrechen [21]. Dennoch sollte eine exakte Planung desselben durchgeführt werden und lokal hämostyptische Maßnahmen (Kollagen, Naht, Fibrinkleber, Wundschutzplatte) bereitliegen [21]. Postoperativ ist die Verwendung von Tranexamsäure ein probates Mittel, um Nachblutungen effektiv zu verhindern [49]. Nicht immer ist jedoch eine Blutungsneigung durch Medikamente offensichtlich. Viele Patienten (bis zu 25 %) [14] konsumieren Naturprodukte und/oder Nahrungsergänzungsmittel wie Ingwer, Gingko und Knoblauch, die sie nicht angeben. Auch hier können verstärkte Blutungen oder Interaktionen mit anderen Medikamenten auftreten [4,15]. Die Kompetenzen eines Zahnarztes werden mit der exakten Kenntnis dieser Grunderkrankungen und der Pharmakodynamik der verwendeten Medikamente unter Umständen deutlich überschritten. Deshalb empfiehlt es sich, vor Beginn der Behandlung einen Termin für eine ausführliche Anamnese und klinische Untersuchung einzuplanen sowie die Medikamentenliste zu überprüfen. Bei Unklarheit ist die Befragung des Hausarztes oder Internisten obligat. Bei Störungen der Blutgerinnung sind die eher seltenen, angeborenen Koagulaopathien, Thrombopathien oder Vasopathien von den medikamentös bedingten zu unterscheiden. In Abhängigkeit der Schwere der Erkrankung und etwaiger Restaktivität von bestimmten Faktoren empfiehlt sich die Zusammenarbeit mit einer Gerinnungsambulanz, sodass eine sichere Behandlung gewährleistet ist. Antibiotische Abschirmung und Endokarditisprophylaxe Bakteriämien können bei vielen zahnärztlichen Eingriffen und insbesondere auch bei endodontischen Behandlungen auftreten und deshalb bei Patienten mit Herzfehlern und/oder Herzklappenersatz zu einer lebensbedrohlichen Situation führen [46]. Dies betrifft auch die Wurzelkanalbehandlung. Intrakanaläre Keime konnten selbst bei strenger Beschränkung der Instrumentierung auf das Kanallumen im peripheren Blut nachgewiesen werden [19]. Die Letalität einer unbehandelten Endokarditis liegt auch heute noch bei nahezu 55 56 BZB April 13 Wissenschaft und Fortbildung 100 Prozent [33] und kann mit adäquater Therapie auf 10 bis 15 Prozent gesenkt werden [8]. Aktuell wird die Endokarditisprophylaxe basierend auf den Prophylaxeempfehlungen der American Heart Association [57] und der Deutschen Gesellschaft für Kardiologie [39] nur noch bei vier Indikationen empfohlen, nämlich bei den folgenden Herzerkrankungen mit dem höchsten Risiko für einen ungünstigen Verlauf einer bakteriellen Endokarditis [44]: · prothetischer Herzklappenersatz, · überstandene infektiöse Endokarditis, · Zustand nach Herztransplantation mit Entstehung einer Valvulopathie und · angeborene Herzfehler (mit frei definierten Untergruppen). Organtransplantierte Patienten und Endoprothesenträger Die Anzahl von Organtransplantierten und Endoprothesenträgern in der zahnärztlichen Praxis nimmt ebenfalls stetig zu, deshalb bedürfen diese Patienten besonderer Aufmerksamkeit. Die medikamentös induzierte Immunsuppression zur Verhinderung der Organabstoßung stellt das Risiko für organtransplantierte Patienten dar, während die Früh- und Spätinfektion die schwerwiegendsten Komplikationen nach Endoprotheseninsertion sind. Sowohl die intraoperative bakterielle Kontamination als auch die hämatogene Streuung können eine Spätinfektion infolge einer Bakteriämie auslösen. Bis heute liegen keine Leitlinien vor, die sich hinreichend mit dieser Thematik befassen. Nach aktuellem Wissensstand ist aber eine präventive Antibiotikagabe bei Patienten mit allogenen Organtransplantaten in Anlehnung an bekannte Prophylaxekonzepte sinnvoll und gerechtfertigt. Dies gilt solange, bis in klinischen Studien die fehlende Wirksamkeit nachgewiesen wird. Aufgrund einer sehr heterogenen Datenlage wird bei Endoprothesenträgern eine routinemäßige Antibiotikaprophylaxe vor zahnärztlichen Eingriffen kontrovers diskutiert und meist abgelehnt [5, 17, 40, 43, 50, 60]. In den ersten zwei Jahren nach einer Endoprotheseninsertion wird jedoch aufgrund eines erhöhten Risikos eine antibiotische Abschirmung meist empfohlen. Letztlich scheint ein guter Zahnstatus mit gesunden parodontalen Verhältnissen die beste Versicherung zu sein, eine Infektion zu verhindern, da dies das Risiko einer transienten Bakteriämie erheblich senkt [43]. Die American Academy of Orthopaedic Surgeons fordert hingegen eine antibiotische Abschirmung lebenslang für jegliche zahnärztliche Therapie, bei der eine transiente Bakteriämie auftreten kann, so etwa für Patienten mit einem erhöhten Risiko einer hämatogenen Infektion einer totalen Endoprothese [1]. Relevant sind weiterhin: · immunsupprimierte Patienten, · entzündliche Arthropathien (z.B. rheumatoide Arthritis, systemischer Lupus erythematodes), · medikamentös immunsupprimierte Patienten nach Organtransplantation, · Zustand nach Radiatio, · Comorbidität (Diabetes, HIV, Raucher), · vorherige Infektion einer Endoprothese, · Hämophilie, · HIV-Infektion, · Unterernährung, · insulinabhängiger Diabetes mellitus sowie · Tumorpatienten. Bisphosphonate In der Therapie verschiedener Knochenerkrankungen (Osteoporose, Morbus Paget, maligne Hyperkalziämie, Patienten mit Metastasen bei multiplem Myelom oder Brust- und Prostatatumoren) werden häufig Bisphosphonate eingesetzt. Chemisch dem Pyrophosphat ähnlich, beruht die Wirkung auf einer Verhinderung der osteoklastären Resorption. Insbesondere bei einer intravenösen Applikation von Bisphosphonaten, jedoch auch bei oraler Gabe ergibt sich ein erhöhtes Risiko von Nekrosen des Kieferknochens nach invasiven Eingriffen. Zusätzlich ist die Dauer der Einnahme entscheidend. Je länger die Medikation andauert, desto größer ist das Risiko einzuschätzen [36]. Kurzfristiges Absetzen von Bisphosphonaten scheint aufgrund der langen Halbwertszeiten keinerlei positive Effekte zu haben. Die Zahnerhaltung und damit auch die Wurzelkanalbehandlung stellt bei dieser Patientengruppe gegenüber chirurgischen Eingriffen die schonendere Alternative dar und sollte die primäre Wahl der Therapie sein. Bei chirurgischen Eingriffen ist eine systemische antiinfektive Prophylaxe notwendig, wie sie auch für bestrahlte Patienten gilt [26] (z.B. 1 g Amoxicillin 1-1-1 oder 0,6 g Clindamycin 1-1-1 oral ab dem Tag vor dem Eingriff beziehungsweise der Operation). Um möglichen Risiken vorzubeugen, ist allerdings eine Sanierung der Zähne vor der Medikation beziehungsweise vor Bestrahlungsbeginn die sicherste Methode. Wissenschaft und Fortbildung BZB April 13 Altersbedingte Veränderungen des Pulpa-Dentin-Komplexes Neben den oben geschilderten allgemeinen Faktoren sind die altersbedingten Veränderungen des Pulpa-Dentin-Komplexes zu beachten (Tab. 2). Dentin: · freiliegendes Dentin · Veränderung der kollagenen Fasern (Sklerosierung) · geringere Permeabilität · Verengung der Dentintubuli · Pigmenteinlagerung Pulpa: · Verkleinerung und Kalzifikation des Pulparaumes · Bildung von Dentikeln [6,9] · Obliteration der Wurzelkanäle · Reduktion der Zellzahl · Veränderung der Zelldichte (zwischen dem 20. und 70. Lebensjahr circa 50 Prozent) · Reduktion von Kapillaren und Nervenfasern [7] · Änderung der Zellstruktur (weniger kollagene Fasern, mehr langsame C-Nervenfasern) · geringere Sensibilität · regressive Veränderungen (Atrophie sowie hyaline und kalkige Degeneration) [10] Tab. 2: Altersbedingte Veränderungen des Pulpa-Dentin-Systems Diagnostik und Behandlungsplanung Die Diagnose des Pulpazustandes bei älteren Zähnen mit aufwendigen Restaurationen stellt häufig auch aufgrund biologischer und degenerativer Prozesse eine Herausforderung dar [41]. Kalzifikationen oder die Schichtstärke der Restaurationen aus Metall und/oder Keramik erschweren eine eindeutige und zuverlässige Bestimmung der Sensibilität und Vitalität der Pulpa bei Zähnen älterer Menschen, an denen eine endodontische Behandlung möglicherweise indiziert erscheint. Die Reizleitung kann bereits durch eine verringerte Dentininnervation verschlechtert sein, sodass unter Umständen sowohl der Kältetest als auch die Präparation einer Testkavität falsch negative Resultate ergeben. Insofern ist immer die Kombination aus klinischer Symptomatik und/oder dem Röntgenbefund für die Therapieplanung maßgebend. Eine im Röntgenbild erscheinende Obliteration des Kanalsystems, ohne weitere Symptome oder Befunde, stellt keine Indikation zur Wurzelkanalbehandlung dar. Sowohl frühere Restaurationen als auch die strukturellen Veränderungen des Dentins kön- Abb. 1: Molar mit Infraktur dargestellt durch faseroptische Transillumination nen zu einer dunkleren Zahnfarbe führen, deshalb sind bei älteren Patienten Verfärbungen der Zahnkrone weniger eindeutig zu interpretieren als bei jüngeren. Ist bei suspekter Integrität der Pulpa die Anfertigung eines Zahnersatzes geplant, so empfiehlt sich die Durchführung einer Wurzelkanalbehandlung vor der prothetischen Versorgung. Bei der Diagnostik ist auf Risse, Infrakturen und Frakturen in den Zahnhartsubstanzen besonderes Augenmerk zu legen, weil diese bei älteren Menschen häufig auftreten [37] (Abb. 1). Einerseits können Pulpitiden oder Pulpanekrosen die Folge solcher Hartgewebeschäden sein und andererseits kann dadurch letztlich die Restaurierbarkeit eines Zahnes so kompromittiert sein, dass die Indikation zur Wurzelkanalbehandlung und Zahnerhaltung überschritten ist und der Extraktion der Vorzug zu geben ist. Ebenso ist eine kritische Beurteilung und Evaluation der Mundhygiene und des Parodontalzustandes notwendig, da beide Faktoren die Prognose eines Zahnes entscheidend beeinflussen und einen Erhaltungsversuch des Zahnes verhindern können. Vor Einleitung einer Wurzelkanalbehandlung sollten folglich die konservierende und prothetische Restaurierbarkeit sowie der parodontale Status des zu behandelnden Zahnes kritisch überprüft und diskutiert werden. Diese Parameter sind nicht losgelöst von der Gesamtsituation des Patienten zu betrachten. Es gilt auch, den Zahn bezüglich der zu erwartenden Funktionalität und deren Bedeutung für den Patienten (Ästhetik, Phonetik, Lebensqualität) einzuschätzen und zu bewerten. Ein unabdingbarer 57 58 BZB April 13 Wissenschaft und Fortbildung Abb. 2a und b: Zahn mit einer Endo-Paro-Läsion und erfolgreicher therapeutischer Intervention Wunsch des Patienten nach Zahnerhaltung kann auch einen kompromissbehafteten Behandlungsversuch rechtfertigen. Allerdings ist bei der Therapieplanung stets die Konformität zu den Kassenrichtlinien zu bedenken, sodass solche Kompromissbehandlungen in der Regel rein privat zu liquidieren sind (Abb. 2a und b). Von großer Bedeutung ist die Abstimmung der endodontischen Planung mit der geplanten oder bereits vorhandenen Restauration: · Kann eine Restauration durch eine Wurzelkanalbehandlung erhalten werden (grundsätzlich beinhaltet dies auch Revisionen bereits früher durchgeführter Wurzelkanalbehandlungen) (Abb. 3a und b)? · Soll der Zahn als Pfeiler in eine festsitzende oder herausnehmbare Versorgung integriert werden? · Würde der Verlust des Zahnes den Übergang zu einer herausnehmbaren Versorgung bedeuten? Sicher sind nach Abschluss des Kieferwachstums Implantate als adäquater Ersatz eines natürlichen Zahnes zwar prinzipiell in jedem Lebensalter zu inserieren, was bei der Diskussion der Differenzialtherapie zu berücksichtigen ist, jedoch können bestimmte Grunderkrankungen wie beispielsweise Diabetes oder Osteoporose die Prognose verschlechtern. Des Weiteren kann die aufwendige Pflege und Reinigung der Implantate – gerade wenn es sich um festsitzende Konstruktionen handelt – schwerfallen, was mit einem eingeschränkten Visus oder der reduzierten Feinmotorik zusammenhängen kann. Besonders bei der Planung zeitintensiver Therapien sind zudem patientenspezifische Parameter wie intraoperative Lagerung, Mundöffnung sowie physische und psychische Belastbarkeit zu berücksichtigen. Der Wunsch nach Beendigung der Behandlung sollte so rechtzeitig kommuniziert wer- Abb. 3a: Präoperative Aufnahme eines Molars, der als Stützpfeiler einer mehrspannigen Brücke dient. Da die Patientin Implantate ablehnt, wäre bei Verlust des Zahnes ein herausnehmbarer Zahnersatz notwendig. Abb. 3b: Kontrollaufnahme nach Abschluss der Revisionsbehandlung. Die Brücke konnte erhalten werden. den, dass eine ausreichende temporäre Versorgung (Desinfektion, Medikation, temporärer Verschluss) möglich ist. Größenveränderungen des Pulpakavums Eine Verringerung der Ausdehnung der Pulpakammer bei Prämolaren und Molaren mit zunehmendem Alter ist bekannt [12]. Während die Höhe der Pulpakammer um etwa 80 Prozent abnimmt, reduziert sich die Pulpabreite dagegen nur um circa 20 Prozent, da an Pulpakammerdach und -boden eine stärkere Dentinablagerung stattfindet als an den Wänden der Pulpakammer [58]. Bei fortgeschrittener Obliteration findet sich gegebenenfalls keine Pulpakammer mehr und die endodontische Behandlung beginnt mit der mühevollen Suche nach den Wurzelkanaleingängen am Pulpakammerboden oder sogar weiter apikalwärts bereits innerhalb der Wurzeln (Abb. 4a bis 5b). Eine orientierende, allerdings nur grobe Abschätzung der notwendigen Eindringtiefe bis zum Erreichen der Wurzelkanaleingänge kann anhand des Röntgenbildes erfolgen und auf die klinische Situation übertragen werden. Kalzifizierungen Die Kalzifizierungen beginnen im koronalen Bereich des Endodonts und sind ein häufiger Befund bei „älteren“ Zähnen [56]. Nach der Anlagerung von Hartgewebe zieht sich die Pulpa nach apikal zurück. Der Prozess der Kalzifizierung (Obliteration) setzt also die Anwesenheit vitalen Gewebes voraus. Wird das Pulpagewebe nekrotisch, stoppt auch der Kalzifizierungsprozess. Dass es zu einer vollständigen Obliteration kommt, stellt eher die Ausnahme dar, partielle Obliterationen und Einengungen des endodontischen Hohlraums hingegen sind häufiger anzutreffen. Ein nahezu vollständiger Verschluss des Pulpakavums erschwert Wissenschaft und Fortbildung Abb. 4a: Die diagnostische Aufnahme zeigt einen Oberkiefermolar mit stark obliteriertem Pulpakavum, Furkationsbeteiligung und apikaler Läsion. In der mesialen Wurzel ist apikal der Schmelz-Zement-Grenze noch schwach ein Wurzelkanal zu erkennen. Abb. 5a: Diagnostisches Röntgenbild regio 24 mit unvollständiger Wurzelfüllung, scheinbar vollständig obliterierten Wurzelkanälen und apikaler Parodontitis sowie vertikalem Knocheneinbruch distal Abb. 5b: Nach Revision konnte das Kanalsystem in beiden Wurzeln katheterisiert und aufbereitet werden. die Darstellung der Wurzelkanaleingänge, die sich dann nicht selten erst weit apikal der Schmelz-Zement-Grenze finden lassen. Häufig bleibt der apikale Anteil des Wurzelkanals breit und durchgängig und ist daher, sobald die Wurzelkanaleingänge gefunden sind, leicht zu behandeln. Das klinische Vorgehen bei der Behandlung solcher Zähne kann in drei Etappen unterteilt werden: · Präparation einer primären Zugangskavität mit Ausräumen des Pulpakavums und Entfernung allen Hartgewebes, das den Zugang zu den Wurzelkanälen blockiert · Darstellen und Erweitern der Wurzelkanaleingänge · Katheterisierung und Präparation sowie Desinfektion und Obturation der dargestellten Wurzelkanäle. BZB April 13 59 Abb. 4b: Nach langer Suche und Präparation mit sonoerosiven Instrumenten (ProUltra, Dentsply) und rotierenden Stahlinstrumenten konnten alle drei Wurzelkanäle dargestellt und aufbereitet werden. Dies ist die Voraussetzung für die Heilung der periradikulären Läsion. Präparation der primären Zugangskavität Dies umfasst das Ausräumen des Pulpakavums und die Entfernung allen Hartgewebes, das den Zugang zu den Wurzelkanälen blockieren kann. Farblich und strukturell unterscheidet sich irregulär, sekundär oder tertiär gebildetes Dentin von regulärem Dentin, was eine Identifizierung relativ sicher möglich macht. Allerdings sind eine extrem gute Ausleuchtung der Kavität und die vollständige Trocknung unabdingbare Voraussetzungen. Dies ist häufig nur mit einer intensiven Anwendung des Luftbläsers zu erreichen. Jegliche Feuchtigkeit im Pulpakavum erschwert die Feinansicht der Hart- und Weichgewebestrukturen und der diagnostisch relevanten Form-, Struktur- und Farbdifferenzen. Vergrößerungshilfen wie Lupenbrillen oder das Mikroskop sind in solchen komplizierten Fällen sehr hilfreich und unter Umständen sogar unverzichtbar. Präpariert wird entlang der erkennbaren Grenzlinien, vorzugsweise mit feinen diamantierten Ultraschallinstrumenten (z.B. Sonicflex) oder Titanspitzen (z.B. ProUltra, Dentsply). Um Perforationen des Pulpakammerbodens zu vermeiden, sind Sorgfalt und langsames Arbeiten mit wiederholtem Reinigen und Trocknen der Zugangskavität notwendig. Der Verzicht auf die oft sichtbehindernde Wasserkühlung bei der Feinpräparation erlaubt in der Regel eine gezieltere Präparation (Abb. 6a und b). Sind die Zähne überkront, ist es im Einzelfall zulässig, den Kofferdam erst nach Präparation der primären Zugangskavität zu applizieren, um Perforationen zu vermeiden (Abb. 7a und b). 60 BZB April 13 Wissenschaft und Fortbildung Abb. 6a: Kalzifikationen im Pulpakavum (Dr. S. Duda, München) Abb. 6b: Nach Entfernung des Hartgewebes aus dem Pulpakavum konnten die Wurzelkanaleingänge dargestellt werden (Dr. S. Duda, München). Präparation der sekundären Zugangskavitäten Auf die Präparation der primären Zugangskavität folgt die Suche nach den Wurzelkanaleingängen. Diese finden sich, mit Ausnahme einwurzeliger Zähne, nie im Zentrum der Kavität, sondern immer in den Randzonen im Übergang vom dunklen horizontalen Pulpakammerboden in die helleren vertikalen Pulpakammerwände. Zahlreiche Methoden, wie das Anfärben des Pulpakammerbodens (Erythrosin, Methylenblau), das Durchleuchten des Zahnes (Polymerisationslampe bukkal/palatinal auf den Zahn halten), vorsichtiges Sondieren mit einer scharfen Sonde (Schmerzreaktionen, Haken der Sonde) oder die Applikation eines Tropfens Natriumhypochlorit in die Pulpakammer (sogenannter „Champagnertest“ führt zu aufsteigenden Blasen durch die Auflösung des organischen Gewebes), erleichtern das Auffinden kalzifizierter, enger Wurzelkanaleingänge. Spezielle, sehr schlanke und an der Spitze schneidende Hartmetallfräser (z.B. EndoGuide, S.S. White) können bei der Freilegung des Kanaleingangs ebenfalls sehr hilfreich sein. Zur Darstellung und initialen Erweiterung kalzifizierter Wurzelkanäle werden von einigen Herstellern spezielle Instrumente zur manuellen oder maschinellen Anwendung angeboten. Der weit verbreitete Einsatz flüssiger oder pastenförmiger Chelatoren ist in der Regel wenig hilfreich. Da es sich bei Chelatoren um relativ große Molekülkomplexe handelt, die jeweils nur zwei Kalziumionen binden können, ist ihre Effektivität in engen Kanalbezirken sehr begrenzt, weil dort nur wenig Chelator mit wenig Dentin in Kontakt kommt. Außerdem setzt die Wirkung von Chelatoren eine ausreichende Einwirkzeit voraus [29]. Abb. 7a und b: Um Perforationen zu vermeiden, kann im Einzelfall an überkronten Zähnen mit unklarer Achsausrichtung der Kofferdam erst nach Präparation der primären Zugangskavität angelegt werden. Präparation, Desinfektion und Obturation der dargestellten Wurzelkanäle Sind die Wurzelkanäle erst einmal aufgefunden, stellt das weitere Vorgehen zumeist kein größeres Problem dar. Falls man trotz eines negativen Sensibilitätstests im Vorfeld bei der Präparation auf vitales Gewebe trifft, kann man das Anästhetikum sehr gut auch intrakanalär applizieren. Eine vollständige Obliteration des Wurzelkanals ist nur selten zu finden und wird durch das Auftreten der folgenden Punkte definiert: · Ein weiteres Vordringen der Instrumente ist nicht möglich. · Das Endometriegerät liefert keine Anzeige. · Im Röntgenbild ist kein Kanallumen zu erkennen. · Die Wurzel weist radiologisch keine Parodontitis apicalis auf. Trifft eine der vier Bedingungen nicht zu, muss es einen durchgängigen Wurzelkanal geben. Selbst bei röntgenologisch scheinbar vollständig obliterierten Zähnen mit Parodontitis apicalis ist in der Regel ein Vordringen bis zum Apex möglich [18]. Eine endgültige Diagnostik des Ausmaßes der Kalzifikation ist aber erst intraoperativ möglich. Bestimmung der Arbeitslänge Die vermehrte Anlagerung von Zement (Zementhypertrophie) an der Wurzelspitze wird mit zunehmendem Alter in Verbindung gebracht [52]. Während bei jugendlichen Patienten die Dicke des apikalen Wurzelzements 100 – 200 µm beträgt, ist es bei Älteren etwa zwei- bis dreimal so viel [41]. Damit geht automatisch eine Verkürzung der Arbeitslänge des Aufbereitungsinstrumentes einher. Sie endet folglich weiter koronal des anatomischen und röntgenologischen Apex. Trotz Verwendung Wissenschaft und Fortbildung hoch effizienter Instrumente gelingt es bei bestimmten anatomischen Besonderheiten wie zum Beispiel extremer Einengung der Wurzelkanäle nicht immer, die angestrebte Eindringtiefe vollständig zu erreichen. Ein forciertes und aggressives Einschrauben der fragilen Instrumente sollte in diesen Fällen unterbleiben, weil dies häufig zu Instrumentenfrakturen, Stufenbildung oder Perforationen führt. Eine gründliche chemische Desinfektion auf der erreichten Arbeitstiefe sollte in jedem Fall der Obturation vorausgehen. Bei entsprechender Reduktion der Keimzahl kann die Behandlung dann dennoch erfolgreich verlaufen. Die Erfolgsquote wird in solchen Fällen insbesondere vom periapikalen Status beeinflusst und nimmt von etwa 98 auf circa 62 Prozent ab, wenn das Röntgenbild bereits vor der Intervention eine apikale Parodontitis aufwies [3]. Auch bei Patienten mit Herzschrittmachern oder Kardioverter-Defibrillatoren können moderne Endometriegeräte ohne Gefahr von Zwischenfällen eingesetzt werden [47]. Präparation und Obturation Die Präparation und Obturation der Wurzelkanäle unterliegen bei älteren Patienten keinen Besonderheiten. Die Kette aseptischer Behandlungsmaßnahmen, die lückenlos und mit größter Sorgfalt eingehalten werden sollte, ist der Garant für erfolgreiche Behandlungen. Erfolgsquoten endodontischer Behandlungen bei älteren Patienten Die Vitalerhaltung der Pulpa mithilfe einer direkten Überkappung bei älteren Menschen wird kontrovers diskutiert [35]. Eine reduzierte Erfolgsrate von nur 70 Prozent bei Patienten über 50 Jahren versus 90 Prozent bei jüngeren Patienten (< 30 Jahre) ist in der Literatur belegt [27,28]. Andererseits wird für Wurzelkanalbehandlungen in mehreren Übersichtsarbeiten und Metaanalysen kein Einfluss des Alters auf die Heilungsraten einer Parodontitis apicalis nachgewiesen [24,42]. Es gibt bei gesunden älteren Menschen keinen Hinweis auf einen langsameren oder beeinträchtigten Heilungsprozess. Ein prolongierter Heilungsverlauf bei älteren Menschen mit Comorbiditäten, die besonders für bakterielle oder opportunistische Infektionen anfällig sind, ist allerdings denkbar, weshalb dann verlängerte Recallintervalle in Betracht gezogen werden sollten [42,48]. Einer systematischen Auswertung der zugänglichen Studien zur Erfolgsquote endodontischer Behandlungen zufolge nimmt die BZB April 13 Erfolgsrate endodontischer Behandlungen mit zunehmendem Alter geringfügig ab (Tab. 3). Altersgruppe (Jahre) Erfolgsrate (%) Studienanzahl (n) < 25 68,3 – 86,9 13 25 – 50 66,8 – 86,8 11 > 50 65,6 – 78,5 12 Tab. 3: Erfolgsrate endodontischer Behandlungen [42] Auch die Überlebensrate endodontisch behandelter Zähne nimmt mit jeder Lebensdekade um etwa 1 bis 2 Prozent ab [34]. Bei über 50-Jährigen fand sich ein signifikant häufigerer Verlust endodontisch behandelter Zähne als bei jüngeren Patienten [11]. Schlussfolgerung Durch adäquate Diagnostik und Therapie können auch bei älteren und alten Menschen viele Zähne erhalten werden. Das Implantat oder der herausnehmbare Zahnersatz sind gegebenenfalls durch konservierende Maßnahmen – und dazu gehört auch die endodontische Therapie – hinauszuzögern oder zu verhindern, was mit einer höheren Lebensqualität assoziiert sein kann. Dennoch sollte man nicht in blinden Aktionismus verfallen und sich bewusst sein, dass mit kompromissloser Zahnerhaltung nicht jedem Patienten, unabhängig vom Alter, ein Gefallen getan wird. Korrespondenzadressen: Dr. Sebastian Bürklein Zentrale Interdisziplinäre Ambulanz Universitätsklinikum Münster Waldeyerstraße 30 48149 Münster [email protected] Prof. Dr. Michael Hülsmann Abt. Präventive Zahnmedizin, Parodontologie und Kariologie Universitätsmedizin Göttingen Robert-Koch-Straße 30 37075 Göttingen [email protected] Literatur bei den Verfassern Hinweis Bei vorliegendem Beitrag handelt es sich um die aktualisierte und überarbeitete Version eines Artikels, der unter dem Titel „Endodontie bei älteren Patienten“ in der Zeitschrift „Wissen kompakt“ erschienen ist (Wissen kompakt, Springer Verlag, 2012, 2: 43-56). 61