28 5 I. Zahlen, Konvergenz und Stetigkeit Stetigkeit und Zwischenwertsatz Aufgabe: Wie viele Lösungen hat die Gleichung cos x = x ? 5.1 Nullstellen. a) Gesucht werden Lösungen x ∈ R von Gleichungen, z. B. von g(x) := xm − c = 0 (m ∈ N , c > 0) Q(x) := x5 + x + 1 = 0 h(x) := x − 1 − sin x = 0 . (1) (2) (3) b) Allgemein betrachtet man eine Gleichung f (x) = 0 (4) und nimmt an, daß die Funktion f an zwei Stellen a < b unterschiedliches Vorzeichen hat, daß also f (a) · f (b) < 0 gilt. c) Für die Beispiele in a) gilt g(0) < 0 < g(b) für b := max {1, c} ; weiter hat man Q(−1) < 0 < Q(0) und h(0) < 0 < h(2) . 5.2 Intervallhalbierungsverfahren. a) Es sei eine Funktion f : [a, b] 7→ R mit z. B. f (a) < 0 < f (b) gegeben. Man betrachtet J0 := [a, b] und den Mittelpunkt x0 := 21 (a + b) von J0 . Ist f (x0 ) = 0 , so ist eine Nullstelle von f gefunden. Für f (x0 ) > 0 bzw. f (x0 ) < 0 definiert man J1 := [a, x0 ] bzw. J1 := [x0 , b] . Für J1 =: [a1 , b1 ] gilt dann J1 ⊆ J0 , | J1 | = 21 | J0 | und f (a1 ) < 0 < f (b1 ) . b) Man wendet die Überlegungen aus a) auf J1 statt J0 an und fährt rekursiv entsprechend fort. Dieses Verfahren bricht ab, oder man erhält eine Intervallschachtelung J1 ⊇ J2 ⊇ . . . ⊇ Jn ⊇ Jn+1 ⊇ . . . kompakter Intervalle Jn = [an , bn ] mit f (an ) < 0 < f (bn ) für n ∈ N und | Jn | = 2−n | J0 | → 0 . Nach Axiom I gibt es genau ein ξ ∈ ∞ T n=0 Jn . c) Man hat an → ξ und bn → ξ . Gilt nun auch f (ξ) = lim f (an ) und n→∞ f (ξ) = lim f (bn ) , so folgt f (ξ) ≤ 0 und f (ξ) ≥ 0 , also f (ξ) = 0 . n→∞ d) Zur Berechnung von ξ benutzt man am besten ξ = n→∞ lim xn mit xn = 21 (an + bn ) ; für die Fehler dn := | ξ − xn | gilt dann die Abschätzung dn ≤ | Jn+1 | = 2−n−1 | J0 | . In Teil c) wurde die folgende wichtige Eigenschaft der Funktion f benutzt: 5.3 Definition. Es sei I ⊆ R ein Intervall. Eine Funktion f : I 7→ R heißt stetig in einem Punkt a ∈ I , falls für jede Folge (xn ) in I aus xn → a stets f (xn ) → f (a) folgt. Sie heißt stetig auf I , falls dies in jedem Punkt von I der Fall ist. Mit C(I) oder C 0 (I) wird die Menge aller stetigen Funktionen auf I bezeichnet. 5.4 Theorem (Zwischenwertsatz). Es seien a < b ∈ R , f : [a, b] 7→ R stetig und f (a) < c < f (b) . Dann gibt es ξ ∈ (a, b) mit f (ξ) = c . Dies ergibt sich durch Anwendung von 5.2 auf die Funktion f (x) − c . Der Zwischenwertsatz gilt auch im Fall f (a) > c > f (b) , wie man durch Übergang zu −f einsieht. Es werden also alle Zahlen zwischen zwei gegebenen Funktionswerten von der stetigen Funktion f angenommen. 5 Stetigkeit und Zwischenwertsatz 29 1 wird eine Nullstelle be5.5 Beispiel. Für die Funktion P (x) := 15 x3 + 21 x2 − 10 stimmt. Es ist P (0) = −0, 1 < 0 und P (1) = 0, 6 > 0 ; daher kann man a = 0, b = 1 wählen. Für x0 = 12 ergibt sich P ( 12 ) = 0, 05 > 0, also J1 = [0, 12 ] . Weitere Rechnungen liefern x1 = 0, 25 ; x2 = 0, 375 ; x3 = 0, 4375 ; x4 = 0, 40625 ; x5 = 0, 42188 ; x6 = 0, 41406 mit P (x6 ) = −0, 00008 . Die Nullstellen von P werden in 8.12 exakt bestimmt. 5.6 Feststellung. a) Es seien f, g : I 7→ R in a ∈ I stetig. Dann sind auch f + g , f g und, für g(a) 6= 0 , f/g in a stetig. b) Es seien I, J ⊆ R Intervalle, f : I → 7 J in a ∈ I und g : J 7→ R in f (a) ∈ J stetig. Dann ist auch g ◦ f : I 7→ R in a stetig. 5.7 Beispiele. a) Konstante Funktionen p0 : x 7→ c und die Identität p1 : x 7→ x sind auf R stetig. b) Eine auf R definierte Funktion der Form P : x 7→ m P k=0 ak xk = am xm + am−1 xm−1 + · · · + a1 x + a0 (5) heißt Polynom; a0 , a1 , . . . , am ∈ R sind die Koeffizienten von P . Für am 6= 0 heißt deg P := m der Grad von P . Nach a) und 5.6 a) ist P stetig auf R . P (x) sind Quotienten von Polynomen; sie sind c) Rationale Funktionen R(x) := Q(x) außerhalb der Nullstellen von Q definiert und stetig. √ d) Die Betragsfunktion A : x 7→ | x | ist stetig auf R , die Wurzelfunktion x 7→ x stetig auf [0, ∞) (vgl. 4.9). q √ e) Funktionen wie x 7→ x 2x4 + x2 + 1 sind nach 5.6 ebenfalls stetig. f) Die Funktionen Sinus und Kosinus sind stetig auf R . Nach Definition in 3.6 gilt | sin s | ≤ | s | für alle s ∈ R , und somit ist sin s stetig in 0 . Dies gilt nach 5.6 dann auch für cos s = Aus den Funktionalgleichungen (3.13) und (3.14) (6) √ 1 − sin2 s . sin (s + h) = sin s cos h + cos s sin h , cos (s + h) = cos s cos h − sin s sin h ergibt sich damit sofort sin(s + hn ) → sin s und cos(s + hn ) → cos s für jede Folge hn → 0 . 5.8 Wurzelfunktionen. a) Es seien m ∈ N und c ≥ 0 . Nach dem Zwischenwertsatz und 5.1 oder auch 4.8 gibt es eine eindeutig √ bestimmte Zahl x ≥ 0 mit xm = c . 1 Diese heißt m-te Wurzel von c , Notation: x = m c = c /m . √ b) Die Wurzelfunktion wm : [0, ∞) 7→ [0, ∞) , wm (x) := m x , ist die Umkehrfunktion der Potenzfunktion pm : [0, ∞) 7→ [0, ∞) . Nach 3.16 b) ist sie streng monoton wachsend. Ihre Stetigkeit ergibt sich aus einem allgemeineren Ergebnis über die Stetigkeit von Umkehrfunktionen (vgl. [K1], 9.10): 30 I. Zahlen, Konvergenz und Stetigkeit 5.9 Satz. Es seien I ⊆ R ein Intervall und f : I 7→ R streng monoton und stetig. Dann ist auch f (I) =: J ein Intervall, und f −1 : J 7→ R ist ebenfalls stetig. √ √ 5.10 Beispiele. Es gilt lim n a = 1 für alle a > 0 und sogar lim n n = 1 . n→∞ n→∞ 2 −4 ist im Punkte 2 nicht definiert. Wegen 5.11 Beispiel. Die Funktion f : x 7→ xx−2 f (x) = x + 2 für x 6= 2 liegen die Funktionswerte nahe an 4 , wenn x in der Nähe von 2 liegt. Genauer gilt für jede Folge (xn ) in R\{2} : xn → 2 ⇒ f (xn ) → 4 . Somit sollte 4 der Grenzwert“ von f bei Annäherung an 2 sein. ” 5.12 Definition. Gegeben seien ein offenes Intervall I ⊆ R , a ∈ I und eine Funktion f : I\{a} 7→ R . Eine Zahl ℓ ∈ R heißt Grenzwert oder Limes von f in a , falls für jede Folge (xn ) in I\{a} aus xn → a stets f (xn ) → ℓ folgt. Man schreibt ℓ = lim f (x) oder f (x) → ℓ für x → a . x→a Wegen Feststellung 4.9 sind solche Grenzwerte eindeutig bestimmt. x2 −4 x→2 x−2 5.13 Beispiele und Bemerkungen. a) Es gilt also lim x2 −a2 x→a x−a b) Allgemeiner hat man lim = 4. = lim (x + a) = 2a für a ∈ R . x→a c) In Definition 5.12 braucht die Funktion f in a nicht definiert zu sein. Ist dies doch der Fall, so spielt der Funktionswert f (a) für die Grenzwertbetrachtung keine Rolle. Es gilt genau dann ℓ = x→a lim f (x) , wenn die mittels f (a) := ℓ auf ganz I (eventuell neu) definierte Funktion f im Punkt a ∈ I stetig ist. d) Für a > 0 gilt x→a lim Wurzelfunktion. √ √ x− a x−a = x→a lim √x+1 √a = 1 √ 2 a aufgrund der Stetigkeit der 5.14 Feststellung. Gegeben seien ein offenes Intervall I ⊆ R , a ∈ I und Funktionen f, g : I\{a} 7→ R mit x→a lim f (x) = ℓ und x→a lim g(x) = m . a) Dann folgt lim (f + g)(x) = ℓ + m und lim (f g)(x) = ℓm . x→a x→a b) Für m 6= 0 gilt auch lim f (x) x→a g = ℓ m . 5.15 Einseitige Grenzwerte und Sprungstellen. a) Die Heaviside-Funktion ( 0 , x<0 definiert. Sie modelliert etwa das Einwird auf R durch H(x) := 1 , x≥0 schalten eines elektrischen Stroms ohne Zeitverzögerung. Offenbar existiert lim H(x) x→0 nicht, und H ist unstetig in 0 . b) Für Folgen (xn ) ⊆ (0, ∞) mit xn → 0 gilt jedoch H(xn ) → 1 , und für Folgen (xn ) ⊆ (−∞, 0) mit xn → 0 gilt H(xn ) → 0 . Man kann daher 1 als rechtsseitigen und 0 als linksseitigen Grenzwert von H in 0 auffassen: H(0+ ) := lim+ H(x) = 1 , x→0 H(0− ) := lim− H(x) = 0 . x→0 Wegen H(0− ) 6= H(0+ ) ist 0 eine Sprungstelle von H . (7) c) Es seien I ⊆ R ein offenes Intervall, a ∈ I und f : I 7→ R eine Funktion. Dann existiert lim f (x) genau dann, wenn f (a− ) und f (a+ ) existieren und gleich sind. x→a 5 Stetigkeit und Zwischenwertsatz 31 5.16 Unendliche“ Grenzwerte. a) Wir diskutieren die auf R\{0} definierte ” Inversion j : x 7→ x1 . Der Grenzwert lim j(x) existiert offenbar nicht; in der Tat gilt x→0 j(xn ) → +∞ für jede Folge (xn ) ⊆ (0, ∞) mit xn → 0 sowie j(xn ) → −∞ für jede Folge (xn ) ⊆ (−∞, 0) mit xn → 0 . Bei Annäherung von x an 0 von rechts bzw. links strebt also j(x) gegen +∞ bzw. −∞ ; dafür schreiben wir j(x) → +∞ für x → 0+ , j(x) → −∞ für x → 0− . (8) b) Strebt nun x gegen +∞ oder −∞ , so strebt j(x) gegen 0 , d. h. man hat lim j(xn ) = 0 für jede Folge xn → +∞ und auch für jede Folge xn → −∞ . Dafür n→∞ schreiben wir j(x) → 0 für x → +∞ , j(x) → 0 für x → −∞ (9) oder auch lim j(x) = x→+∞ lim j(x) = 0 . x→−∞ (10) c) Analog zu a)-c) erklären wir für a, ℓ ∈ R := R ∪ {+∞, −∞} (vgl. Bemerkung 4.12) und geeignete Funktionen f die Aussagen f (x) → ℓ für x → a , x → a+ oder x → a− (11) (vgl. [K1], 8.8). Feststellung 5.14 gilt dann sinngemäß unter Beachtung der in 4.12 formulierten Regeln für das Rechnen mit ∞ “. ” 5.17 Satz. Es sei P (x) = m P k=0 ak xk ein Polynom vom Grad m . Ist m ungerade, so gibt es x0 ∈ R mit P (x0 ) = 0 . Einen Beweis findet man in [K1], 10.7. 5.18 Oszillationen. a) Durch die Inversion j : x 7→ x1 werden die unendlich vielen Oszillationen des Kosinus (oder des Sinus) auf kleine Intervalle um 0 transformiert. Die auf R\{0} stetige Funktion u : x 7→ cos x1 (12) schwankt“ auf jedem Intervall (0, δ) und (−δ, 0) (δ > 0) unendlich oft zwischen ” ” 1 −1 und 1 “. Wegen u(± kπ ) = (−1)k für k ∈ N existieren die einseitigen Grenzwerte u(0+ ) und u(0− ) nicht. Mit jeder Festsetzung von u(0) , z. B. mit u(0) := 0 , ist u daher unstetig in 0 . b) Durch Multiplikation mit xn wird die Oszillation gedämpft: un : x 7→ xn u(x) ist für n > 0 eine stetige Funktion wegen | un (x) | ≤ | x |n → 0 für x → 0 . 5.19 Beispiele. a) Es gilt die wichtige Aussage lim s→0 sin s s = 1. (13) Ein geometrisches Argument liefert in der Tat sin s ≤ s (vgl. (6)) und s ≤ sin s cos s für 0 < s < π 2 . (14) 32 I. Zahlen, Konvergenz und Stetigkeit Daraus ergibt sich cos s ≤ sin s s ≤ 1 für 0 < s < π 2 . (15) Es folgt sins s → 1 für s → 0+ , und wegen sin(−s) = − sin s gilt dies auch für s → 0− . Damit ist (13) gezeigt. b) Für 0 < | s | < cos s−1 s π 2 = hat man weiter 1 cos s+1 · cos2 s−1 s = − sin s cos s+1 · sin s s , nach (13) also lim s→0 cos s−1 s = 0. (16) 5.20 Zum Beweis des Zwischenwertsatzes kann man auch so verfahren: a) Es sei also f : [a, b] 7→ R stetig mit f (a) < c < f (b) . Man betrachtet die Menge M := {x ∈ [a, b] | f (x) ≤ c} . Diese ist durch b nach oben beschränkt. Ist nun ξ = max M , so gilt f (ξ) ≤ c , aber f (x) > c für alle x > ξ . Mit x = ξ + n1 und n → ∞ folgt dann auch f (ξ) ≥ c ! b) Es ist nicht offensichtlich, daß die Menge M wirklich ein Maximum besitzt. Wie schon in Beispiel 1.15 a) bemerkt wurde, gibt es ja beschränkte Mengen ohne Maximum, z. B. das offene Intervall I = (0, 1) . Zwar ist jede Zahl s ≥ 1 obere Schranke von I , doch gilt stets s 6∈ I . Offenbar ist 1 die kleinstmögliche obere Schranke von I . 5.21 Suprema. Es sei ∅ = 6 M ⊆ R nach oben beschränkt. Hat die Menge SM := {a ∈ R | ∀ x ∈ M : x ≤ a} (17) der oberen Schranken von M ein Minimum s = min SM , so heißt dieses kleinste obere Schranke oder Supremum von M , Notation: s = sup M . 5.22 Beispiele und Bemerkungen. a) Nach 1.13 d) sind Suprema eindeutig bestimmt. Falls M ein Maximum besitzt, so gilt max M = sup M . b) Für I = (0, 1) gilt also SI = [1, ∞) und sup I = min SI = 1 . 5.23 Feststellung. Es sei ∅ = 6 M ⊆ R nach oben beschränkt. Dann ist genau dann s = sup M , wenn die folgenden beiden Bedingungen gelten: (a) x ≤ s für alle x ∈ M , (b) Es gibt eine Folge (xn ) in M mit xn → s . Aus Satz 4.14 ergibt sich die Existenz des Supremums für jede nach oben beschränkte Menge. Einen Beweis findet man in [K1], 9.4. Umgekehrt impliziert Satz 5.24 leicht wieder Satz 4.14, er ist also ebenfalls zur Formulierung der Vollständigkeit von R geeignet. 5.24 Satz. Für jede nach oben beschränkte Menge ∅ = 6 M ⊆ R existiert die kleinste obere Schranke sup M . 5 Stetigkeit und Zwischenwertsatz 33 5.25 Infima. Für ∅ 6= M ⊆ R sei −M := {−x | x ∈ M} . Ist M nach unten beschränkt, so ist inf M := − sup (−M) (18) die größte untere Schranke von M , das Infimum von M . Aufgabe: Es seien J ⊆ R ein kompaktes Intervall und f : J 7→ R stetig. Zeigen Sie, daß f auf J ein Maximum und ein Minimum besitzt.