Kap. 5 - Fakultät für Mathematik, TU Dortmund

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5
I. Zahlen, Konvergenz und Stetigkeit
Stetigkeit und Zwischenwertsatz
Aufgabe: Wie viele Lösungen hat die Gleichung cos x = x ?
5.1 Nullstellen. a) Gesucht werden Lösungen x ∈ R von Gleichungen, z. B. von
g(x) := xm − c = 0 (m ∈ N , c > 0)
Q(x) := x5 + x + 1 = 0
h(x) := x − 1 − sin x = 0 .
(1)
(2)
(3)
b) Allgemein betrachtet man eine Gleichung
f (x) = 0
(4)
und nimmt an, daß die Funktion f an zwei Stellen a < b unterschiedliches Vorzeichen hat, daß also f (a) · f (b) < 0 gilt.
c) Für die Beispiele in a) gilt g(0) < 0 < g(b) für b := max {1, c} ; weiter hat man
Q(−1) < 0 < Q(0) und h(0) < 0 < h(2) .
5.2 Intervallhalbierungsverfahren. a) Es sei eine Funktion f : [a, b] 7→ R mit
z. B. f (a) < 0 < f (b) gegeben. Man betrachtet J0 := [a, b] und den Mittelpunkt
x0 := 21 (a + b) von J0 . Ist f (x0 ) = 0 , so ist eine Nullstelle von f gefunden. Für
f (x0 ) > 0 bzw. f (x0 ) < 0 definiert man J1 := [a, x0 ] bzw. J1 := [x0 , b] . Für
J1 =: [a1 , b1 ] gilt dann J1 ⊆ J0 , | J1 | = 21 | J0 | und f (a1 ) < 0 < f (b1 ) .
b) Man wendet die Überlegungen aus a) auf J1 statt J0 an und fährt rekursiv
entsprechend fort. Dieses Verfahren bricht ab, oder man erhält eine Intervallschachtelung J1 ⊇ J2 ⊇ . . . ⊇ Jn ⊇ Jn+1 ⊇ . . . kompakter Intervalle Jn = [an , bn ] mit
f (an ) < 0 < f (bn ) für n ∈ N und | Jn | = 2−n | J0 | → 0 . Nach Axiom I gibt es
genau ein ξ ∈
∞
T
n=0
Jn .
c) Man hat an → ξ und bn → ξ . Gilt nun auch f (ξ) = lim f (an ) und
n→∞
f (ξ) = lim f (bn ) , so folgt f (ξ) ≤ 0 und f (ξ) ≥ 0 , also f (ξ) = 0 .
n→∞
d) Zur Berechnung von ξ benutzt man am besten ξ = n→∞
lim xn mit xn = 21 (an + bn ) ;
für die Fehler dn := | ξ − xn | gilt dann die Abschätzung dn ≤ | Jn+1 | = 2−n−1 | J0 | .
In Teil c) wurde die folgende wichtige Eigenschaft der Funktion f benutzt:
5.3 Definition. Es sei I ⊆ R ein Intervall. Eine Funktion f : I 7→ R heißt stetig
in einem Punkt a ∈ I , falls für jede Folge (xn ) in I aus xn → a stets f (xn ) → f (a)
folgt. Sie heißt stetig auf I , falls dies in jedem Punkt von I der Fall ist. Mit C(I)
oder C 0 (I) wird die Menge aller stetigen Funktionen auf I bezeichnet.
5.4 Theorem (Zwischenwertsatz). Es seien a < b ∈ R , f : [a, b] 7→ R stetig
und f (a) < c < f (b) . Dann gibt es ξ ∈ (a, b) mit f (ξ) = c .
Dies ergibt sich durch Anwendung von 5.2 auf die Funktion f (x) − c . Der Zwischenwertsatz gilt auch im Fall f (a) > c > f (b) , wie man durch Übergang zu −f
einsieht. Es werden also alle Zahlen zwischen zwei gegebenen Funktionswerten von
der stetigen Funktion f angenommen.
5 Stetigkeit und Zwischenwertsatz
29
1
wird eine Nullstelle be5.5 Beispiel. Für die Funktion P (x) := 15 x3 + 21 x2 − 10
stimmt. Es ist P (0) = −0, 1 < 0 und P (1) = 0, 6 > 0 ; daher kann man a = 0, b = 1
wählen. Für x0 = 12 ergibt sich P ( 12 ) = 0, 05 > 0, also J1 = [0, 12 ] . Weitere Rechnungen liefern
x1 = 0, 25 ; x2 = 0, 375 ; x3 = 0, 4375 ; x4 = 0, 40625 ;
x5 = 0, 42188 ; x6 = 0, 41406 mit P (x6 ) = −0, 00008 .
Die Nullstellen von P werden in 8.12 exakt bestimmt.
5.6 Feststellung. a) Es seien f, g : I 7→ R in a ∈ I stetig. Dann sind auch
f + g , f g und, für g(a) 6= 0 , f/g in a stetig.
b) Es seien I, J ⊆ R Intervalle, f : I →
7 J in a ∈ I und g : J 7→ R in f (a) ∈ J
stetig. Dann ist auch g ◦ f : I 7→ R in a stetig.
5.7 Beispiele. a) Konstante Funktionen p0 : x 7→ c und die Identität p1 : x 7→ x
sind auf R stetig.
b) Eine auf R definierte Funktion der Form
P : x 7→
m
P
k=0
ak xk = am xm + am−1 xm−1 + · · · + a1 x + a0
(5)
heißt Polynom; a0 , a1 , . . . , am ∈ R sind die Koeffizienten von P . Für am 6= 0
heißt deg P := m der Grad von P . Nach a) und 5.6 a) ist P stetig auf R .
P (x)
sind Quotienten von Polynomen; sie sind
c) Rationale Funktionen R(x) := Q(x)
außerhalb der Nullstellen von Q definiert und stetig.
√
d) Die Betragsfunktion A : x 7→ | x | ist stetig auf R , die Wurzelfunktion x 7→ x
stetig auf [0, ∞) (vgl. 4.9).
q
√
e) Funktionen wie x 7→ x 2x4 + x2 + 1 sind nach 5.6 ebenfalls stetig.
f) Die Funktionen Sinus und Kosinus sind stetig auf R . Nach Definition in 3.6 gilt
| sin s | ≤ | s | für alle s ∈ R ,
und somit ist sin s stetig in 0 . Dies gilt nach 5.6 dann auch für cos s =
Aus den Funktionalgleichungen (3.13) und (3.14)
(6)
√
1 − sin2 s .
sin (s + h) = sin s cos h + cos s sin h ,
cos (s + h) = cos s cos h − sin s sin h
ergibt sich damit sofort sin(s + hn ) → sin s und cos(s + hn ) → cos s für jede Folge
hn → 0 .
5.8 Wurzelfunktionen. a) Es seien m ∈ N und c ≥ 0 . Nach dem Zwischenwertsatz und 5.1 oder auch 4.8 gibt es eine eindeutig √
bestimmte Zahl x ≥ 0 mit xm = c .
1
Diese heißt m-te Wurzel von c , Notation: x = m c = c /m .
√
b) Die Wurzelfunktion wm : [0, ∞) 7→ [0, ∞) , wm (x) := m x , ist die Umkehrfunktion der Potenzfunktion pm : [0, ∞) 7→ [0, ∞) . Nach 3.16 b) ist sie streng monoton
wachsend. Ihre Stetigkeit ergibt sich aus einem allgemeineren Ergebnis über die Stetigkeit von Umkehrfunktionen (vgl. [K1], 9.10):
30
I. Zahlen, Konvergenz und Stetigkeit
5.9 Satz. Es seien I ⊆ R ein Intervall und f : I 7→ R streng monoton und stetig.
Dann ist auch f (I) =: J ein Intervall, und f −1 : J 7→ R ist ebenfalls stetig.
√
√
5.10 Beispiele. Es gilt lim n a = 1 für alle a > 0 und sogar lim n n = 1 .
n→∞
n→∞
2
−4
ist im Punkte 2 nicht definiert. Wegen
5.11 Beispiel. Die Funktion f : x 7→ xx−2
f (x) = x + 2 für x 6= 2 liegen die Funktionswerte nahe an 4 , wenn x in der Nähe
von 2 liegt. Genauer gilt für jede Folge (xn ) in R\{2} : xn → 2 ⇒ f (xn ) → 4 .
Somit sollte 4 der Grenzwert“ von f bei Annäherung an 2 sein.
”
5.12 Definition. Gegeben seien ein offenes Intervall I ⊆ R , a ∈ I und eine
Funktion f : I\{a} 7→ R . Eine Zahl ℓ ∈ R heißt Grenzwert oder Limes von f
in a , falls für jede Folge (xn ) in I\{a} aus xn → a stets f (xn ) → ℓ folgt. Man
schreibt ℓ = lim f (x) oder f (x) → ℓ für x → a .
x→a
Wegen Feststellung 4.9 sind solche Grenzwerte eindeutig bestimmt.
x2 −4
x→2 x−2
5.13 Beispiele und Bemerkungen. a) Es gilt also lim
x2 −a2
x→a x−a
b) Allgemeiner hat man lim
= 4.
= lim (x + a) = 2a für a ∈ R .
x→a
c) In Definition 5.12 braucht die Funktion f in a nicht definiert zu sein. Ist dies
doch der Fall, so spielt der Funktionswert f (a) für die Grenzwertbetrachtung keine
Rolle. Es gilt genau dann ℓ = x→a
lim f (x) , wenn die mittels f (a) := ℓ auf ganz I
(eventuell neu) definierte Funktion f im Punkt a ∈ I stetig ist.
d) Für a > 0 gilt x→a
lim
Wurzelfunktion.
√ √
x− a
x−a
= x→a
lim √x+1 √a =
1
√
2 a
aufgrund der Stetigkeit der
5.14 Feststellung. Gegeben seien ein offenes Intervall I ⊆ R , a ∈ I und Funktionen f, g : I\{a} 7→ R mit x→a
lim f (x) = ℓ und x→a
lim g(x) = m .
a) Dann folgt lim (f + g)(x) = ℓ + m und lim (f g)(x) = ℓm .
x→a
x→a
b) Für m 6= 0 gilt auch
lim f (x)
x→a g
=
ℓ
m
.
5.15 Einseitige Grenzwerte
und Sprungstellen. a) Die Heaviside-Funktion
(
0 , x<0
definiert. Sie modelliert etwa das Einwird auf R durch H(x) :=
1 , x≥0
schalten eines elektrischen Stroms ohne Zeitverzögerung. Offenbar existiert lim H(x)
x→0
nicht, und H ist unstetig in 0 .
b) Für Folgen (xn ) ⊆ (0, ∞) mit xn → 0 gilt jedoch H(xn ) → 1 , und für Folgen
(xn ) ⊆ (−∞, 0) mit xn → 0 gilt H(xn ) → 0 . Man kann daher 1 als rechtsseitigen
und 0 als linksseitigen Grenzwert von H in 0 auffassen:
H(0+ ) := lim+ H(x) = 1 ,
x→0
H(0− ) := lim− H(x) = 0 .
x→0
Wegen H(0− ) 6= H(0+ ) ist 0 eine Sprungstelle von H .
(7)
c) Es seien I ⊆ R ein offenes Intervall, a ∈ I und f : I 7→ R eine Funktion. Dann
existiert lim f (x) genau dann, wenn f (a− ) und f (a+ ) existieren und gleich sind.
x→a
5 Stetigkeit und Zwischenwertsatz
31
5.16 Unendliche“ Grenzwerte. a) Wir diskutieren die auf R\{0} definierte
”
Inversion j : x 7→ x1 . Der Grenzwert lim j(x) existiert offenbar nicht; in der Tat gilt
x→0
j(xn ) → +∞ für jede Folge (xn ) ⊆ (0, ∞) mit xn → 0 sowie j(xn ) → −∞ für jede
Folge (xn ) ⊆ (−∞, 0) mit xn → 0 . Bei Annäherung von x an 0 von rechts bzw.
links strebt also j(x) gegen +∞ bzw. −∞ ; dafür schreiben wir
j(x) → +∞ für x → 0+ ,
j(x) → −∞ für x → 0− .
(8)
b) Strebt nun x gegen +∞ oder −∞ , so strebt j(x) gegen 0 , d. h. man hat
lim j(xn ) = 0 für jede Folge xn → +∞ und auch für jede Folge xn → −∞ . Dafür
n→∞
schreiben wir
j(x) → 0 für x → +∞ ,
j(x) → 0 für x → −∞
(9)
oder auch
lim j(x) =
x→+∞
lim j(x) = 0 .
x→−∞
(10)
c) Analog zu a)-c) erklären wir für a, ℓ ∈ R := R ∪ {+∞, −∞} (vgl. Bemerkung
4.12) und geeignete Funktionen f die Aussagen
f (x) → ℓ für x → a , x → a+ oder x → a−
(11)
(vgl. [K1], 8.8). Feststellung 5.14 gilt dann sinngemäß unter Beachtung der in 4.12
formulierten Regeln für das Rechnen mit ∞ “.
”
5.17 Satz. Es sei P (x) =
m
P
k=0
ak xk ein Polynom vom Grad m . Ist m ungerade, so
gibt es x0 ∈ R mit P (x0 ) = 0 .
Einen Beweis findet man in [K1], 10.7.
5.18 Oszillationen. a) Durch die Inversion j : x 7→ x1 werden die unendlich vielen
Oszillationen des Kosinus (oder des Sinus) auf kleine Intervalle um 0 transformiert.
Die auf R\{0} stetige Funktion
u : x 7→ cos x1
(12)
schwankt“ auf jedem Intervall (0, δ) und (−δ, 0) (δ > 0) unendlich oft zwischen
”
”
1
−1 und 1 “. Wegen u(± kπ
) = (−1)k für k ∈ N existieren die einseitigen Grenzwerte
u(0+ ) und u(0− ) nicht. Mit jeder Festsetzung von u(0) , z. B. mit u(0) := 0 , ist u
daher unstetig in 0 .
b) Durch Multiplikation mit xn wird die Oszillation gedämpft: un : x 7→ xn u(x) ist
für n > 0 eine stetige Funktion wegen | un (x) | ≤ | x |n → 0 für x → 0 .
5.19 Beispiele. a) Es gilt die wichtige Aussage
lim
s→0
sin s
s
= 1.
(13)
Ein geometrisches Argument liefert in der Tat sin s ≤ s (vgl. (6)) und
s ≤
sin s
cos s
für 0 < s <
π
2
.
(14)
32
I. Zahlen, Konvergenz und Stetigkeit
Daraus ergibt sich
cos s ≤
sin s
s
≤ 1 für 0 < s <
π
2
.
(15)
Es folgt sins s → 1 für s → 0+ , und wegen sin(−s) = − sin s gilt dies auch für
s → 0− . Damit ist (13) gezeigt.
b) Für 0 < | s | <
cos s−1
s
π
2
=
hat man weiter
1
cos s+1
·
cos2 s−1
s
=
− sin s
cos s+1
·
sin s
s
,
nach (13) also
lim
s→0
cos s−1
s
= 0.
(16)
5.20 Zum Beweis des Zwischenwertsatzes kann man auch so verfahren:
a) Es sei also f : [a, b] 7→ R stetig mit f (a) < c < f (b) . Man betrachtet die Menge
M := {x ∈ [a, b] | f (x) ≤ c} . Diese ist durch b nach oben beschränkt. Ist nun
ξ = max M , so gilt f (ξ) ≤ c , aber f (x) > c für alle x > ξ . Mit x = ξ + n1 und
n → ∞ folgt dann auch f (ξ) ≥ c !
b) Es ist nicht offensichtlich, daß die Menge M wirklich ein Maximum besitzt.
Wie schon in Beispiel 1.15 a) bemerkt wurde, gibt es ja beschränkte Mengen ohne
Maximum, z. B. das offene Intervall I = (0, 1) . Zwar ist jede Zahl s ≥ 1 obere
Schranke von I , doch gilt stets s 6∈ I . Offenbar ist 1 die kleinstmögliche obere
Schranke von I .
5.21 Suprema. Es sei ∅ =
6 M ⊆ R nach oben beschränkt. Hat die Menge
SM := {a ∈ R | ∀ x ∈ M : x ≤ a}
(17)
der oberen Schranken von M ein Minimum s = min SM , so heißt dieses kleinste
obere Schranke oder Supremum von M , Notation: s = sup M .
5.22 Beispiele und Bemerkungen. a) Nach 1.13 d) sind Suprema eindeutig bestimmt. Falls M ein Maximum besitzt, so gilt max M = sup M .
b) Für I = (0, 1) gilt also SI = [1, ∞) und sup I = min SI = 1 .
5.23 Feststellung. Es sei ∅ =
6 M ⊆ R nach oben beschränkt. Dann ist genau dann
s = sup M , wenn die folgenden beiden Bedingungen gelten:
(a) x ≤ s für alle x ∈ M ,
(b) Es gibt eine Folge (xn ) in M mit xn → s .
Aus Satz 4.14 ergibt sich die Existenz des Supremums für jede nach oben beschränkte
Menge. Einen Beweis findet man in [K1], 9.4. Umgekehrt impliziert Satz 5.24 leicht
wieder Satz 4.14, er ist also ebenfalls zur Formulierung der Vollständigkeit von R
geeignet.
5.24 Satz. Für jede nach oben beschränkte Menge ∅ =
6 M ⊆ R existiert die kleinste
obere Schranke sup M .
5 Stetigkeit und Zwischenwertsatz
33
5.25 Infima. Für ∅ 6= M ⊆ R sei −M := {−x | x ∈ M} . Ist M nach unten
beschränkt, so ist
inf M := − sup (−M)
(18)
die größte untere Schranke von M , das Infimum von M .
Aufgabe: Es seien J ⊆ R ein kompaktes Intervall und f : J 7→ R stetig. Zeigen Sie, daß
f auf J ein Maximum und ein Minimum besitzt.
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