Wirtschaftswachstum - Historisches Lexikon der Schweiz

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21/08/2015 |
Wirtschaftswachstum
Das mit der Industrialisierung einsetzende moderne ökonom. Wachstum zeichnet sich im Vergleich zu
vorindustriellen Wachstumsformen dadurch aus, dass sich die je Einwohner verfügbare Wirtschaftsleistung
ständig erhöhte, trotz des dadurch ebenfalls begünstigten Bevölkerungswachstums. Die nationale
Wirtschaftsleistung wird mit dem Bruttoinlandprodukt (BIP) nach Produktionswert gemessen, d.h. mit der
gesamten, von den versch. Branchen im Inland erarbeiteten Wertschöpfung (Nationale Buchhaltung). In der
Schweiz werden statist. Erhebungen des BIP nach Produktionswert erst seit 1990 erstellt. Für den Zeitraum
vor 1990 liegen Schätzungen der aggregierten Bruttowertschöpfung ab 1851 und nach Sektoren und
Branchen ab 1890 vor. Das reale, d.h. teuerungsbereinigte BIP pro Kopf gilt generell als Wohlstandsmass
(Lebensstandard). In internat. Vergleichen wird die länderspezif. Kaufkraftentwicklung berücksichtigt und eine
einheitl. Währung verwendet.
1 - Das Wirtschaftswachstum der Schweiz im internationalen Vergleich (1850-2005)
In der Schweiz setzte der Prozess der Industrialisierung dank der exportorientierten Baumwollindustrie, die
bereits in der 1. Hälfte des 19. Jh. zur industriellen Produktionsweise überging und ihre Produkte v.a. nach
Nord- und Südamerika und in die Levante exportierte, besonders früh ein. Mitte des 19. Jh. gehörte die
Schweiz zu den kleinen europ. Ländern mit einem besonders hohen BIP pro Kopf. Von den grossen europ.
Staaten hatte nur Grossbritannien ein höheres Wohlstandsniveau, das BIP pro Kopf von Deutschland und
Frankreich war hingegen deutlich niedriger. Der Wohlstandsvorsprung der Schweiz im Vergleich zu
Westeuropa und Skandinavien entstand hauptsächlich im Zeitraum 1870-1913. Die Position der Schweiz in
der internat. Arbeitsteilung veränderte sich markant. Offene Märkte sowie sinkende Transport- und
Kommunikationskosten lösten einen Strukturwandel in allen Wirtschaftssektoren aus, insbesondere auch in
der Landwirtschaft, und führten zum Aufstieg neuer Industrie- und Dienstleistungsbranchen. Die Schweiz
verstärkte ihren Vorsprung im Verlauf der 1920er Jahre und vermochte ihn bis in die 1970er Jahre
einigermassen zu halten. Doch in den letzten drei Jahrzehnten des 20. Jh. verkleinerte sich der
Wohlstandsvorsprung der Schweiz im Vergleich zu Westeuropa, und Mitte der 1990er Jahre verdrängten
einige skandinav. Länder die Schweiz von ihrer Spitzenposition.
Autorin/Autor: Margrit Müller
2 - Quellen des Wachstums
2.1 - Bevölkerungswachstum und Beschäftigung
Der zentrale Impuls für das Wachstum des BIP ergibt sich aufgrund der Zunahme der Produktivität. Das am
häufigsten verwendete Produktivitätsmass ist die Arbeitsproduktivität, in der Regel gemessen mit dem BIP je
Beschäftigten. Neben der von der Wirtschaftslage abhängigen Arbeitsnachfrage wird die Beschäftigung auch
von der Entwicklung der Bevölkerung und der Bevölkerungsstruktur beeinflusst. Aufzeigen lässt sich dies mit
dem Wachstumsbeitrag der Erwerbsquote, d.h. dem Verhältnis zwischen Erwerbstätigen und Bevölkerung, die
wiederum vom Anteil der Erwerbsfähigen an der Bevölkerung beeinflusst wird. In der Schweiz wirkte sich die
Immigration günstig auf die Erwerbsquote aus, weil die meisten Einwanderer im erwerbsfähigen Alter waren.
Die Erwerbsquote der ausländ. Bevölkerung war deutlich höher als jene der schweizerischen.
Autorin/Autor: Margrit Müller
2.2 - Wachstumsbeitrag der Produktionsfaktoren
An der Erarbeitung des BIP sind jedoch mehrere Produktionsfaktoren beteiligt. Mittels der Methode der
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Multifaktorproduktzerlegung lässt sich aufzeigen, welchen Beitrag die Arbeitsleistungen und der verfügbare
Kapitalstock zum Wachstum leisten und welcher Anteil auf den Residualfaktor entfällt, der alle weiteren
Einflüsse auffängt, insbesondere auch den für modernes W. zentralen Technischen Fortschritt. Der
Wachstumsbeitrag des Faktors Kapital schwankte am wenigsten und war stets positiv, der Faktor Arbeit
leistete hohe Beiträge in den Wachstumsperioden und niedrige bis negative in den Rezessionsphasen
(Konjunktur). Am stärksten schwankte der Beitrag des Residualfaktors, der im Zeitraum 1890-1929 sowie
1945-73 einen vergleichsweise hohen Wachstumsbeitrag leistete, nach 1973 jedoch kaum noch zum
Wachstum beitrug.
Autorin/Autor: Margrit Müller
2.3 - Wachstumsbeitrag der Wirtschaftssektoren
In der 2. Hälfte des 19. Jh. nahm die wirtschaftl. Bedeutung der Industrie rasch zu, während der relative Anteil
der Produktion und der Beschäftigung im Agrarsektor zurückging. In der Schweiz machte der Anteil des
Industriesektors bereits um 1900 über 40% der Bruttowertschöpfung und der Beschäftigung aus und
schwankte in der Folge um diesen Wert. Hingegen nahm der Anteil des Dienstleistungssektors (Verkehr,
Handel, Finanzwirtschaft, Tourismus) am BIP rasch zu und übertraf bereits in den 1930er Jahren jenen des
Industriesektors. Von den 1970er Jahren bis Ende des Jahrhunderts sank der Anteil der Industrie am BIP und
an der Beschäftigung auf 30%, jener der Dienstleistungen stieg auf etwa zwei Drittel. Der Anteil der
Landwirtschaft machte nur noch wenige Prozent aus.
Wegen der dualen Struktur der Schweizer Wirtschaft mit teils stark auf den Export und teils hauptsächlich auf
den Binnenmarkt ausgerichteten Branchen drängt sich eine Zerlegung der gesamtwirtschaftl. Wachstumsrate
nach Sektoren und Marktorientierung auf. Die in der Literatur häufig aufgeworfene Frage, ob das wirtschaftl.
Wachstum durch die Exportwirtschaft oder die Binnenwirtschaft vorangetrieben wurde, lässt sich wegen der
engen Wechselwirkungen auch mit quantitativen Methoden nicht eindeutig beantworten. Der Anteil der auf
den Binnenmarkt ausgerichteten Branchen an der gesamten Bruttowertschöpfung war stets bedeutend
grösser als der Anteil der exportorientierten und damit auch der Beitrag der Binnenwirtschaft zum
gesamtwirtschaftl. Wachstum. Doch im Verhältnis zu ihrem Anteil an der gesamten Bruttowertschöpfung
vermittelte die Exportwirtschaft in den Wachstumsperioden (1890-1913, 1922-29 und 1945-73) stets stärkere
Wachstumsimpulse als die Binnenwirtschaft. Die hohen negativen Wachstumsbeiträge der Exportwirtschaft
während der beiden Kriegsperioden und der Grossen Depression der 1930er Jahre (Weltwirtschaftskrise)
wurden durch die Binnenwirtschaft teils abgeschwächt, teils geringfügig verstärkt. Mit der in den 1970er
Jahren einsetzenden Deindustrialisierung veränderte sich die Dynamik der wirtschaftl. Entwicklung. In der
Folge wurde das gesamtwirtschaftl. Wachstum hauptsächlich durch den Dienstleistungssektor und nicht mehr
durch den Industriesektor getragen. Der Beitrag des 1. Sektors zur gesamtwirtschaftl. Wachstumsrate war
während des gesamten Jahrhunderts marginal, mit Ausnahme der Zeit des 1. Weltkriegs und der
unmittelbaren Nachkriegsjahre.
Autorin/Autor: Margrit Müller
3 - Beziehungen zwischen Wachstum, Wohlstand und Wohlfahrt
Allg. Zweck des Wirtschaftens ist die Erhaltung und Mehrung des Wohlstands, in der Regel gemessen mit dem
BIP pro Kopf und dessen Wachstum. Als Wohlstandsmass weist das BIP jedoch einige Mängel auf. So werden
etwa Umweltschäden, die mit der Produktion von Gütern und Leistungen einhergehen, nicht als Kosten
eingerechnet oder die Produktionsleistungen der Haushalte und die Reduktion der Arbeitszeit nicht adäquat
berücksichtigt. Zudem werden im BIP Einkommen nicht einbezogen, die Inländer mit Kapitalanlagen oder
Arbeitsleistungen im Ausland erzielen oder im Ausland Domizilierte in der Schweiz. Dieses
grenzüberschreitende, in der Schweiz stets positive Nettoeinkommen wird im Bruttonationalprodukt
ausgewiesen (früher Bruttosozialprodukt). Die Unzulänglichkeiten des BIP pro Kopf als Wohlstandsindikator
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werden seit den 1960er Jahren zwar immer wieder kontrovers diskutiert, dieses gängige Messinstrument aber
nicht grundsätzlich infrage gestellt.
Als Indikator für Wohlfahrt im Sinn von Lebensqualität eignet sich das BIP pro Kopf am ehesten für den
Vergleich von Ländern mit ähnl. Entwicklungsstand sowie vergleichbaren polit. und sozialen Verhältnissen. Für
den Vergleich des Lebensstandards von Gesellschaften mit unterschiedl. Entwicklungsstand und über lange
Zeiträume ist hingegen der von der UNO entwickelte Human Development Index (HDI) besser geeignet. Im
HDI werden zusätzlich zum BIP pro Kopf die durchschnittl. Lebenserwartung, die Lese- und Schreibfähigkeit
sowie die Schulbildung der Bevölkerung berücksichtigt. Seit einiger Zeit werden im Rahmen von internat.
Organisationen (OECD, EU) versch. Sozialindikatoren erfasst, an denen sich auch entsprechende Erhebungen
in der Schweiz orientieren. Ein wichtiger Kritikpunkt am BIP pro Kopf als Wohlstandsmass besteht darin, dass
es sich dabei um Durchschnittswerte handelt, die nichts über die Verteilung des Wohlstands aussagen. W.
kann sowohl mit einem Abbau wie mit einer Verstärkung der Wohlstandunterschiede zwischen
Bevölkerungsgruppen, Kantonen und Regionen einhergehen.
Quellen und Literatur
Literatur
– U. Menzel, Auswege aus der Abhängigkeit, 1988
– B. Veyrassat, «La Suisse sur les marchés du monde», in La Suisse dans l'économie mondiale, hg. von P.
Bairoch, M. Körner, 1990, 287-386
– Wirtschaftsgesch. der Schweiz im 20. Jh., hg. von P. Halbeisen et al., 2012.
Autorin/Autor: Margrit Müller
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