Musikpädagogisches und musiktherapeutisches Handeln in Helfenden Berufen Hartmut Kapteina helfende Berufe Vertreter von helfenden Berufen (Ärzte, Psychologen, Sozialarbeiter, Lehrer an Sonderschulen und auch allgemeinbildenden Schulen, Erzieher, Therapeuten verschiedenster Disziplinen, Krankenschwestern und -pfleger und Musiklehrer) tragen nach einigen Jahren Berufspraxis den Wunsch an die Hochschule heran, sich durch die Aneignung psychotherapeutischer und nonverbaler Methoden weiterzubilden, um so den Bedürfnissen ihrer Adressaten besser gerecht zu werden. Darin zeigen sich nicht nur Defizite der Hochschul- und anderen berufsbildenden Institutionen. Sicherlich bedarf es für die Einsicht in die Notwendigkeit dieser Funktionen auch einiger Berufserfahrung und auch Lebenserfahrung und persönlicher Reife. Zudem tragen diese Weiterbildungswünsche Beobachtungen Rechnung, dass für das Klientel der genannten Berufsgruppen herkömmliche Hilfestellungen nicht mehr genügen. Berufsbilder stehen vor neuen Aufgabenstellungen und gewinnen neue Profile. Vertreter des Gesundheitswesens fragen vermehrt nach nonverbalen psychotherapeutischen Methoden, weil sie vielen Patienten mit schweren frühen Störungen mit allein sprachlichen Therapien nicht mehr helfen können; von diesen Berufsvertretern werden musiktherapeutische Kompetenzen nachgefragt. Lehrer an allgemeinbildenden Schulen, Sonderschulen, Erzieher in Vorschuleinrichtungen, Kinderheimen sowie freischaffende Musikpädagogen und Musiklehrer an Musikschulen stellen fest, dass zunehmende Lernbehinderungen, Konzentrationsstörungen und Verhaltsauffälligkeiten Unterrichtsformen erfordern, die der psychosozialen Bedürftigkeit der Schüler dergestalt Rechnung tragen, dass sie überhaupt für Lerninhalte zugänglich werden. Diese Pädagogen fragen Methoden einer ganzheitlichen Musikpädagogik nach, die musikalische mit psychosozialen Erfahrungs- und Lernvorgängen verbindet und insofern zu psychotherapeutischen Vorgehensweisen hin offen ist. Eine dritte Gruppe von an Weiterbildung Interessierten sind Sozialarbeiter und Sozialpädagogen mit der Erfahrung, dass sie mit den klassischen Methoden der Beratung, der Einzelfallhilfe und Krisenintervention, der sozialpädagogischen Gruppenarbeit und der Gemeinwesenarbeit der Bedürfnislage heutiger Klienten nicht mehr gerecht werden. psychotherapeutische Lutz von Werder stellt in den letzten Jahren einen Trend zu einer psychotherapeuSozialarbeit tischen Sozialarbeit fest. Sozialarbeit fungiert als „Reparaturanstalt“ des Staates für gesellschaftliche Schäden, die in den Bereichen des öffentliches Lebens, der Erziehung, der Arbeitswelt usf. angerichtet werden, und die Sozialarbeiter müssen versuchen, die betroffenen Menschen zumindest in dem Sinne „funktionstüchtig“ zu machen, dass sie den gesellschaftlichen Ablauf nicht nachhaltig stören. Die Lage der Institutionen, die Maßnahmen der Sozialarbeit tragen, sowie die Situation des „Sozialstaats“ haben sich im Laufe der letzten Jahre dramatisch verändert. Wir haben auf der einen Seite einen kapitalistischen Staat ohne Geld und ohne Arbeit: Ein kapitalistischer Staat, dem das Kapital ausgegangen ist, um erforderliche erzieherische und soziale Leistungen zu finanzieren auf der einen und immer mehr Menschen ohne Perspektive für ihr Leben auf der anderen Seite. Vor dem Hintergrund wachsender sozialer Verelendung und gesundheitspolitischer Engpässe fallen der Sozialarbeit neue, eben auch psychotherapeutische Funktionen zu. 6 Dazu ein Beispiel: Frau O. kommt morgens nicht aus dem Bett; sie hat 2 Kinder, einen 8-jährigen Jungen, ein 4-jähriges Mädchen, ist Alleinerziehende und ohne Arbeit. Es wird immer schlimmer mit ihr, morgens ist es am allerschlimmsten. Sie wird wach und hat das Gefühl, als liege ein Riesenberg vor ihr, sie fühlt sich gelähmt, sie hat regelrecht Angst, aus dem Bett zu gehen, die Kinder fertig zu machen und den Tag anzupacken. Um die Mittagszeit wird es dann besser, aber dann ist sie erschöpft und kann kaum sich nicht um ihre Kinder kümmern. Irgendwann taucht der Sozialarbeiter bei ihr auf und sagt, von der Schule sei ihm gemeldet worden, der Junge kommt unregelmäßig und selten pünktlich in den Unterricht, aus dem Kindergarten kommen ebenfalls Klagen. Es muss irgend etwas geschehen, und der Sozialarbeiter hört ihr zu und stellt fest: Sie leiden an einer Depression. Wie kann er der Klientin helfen? Psychotherapie Aufgaben Setting Träger Mittel Methoden Klientel Sozialarbeit Das psychotherapeutische Problem Das soziale Problem und seine Lösung und seine Lösung Einzel- oder Gruppentherapie Einzelfallhilfe, Gruppen- oder Gemeinwesenarbeit Die Therapieschulen und der selbstän- Freie Träger, Wohlfahrtsverbände, dige Therapeut Staat Therapeutische Technik: Helfende Kommunikation Aufdecken des Unbewußten, Geld, Sachen, Dienstleistung, Stärkung des Ich Rechtsansprüche Katharsis, Spiegeln, freie Assoziation, Beratung, Verhandeln, Phantasiereisen, Intervenieren, Vertreten, Übertragung, Deutung u.a.m. Betreuen Mittelschicht Unterschicht (von Werder, 1997) Dem traditionellen Verständnis nach hat der Sozialarbeiter das soziale Problem im Blick, die Schwierigkeiten der Kinder müssen möglichst schnell behoben werden, um ihre Verwahrlosung zu verhindern. Die Lösung kann lauten: die Kinder kommen ins Heim, die Mutter in eine Klinik. Oder er versucht es, mit den Methoden Beratung, Verhandeln und Intervenieren die Situation aufzufangen, teilt also im Kindergarten und in der Schule mit, dass man es noch mal versuchen wolle. Er kann dann versuchen, die Kinder mit Maßnahmen einer sozialpädagogischen Familienhilfe zu stabilisieren; die Schwierigkeiten der Mutter bleiben aber bestehen, und der kann er nur eine Psychotherapie empfehlen. Aber es wird dann sehr schnell deutlich, eine Psychotherapie wird sie angesichts der geringen Plätze für Psychotherapie gar nicht kriegen. Es ist für Angehörige der Unterschicht sehr schwierig, überhaupt eine Psychotherapie bezahlt zu bekommen; außerdem ist es fraglich, ob Frau O. eine Psychotherapie überhaupt durchhalten kann. Ohnehin müsste ihr Leidensdruck wahrscheinlich noch erheblich größer sein, bis sie überhaupt einsieht, dass sie eine Psychotherapie braucht. So lange aber kann man der Kinder wegen nicht warten. Erfahrungsgemäß wird sie einen Suizidversuch machen und in der Psychiatrie landen. Dort wird sie das erste Mal dann auch mit psychotherapeutischen Methoden konfrontiert. Sie wird vielleicht auch die Musiktherapie kennen lernen. Ein Psychiatrieaufenthalt ist relativ kurz, max. 3 Monate, vielleicht 4 Monate, Frau O. wird aber möglicherweise auf vorzeitige Entlassung drängen, weil sie sich für ihre Kinder zu Hause verantwortlich fühlt. Wenn sie dann wieder zu Hause ist, geht das Ganze in der Regel wieder von vorne los. Der Psychotherapeut hingegen sieht das psychotherapeutische Problem: die Frau leidet an Depressionen. Er arbeitet im Einzel- oder Gruppensetting und ist einer bestimmten Therapieschule verpflichtet; das ist entweder Verhaltenstherapie oder 7 Depression Psychoanalyse. Wenn er etwas anderes macht, dann gibt es Probleme mit den Kassen, weil das kaum bezahlt wird. Verhaltenstherapie und Psychoanalyse sind aber wahrscheinlich für Frau O., die mit Mühe den Hauptschulabschluss geschafft hat, kaum geeignet; sie könnte dem psychotherapeutischen Verstehensprozess wahrscheinlich nicht folgen. Klienten der Psychotherapie gehören im allgemeinen der Mittelschicht an, sie können die Kosten tragen und haben die haben auch die Ruhe, die psychotherapeutischen Erfahrungen zu Hause zu verarbeiten. Wenn Frau O. nach einer Psychoanalysesitzung nach Hause käme, fände sie den alltäglichen Trubel vor, und die Kinder würden sie dermaßen nervös machen, dass sie die Situation noch schlechter verkraften würde als ohne Psychotherapie. In diesem Kontext kann man sich leicht vorstellen, dass das Klientel der Sozialarbeit hinsichtlich seiner psychotherapeutischen Bedürfnislage weitgehend unversorgt bleibt. Lutz von Werder schlägt nun eine psychotherapeutische Sozialarbeit vor, die nicht nur psychotherapeutische Techniken aufnimmt, sondern sich, ihr Klientel und die helfende Beziehung neu definiert: traditionelle Sozialarbeit Der Adressat ist von Katastrophen und Defiziten geprägt. Die Praxis zielt auf ein effektives Resultat. es besteht eine klare Hierarchie zwischen Sozialarbeiter und Klient. Priorität der Arbeit liegt auf gerechter Leistung. Arbeit orientiert sich an äußerer Umwelt des Klienten. Seine innere Welt bleibt ausgeblendet. Abweichende Gedanken und Gefühle werden kritisiert. Förderung von Konformismus und Anpassung. Betonung der linken Gehirnhälfte des Bewusstseins und rationaler Prozesse. Benutzung von Belehrung und Vorschriften. Mittelschichtspezifische Etikettierung des Klienten. Primär bürokratische Einzelfallhilfe. psychotherapeutische Sozialarbeit Der Adressat hat verborgene Stärken und Potentiale. Die Praxis ist ein Prozess, eine „Reise“. es herrschen flexible Strukturen und Offenheit für viele Wege vor. Priorität der Arbeit liegt auf Entwicklung von kreativer Selbstverwirklichung. Die innere Welt des Klienten wird als wichtige Entwicklungsebene gesehen.. Abweichende Gedanken werden als Teil der inneren Entwicklung betrachtet. Krisen werden akzeptiert. Integration von Bewusstem und Unbewusstem und Zusammenspiel von linker und rechter Gehirnhälfte. Einsatz von psychotherapeutischen Methoden der Selbsterkenntnis und Selbsterfahrung. Ablehnung von Etikettierung des Unterschichtklienten. Primär psychotherapeutische Einzelund Gruppenarbeit. (von Werder, 1997) Beim Ansatz psychotherapeutischer Sozialarbeit ginge der Sozialarbeiter im Falle von Frau O zunächst einmal davon aus, dass die Depression einen Sinn hat. Sie ist Ausdruck eines tief im Innern des Menschen liegenden Impulses, der auf Veränderung der gegenwärtigen Lebenssituation und Wachstum abzielt. Mit dieser Einstellung wird die Arbeit mit Frau O. ein Prozess, eine „Reise“ in eine zwar ungewisse aber doch verheißungsvolle Zukunft. Es geht nicht nur um das kurzfristige Ergebnis, dass sich die Situation der Kinder verbessert, sondern der psychotherapeutische Beratungsprozess zielt auf nachhaltige Veränderungen der gesamten Lebenssituation aller Betroffenen und des sozialen Systems, in dem sie miteinander agieren. Wir lassen uns auf einen Prozess ein, bei dem wir deutlich 8 der agieren. Wir lassen uns auf einen Prozess ein, bei dem wir deutlich wahrnehmen, was hier eigentlich läuft, was die einzelnen Personen innerlich erleben und welche Ressourcen kreativer Selbstverwirklichung sie besitzen. Die innere Welt des Klienten wird als wichtige Entwicklungsebene gesehen und abweichende Gedanken und Gefühle werden als Teil der inneren Entwicklung betrachtet und als Ansatz für die einzigartige individuelle Lösung seines Lebensproblems akzeptiert. So kann sich etwas von innen heraus verändern. Lutz von Werder führt weiterhin aus, wie weit psychotherapeutische Aspekte in der Sozialarbeit bereits jetzt schon von Bedeutung sind: in der sozialarbeiterischen Beratungstätigkeit, z.B. in der Drogenberatung, der Familienberatung usw. werden psychotherapeutische Methoden schon länger angewandt. Ansonsten ist Psychotherapie in der Sozialarbeit zumindest insofern wichtig, dass der Sozialarbeiter psychotherapeutische Angebote kennen muss, um seine Klienten entsprechend informieren und beraten zu können, wenn er selbst dergleichen nicht anbietet. Das dritte Gebiet, auf dem in der Sozialarbeit psychotherapeutische Methoden Anwendung finden, ist die Supervision. Außerdem weist Lutz von Werder darauf hin, dass gerade bei der Arbeit mit Menschen aus der gesellschaftlichen Unterschicht nonverbale und handlungsorientierte Verfahren von großer Wichtigkeit sind. An dieser Stelle greifen die Möglichkeiten der Musiktherapie. Bei meiner Arbeit mit Kindern, mit Jugendlichen, mit Suchtkranken und Patienten einer akutpsychiatrischen Abteilung ist mir immer wieder deutlich geworden, dass man mit nonverbalen Möglichkeiten viel näher, viel schneller und direkter an das Problem herankommen kann als nur im Gespräch. Musiktherapie ist ein psychotherapeutisches Verfahren, das die tiefenpsychologische Bedeutung des Erlebens von Musik zu Prozessen der Heilung und Vorbeugung bestimmter Erkrankungen nutzt. Die musikalischen Elemente Rhythmus und Klang werden bereits ab dem vierten Schwangerschaftsmonat vom menschlichen Gehör vernommen (der Herzschlag, die Stimme, der Atemstrom der Mutter, auch extrauterine Klänge (Nöcker-Ribeaupierre 1995, 46 ff, Vogel 1991, 49ff; Tomatis (1990) plädiert für die Annahme, dass pränatale Hörerfahrungen bereits deutlich vor Erreichen des vierten Schwangerschaftsmonats stattfinden.); insofern stellt Musik eine der frühsten Formen menschlicher Kommunikation dar, und durch Musikerfahrungen werden tiefste Schichten der menschlichen Psyche angesprochen. Aufgrund entsprechender Indikationsstellungen werden in der Musiktherapie musikalische Erfahrungen angebahnt, durch die frühe Belastungssituationen erinnert, nachvollzogen und verarbeitet sowie neue Verhaltensweisen erprobt und angeeignet werden können. Was ist Musiktherapie? Das wichtigste Verfahren auf dem Gebiet der rezeptiven Musiktherapie ist die rezeptive MusikRegulative Musiktherapie, die im Gesundheitswesen der DDR, insbesondere auf therapie dem Gebiet der psychosomatischen Medizin, relativ fest etabliert war. Dabei wird das Hören von Musik aus dem Lautsprecher genutzt, um in der Gruppe psychosoziale Prozesse auszulösen. Nach dem gemeinsamen Anhören einer gezielt vom Musiktherapeuten ausgewählten Musik werden die Patienten aufgefordert, möglichst genau zu beschreiben, was sie in der Musik, an sich selbst (körperliche Vorgänge, Gedanken und Gefühle) und in der Gruppe wahrgenommen haben. Im anschließenden psychotherapeutischen Gruppengespräch teilen sich die Teilnehmer ihre Wahrnehmungen mit. Die Vielfalt und Unterschiedlichkeit der einzelnen Wahrnehmungen lösen dann Prozesse der Selbstexploration und der Gruppendy9 namik aus, die im Wechsel von Hörerfahrungen und angeleiteten therapeutischen Gesprächen durchgearbeitet werden (vgl. Schwabe und Röhrborn 1996). Andere rezeptive Verfahren, bei denen besonders ausgewählte Musik Prozesse der Entspannung und psychischer Selbstregulation auslösen sollen, gehören in den Bereich der Musikmedizin (zum Beispiel der Einsatz von Musikkassetten in der Anästhesie, Spintge und Droh 1992) oder in den Bereich fragwürdiger esoterischer Praktiken; ihre Fragwürdigkeit beruht darauf, dass der Musik quasi pharmakologische Wirkungen zugesprochen werden und suggeriert wird, die heilenden Kräfte seien „in der Musik selbst zu finden und ohne nennenswertes Zutun des Patienten therapeutisch verfügbar“ (Behne 1994, 147). Musik als ästhe- Musik ist ästhetisches Zeichen und spiegelt in dieser Eigenschaft die Wirklichkeit tisches Zeichen „nach der Einheit des Subjekts unifiziert“ wider (vgl. Mukarovský 1971); das hat zur Folge, dass ihre Bedeutungsinhalte und damit verbunden ihre Wirkung von der jeweiligen individuellen Besonderheit ihres Produzenten und Rezepienten abhängen. Diese ästhetische Bestimmung entspricht der neurophysiologischen Erkenntnis, dass zwar bei allen Hörern vegetative Reaktionen durch das Musikhören ausgelöst werden, die Inhalte und emotionalen Besetzungen des Musikerlebnisses jedoch der subjektiven Einmaligkeit des Hörers unterliegen (Zwar können bei lauter, rhythmisch betonter Musik mit großen Tonsprüngen bei allen Hörern beschleunigter Pulsschlag und erhöhter Blutdruck beobachtet werden; diese vegetativen Reaktionen können in jedem Einzelfall aber mit ganz unterschiedlichen subjektiven Empfindungen verbunden sein, die von euphorischen über aggressive bis hin zu ablehnenden Gefühlen reichen). Quasi sich selbst regulierende Strategien des Musikkonsums haben wohl alle Menschen, die an den Massenmedien partizipieren, entwickelt. Ich höre eine Musik, solange und sooft sie mir nicht auf die Nerven geht. Wenn sie mir auf die Nerven geht, stelle ich den Radiosender um oder wechsele die Kassette oder schalte das Gerät ganz ab, und wenn mir die Stille wieder auf die Nerven geht, dann schalte ich es wieder an. So regele ich mein psychodynamisches Gleichgewicht, ohne dass mir irgend etwas dabei über mich selbst bewusst werden soll. Prozesse der Bewusstwerdung destabilisieren diesen psychohygienischen Regelkreis und benötigen psychotherapeutische oder andere Ich-stützende Begleitung, z.B. den vertrauensvollen Austausch mit anderen. Solche Destabilisierung ereignet sich auch bei der Aneignung neuer und ungewohnter Musik. Aktive Musiktherapie exemplarische Szene aus einer Musiktherapie: Eine Gruppe von sechs bis zehn Klienten sitzt im Kreis um ein typisches musiktherapeutisches Instrumentarium herum: Instrumente, die man auf Anhieb spielen kann, auf denen man nicht vorher zu üben braucht, Instrumente mit Fell bespannt, also Trommeln verschiedener Art, Saiteninstrumente, die man auch selber bauen kann, eine Leier, eine Kantele; Instrumente aus Metall wie die tibetische Klangschale oder das Triangel, das Glockenspiel und auch das Flexaton, das wie eine singende Säge klingt, Zimbeln, Becken, Gongs; dann verschiedene Rasselinstrumente, die Chekere und Xaxichis aus Afrika, Maracas oder den Regenmacher aus Südamerika, einen Blockflötenkopf, Blechflöten aus Irland, Klanghölzer, Holzblocktrommel, ein Hängexylophon u.a.m. Die Klienten werden gebeten, jeder für sich so viele Instrumente auszuprobieren, wie er mag und sich dann für ein Instrument zu entscheiden. Dann geben wir eine Spielregel vor: Zuerst mögen nach Belieben alle Spieler mit ihrem Instrument gleichzeitig spielen, jeder so lang er mag, und wenn alle zu spielen aufgehört haben, möge der letzte, der noch spielt, mit seinem Instrument einem Mitspieler eine musikalische Botschaft zuspielen und ihn dabei anschauen. Wenn er damit fertig ist, kann der Angespielte eine „Antwort“ spielen und dann einem anderen Gruppenmitglied eine andere Botschaft zuspielen u.s.f., bis niemand mehr spielen will. Nach der Musik folgt die Reflexion; wir beginnen mit der Frage: Was haben Sie erlebt? - 10 Antworten lauten: Eine nonverbale Kommunikation. - Ich habe alle übertönt, das fand ich nicht so toll. - Es ist beeindruckend, weil, man kann die Stimmung von dem anderen übernehmen, also wenn ich rhythmisch was rübergebracht habe, sehr laut, sehr stimmungsvoll, dann kann man das übernehmen, man kann aber auch sehr leise weitermachen und das dann weitergeben, das kann so ein Kreislauf sein. - Es wurde immer ruhiger, es kommt vielleicht auch auf die Stimmung an, die man hat. - Ich fand es auch interessant, wie schnell das von jemand anders übernommen wurde, ich habe z. B. erst gewartet bis der andere aufgehört hat und andere haben einfach, das fand ich eigentlich besser, so reingespielt und dann hörte der andere automatisch auf ... Diese typische Situation aus einer musiktherapeutischen Sequenz liefert den Einstieg in verschiedene Themen, die im reflektierenden Gespräch je nach Indikationsstellung weiterverfolgt werden können und weitere Behandlungsschritte ergeben können; z. B. Stichwort laut/leise; wie ist das eigentlich, war ich wirklich zu laut? Wie haben das die anderen erlebt? Wer sagt eigentlich, ich sei zu laut? Und was ist daran eigentlich so schlimm? Eine andere Schicht von Fragen eröffnet dann die Behandlung von Lebensthemen; begegnet mir das Problem, zu laut zu sein, auch sonst im Leben? Dabei folgen wir der Frage, ob und wie weit im Musiziervorgang Lebensthemen symbolisch präsentiert werden. Das Heilsame und Heilende der Musik, bzw. des Musikerlebens resultiert aus seinen musikpsychologischen Besonderheiten. Wenn man einen Klang, eine Klangfolge oder eine Musik hört oder wenn jemand eine Musik oder eine Klangfolge spielt, dann ereignet sich im Körper etwas ganz einzigartiges. Der Klang wird vom Ohr aufgenommen, übrigens auch von der Haut, und erregt, bevor er bewusst verarbeitet wird, ein Areal im Stammhirnbereich, das als Limbisches System bezeichnet wird. Dort werden die eingehenden Informationen vorab geprüft und unter dem Gesichtspunkt, ob sie eine Gefahr oder eine Chance signalisieren, vorab bewertet. Zweitens sind im Limbischen System die neuronalen Muster festgelegt, mit deren Hilfe wir Gefühle empfinden können; die Klänge werden also emotional besetzt (vgl. Spintge und Droh 1992, 20). Und drittens gibt es im Limbischen System eine direkte Schaltung ins Langzeitgedächtnis (das „linksseitige Ammonshorn als Schaltstelle für Gedächtnis und Gefühl“, vgl. Luban-Plozza 1990, 122), über welche die Klänge mit früheren Lebenserfahrungen in Verbindung gebracht werden. Aufgrund dieser vorbewussten Verarbeitungsprozesse werden sodann unwillkürliche vegetative Reaktionen ausgelöst, die den Körper in einen bestimmten Zustand versetzen (es wird eine eher sympathische (d.h. entspannte) oder eine eher parasympathische (d.h. angespannte) Tonuslage erzeugt; vgl. Erwin Evers 1991): der Blutdruck verändert sich, ebenso der Puls, die Atmung, der galvanische Hautwiderstand, der Muskeltonus in verschieden Körperregionen, die Verdauungstätigkeit, der Hormonhaushalt u.a.m. Dies alles geschieht unmittelbar und unwillkürlich, ohne dass man etwas dagegen machen kann. Es läuft einem ein Schauer den Rücken herunter, die Mundwinkel ziehen sich hoch, die Atmung wird tiefer, die Stirnfalten glätten sich u.s.f. Das ist manchmal eindrucksvoll bei Patienten zu beobachten. Jemand sagt, er finde die ganze Musiktherapie doof, könne damit überhaupt nichts anfangen. Dabei sieht man aber, wie er bei den Klängen in den Bauch hinein atmet, nachdem er zuvor die ganze Zeit ganz flach geatmet hat. Es kann durchaus sein, dass er dabei mit sehr unangenehmen Gefühlen in Kontakt kommt, und deshalb findet er das schlecht, was er da erlebt; sein Körper aber „sagt“, endlich mal hab ich die Möglichkeit etwas rauszulassen. Die eindeutig feststellbaren und in vielen neuro-physiologischen Studien nachgewiesenen vegetativen Reaktionen beim Erleben von Musik dürfen allerdings nicht 11 Psychologische und physiologische Grundlagen der Musiktherapie Limbisches System Vegetative Reaktionen beim Musikerleben dahingehend fehlgedeutet werden, dass die Menschen unter der Musikwirkung gleichartig empfinden würden. Die vegetativen Reaktionen sind zwar gleichartig; was sie aber für den Hörer bedeuten, wie er sie erlebt und mit Gefühlsqualitäten besetzt, ist von vielen individuellen Faktoren, zum Beispiel den Hörgewohnheiten, Vorerfahrungen und der aktuellen Gestimmtheit abhängig; insofern ist die Reaktion auf eine Musik nicht vorauskalkulierbar. Wenn wir also mit Musik arbeiten, nutzen wir auf diesen psychodynamischen Zusammenhang. Wir beeinflussen das psycho-physische Gleichgewicht des Adressaten, und unsere Maßnahme ist insofern einem invasiven Eingriff vergleichbar. Folglich müssen wir uns sehr genau darüber im klaren sein, warum wir das machen und wie wir das machen. Nun könnte man einwenden, die Menschen würden ja den ganzen Tag über mehr oder weniger häufig Musik hören. Es gibt Menschen, die hören 8 Stunden am Tag Musik, Jugendliche manchmal noch mehr; immer und überall und da ereignen sich diese psychovegetativen Reaktionen ja auch. Das trifft zwar zu, jedoch: sie ereignen sich auf ganz bestimmte Art und Weise. Sie sind eingebunden in einen kulturellen Kontext, an den sich die Menschen gewöhnt haben, über den sie sich bestimmte Wirkungen einfach „reinziehen“. Man sagt ja, man zieht sich die Musik wie eine Droge rein, und dabei ist man nicht in dem Sinne schöpferisch, wie es die Klienten in der Musiktherapiesituation sind. Die musikalischen Alltagskonsumenten „verabreichen“ sich eine bestimmte Wirkung, die sie von der Musik erwarten und die sich bei ihnen auch erfahrungsgemäß einstellt. In der Musiktherapie durchbrechen wir bewusst und absichtlich diese psychodynamische Balance. Es kommen manchmal Patienten und sagen: „Wie, gibt es hier keinen Kassettenrecorder, ich dachte hier wird Musik vorgespielt.“ „Nein“. „Wie, selber machen, ach, das kann ich nicht, ich bin unmusikalisch“. „O.k., das ist klar“. Aber dann gehen sie doch an die Instrumente, und indem sie Klänge formen und Klangfolgen bilden, musikalische Interaktionen gestalten, lassen sie ihre ursprünglichen schöpferischen Kräfte zu. Es ist mit Glücksgefühlen verbunden, wenn man verschüttete Potentiale bei sich entdeckt, aber auch mit Schmerzen, weil man mit der Tatsache konfrontiert wird, dass diese Potentiale so lange verschüttet bleiben mussten. Die Klienten werden zu Komponisten ihrer eigenen Musik, und die unverhoffte Erfahrung, mit der eigenen Musik konfrontiert zu werden, der Musik, die nur mich betrifft, über die sich mein Innerstes ausspricht, löst Glücksgefühle und Erschrecken zugleich aus. Die musiktherapeuti- In den musikalischen Gestaltungen der Klienten und in unserem eigenen Spiel sche Improvisation als ereignet sich ästhetische Aneignung. Die Klanggebilde sind ästhetische Zeichen, Ästhetisches Zeichen in denen allgemein Gültiges in der dem Wesen der jeweiligen Person entsprechenden Art und Weise zum Ausdruck kommt; wie ich zu laut war, wie ich gewartet habe, bis der andere zu Ende war oder wie ich direkt in seine Klänge hineingespielt habe; wie es mir unwohl wurde oder wie ich mitgerissen war: es geschah ganz einmalig und unverwechselbar so, wie ich mich mein Leben in der Welt erfahre, wie ich mit mir, mit den Gegenständen und Sachen um mich herum und mit anderen Personen umgehe. Das ist etwas ganz individuelles und zugleich etwas sehr allgemeines. SelbstDarin wird der sehr hohe Selbstoffenbarungseffekt deutlich, der ästhetischen ZeiOffenbarungseffekt chen zukommt; die Selbstoffenbarung erfolgt aber nicht „digital“, d.h. im Sinne semantischer Zeichen, so dass man dem ästhetischen Zeichen konkrete Informationen über die Person entnehmen könnte, die es hervorbringt, sondern „analog“, 12 d.h. in einer globalen Zusammenschau, in der theoretisch unendlich viele Inhalte enthalten sein können. In dem Gespräch, das sich meist an die musikalische Erfahrung in der Musiktherapie anschließt, werden die Bedeutungen, die die Beteiligten den ästhetischen Zeichen zuschreiben, die Inhalte, mit denen sie sie besetzen, mitgeteilt, ausgetauscht und reflektiert. Bei diesem Vorgang werden psychosoziale Energien freigesetzt, die verantwortungsvoll gehandhabt werden müssen. Es kommen verborgene Gefühle zum Ausdruck, Konflikte werden deutlich und Lebensstrategien werden erkennbar. Das ist mit Destabilisierungseffekten verbunden, die in geeigneter Weise aufgefangen werden müssen. Hier sei nochmals an die Funktionen des Limbischen Systems erinnert: die direkte Aktivierung von Gefühlen, die direkte Schaltung ins Langzeitgedächtnis, bei der Bilder auftauchen und Erinnerungen lebendig werden. Und die Veränderung des Körperzustands: Lebenskonflikte, die sonst in Form von somatischen Störungen und Erkrankungen ausagiert werden, benötigen diesen Ausdruck nun nicht mehr, körperliche Symptome lösen sich auf und die hinter ihnen liegenden psychosozialen Problemstellungen können bearbeitet werden. Wenn noch nicht bewältigtes, unbewusstes Material an die Schwelle zum Bewusstsein dringt, können gelegentlich neue Körpersymptome auftreten. Plötzlich spürt da jemand während der Musiktherapie Magenschmerzen, Hustenreiz oder bekommt einen Schweißausbruch. Irgend etwas ist ihm beim Spiel oder im Gespräch „auf den Bauch geschlagen“, „schnürt ihm die Kehle zu“ oder lässt ihn „vor Wut kochen“, und wenn man da genauer hinsieht, z.B. dieses Symptom an einem Musikinstrument in Klänge überführt, tritt das Erlebnis ins Bewusstsein, das hinter dem Körpersymptom steht. Verdrängung funktioniert also nicht mehr, die Seele öffnet sich und gibt die Dinge preis, die sie sonst verborgen hält. Die Handhabung dieser Energien erfordert psychotherapeutische Kompetenz. Der Verdrängungsvorgang hatte ja eine wichtige Funktion, um das psychische Gleichgewicht zu sichern. Die verdrängten Erlebnisinhalte waren für den Betroffenen zu schwer, als dass er sie ohne Hilfe hätte verarbeiten können. Diese Hilfe muss jetzt der Sozialarbeiter oder Musiktherapeut zusammen mit der Gruppe bieten, so dass das Verdrängte erinnert, mitgeteilt, durchlebt und als Teil der eigenen Identität integriert werden kann. Zum einen haben wir es mit Katharsis zu tun; es kommen zurückgestaute Gefühle heraus, sie brauchen nicht mehr unterdrückt, versteckt oder unbewusst zu bleiben. Die Musikinstrumente wirken dabei als wichtiger Katalysator. Sie bieten sich zu allen möglichen Handlungen an, schlagen, schütteln, reiben, streichen, blasen, hauchen u.s.f., Handlungen, die sehr leicht symbolhaft an die Stelle von Interaktionen mit vorgestellten Personen treten. Weitere Symbolisierungen gehen von der Form der verschiedenen Instrumente aus, sie sind rund, kantig usw., ihre Oberfläche, sie ist glatt, rau, geriffelt, kalt, warm usw., ihrer Farbe, dem Material, aus dem sie hergestellt sind, der Körperhaltung, die man an oder mit ihnen einnimmt, und natürlich ihrem Klang (vgl. Klausmeier 1978, 108-150, Moser 1997, Kapteina 1997). Alle Sinne und der ganze Körper werden bewegt, wenn der Mensch musiziert; und wenn der Mensch ein Gefühl erlebt, geschieht das ebenfalls. Insofern besteht eine enge Verbindung zwischen Musik und Emotionalität. Eine weitere Entsprechung zwischen Gefühl und Musik besteht darin, dass sich beide in der Zeit entfalten, ihre zeitliche Flüchtigkeit und rhythmische Bewegtheit. 13 digitale und analoge Kommunikation somatische Störungen Katharsis Symbolisierung Emotionalität Ein Unterschied zwischen Musik und Gefühl besteht darin, dass Musik keine konkreten Inhalte hat (außer sich selbst); Gefühle sind aber an konkrete Auslöser, an „bewegende Momente“ gebunden. Deshalb ist das Musikerlebnis immer auch mit Erinnerungen verbunden, und die aktualisierten Gefühle binden sich an Erlebnisse, die mit ihnen besetzt waren oder an Personen, denen gegenüber sie empfunden werden. Themen, die mit starken Gefühlen verbunden sind, werden in der Improvisation zunächst vorsprachlich und vorbewusst bearbeitet, das heißt dargestellt, wiederholt oder auch verändert oder variiert. Manches kann sich auf diesem Wege bereits in den musikalischen Handlungen erledigen und lösen. Das Gespräch Es ist aber auch wichtig, dass der betreffende Mensch sich nach dem musikalinach der Impro- schen Erlebnis aussprechen kann; das Gespräch, in dem er beschreiben kann, was er erlebt hat, in dem ihm bewusst werden kann (nicht muss), welche Themen in visation der Improvisation eine Rolle gespielt haben und wie er mit ihnen umgegangen ist, in dem er auch von den Mitspielern erfährt, wie die seine Aktionen erlebt haben, in dem er seine Betroffenheit mit ihnen teilen kann und sich vergewissern kann, dass er damit nicht alleine ist. Das Gespräch nach der Improvisation hat drei Stufen: 1. beschreiben, was wir erlebt haben, musikalisch, interaktiv, emotional; (Initialfrage des Leiters: „was haben wir erlebt?“) 2. mitteilen, welche biographischen oder aktuellen Themen dabei hervorgetreten sind; (Initialfrage des Leiters: „was hat das Erlebte mit dem sonstigen Leben zu tun, woher kenne ich das?“) 3. entscheiden, wie es weitergehen soll. (Initialfrage des Leiters: „Was soll als nächstes geschehen, was willst du jetzt tun?“) Dann kann sich ein neues Spiel anschließen. An diesem Ablauf wird auch deutlich, dass Musiktherapie keine „Sackgassen“ enthält; der Prozess bleibt nicht in der Erkenntnis „so war es“ oder „so bin ich“ oder „ich sollte eigentlich...“ stecken; nach der Erkenntnis kommt das Handeln, bei dem das Erkannte (zunächst probeweise an den Instrumenten und in der spielenden Gruppe) umgesetzt und neues Verhalten erprobt wird, das in eine veränderte Lebenspraxis umgesetzt werden kann. So erweist sich die Musiktherapie als Verfahren mit sowohl tiefenpsychologischer als auch verhaltenstherapeutischer Qualität, und wechselseitig können explorative (wo haben meine problematischen Verhaltensweisen ihre Ursache) und experimentelle (wie geht es mir eigentlich, wenn ich einmal etwas ganz anders mache als bisher) Intentionen je nach Situation des einzelnen und der Gruppe verfolgt werden. Die Instrumente bieten dazu beides in organischer Verbindung an: sie laden ein, sich zu erinnern, sich zu spüren und neues auszuprobieren. ganzheitliche Als Komponist war ich mit dem Herstellungsprozess von Musik sehr direkt beschäftigt und fand, Musikpädagogik dass das, was man als Komponist einsam am Schreibtisch erlebt, auch in einer Gruppe möglich sein müsste und Schülern einen viel lebendigeren Zugang zur Musik ermöglichen würde als der herkömmliche Musikunterricht. Wir haben dann angefangen, Gruppenkompositionen zu machen. Ich habe einfach gesagt: nehmen wir die Klänge, mit denen wir einigermaßen sicher umgehen können, sei’s auf dem Klavier, der Gitarre oder auf Trommeln und auf einfachen Instrumenten; wir können aber auch alles was im Raum klingt, benutzen oder klingende Alltagsgegenstände. Das verwenden wir so, wie es ein Komponist auch verwendet, indem wir es in eine zeitliche Abfolge bringen und dabei überlegen, ob und wie etwas von uns selber darin zum Ausdruck kommt. Das hat die Menschen sehr interessiert. Und das ist eigentlich heute immer noch so. Lehramtsstudenten machen immer wieder die Erfahrung: wenn man da anfängt, wo der Mensch seine ursprüngliche Musikalität hat (Anselm Ernst nennt das eine 14 „Musikpädagogik vom musikalischen Nullpunkt aus“, 1982, 47), dann entsteht ganz viel Bewegung, ganz viel Interesse. Dann sind Lehrer und Schüler hoch motiviert, weil der Unterricht direkt mit ihnen zu tun hat. So entstand eine Unterrichtsmethode, die wir damals Gruppenimprovisation nannten (Friedemann 1973, 1983, Kapteina 1974, 1976, 1991, 1996, M. Schwabe 1992). Es war damals die Zeit der 60er-Jahre, als man sehr viel experimentiert hat, es auch Spielräume zum Experimentieren gab. Diese Methode Gruppenimprovisation ist für den Hochschulbereich sehr attraktiv, weil ein Bedarf besteht, Sozialpädagogen Möglichkeiten zu zeigen, wie sie mit Klienten arbeiten können oder Musiklehrern Wege zu zeigen, wie sie einen ganzheitlichen, situationsbezogenen und personenzentrierten Musikunterricht entwickeln können. Bei dem Spiel mit Instrumenten findet musikalisches Lernen statt, es finden aber eben nicht nur musikalische Lernprozesse sondern auch soziale und überhaupt lebenspraktische Lernprozesse statt. Das geschieht in einer Art, bei der der ganze Mensch angesprochen ist und keine Erlebnisbereiche ausgeklammert werden. Und wenn er sich eben gerade in einer Konfliktsituation befindet, sei’s mit sich selbst oder mit seinem sozialen Umfeld oder mit der Gruppe, dann darf die auch zum Ausdruck kommen. Der ganzheitlich arbeitende Musiklehrer, ebenso wie der psychotherapeutisch arbeitende Sozialarbeiter wird sie nicht zu ignorieren oder zu eliminieren suchen (nach dem Motto „das gehört nicht hierhin, das gehört nicht zum Thema“ oder „du spielst beim nächsten Mal lieber nicht mit“), sondern alles was geschieht wird aufgenommen und wir schauen, was es damit auf sich hat. Die Störung wird thematisiert, weil sie in dem jeweiligen Moment ohnehin die Aufmerksamkeit bindet. Die Entstehung der musikalischen Improvisation in den Sechziger Jahren geschah also als Versuch, neue Wege in der Musikpädagogik zu gehen, um den musikalischen Lernprozess stärker an den Bedürfnissen der Schüler zu orientieren, die Eigenständigkeit im Umgang mit musikalischen Materialien und schöpferische Kräfte zu fördern sowie für neue musikalische Ausdrucksformen zu sensibilisieren. Wir haben also solche musikalischen Spiele mit der Intention gemacht, um zu erleben und zu erkennen, wie viel Befriedigung wir an der musikalischen Eigentätigkeit haben können. Auch eignete sich die musikalische Gruppenimprovisation als praxisnahe und erlebnisorientierte Methode der politischen Bildung. Solche sozialen Situationen wie, ich bin zu laut, ich bin zu leise, ich traue mich nicht, mich einzumischen, sich dem Rhythmus der Gruppe anzupassen oder einen eigenen zu finden und durchzuhalten usw., das sind soziale Konstellationen, die wir in der Gesellschaft und im politischen Alltag ja auch vorfinden; sie spiegeln sich in unserem musikalischen Prozess wider, bei dem wir ja auch in einem sozialen System (die Gruppe als mininaturhaftes Abbild der Gesellschaft) handelnd tätig sind, handelnd in der Weise und mit dem Repertoire von Strategien, das uns auch in unserem alltäglichen Handeln zur Verfügung steht. Wir können also unsere politische Einstellung, unser politisches Verhalten, unser Sozialverhalten im Rahmen der musikalischen Improvisation sehr schön erkennen und auch verändern (Kapteina 1976). Wir haben dann aber sehr bald gemerkt, dass man über diese Dinge ganz schön reden und das auch theoretisch analysieren kann, „ich bin zu laut“, „die anderen fühlen sich unterdrückt“. Das hat aber auch biographische Ursachen, und der damit verbundenen persönlichen Betroffenheit kann mit den Möglichkeiten des theoretischen Diskurses und der gesellschaftspolitischen Analyse nicht begegnet werden. Es wurde also ein pädagogisches Handlungsrepertoire erforderlich, das Raum 15 Gruppenimprovisation politische Bildung wertungsfreier Dialog in der Improvisation und Schutz gibt für den Ausdruck starker emotionaler Bewegtheit und das es den beteiligten Personen ermöglicht, Konflikte konstruktiv auszutragen (vgl. Kapteina 1988). Ein wichtiges Merkmal dieses Handlungsrepertoires ist der wertungsfreie Dialog (nicht bewerten, im Sinne von „ich finde gut / schlecht, dass du so und so gespielt hast“, sondern beschreiben, im Sinne von Mitteilung von Wahrnehmungen: ich habe dies und jenes so und so gehört, dies und jenes in der Gruppe beobachtet, an mir wahrgenommen usw.). Die Bewertung der Handlungen und ihrer Ergebnisse legt das Gegenüber fest, steckt es in eine Schublade, und die Fortsetzung des Diskurses bleibt in unfruchtbaren Rechfertigungsritualen stecken. Die Beschreibung von Wahrnehmungen hingegen fördert die Fortsetzung des Diskurses; man wird neugierig auf Unterschiede in der Wahrnehmung, im Ausdruck und im Verhalten. Auch Aktionen, die gegen Vereinbarungen verstoßen, werden nicht als falsch oder verfehlt hingestellt; wenn man sie beschreibt, eröffnet man dem Spieler die Chance, zu erkennen, was ihn zu dem Regelverstoß bewegt hat und der Gruppe die Möglichkeit, ihre Intentionen zu überprüfen. Die Erfahrung, dass sich in den musikalischen Aktionen und Interaktionen Situationen aus der eigenen Biographie re - inszenieren, geht oft mit starken Gefühlen einher. Der Mensch, der zunächst immer leise gespielt hat und sich von den anderen übertönt erlebte, kommt bei dem Versuch, dies einmal anders zu machen, in eine heftige Bewegung. Er erlebt da plötzlich eine unbändige Wut und bekommt auf einmal einen Schreck und fragt, wo kommt die Wut auf einmal her, so kenne ich mich doch gar nicht, und plötzlich begegnet er einem Teil seiner Person, der ihm ganz fremd ist. „Das hätte ich nie von mir gedacht und überhaupt, was passiert jetzt auf einmal mit mir?“ Das kann dahin führen, dass der betreffende Mensch wirklich völlig außer sich gerät, und kurzzeitig Kontrolle über sich verliert, um sich schlägt, weint und die starken Gefühle sich verselbständigen. An dieser Stelle hat die moderne Musiktherapie ihren Ursprung, deren wichtigste Methode die musikalische Improvisation in der Gruppe oder in der Dyade Patient - Therapeut ist. Literatur Klaus-Ernst Behne: Gehört. Gedacht. Gesehen. Zehn Aufsätze zum visuellen, kreativen und theoretischen Umgang mit Musik, Regensburg 1994 Erwin Evers: Was geschieht beim Musikhören im menschlichen Körper? Zur Physiologie des Musikerlebens, Musik und Unterricht 7/1991, S.16-18 Anselm Ernst: Musik und Sozialpädagogik - Zur Neuorientierung der Schulmusik, Zeitschrift für Musikpädagogik 18/1982, 44-49 Lilli Friedemann: einstiege in neue klangbereiche durch gruppenimprovisation, Wien 1973 dies.: Trommeln, Tanzen, Tönen, Wien 1983 Hartmut Kapteina: Gruppenimprovisation - eine musikpädagogische Methode, Archiv für angew. Sozialpädagogik 1974, 247-268 ders.: Musikpädagogik und Alltagsleben, Archiv für angew. Sozialpädagogik 1976, 41-59 ders. Dimensionen der Gruppenimprovisation, in: Hans-Helmut Decker-Voigt (Hrsg.): Musik und Kommunikation. Hamburger Jahrbuch zur Musiktherapie und intermedialen Therapie, Lilienthal 1988, 73-94 ders.: Musiktherapie in der Sozialarbeit, in: Peter Marchal (Hrsg.): Einführung in das Fach „Ästhetik und Kommunikation“, Veröffentlichungen des Forschungsschwepunkts Massenmedien und Kommunikation (MuK) an der Universität GH Siegen 1989, 100-118 ders. :Das Musikpädagogische in der Musiktherapie, Musiktherap. Umschau 1991, 298-307 ders.: Improvisationsbewegung, in: Hans-Helmut Decker-Voigt (Hrsg.): Lexikon Musiktherapie, 1996 16 ders.: Zur Funktion der Musikinstrumente im therapeutischen Prozeß, Musiktherap. Umschau 1997, 284 Friedrich Klausmeier: Die Lust, sich musikalisch auszudrücken. Reinbek 1978 Josef Moser: Die Wirkung von Musikinstrumenten in psychotherapeutischen Prozessen, in: Lotti Müller und Hilarion Petzold (Hrsg): Musiktherapie in der klinischen Arbeit, Stuttgart 1997, 186208 Boris Luban-Plozza: Das „dritte“ Ohr - Musik und innere Harmonie, Musik-, Tanz--, Kunsttherapie 1990, 119-124 Jan Mukarovský: Kapitel aus der Ästhetik, Frankfurt am Main 1971 Monika Nöcker-Ribeaupierre: Auditive Stimulation nach Frühgeburt. Stuttgart 1995 Christoph Schwabe und Helmut Röhrborn (Hrsg.): Regulative Musiktherapie. Entwicklung, Stand und Perspektiven in der psychotherapeutischen Medizin. Stuttgart 1996 Matthias Schwabe: Musik spielend erfinden, Kassel 1992 Ralph Spintge und Roland Droh: Musik Medizin. Physiologische Grundlagen und praktische Anwendungen, Stuttgart 1992 Alfred Tomatis: Der Klang des Lebens, Reinbek 1990 Bernd Vogel: Klangraum Musik, Stuttgart 1991 Lutz von Werder: Psychotherapeutische Sozialarbeit am Ende des Sozialstaats, Sozialmagazin 5/1997, 26-37 17