Vortrag

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Gesundheit – Gewalt – Migration.
Eine Sekundäranalyse im Auftrag des Bundesministeriums für Familie, Senioren, Frauen
und Jugend.
Dr. Monika Schröttle,
Interdisziplinäres Zentrum für Frauen- und Geschlechterforschung der Universität Bielefeld
(Zusammenfassung erstellt in Zusammenarbeit mit Ulrike Janz, Netzwerk GESINE)
Vorbemerkungen:
Die Ethnisierung von Gewalt und ungleichen Geschlechterverhältnissen in
Deutschland/Europa
In der gesellschaftlichen Diskussion der letzten Jahre wurde häusliche Gewalt einseitig zu
einem MigrantInnenproblem (gemacht). Zugleich werden Migrationsprobleme oftmals auf
Gewalt reduziert.
Folgende gedankliche Verknüpfungen befördern Vorurteile:
•
•
•
•
Verknüpfung 1: Männer mit türkischem Migrationshintergrund werden quasi
automatisch als Täter gesehen.
Verknüpfung 2: Frauen mit türkischem Migrationshintergrund werden weitgehend als
Opfer wahrgenommen.
Verknüpfung 3: Deutsche Paarbeziehungen werden als modern und gewaltfrei
bewertet, türkische Paarbeziehungen im Gegensatz dazu als traditionell und
gewaltbelastet.
Verknüpfung 4: Häusliche Gewalt wird zu einem Randgruppenproblem (gemacht).
Folge dieser empirisch nicht haltbaren Verknüpfungen ist eine Fokussierung der Diskussion
über häusliche Gewalt und Gleichstellung der Geschlechter auf MigrantInnen und sozial
schwache Bevölkerungsgruppen.
1. Einleitung
In der Untersuchung „Gesundheit, Gewalt, Migration“ wurden die Daten der für das BMFSF von
2002 bis 2004 durchgeführten Frauenstudie zur „Lebenssituation, Sicherheit und Gesundheit
von Frauen in Deutschland“ sekundäranalytisch ausgewertet, um den Zusammenhang von
Gesundheit, Migrationshintergrund und Gewalt zu beleuchten. Ziel war, in Erfahrung zu bringen,
ob und in welcher Hinsicht sich die gesundheitliche Situation von Frauen mit und ohne
Migrationshintergrund unterscheidet, welche Faktoren dafür verantwortlich sein können und
welche beeinflussende Rolle hierbei insbesondere Gewalterfahrungen, Diskriminierung und
soziale Ungleichheiten spielen können. In ersten Auswertungen war eine erhöhte Betroffenheit
durch Partnergewalt insbesondere bei Frauen mit türkischem Migrationshintergrund festgestellt
worden; zudem fanden sich empirische Hinweise auf einen allgemeinen Zusammenhang
zwischen Gewalt und negativen Gesundheitsfolgen. Bislang wurden auf bundesdeutscher und
europäischer Ebene weder die gesundheitliche Situation und die damit zusammenhängenden
erhöhten Gewaltbelastungen und sozialen Probleme von Frauen mit und ohne
Migrationshintergrund vergleichend empirisch untersucht noch die Verbindungslinien zwischen
Migration/ethnischer Herkunft, Gesundheit und Gewalt.
Die umfangreichen Befragungsdaten der bundesdeutschen Frauenstudie ermöglichten in dieser
Hinsicht erstmals vergleichende Auswertungen, da sie – anders als in bisherigen
repräsentativen Untersuchungen zu Gesundheit und zu Gewalt gegen Frauen – aufgrund von
fremdsprachigen Interviews und Zusatzstichproben eine erhöhte Anzahl von Migrantinnen
einbeziehen konnte. Anhand von zusätzlichen Interviews in türkischer und russischer Sprache
wurden in der Studie die größten in Deutschland lebenden Migrantinnenpopulationen – Frauen
türkischer Herkunft und Frauen aus Ländern Osteuropas erreicht. Hinzu kommt, dass die
Befragung vergleichsweise detaillierte Fragen zur gesundheitlichen, psychischen und sozialen
1
Situation der Frauen umfasste, die für die Fragestellung gewinnbringend ausgewertet werden
konnten.
2. Fallbasis – einbezogene Frauen
Basis der vorliegenden Studie sind Interviews mit 8.023 Frauen deutscher Herkunft, 368 Frauen
türkischer Herkunft und 475 Frauen aus Ländern der ehemaligen Sowjetunion im Alter von 16
bis unter 75 Jahren, in denen detaillierte Informationen sowohl zur gesundheitlichen,
psychischen und sozialen Situation der Frauen wie auch zu deren unterschiedlichen
Gewaltbetroffenheiten innerhalb und außerhalb von Familie und Partnerschaft in der Kindheit
und im Erwachsenenleben erhoben wurden. Die ethnische Herkunft der Befragten wurde
anhand des Geburtslandes beider Eltern bestimmt sowie – als nachrangigem Kriterium – der
Staatsbürgerschaft der Befragten. Dadurch sind Migrantinnen der ersten und zweiten
Generation durchgängig und Migrantinnen der dritten Generation nur insofern einbezogen
worden, als sie (noch) nicht die deutsche Staatsbürgerschaft innehatten.
3. Ergebnisse der Studie
3.1 Der Zusammenhang von Migrationshintergrund und Gesundheit
Körperliche und psychische Beschwerden
•
•
•
Die subjektiv wahrgenommene und objektiv anhand der Beschwerden beschriebene
gesundheitliche Situation ist bei beiden Migrantinnengruppen, insbesondere aber bei
Frauen mit türkischem Migrationshintergrund (verstärkt ab 45 Jahren) deutlich
schlechter.
Die Anzahl körperlicher Beschwerden ist deutlich erhöht (u.a. Schmerzsymptome,
Magen-/Darmbeschwerden, Belastungssymptome, zerebrale Störungen, gynäkologische
Beschwerden).
Festzustellen ist eine tendenzielle Höherbelastung von Frauen mit türkischem
Hintergrund auch bei einzelnen psychischen Beschwerden (Angststörungen,
Schlafstörungen, Suizidgedanken und Essstörungen in best. Altersgruppen).
3.2. Der Zusammenhang von Migrationshintergrund und Gewalt
3.2.1. Gewaltbetroffenheit im Vergleich - tabellarisch
Herkunft Befragte (16 bis unter 75 Jahre,
Sonderauswertung Schröttle/Khelaifat 2008)
deutscher
türkischer
ehem.
Herkunft
Herkunft
Sowjetunion
Gewalt – alle Täter
Körperliche Gewalt –
unabhängig vom TäterOpfer-Kontext
Sexuelle Gewalt (nur
strafrechtlich relevante
Handlungen)
Sexuelle Belästigung
Psychische Gewalt unabhängig vom TäterOpfer-Kontext
38%
45%
40%
13%
12%
18%
61%
42%
51%
44%
54%
45%
2
Diskriminierung aufgrund
von Geschlecht, Alter oder
Herkunft
Partnergewalt
Körperliche oder sexuelle
Gewalt durch aktuelle
und/oder frühere Partner
Körperliche oder sexuelle
Gewalt durch aktuellen
Partner
Sexuelle Gewalt durch
aktuellen Partner
Psychische Gewalt durch
aktuellen Partner
(vorläufige Def., 4 und mehr
Handlungen)
9%
23%
21%
26%
37%
27%
13%
29%
17%
1%
6%
3%
6%
20%
14%
3.2.2. Häufigkeit und Schwere der körperlichen/sexuellen Gewalt durch den aktuellen
Partner
•
•
•
Gewaltbetroffene Frauen türkischer Herkunft erleben häufiger mehrmalige und
seltener einmalige Gewalt (66% vs. 33% bei Frauen dt. Herkunft und 49% bei
Frauen aus eh. SU).
Gewaltbetroffenene Frauen türkischer Herkunft erleben häufiger als andere
Befragungsgruppen schwerere Formen von Gewalt durch den aktuellen Partner
(18% Muster von schwerer bis sehr schwerer körperlicher/sexueller/psychischer
Misshandlung, vs. 6% bei Frauen deutscher Herkunft und 9% bei Frauen aus
Ländern der eh. UdSSR).
Auch psychische Gewalt, Kontrolle und Dominanz, Drohungen in Paarbeziehungen
werden häufiger erlebt (Hinweise bei ca. 44% der Frauen türkischer Herkunft, 20%
der Frauen deutscher Herkunft und 34% der Frauen aus eh. SU); erhöhte
psychische ohne körperliche/sexuelle Gewalt bei ca. 20% beider
Migrantinnengruppen und bei ca. 10% der Frauen deutscher Herkunft.
3.2.3. Gewalt im Kontext von Trennung und Scheidung
•
•
•
Alle Frauen sind im Kontext von Trennung und Scheidung in erhöhtem Maße
gefährdet, Opfer von Gewalt durch ehemaligen Beziehungspartner zu werden.
Etwa ein Drittel der türkischen Frauen, etwa jede siebte bis zehnte Frau deutscher
Herkunft oder aus Ländern der ehemaligen SU hat im Kontext von Trennung und
Scheidung körperliche und/oder sexuelle Gewalt durch Ex-/Partner erlitten.
Eine Trennungs- und Scheidungssituation ist für türkische Migrantinnen besonders
gefährdend, Opfer von (schwerer) Gewalt durch den Partner zu werden.
3.2.4. Ausmaß von Partnergewalt gegen Migrantinnen - Fazit
•
•
•
Frauen mit türkischem Migrationshintergrund haben deutlich erhöhte Risiken Opfer von
schwererer körperlicher und/oder sexueller und/oder psychischer Gewalt zu werden.
Besondere Gefährdungspotentiale existieren dabei bei der Loslösung und Beendigung
der Situation; gezielte Unterstützung und Prävention (auch aber nicht nur bei
Migrantinnen) ist hier erforderlich.
Aber: Probleme von häuslicher Gewalt und Kontrolle begrenzen sich nicht auf
Migrantinnen und sind auch in der Mehrheitsbevölkerung verbreitet.
3
•
Und: Die Mehrheit der Frauen türkischer Herkunft in Deutschland ist nicht von
körperlicher/sexueller Gewalt betroffen.
3.2.5. Partnergewalt gegen Migrantinnen – Ursachen und Einflussfaktoren
•
•
Erhöhte Gewaltbelastungen sind nicht ausschließlich aber auch auf soziale Faktoren
und Bildung zurückzuführen (allerdings existiert kein einfacher Bildungs- und
Schichtzusammenhang bei Gewalt in Paarbeziehungen).
Folgende multifaktorielle Zusammenhänge haben einen Einfluss:
- traditionelle Geschlechterverhältnisse mit hoher Gewaltakzeptanz;
- soziale Diskriminierung / Chancenlosigkeit (und belastende
Familiendynamiken im Zuge der Migration);
- Schwierigkeit der Loslösung aus gewaltbelasteten
Beziehungen, auch aufgrund der ökonomischen, beruflichen und
gesundheitlichen Situation
- zentral ist die intergenerationelle Vermittlung von Gewalt: Gewalt in
Kindheit und Jugend ist der stärkste Risikofaktor; bei
Gewaltbetroffenheit in Kindheit und Jugend gibt es keine signifikanten
und ausgeprägten Unterschiede zwischen Frauen mit und ohne
Migrationshintergrund; allerdings erleben Frauen türkischer Herkunft
häufiger Gewalt zwischen den Eltern. Dort, wo Frauen mit und ohne
Migrationshintergrund keine Gewalt zwischen den Eltern mit erlebt haben,
sind keine Unterschiede mehr hinsichtlich der späteren Gewaltbetroffenheit in
Paarbeziehungen feststellbar.
3.3. Der Zusammenhang von Gesundheit und Gewalt
•
•
•
Gewalt hat erhebliche gesundheitliche und psychische Folgen bei allen
Befragungsgruppen (s.a. Expertise Robert-Koch-Institut)
- Verletzungsfolgen,
- psychische Folgebeschwerden
- psychosomatische Folgebeschwerden,
- Gesundheitsverhalten und Arbeitssituation;
Erhöhte Belastungen entstehen bei Kumulation verschiedener Formen von Gewalt in
Kindheit und Jugend und im Erwachsenenalter;
Erhöhte gesundheitliche Belastungen durch Gewalt können bei Frauen mit
türkischem Migrationshintergrund festgestellt werden (vermutlich aufgrund von
höherer Gewaltintensität und längerer Dauer aufgrund der Schwierigkeiten bei der
Loslösung aus der Gewaltsituation).
3.4. Der Zusammenhang von Migration, Gesundheit und Gewalt
•
•
•
•
Die schlechte Gesundheitssituation von Frauen türkischer Herkunft ist nicht
ausschließlich oder überwiegend auf Gewaltbelastungen zurückzuführen, sondern
auch auf die oftmals schwierigere soziale Situation der Frauen.
Indirekte Einflüsse über Bildung, Einkommen, soziale Einbindung/Isolation,
berufliche Einbindung sind bedeutsam - Gewalt ist nur ein zusätzlicher Faktor.
Allerdings erhöht die schlechtere gesundheitliche und soziale Situation eines Teils
der Migrantinnen deren Vulnerabilität für Gewalt in Paarbeziehungen und erschwert
die Loslösung aus gewaltbelasteten Paar- und Familienbeziehungen.
Gesundheit, Gewalt und soziale Situation sind eng miteinander verknüpft.
4
4. Fazit
•
•
•
•
•
Migrantinnen = Gewalt = Gesundheitsproblem: Diese Sichtweise wäre eine
Problemverengung.
Folgende Differenzierungen sind notwendig:
- Die Mehrheit der Migrantinnen erlebt keine Gewalt
- Die Mehrheit der schweren Gewalttäter/gewaltbetroffenen Frauen in
Paarbeziehungen in Deutschland haben keinen Migrationshintergrund
- Die Problemsituation eines Teils der MigrantInnen ist geprägt von:
Gewaltsituation in Familie/Partnerschaft + schwieriger
sozialer/beruflicher Situation + offener und verdeckter Diskriminierung +
schwieriger Gesundheitssituation.
Es handelt sich um ein Problembündel, bei dem nicht nur die Täterschaft von
männlichen Migranten, sondern auch gesellschaftlich-politische
Rahmenbedingungen relevant sind.
- Die Diversität innerhalb der Migrantinnen gleicher und verschiedener
Herkunft muss in der weiteren Diskussion und Forschung beachtet werden.
Bei der Unterstützung und Beratung von Migrantinnen
ist die Einbeziehung von sozialen Problemen und Diskriminierungen notwendig.
Erforderlich sind differenzierte Handlungs- und Interventionskonzepte, die dem Bedarf
gewaltbetroffener Frauen mit (und ohne) Migrationshintergrund angepasst sind:
o kultursensibel
o mehrsprachig
o die inter- und intrakulturelle Diversität berücksichtigend
o die rechtliche und soziale Situation einbeziehend
Gesundheitsprävention, Gewaltprävention und soziale/berufliche Förderung von Frauen
bedingen einander und sind enger als bisher konzeptionell zu verbinden.
5. Ausblick auf (weitere) Forschung und Publikationen
Schröttle/Müller (2004): Lebenssituation, Sicherheit und Gesundheit von Frauen in
Deutschland. Repräsentative Untersuchung zu Gewalt gegen Frauen in Deutschland. Im
Auftrag des Bundesministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend. Berlin.
Download der Kurz- und Langfassungen der Studie im Internet unter: www.bmfsfj.de,
Stichwort: Publikationen oder unter www.gesine-net.info, Menüpunkt: Forschung/Literatur
Schröttle, Monika / Khelaifat, Nadja (2008): Gesundheit-Gewalt-Migration - Eine
vergleichende Sekundäranalyse zur gesundheitlichen und Gewaltsituation von Frauen mit
und ohne Migrationshintergrund in Deutschland, Ein Forschungsprojekt des
Interdisziplinären Zentrums für Frauen- und Geschlechterforschung (IFF) der Universität
Bielefeld im Auftrag des Bundesministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend,
2008
Download der Kurz- und Langfassungen der Studie im Internet unter: www.bmfsfj.de,
Stichwort: Publikationen oder unter www.gesine-net.info, Menüpunkt: Forschung/Literatur
Veröffentlichung der weiteren sekundäranalytischen Auswertungen für das BMFSFJ
(www.bmfsfj.de) Stichwort: Forschung – Publikationen.
GiG-net – Forschungsnetz Gewalt im Geschlechterverhältnis (Hrsg. 2008): „Gewalt im
Geschlechterverhältnis. Erkenntnisse und Konsequenzen für Politik, Wissenschaft und
Soziale Praxis.“ Verlag Barbara Budrich, Opladen.
Robert-Koch-Institut (Hg.): Gesundheitsberichterstattung des Bundes Heft 42 Gesundheitliche Folgen von Gewalt unter besonderer Berücksichtigung von Häuslicher
Gewalt gegen Frauen, 2008 Internet: www.rki.de oder http://www.gesinenet.info/images/pdf/rki_heftgewalt2008.pdf
5
In Arbeit:
- Repräsentative bei Frauen mit Behinderungen („Lebenssituation und Belastungen von
Frauen mit Behinderungen, Beeinträchtigungen und chronischen Erkrankungen in
Deutschland“, i.A. des BMFSFJ, Veröff. vorauss. 2011)
- Buchprojekt: Gewalt gegen Migrantinnen in Europa. (Violence and Ethnicity, gemeinsam
mit Stéphanie Condon und Ravi Thiara, Veröff. vorauss. 2011)
Für die Unterstützung bei der Zusammenfassung der Vortragsergebnisse ein ganz herzlicher
Dank an Ulrike Janz, GESINE.
Dr. Monika Schröttle im Mai 2010 ([email protected])
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