Musterlösung Rechtssoziologie II / 27. Juni 2012 1. Listen Sie die vier von Max Weber benannten Bestimmungsgründe sozialen Handelns auf und geben Sie für jeden der vier ein Beispiel sozialen Handelns und einen Kommentar, welcher die Art des Bestimmungsgrundes erläutert. (25%) Mögliche Lösung: Max Weber unterscheidet idealtypisch traditionale, affektuelle, wertrationale und zweckrationale Bestimmungsgründe sozialen Handelns. Ein traditionaler Bestimmungsgrund liegt vor, wenn in einer Art und aufgrund eines Motivs gehandelt wird, wie in der Gemeinschaft oder der Familie in bestimmten Situationen schon immer gehandelt wurde. Das Motiv kann umschrieben werden mit Sätzen wie "Das haben wir immer schon so gemacht" oder "Das gehört sich bei uns so" oder "Das ist sittlich". Solche Handlungsgründe herrschen eher in ursprünglichen, nicht-modernen Gesellschaften vor. Als Beispiel mag eine kirchliche Heirat von zwei Personen gleicher Konfession dienen, bzw. das Nichteingehen einer eingetragenen Partnerschaft oder einer Heirat ausserhalb der eigenen Konfession. Wenn ein Handeln einer aktuellen Stimmungslage oder Gemütszustand folgt, ist es affektuell bestimmt. Gefühle wie beispielsweise Wut oder Liebe führen zu affektuellen Handlungen, so zum Beispiel eine unkontrollierte Ohrfeige nach einer verletzenden Provokation, oder eine Lüge aus Scham. Ein wertrationaler Handlungsgrund liegt vor, wenn die Handlung vollkommen durch eine Überzeugung bzw. durch den Glauben an Ihren Eigenwert bestimmt ist. Er liegt vor, wenn beispielsweise das Austragen einer Schwangerschaft - also das Unterbleiben des Schwangerschaftsabbruchs - durch den festen eigenen Glauben an den Wert des ungeborenen Lebens getragen ist und nicht durch eine Konvention, die Abtreibung missbilligt (traditionaler Bestimmungsgrund). Zweckrational ist ein Handlungsgrund, wenn er von Zwecken, Folgen und Mitteln ausgeht. Hier würde die Schwangerschaft ausgetragen, wenn keine materielle Möglichkeit zum Abbruch zugänglich ist, oder wenn ein körperlicher Schaden für die Mutter oder eine Strafe als wahrscheinlich perzipiert wird. Die Annahme der Zweckrationalität steht beispielsweise bei der Spieltheorie (rational choice) im Vordergrund. Um die Art des Handlungsgrundes zu bestimmen, muss der subjektiv gemeinte Sinn ermittelt werden. Überhaupt ist nach Weber "Sinn" eine Notwendigkeit bei sozialem Handeln. 2. Welche Funktionalität weist Emile Durkheim der Strafe (im Sinne einer durch die Gesellschaft oder Gemeinschaft verhängten Sanktion) zu? Begründen Sie den Gedankengang Durkheims und vergleichen Sie diesen mit dem Strafzweck der juristischen Strafrechtsdogmatik. (25%) Mögliche Lösung: Durkheim geht in seiner Analyse davon aus, dass die Funktion der durch die Gesellschaft verhängte Strafe für ein Verbrechen nicht in erster Linie in einer Erziehung oder eine Besserung des Verbrechers dient, sondern in erster Linie eine gemeinsamkeitsstiftende Funktion für die Gesellschaft darstellt. Die Strafe richtet sich also an die "Andern", der Betroffene ist sozusagen das Exempel, an dem sich das normative Wollen der Gemeinschaft ausdrückt. Er benutzt zur Ableitung dieses Schlusses eine Methode, welche die Gesellschaft als Gegenstand, als Sache behandelt und dadurch die Regeln ihrer Funktionsweise bestimmt. Zunächst zeigt er auf, dass abweichendes oder strafbares Handeln in der Gesellschaft "normal" ist, also keine "Krankheit", die einer Heilung bedarf. Ohne die Existenz abweichenden Handelns ist normkonformes Handeln gar nicht denkbar. Die sanktionierende Reaktion der Gesellschaft auf strafbares, "verbrecherisches" Handeln dient selbstverständlich der Stärkung beziehungsweise Inkraftsetzung der Norm, wirkt aber in erster Linie gemeinschaftsstiftend, wie Durkheim mit Beispielen belegt. Durkheims Position steht im Gegensatz zur strafrechtsdogmatischen Sanktionsbegründung. Spezialprävention ist nach Durkheim kein Strafzweck, Generalprävention nur insofern, als sie sich nicht an den Täter, sondern an die normkonform handelnden Personen richtet. Nicht die "Abschreckung" steht bei der Strafe im Vordergrund, sondern die Stärkung des Wir-Gefühls durch Ausschluss einer Person, der ein nicht normkonformes Handeln zugeschrieben wird. So gesehen kann die Sanktionierung weitere strafbare Handlungen nicht verhindern, ähnlich wie bei Aristoteles das Verbot gegen die "Begierde" nicht ankommt. 3. Benennen Sie die drei Elemente des praktischen Syllogismus nach Aristoteles und beschreiben Sie die logische Konsequenz für einen Gebotssatz und für einen Verbotssatz. (25%) Mögliche Lösung: Der Praktische Syllogismus nach Aristoteles hat eine spezielle Form des logischen Schlusses, da er nicht nur Seinsaussagen (ontologische Aussagen) enthält, wie in logischen Schlüssen üblich, sondern als erste Prämisse eine Sollensaussage, also eine deontologische Aussage und als Konklusion eine Handlungsanweisung. Er stellt die einzig mögliche logische Schlussform dar, welche eine Handlung als Konsequenz ausdrückt. Eine seiner verschiedenen Formulierungen lautet: Was süss ist, soll man kosten. Honig ist süss. Also soll man von diesem Honig kosten. Er verknüpft also die Elemente des Wissens, des Wollens in der Formulierung eines Gebotes oder Verbotes und des daraus resultierenden Handelns. Aristoteles geht davon aus, dass bei einem positiven Gebot, wie oben formuliert, und dem Wissen über ein Einzelnes, nämlich dass Honig süss ist, automatisch die Handlung des Honigessens folgt, sofern die notwendigen materiellen Bedingungen vorliegen (z.B. Zugang zu Honig, keine Übersättigung), zwangsläufig die beschriebene Handlung folgt. Anders, wenn ein Verbot vorliegt (Was süss ist, darf man nicht kosten). Trifft das Verbot auf das Wissen, das Süsses angenehm ist, kann die Begierde nach Süssem trotzdem zu der verbotenen Handlung führen. 4. Worin besteht der gesellschaftliche Nutzen der Todesstrafe nach Garland? Nehmen Sie Stellung zu seiner Behauptung der Disfunktionalität der Todesstrafe bezüglich ihrer Wirkung in Richtung einer Verminderung der Zahl der Mordfälle. Geben Sie an, wie viel Prozent der Todesstrafen in den USA zurzeit vollzogen werden. (25%) Mögliche Lösung: Nach Garland besteht der Nutzen für Polizei und Vollzugsorgane in der - Todesdrohung als Selbstschutz der Polizei - Möglichkeit der Kontrolle schwerer Straftäter durch die Todesdrohung für die Staatsanwälte in der - Verwendung als Druckmittel zur Erreichung eines Geständnisses - Erreichung prozessualer Vorteile (Auswahl der Jury, plea bargaining) - Karrierevorteile (beeing tough on crime) - Wahlchancen bei entsprechenden politischen Intentionen für die Verteidigung in der - Profilierung und Karriereförderung bei Übernahme spektakulärer Mandate - Erreichung emotionaler Zufriedenheit und professioneller Befriedigung für die Jury als - Gelegenheit zum Ausdruck moralischer Missbilligung - In der Politik ist die Todesstrafe eine Ware oder ein Spielstein, sie dient der Profilierung der Politiker. - Den Medien dient sie als Thema zur Auflagen- bzw. Einschaltquotensteigerung Der Öffentlichkeit und jedem Einzelnen des "Publikums" dient sie - der Unterhaltung ("entertainment zone") - der Ausdrucksmöglichkeit von Aggression - der Selbstermächtigung ("playing god") - der Eröffnung einer Möglichkeit zum Umgang mit dem Todestabu. Nach Garland ist die Todesstrafe disfunktional in dem Sinne, dass die Anzahl der Tötungsdelikte keinen nachweisbaren negativen Zusammenhang mit dem Bestehen oder dem Vollzug der Todesstrafe habe. Im Gegenteil zeigen Länder, in denen die Todesstrafe nicht gilt, tendenziell niedrigere Mordraten. Garland argumentiert auch mit Durkheim, für den (s. oben, 2. Aufgabe) die Spezialprävention soziologisch gesehen nicht die Hauptfunktion der Strafe darstellt. Die Funktion der Todesstrafe liegt, wie der oben beschriebene gesellschaftliche Nutzen zeigt, ausserhalb des eigentlichen Strafrechts. Um die Frage zu beantworten, wie viele Todesurteile in den USA tatsächlich vollzogen werden, muss man zunächst definieren, auf welche Basis oder Grundgesamtheit man sich bezieht. In den letzten zehn Jahren wurden in den USA pro Jahr jeweils ein wenig mehr als doppelt so viele Todesurteile gefällt wie Todesstrafen vollzogen. Die Annahme, dass fast 50% der Todesurteile tatsächlich vollzogen würden, berücksichtigt jedoch nicht den Umstand, dass erst etwa die Hälfte der vor 15 Jahren gefällten Todesurteile vollzogen oder aus verschiedenen Gründen aufgehoben wurden (Revision, Umwandlung in Freiheitsstrafe, natürlicher Tod des Verurteilten, Aussetzung des Vollzugs im betreffenden Bundesland usw.), die durchschnittliche Verfahrensdauer also deutlich über 10 Jahren liegt und dass in den achtziger und neunziger Jahren pro Jahr fast dreimal so viele Todesurteile gefällt wurden wie heute. Der Anteil der aufgrund von Todesurteilen aus den achtziger und neunziger Jahren bis heute vollzogenen Todesstrafen beträgt ca. 30% (Basis abgeschlossene Verfahren) beziehungsweise ca. 20% (Basis sämtliche Todesurteile). Bei Urteilen aus den siebziger Jahren, in denen der Vollzug faktisch ausgesetzt wurde, beträgt dieser Anteil sogar weniger als 10%. Es kann in Anbetracht des Umstandes, dass zunehmend mehr Bundesländer die Todesstrafe oder deren Vollzug aussetzen, die Annahme getroffen werden, dass von den heute gefällten Todesurteilen ein nur geringer Anteil tatsächlich vollzogen wird. Dazu kommen noch regionale Besonderheiten wie etwa in Kalifornien, wo zwar sehr viele Todesurteile gefällt, jedoch keine vollzogen werden. In Texas hingegen ist die Wahrscheinlichkeit, dass ein Todesurteil tatsächlich vollzogen wird, relativ hoch.