Hilfe im Kontext kritischer Sozialer Arbeit Hilfe im Kontext kritischer Sozialer Arbeit. Was unter dem Begriff der Hilfe aus der Perspektive einer kritischen Sozialen Arbeit verstanden wird und welche Folgerungen sich daraus für das Tätigkeitsfeld des Kindes- und Erwachsenenschutz ergeben. Bachelorarbeit von: Claudia Caflisch Unterstrasse 37 CH-9000 St.Gallen Studienbeginn: FS 2011 an der: FHS St.Gallen Hochschule für Angewandte Wissenschaften Studienrichtung Sozialpädagogik begleitet von: Prof. Sabine Makowka Dipl. soz. wiss., M.A. Dozentin Fachbereich Soziale Arbeit Für den vorliegenden Inhalt ist ausschliesslich die Autorin verantwortlich. St.Gallen, 6. Oktober 2015 Hilfe aus der Perspektive kritischer Soziale Arbeit Inhaltsverzeichnis Abstract .......................................................................................................................................3 Vorwort........................................................................................................................................7 Einleitung und Fragestellung ......................................................................................................8 1 Kritische Soziale Arbeit .......................................................................................................10 1.1 Aktualität der Strömungen kritischer Sozialer Arbeit ....................................................11 1.2 Grundlegende Verständnisse kritischer Sozialer Arbeit ...............................................12 1.3 Kritik .............................................................................................................................14 1.3.1 Formen der Kritik ...................................................................................................15 1.3.2 Die Kunst nicht dermassen regiert zu werden. .....................................................16 1.3.3 Distanzierung von Herrschaftsarbeit .....................................................................17 1.4 Normative Begründung ................................................................................................18 1.5 Fazit .............................................................................................................................19 2 Hilfe in der Sozialen Arbeit ..................................................................................................21 2.1 Verortung des Begriffs der Hilfe ...................................................................................21 2.1.1 Formen von Hilfe ...................................................................................................22 2.1.2 Hilfe in der Sozialen Arbeit ....................................................................................23 2.2 Inhalt, Modus und Ziel von Hilfe in der Sozialen Arbeit ...............................................24 2.3 Aktuelle Bedeutung von Hilfe in der Sozialen Arbeit ....................................................26 2.4 Fazit .............................................................................................................................26 3 Handlungsleitende Ansätze ................................................................................................29 3.1 Theoretische Grundlagen professionellen Handelns ...................................................29 3.2 Die Arbeit am Sozialen.................................................................................................30 3.3 Arbeitsprinzip Partizipation...........................................................................................33 3.4 Fazit .............................................................................................................................34 4 Hilfe im Kontext kritischer Sozialer Arbeit ...........................................................................36 4.1 Zentrale Erkenntnisse und Beantwortung der ersten Frage ........................................36 5 Kindes- und Erwachsenenschutz in der Schweiz ...............................................................44 5.1 Kindes- und Erwachsenenschutz in der Schweiz ........................................................44 5.2 Funktion der Sozialen Arbeit im Kindes- und Erwachsenenschutz ..............................46 5.3 Fazit .............................................................................................................................47 6 Hilfe im Kontext des Kindes- und Erwachsenenschutz .......................................................49 6.1 Hilfe im Kindes- und Erwachsenenschutz ....................................................................49 6.2 Fazit .............................................................................................................................50 7 Folgerungen für das Tätigkeitsfeld des Kindes- und Erwachsenenschutzes ......................52 FHS St.Gallen Soziale Arbeit, Bachelorarbeit HS 15, Claudia Caflisch /1 Hilfe aus der Perspektive kritischer Soziale Arbeit 7.1 Zentrale Erkenntnisse und Beantwortung der zweiten Frage ......................................52 Reflexion und eigene Positionierung ........................................................................................56 Literaturverzeichnis ...................................................................................................................59 Quellenverzeichnis ....................................................................................................................62 Abbildungsverzeichnis ..............................................................................................................63 FHS St.Gallen Soziale Arbeit, Bachelorarbeit HS 15, Claudia Caflisch /2 Hilfe aus der Perspektive kritischer Soziale Arbeit Abstract Titel: Hilfe im Kontext kritischer Sozialer Arbeit Kurzzusammenfassung: Diese Arbeit thematisiert den Begriff der Hilfe aus der Perspektive kritischer Sozialer Arbeit und welche Folgerungen sich daraus für den Tätigkeitsbereich des Kindes- und Erwachsenenschutzes ergeben. Autor(en): Claudia Caflisch Referent/-in: Prof. Sabine Makowka Dipl. soz. wiss., M.A. Publikationsformat: BATH MATH Semesterarbeit Forschungsbericht Anderes Veröffentlichung (Jahr): 2015 Sprache: deutsch Zitation: Caflisch, Claudia. (2015). Hilfe im Kontext kritischer Sozialer Arbeit. Unveröffentlichte Bachelorarbeit, FHS St.Gallen, Fachbereich Soziale Arbeit. Schlagwörter (Tags): Kritische Soziale Arbeit, Hilfe, Kindes- und Erwachsenenschutz Ausgangslage: Für die Soziale Arbeit stellt sich stets die Frage nach dem Selbstverständnis, nach normativen Orientierungen und handlungsleitenden Ansätzen. Dies stellt sich umso dringender dar, wenn diese aufgrund von gesellschaftlichen Veränderungen und Professionsentwickungen zur Disposition stehen. Der Begriff der Hilfe, welcher den (vagen und unbestimmten) normativen Kern der Sozialen Arbeit darstellt, bietet sich als Reflexionen diesbezüglich an. In den aktuellen Fachdiskussionen findet sich der Begriff hauptsächlich in zwei charakteristischen FHS St.Gallen Soziale Arbeit, Bachelorarbeit HS 15, Claudia Caflisch /3 Hilfe aus der Perspektive kritischer Soziale Arbeit Verbindungen. Nämlich der Hilfe in Verbindung mit Eigenverantwortung und Autonomie, sowie in der Verbindung von Hilfe und Kontrolle im Doppelmandat. Wird der Begriff der Hilfe in Verbindung mit einer kritischen Sozialen Arbeit gebracht, rücken Widersprüche in den Fokus. Während die Hilfe geprägt ist von einem asymmetrischen Verhältnis von «Hilfegebenden» und «Hilfenehmenden», stellt eine kritische Soziale Arbeit die Emanzipation ins Zentrum ihres Verständnisses. Dieser Widerspruch findet sich im Kindesund Erwachsenenschutz wider. Dieser hat zum einen die Funktionen der Sicherstellung von Wohl und Schutz von hilfsbedürftigen Personen und ist zum anderen bestimmt durch die Leitidee der Selbstbestimmung. Dieser Widerspruch stellt eine Konstante in der Soziale Arbeit dar und dient als Ausgangslage dieser Arbeit. Ziel: Ziel dieser Arbeit ist es, aufzuzeigen wie der Begriff der Hilfe aus der Perspektive kritischer Sozialer Arbeit verstanden wird und welche Folgerungen sich daraus für das Tätigkeitsfeld des Kindes- und Erwachsenenschutz ergeben. Dazu sind folgende Fragen zu bearbeiten: Was heisst kritische Soziale Arbeit und was heisst Hilfe in der Sozialen Arbeit? Was wird, aufgrund der Erkenntnisse, unter Hilfe verstanden aus der Perspektive kritischer Sozialer Arbeit? Weiter gilt es zu klären, was Kindes- und Erwachsenenschutz in der Schweiz heisst und was heisst Hilfe in diesem Kontext? Welche Folgerungen ergeben sich, aufgrund der Erkenntnisse in Bezug auf die Hilfe im Kontext einer kritischen Soziale Arbeit, für dieses Tätigkeitsfeld? Vorgehen: Bei der vorliegenden Arbeit handelt es sich um eine Literaturarbeit. Das erste Kapitel widmet sich der Frage, was unter kritischer Sozialer Arbeit verstanden wird. Zentrale Merkmale wie Aktualität, Kritik oder normative Begründung werden benannt und erläutert. Im zweiten Kapitel wird der Begriff der Hilfe thematisiert. Verschiedene Stufen der Hilfe werden benennt und in der Folge die Hilfe in der Sozialen Arbeit verortet. Weiter erfolgt eine Differenzierung, was unter Hilfe verstanden wird. Im dritten Kapitel werden handlungsleitende Ansätze zuerst in einer theoretischen Übersicht benannt und in einem zweiten Schritt aus der Perspektive kritischer Sozialer Arbeit erläutert. Im vierten Kapitel erfolgt die Beantwortung des ersten Teils der Frage, nämlich was unter Hilfe aus der Perspektive kritischer Soziale Arbeit verstanden wird. Im fünften Kapitel wird der Frage nachgegangen, was unter Kindes- und Erwachsenenschutz zu verstehen ist. Und zwar was darunter in der Schweiz verstanden wird, und welche Funktionen daraus für die Soziale Arbeit entstehen. Im sechsten Kapitel wird der Begriff der Hilfe im Kindes- und Erwachsenenschutz thematisiert. Im siebten Kapitel erfolgt FHS St.Gallen Soziale Arbeit, Bachelorarbeit HS 15, Claudia Caflisch /4 Hilfe aus der Perspektive kritischer Soziale Arbeit schliesslich die Beantwortung des zweiten Teils der Frage, nämlich welche Folgerungen sich für den Kindes- und Erwachsenenschutz ergeben. Erkenntnisse: Die Soziale Arbeit kommt nicht darum, sich der Frage zu stellen, was ihr normativer Kern ist und welche Aufgaben und Funktionen daraus erwachsen. Stellt sie sich diesen Anforderungen nicht, läuft sie Gefahr, dass ihre Motivationen, Absichten und Ziele verschleiert bleiben und sie Hand bietet, dass dieses Vakuum durch Fremdzuweisungen gefüllt wird. Inhalt, Form und Ziele von Hilfe sind als gesellschaftlich bedingt zu sehen, welche in Diskursen verhandelt und verfestigt werden. Daher ist es weiter notwendig, dass sich die Soziale Arbeit mit ihrem Selbstverständnis auseinandersetzt und sich konfliktbereit in Diskurse einbringt. Eine Soziale Arbeit welche sich im am Moment der Kritik orientiert, geht von einer Gleichberechtigung des Wissens (wissenschaftliches Wissen und Alltagswissen) aus, dass die Fähigkeit zur Reflexionen eine Potenz aller Subjekte ist und dass die generativen Themen der heutigen Zeit die der Herrschaft und Befreiung liegen. Daraus formt sich eine Praxis des Dialoges (Arbeit am Sozialen), welche davon ausgeht, dass als Ausgangspunkt sozialpädagogischen und sozialarbeiterischen Handelns eine Aushandlung stattfindet, in welcher ein gemeinsames Drittes und eine gemeinsam zu verantwortende Grenzüberschreitung formuliert wird. Dies heisst, dass eine kritische Soziale Arbeit eine paradigmatische Haltung einnimmt und sich in partizipativen Kooperations-Modellen wiederfindet, welche auf gemeinschaftlichen (Hilfs-)Prozessen basieren. Von Interesse ist die Sichtbarmachung von gesellschaftlichen Problemlagen und einer Veränderung dieser. Der Begriff der Hilfe als normative Orientierung wird von einer kritischen Sozialen Arbeit in Frage gestellt. Stattdessen benennt sie die soziale Gerechtigkeit. Dies lässt sich in Bezug auf ein Selbstverständnis Sozialer Arbeit, welches Emanzipation ins Zentrum ihrer Bestrebungen stellt und auf Solidarität und Selbstregulierung zielt, schlüssig nachvollziehen. Das Doppelmandat von Hilfe und Kontrolle, welches als charakteristisch für die Soziale Arbeit benannt wird, löst eine so genannte Orientierung, aufgrund der Verankerung im Sozialstaat, nicht auf. Sie ermöglicht jedoch eine reflexive Auseinandersetzung damit, was unter diesem Gegensatz verstanden wird und bietet Ansätze an, wie dieses zu Gunsten einer partizipativen Haltung ausgestaltet werden kann. Weiter lässt sich festhalten, dass die herausgearbeiteten Merkmale, in Bezug auf den Begriff der Hilfe aus der Perspektive einer kritischen Sozialen Arbeit und dem Begriff der Hilfe wie er FHS St.Gallen Soziale Arbeit, Bachelorarbeit HS 15, Claudia Caflisch /5 Hilfe aus der Perspektive kritischer Soziale Arbeit im KES benannt wird, in einem grundsätzlichen Widerspruch stehen. Im KES findet sich eine starke Betonung der Hilfebedürftigkeit, der Begriff des Schwächezustandes erinnert an eine medizinische Diagnose. Die Vermutung liegt nahe, dass sich der Begriff an traditionelldiagnostischen Ansätzen orientiert und so legitimiert, zu wissen was für betroffene Personen wichtig und richtig ist. Aus Sicht einer kritischen Sozialen Arbeit geht es jedoch darum, Hilfe (und Kontrolle) in den Fokus struktureller Bedingungen zu stellen. Es ist unzulässig, Problemsituationen aus einer individualisierenden und korrigierenden Perspektive zu interpretieren. In den Fokus rücken Bedingungszusammenhänge, individuelles Leid und die Einschränkung der individuellen Entwicklungsmöglichkeiten. Es wird deutlich, dass eine kritische Soziale Arbeit auch im Tätigkeitsfeld des KES, die Werte der Solidarität und Selbstregulation als Grundlage ihres Handelns ansieht. Sie verfolgt das Ziel einer sozial gerechten Gesellschaft und problematisiert daher Bedingungen, welche diesen Bestrebungen entgegenwirken. Literaturquellen (Auswahl): Bettinger, Frank. (2012). Bedingungen kritischer Sozialer Arbeit. In Roland Anhorn, Frank Bettinger, Cornelis Horlacher & Kerstin Rathgeb (Hrsg.), Kritik der Sozialen Arbeit – kritische Soziale Arbeit (S.163-190). Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften. Cremer-Schäfer, Helga, Kessl, Fabian, May, Michael & Scherr, Albert. (2014). Über den Sinn der Streitbarkeit in Fragen von Kritik und Reflexivität. Eine virtuelle Diskussion. Widersprüche 34 (132), S.11-48. Stender, Wolfram. (2013). Modelle kritischer Handlungswissenschaft. Silvia Staub-Bernasconi, Timm Kunstreich und Hans Thiersch im Vergleich. In Stender, Wolfram & Kröger, Danny, Soziale Arbeit als kritische Handlungswissenschaft. Beiträge zur (Re-) Politisierung Sozialer Arbeit (S.95-118). Hannover: Blumhardt Verlag Häfeli, Christoph. (2014). Ein Jahr neues Kindes- und Erwachsenenschutzrecht. Eine Zwischenbilanz und Perspektiven. SozialAktuell, 46 (1), S. 10-12. FHS St.Gallen Soziale Arbeit, Bachelorarbeit HS 15, Claudia Caflisch /6 Hilfe aus der Perspektive kritischer Soziale Arbeit Vorwort «Niemand kann über seine Lebensumstände beliebig verfügen, aber wir sind frei, diese Begrenzungen zu erkennen, um – stets Objekt und Subjekt zugleich – die Subjektanteile zu vermehren und zu erweitern.» Erhard Meueler, Die Türen des Käfigs Eine Bachelorarbeit mit dem Thema kritische Soziale Arbeit zu schreiben war keine einfache Entscheidung. Gross waren die Bedenken, mich in dem komplexen Feld zu verlieren. Ebenfalls gross die Sorge, den anspruchsvollen Texten dieser Positionen nicht zu genügen. Weiter spielte die als schwierig vermutete Anschlussfähigkeit der vorzufindenden Literatur an die Praxis Sozialer Arbeit eine bedeutende Rolle. Dennoch entschied ich mich eine Arbeit dazu zu schreiben. Während des Studiums wuchs mein Interesse in Bezug auf Positionen, welche sich auf Kritik bezogen. Vor allem Fragen über Selbstverständnisse Sozialer Arbeit beschäftigten mich stark. Bewusst sein darüber, sehe ich als Grundlage von Professionalität. Fragen darüber sind für mich jedoch auch am Ende des Studiums zu wenig diskutiert und klar. Der Versuch einer Positionierung, eröffnet die Möglichkeiten zur eigenen Reflexion und zur Diskussion, und damit zu einer aktiven Bearbeitung dieser Position. Weiter war der Übergang von Studium zum Tätigwerden in der Praxis ein Motivationsgrund, das Thema kritische Soziale Arbeit zu wählen und zu vertiefen. Ich gehe von der Annahme aus, dass eine Position, welche sich auf Kritik bezieht, in der Sozialen Arbeit der Schweiz eine schwierige ist. Eine Vertiefung soll beitragen, weitere Argumente und Wissen darüber zu erarbeiten. Die Zweifel über die Komplexität des Themas bleiben, jedoch entschied ich mich, dass dies kein Argument ist, es nicht zu wagen. Das Zitat von Meueler soll während der Erarbeitung des Themas als Motivation dienen, mich dem komplexen Thema anzunähern, mich mit Begrenzungen aktiv auseinanderzusetzen und Neues zu wagen. FHS St.Gallen Soziale Arbeit, Bachelorarbeit HS 15, Claudia Caflisch /7 Hilfe aus der Perspektive kritischer Soziale Arbeit Einleitung und Fragestellung Ausgangspunkt dieser Arbeit ist die Unklarheit und das Interesse darüber, was denn Soziale Arbeit als Kern ihrer Tätigkeit sieht. Der Begriff der Hilfe bietet sich an, aufgrund seiner Unschärfe eine Klärung zu versuchen. Der Begriff der Hilfe zählt zweifellos zu den gebräuchlichsten Begriffen innerhalb der Sozialen Arbeit und zählt auf eine lange Tradition (vgl. Gängler, 2011, S.609). Diesem Begriff wird in der Abhandlung ein Selbstverständnis Sozialer Arbeit gegenübergestellt, welches sich auf das Kriterium der Kritik beruft. Dies bedeutet eine Orientierung an einer wissenschaftlichen Tradition, die «das utopische Ziel einer vernünftigen Gesellschaft» hat. Von zentraler Bedeutung ist die Emanzipation der Menschen. In den Fokus rücken Analysen, welche die Diskrepanz zwischen dem Ziel und den realen Zuständen aufzeigen. Für die Soziale Arbeit ist dadurch von Bedeutung, dass sie ihren Zweck in der Mündigkeit des Subjektes sieht. Diese Mündigkeit bezieht sich jedoch nicht alleine auf das Subjekt, sondern auf die Gesellschaft als Ganzes (vgl. Hirtz, 2011, S.24-25). Weiter ist von Interesse, welche Folgerungen diese beiden Themenfelder in Bezug auf Tätigkeitsfelder der Sozialen Arbeit haben. Für diese Abhandlung wurde der Kindes- und Erwachsenenschutz ausgewählt. Es wird davon ausgegangen, dass dieses Tätigkeitsfeld besondere Spannungsfelder für die Soziale Arbeit aufweist. Dies aufgrund des Zwangskontextes, welcher Teile der Arbeit kennzeichnet, jedoch auch in Bezug auf die Aufgaben der Einschätzungen, Abklärungen und Bearbeitung von komplexen Problemsituationen welche die Sozialen Arbeit betrifft. Folgende Fragestellungen leiten die Arbeit: • Was wird unter dem Begriff der Hilfe, aus der Perspektive einer kritischen Sozialen Arbeit, verstanden? • Welche Folgerungen ergeben sich daraus für das Tätigkeitsfeld des Kindes- und Erwachsenenschutzes? Das erste Kapitel widmet sich der Frage, was unter kritischer Sozialer Arbeit verstanden wird. Zentrale Merkmale wie Aktualität, Kritik oder normative Begründung werden benannt und erläutert. Im zweiten Kapitel wird der Begriff der Hilfe thematisiert. Verschiedene Stufen der Hilfe werden benennt und in der Folge die Hilfe in der Sozialen Arbeit verortet. Weiter erfolgt eine Differenzierung, was unter Hilfe verstanden wird. Im dritten Kapitel werden handlungsleitende Ansätze zuerst in einer theoretischen Übersicht benannt und in einem FHS St.Gallen Soziale Arbeit, Bachelorarbeit HS 15, Claudia Caflisch /8 Hilfe aus der Perspektive kritischer Soziale Arbeit zweiten Schritt aus der Perspektive kritischer Sozialer Arbeit erläutert. Im vierten Kapitel erfolgt die Beantwortung des ersten Teils der Frage, nämlich was unter Hilfe aus der Perspektive kritischer Soziale Arbeit verstanden wird. Im fünften Kapitel wird der Frage nachgegangen, was unter Kindes- und Erwachsenenschutz zu verstehen ist. Und zwar was darunter in der Schweiz verstanden wird, und welche Funktionen daraus für die Soziale Arbeit entstehen. Im sechsten Kapitel wird der Begriff der Hilfe im Kindes- und Erwachsenenschutz thematisiert. Im siebten Kapitel erfolgt die Beantwortung des zweiten Teils der Frage, nämlich welche Folgerungen sich für den Kindes- und Erwachsenenschutz ergeben. Bei der vorliegenden Arbeit handelt es sich um eine Literaturarbeit. Es ist zu betonen, dass es sich bei der Arbeit um eine Annäherung an ein Selbstverständnis Sozialer Arbeit handelt, welche sich an dem Kriterium der Kritik orientiert, dies kann jedoch in keinster Weise abschliessend sein, sondern lediglich ein Versuch diese Perspektive zu ergründen. Weiter gilt für das Tätigkeitsfeld des Kindes- und Erwachsenenschutz der Hinweis, dass der Begriff der Hilfe von Interesse ist. Viele weitere ebenfalls relevante Themenbereiche müssen aufgrund der Komplexität ausgeklammert werden. Auf eine Begriffserklärung zu Beginn der Arbeit wird verzichtet, da die Arbeit die Klärung von zwei Hauptbegriffen, nämlich die der kritischen Sozialen Arbeit und der Hilfe als Ziel verfolgt. In der Arbeit wird jeweils die Schriftweise mit einem Gender Gap verwendet (Beispiel: Adressat_in). Dies erscheint der Autorin im Rahmen einer Bachelorarbeit für Soziale Arbeit als angemessen. Weiter wird Soziale Arbeit jeweils für die Sozialpädagogik wie für die Sozialarbeit verwendet. Die Fragestellung liegt beiden Bereichen zugrunde. Wird in Zitaten auf den jeweiligen Bereich oder die jeweilige Tradition verwiesen, wird dies so beibehalten. FHS St.Gallen Soziale Arbeit, Bachelorarbeit HS 15, Claudia Caflisch /9 Hilfe aus der Perspektive kritischer Soziale Arbeit 1 Kritische Soziale Arbeit Dieses Kapitel widmet sich der Erläuterung, was unter kritischer Sozialer Arbeit zu verstehen ist. Folgendes Zitat beschreibt eine erste Position kritischer Sozialer Arbeit: «Wir sind Sozialarbeitende im Raum Zürich (Schweiz), verstehen uns als parteilich für sozial Benachteiligte und setzen uns für eine sozial gerechtere Gesellschaft ein. Damit kritisieren wir eine Soziale Arbeit, die sich zum blossen Spielball einer neoliberalen Politik macht. In diesem Sinne wollen wir uns organisieren und einen Raum öffnen für Diskussion, Austausch und Organisierung, um uns als Sozialarbeitende gegen Sparmassnahmen und Sozialabbau zu wehren» (Forum für kritische Soziale Arbeit Zürich [kriso], 2014). Sie benennen damit eine parteiliche Position, welche sie in Bezug auf Problemlagen von Adressat_innen Sozialer Arbeit, einnehmen. Weiter finden sich erste Angaben zu gesellschaftlichen Entwicklungen und darauf, wie sich die Soziale Arbeit dazu verhält. Die Orientierung an einer sozial gerechteren Gesellschaft zeigt einen weiteren Orientierungspunkt auf. Die Frage stellt sich, wie die Soziale Arbeit auf die angedeuteten gesellschaftlichen Entwicklungen reagiert. Wyss hält fest, dass sich die Soziale Arbeit in einer akuten Krise befindet. Es stellt sich, so seine Folgerung, verstärkt die Frage nach einer kritischen Sozialen Arbeit. Als Reaktion auf diese von Wyss angedeutete Krise, sind in verschiedenen Städten – auch in der Schweiz – Gruppierungen, Bewegungen oder Foren mit dem Ziel gegründet worden, eine kritische Soziale Arbeit zu fördern (vgl. Wyss, 2014). In Deutschland gilt der Arbeitskreis Kritische Soziale Arbeit AKS als bekanntester Zusammenschluss. Daneben gibt es aber auch zahlreiche lokale und themenspezifische Bündnisse, zum Beispiel die Soltauer Initiative oder das Bremer Bündnis Soziale Arbeit (vgl. Cremer-Schäfer, Kessl, May & Scherr, 2014, S.14). In Österreich findet sich zum Beispiel der Verein kriso, welche Soziale Arbeit als vielschichtiges Theorie- und Praxisfeld sieht, sich der Förderung der menschlichen Entwicklung verpflichtet und sich mit individuellen Krisen und sozialen Problemlagen auseinandersetzt (vgl. Hammer, Bakic & Diebäcker, 2012, S.213). Auch in der Schweiz finden sich seit nicht allzu langer Zeit Foren für kritische Soziale Arbeit (z.B. kriso Bern, kriso Zürich oder kriso St.Gallen). FHS St.Gallen Soziale Arbeit, Bachelorarbeit HS 15, Claudia Caflisch / 10 Hilfe aus der Perspektive kritischer Soziale Arbeit Im Folgenden soll der Entstehung und Aktualität kritischer Sozialer Arbeit nachgegangen werden. 1.1 Aktualität der Strömungen kritischer Sozialer Arbeit Welche Angaben finden sich in Bezug auf die Aktualität kritischer Sozialer Arbeit? Kessl hält fest, dass «Kapitalismuskritik» urplötzlich zu einer Modeerscheinung geworden sei und weist auf feuilletonistische und wissenschaftliche Reaktionen hin, welche auf die finanzwirtschaftliche Krise OECD-Staaten seit 2008 Bezug nehmen. Kessl hält weiter fest, dass sich in den letzten Jahren eine wachsende Zahl an Beiträgen in den Debatten um Soziale Arbeit finden, welche explizit der Frage nach einer gesellschafts- und herrschaftskritischen Perspektive nachgehen. Bezugspunkt sieht er in einer «aktivierenden Sozialstaatspolitik», welche zu dieser Zeit zur Etablierung kam (vgl. Cremer-Schäfer, Kessl, May & Scherr, 2014, S.13-14). Demgegenüber hält May fest, dass dieser Trend vorsichtig zu konstatieren ist. Zum Beispiel finde sich in der vierten, völlig überarbeiteten Auflage des «Handbuch Soziale Arbeit», welches für sich beanspruche, den aktuellen Diskussionsstand in Profession und Disziplin1 breit zu bündeln, sowie in Tholes Grundriss Sozialer Arbeit, kein eigenständiger Beitrag zu Kritik oder kritischer Sozialer Arbeit. May betont weiter, dass sich zur Zeit viel auf Bourdieu und Foucault bezogen würde, während andere Traditionslinien der Kritik, welche an eine undogmatische Marxrezeption anknüpfen, aus seiner Sicht eher in Vergessenheit geraten (vgl. Cremer-Schäfer et al., 2014, S.16). Es ist hervorzuheben, dass in Handbüchern Sozialer Arbeit, welche aktuelle Diskussionen in Bezug auf Profession und Disziplin wiedergeben, keine Beiträge unter dem Begriff kritische Soziale Arbeit zu finden sind. Anhorn, Bettinger, Horlacher und Rathgeb (2012) erklären dennoch ein Aufkommen von «Kritik» in der Sozialen Arbeit. Dies aufgrund gesellschaftlicher Veränderungen. Sie benennen eine nationale wie internationale neoliberale Restrukturierung, welche soziale Konfliktverhältnisse verschärft, Ungleichheitsstrukturen vertieft und verfestigt, wie auch 1 Soziale Arbeit wird als eine praxisorientierte Profession und eine wissenschaftliche Disziplin verstanden. Deren Ziel die Förderung des sozialen Wandels, der sozialen Gerechtigkeit oder der Stärkung und Befreiung der Menschen ist. Grundlage bieten Theorien aus Sozialwissenschaften, Geisteswissenschaften oder indigenem Wissen (vgl. Deutscher Berufsverband für Soziale Arbeit e.V. [DBSH], 2014). FHS St.Gallen Soziale Arbeit, Bachelorarbeit HS 15, Claudia Caflisch / 11 Hilfe aus der Perspektive kritischer Soziale Arbeit Ausschliessungsprozesse intensiviert. Nebst diesen Entwicklungen bezeichnen sie historisch einmalige Rationalisierungsschübe innerhalb der Sozialen Arbeit als verantwortlich dafür, dass «Kritik» auf breitere Resonanz stösst. Diese Rationalisierungsschübe zeigen sich in Gestalt einer Managerialisierung 2 , Bürokratisierung und Taylorisierung 3 der Arbeitsabläufe und werden von der Sozialen Arbeit als (mehr oder weniger subtil verdeckte) erweiterte Kontrolle, als fortschreitende Einschränkung der «professionellen Autonomie», als Technokratisierung und insgesamt als deutlich verstärkter Legitimationsdruck wahrgenommen (vgl. S.2-3). Die Aussagen von Anhorn et al. benennen zwei Dimensionen, welche als Ausgangspunkte einer wachsenden Kritik zu sehen sind. Zum einen gesellschaftliche Veränderungen einer neoliberalen Restrukturierung, welche einschneidende Konsequenzen in die Lebensgestaltung der Menschen nimmt. Zum andern benennen sie Veränderungen, welche die Soziale Arbeit in Profession und Disziplin treffen. Diese Veränderungen zeigen ebenfalls einschneidende Konsequenzen. Es gilt zum Beispiel eine professionelle Autonomie zu verteidigen. Ebenfalls ergibt sich daraus eine unbequeme Situation, wenn vermehrt Legitimität gefordert wird. Dies zeigt sich aktuell z.B. entlang von finanziellen Kürzungen. Im weiteren Verlauf der Arbeit soll der Frage nachgegangen werden, inwieweit Soziale Arbeit die genannten Entwicklungen mitproduziert oder eben als kritische Soziale Arbeit zur Emanzipation beitragen kann. Dabei soll im Folgenden auf verschiedene Verständnisse kritischer Sozialer Arbeit eingegangen werden. 1.2 Grundlegende Verständnisse kritischer Sozialer Arbeit Gemäss Wyss (2014) finden sich zwei grundlegende Verständnisse kritischer Sozialer Arbeit. Er benennt dabei einerseits eine kritische Soziale Arbeit als eine kritische Theorie der Sozialen Arbeit (1). Und andererseits eine kritische Soziale Arbeit als eine, welche sich kritisch absetzt von der vorherrschenden Sozialen Arbeit (2). 2 Unter der «Managerialisierung» können Ausformulierungen der so genannten Neuen Steuerungsmodellen (fortgeschrittener Liberalismus) im öffentlichen Sektor verstanden werden. Es wird gefordert, Wissen in eine Sprache von Kosten und Nutzen zu übersetzten (vgl. Otto & Ziegler, 2011, S.901). 3 Der «Taylorismus» stellt ein zu Beginn des 20. Jahrhunderts entwickeltes Modell einer Planung von Arbeitsabläufen dar, welches mit einer wissenschaftlich begründeten Zergliederung, Standardisierung und Neuorganisierung von Arbeitsprozessen auf eine nachhaltige Steigerung von Effizienz und Effektivität der Produktion (und somit der Profitsteigerung) zielt. Zu finden ist dies in der Sozialen Arbeit in der Zergliederung, Standardisierung und Kontrolle des «Produktionsprozesses» von «Hilfe» in der Gestalt von obligatorischen Hilfeplanungen, Dokumentationspflicht, Budgetierung von Geld und Zeit, Qualitätsmanagement, Evaluationserfordernisse usw. (vgl. Anhorn, Bettinger, Horlacher & Rathgeb, 2012, S.2). FHS St.Gallen Soziale Arbeit, Bachelorarbeit HS 15, Claudia Caflisch / 12 Hilfe aus der Perspektive kritischer Soziale Arbeit Kritische Theorie der sozialen Arbeit In diesem Verständnis geht es darum, dass die kritische Theorie die Soziale Arbeit dahingehend kritisiert, welche auf Folgen der gesellschaftlichen Widersprüche nur reagiert, jedoch nicht auf die Widersprüche selber eingehen kann. Die Utopie einer freien Gesellschaft besteht jedoch darin, dass die gesellschaftlichen Widersprüche aufgehoben sind und es als Folge Soziale Arbeit gar nicht mehr bräuchte, die Gesellschaft selber wäre sozial. Die Soziale Arbeit wird also von der kritischen Theorie grundsätzlich in Frage gestellt. Dabei zeigt sie auf, dass die praktische Soziale Arbeit nicht mehr vermag, als die Folgen dieser Widersprüche auf die Menschen im besseren Fall zu lindern, im schlechteren Fall zu verstärken (vgl. Wyss, 2014). Kritische Soziale Arbeit als eine von der vorherrschenden Sozialen Arbeit kritisch sich absetzende Soziale Arbeit Wyss benennt die heute vorherrschende Soziale Arbeit als zunehmend eine, welche sich höchst unsozial gegenüber den Ausgegrenzten der Gesellschaft verhält. Indem eine kritische Soziale Arbeit dem vorherrschenden «unsozialen» der Sozialen Arbeit eine gleichsam «soziale» Soziale Arbeit entgegen zu stellen versucht, setzt sie sich von dieser repressiven Sozialen Arbeit ab. Eine kritische Soziale Arbeit in diesem Verständnis zielt nicht, wie das vorher erwähnte Verständnis auf die Utopie einer gesellschaftlich aufgehobenen Sozialen Arbeit, sondern primär auf eine qualitativ gute Soziale Arbeit (vgl. Wyss, 2014). Ein Dilemma zeigt sich, wenn davon ausgegangen wird, dass jede Soziale Arbeit systemstabilisierend ist und es daher keinen Zweck hat, Verbesserungen anzustreben. Da jede Form der Sozialen Arbeit von den gesellschaftlichen Grundwidersprüchen ablenke und so zur Stabilisierung des Bestehenden beiträgt. Dem entgegnet Wyss, dass gesellschaftliche Widersprüche auch unabhängig davon kritisiert werden können, ob in einem Bereich der Sozialen Arbeit für Reformen gekämpft wird oder nicht. Umgekehrt ist festzuhalten, dass nicht unterschätzt werden darf, dass jeder eingenommene Standpunkt kritischer Sozialer Arbeit ein gesellschaftlich durchdrungener ist und in jedem Moment zu einem festen Moment des allgemein Vorherrschenden werden kann (vgl. Wyss, 2014). Eine grosse Gefahr besteht gemäss Wyss darin, dass diese beiden Verständnisse gegeneinander ausgespielt werden. Es ist jedoch unumgänglich, dass kritische Sozialer Arbeit beide Verständnisse berücksichtigt, beide gleichzeitig betreibt. Mit dem Wissen, dass das eine Verständnis das andere immer auch in Frage stellt. Es gilt, den Zwang eines solchen Widerspruches auszuhalten (vgl. Wyss, 2014). FHS St.Gallen Soziale Arbeit, Bachelorarbeit HS 15, Claudia Caflisch / 13 Hilfe aus der Perspektive kritischer Soziale Arbeit Dieser Benennung der Grundlegenden Verständnisse kritischer Sozialer Arbeit folgen ergänzende Angaben von Anhorn, Bettinger, Horlach & Rathgeb (2012) zu dem Verhältnis von Theorie und Tradition. Sie betonen, dass eine Theorie Sozialer Arbeit zunächst negativ als bedingungslose Kritik der Sozialen Arbeit zu formulieren sei. Dieser Anspruch beinhaltet eine Absage an eine «naive» – wenn auch in der Sozialen Arbeit weit verbreitete – Vorstellung eines bruchlosen Verhältnisses von Theorie und Praxis. Wissenschaftlich-theoretisches Wissen kann keine Anleitung zu sozialtechnischen Anwendungen und handlungsleitendem sozialarbeiterischem Nutzen anbieten. Vielmehr geht es um die Untersuchung sozialer Praxen (vgl. S.9). Steinert (1998) wird folgendermassen in Anhorn et al. (2012) zitiert: «(...) nicht das Hervorbringen von Grundwissen, auf das sich die Praxis in der Anwendung stützen könnte, sondern umgekehrt die Untersuchung der Praxis und die Analyse ihrer Voraussetzungen und Selbstverständlichkeiten (...) Nicht die Wissenschaft wird auf eine soziale Praxis angewendet, sondern die Praxis wird wissenschaftlich untersucht und reflektiert» (S.9). Zum Schluss soll hier die Problematik festgehalten werden, dass die – verständliche – Ungeduld, welche der Wille zum «Praktisch werden» antreibt, die Gefahr mit sich bringt, das Potenzial der Kritik, ihrer Grundsätzlichkeit und ihrer Reichweite aus pragmatischer Haltung heraus nicht auszuschöpfen oder zu beschneiden (vgl. Anhorn et al., 2012, S.9). Die Anforderungen an Professionelle der Sozialen Arbeit sind gross, diesen Widerspruch vor Augen zu halten, zu analysieren und in seiner Konsequenz auch auszuhalten. Daher ist es von besonderer Bedeutung sich immer wieder beide Verständnisse kritischer Sozialer Arbeit vor Augen zu halten. Dies gerade in Zeiten verstärkten Legitimationsdrucks und schwindender (Zeit-) Ressourcen. Im Folgenden soll auf den Begriff der Kritik, der einer kritischen Soziale Arbeit zugrunde liegt, eingegangen werden. 1.3 Kritik Autor_innen, welche sich in ihrer Position auf «Kritik» beziehen, greifen nicht auf eine einzige Traditionslinie zurück. Vielmehr zeichnen sich die Arbeiten aus durch eine Vielfalt an Bezügen. Cremer-Schäfer, Kessl, May & Scherr nennen etwa die Denktradition der Frankfurter Schule (Adorno, Horkheimer), des Neomarxismus, Interaktionismus-Theorien, Etikettierungsansatz und Denker wie Ernst Bloch, Peter Brückner, Pierre Bourdieu, Michel Foucault und weitere. Ausschlaggebend ist für Cremer-Schäfer das Potential, welches eine Denktradition mitbringt, FHS St.Gallen Soziale Arbeit, Bachelorarbeit HS 15, Claudia Caflisch / 14 Hilfe aus der Perspektive kritischer Soziale Arbeit um zur Selbstaufklärung von Wissenschaft beizutragen (vgl. Cremer-Schäfer et al., 2014, S.32-36). Scherr (2012) hält fest: «Die grundlegende Zielsetzung, die gegebenen gesellschaftlichen Verhältnisse kritisch, d.h. als Ursache von Ungleichheit und Ungerechtigkeit, von Einschränkungen individueller Autonomie, Beschädigungen und Verletzungen von Menschenwürde und Menschenrechten und damit als Ursache sozialer Probleme und individuellen Leidens in den Blick zu nehmen, wird in den Sozialwissenschaften von höchst unterschiedlichen Theorien geteilt, die mit uneinheitlichen theoretischen und normativen Grundannahmen operieren» (S.107). Daher sollen im nächsten Abschnitt zunächst verschiedene Formen der Kritik aufgezeigt werden um anschliessend eine Eingrenzung im Hinblick auf die vorliegende Arbeit vorzunehmen. 1.3.1 Formen der Kritik Unterschieden werden kann zwischen einer wissenschaftsinternen Erkenntniskritik, einer Kritik von Alltagswissen, Dogmen, Mythen, Diskursen und Ideologien, einer politischen Kritik und einer Gesellschaftskritik (vgl. Scherr, 2012, S.112-113). Alle vier Formen sind für eine kritische Soziale Arbeit relevant, von besonderer Bedeutung für die vorliegende Arbeit erweist sich die Gesellschaftskritik. In Bezug auf eine Gesellschaftskritik hält Scherr fest, dass der kleinste gemeinsame Nenner darin gesehen werden kann, dass Struktur und Dynamik gesellschaftlicher Ordnung umfassend problematisiert werden. In den Blick geraten Bedingungszusammenhänge vielfältiger sozialer Missstände, individuelles Leiden und Einschränkung individueller Entfaltungsmöglichkeiten (vgl. Scherr, 2012, S.113). Cremer-Schäfer hält fest, dass «soziale Ordnung», gerne als neutraler Begriff verwendet wird, als notwendiger gesellschaftlicher Zustand. Sie weist darauf hin, dass das Wort jedoch auf historisch spezifische Muster einer Herrschaftsordnung verweist und auf die damit durchgesetzten Bedingungen der Zugehörigkeit, Möglichkeiten des sozialen Ausschlusses, auf (mehr oder weniger) legitimierte Formen der sozioökonomischen Ungleichheit oder auf umkämpfte oder als selbstverständlich hingenommene Herrschaftsverhältnisse. Zu diesen gehören benützte oder abgewehrte Herrschaftstechniken, welche Institutionen verwalten und FHS St.Gallen Soziale Arbeit, Bachelorarbeit HS 15, Claudia Caflisch / 15 Hilfe aus der Perspektive kritischer Soziale Arbeit anwenden (Strafe, Kontrolle, disziplinierende Investitionen in die Arbeitskraft). Selten, so hält Cremer-Schäfer weiter fest, drehen sich Fragen zur Befreiung um «alles oder nichts», sondern um unterschiedliche Formen der (begrenzten) Teilnahme an (verbesserter) Herrschaft und um Möglichkeiten der Nicht-Teilhabe (dazu mehr unter Kapitel 1.3.3) (vgl. Cremer-Schäfer et. al., 2012, S.81-82). Diese Vorstellung von Ordnung ist für die weitere Auseinandersetzung von zentraler Bedeutung. Denn die Soziale Arbeit ist in diese Prozesse stets eingebunden und Teil der Entwicklungen. Eine Reflexion der Herrschaftsordnung und der damit einhergehenden Bedingungen ist unabdingbar, wenn sich kritische Soziale Arbeit mit dem Ziel einer mündigen Gesellschaft identifizieren will. Scherr (2012) betont, dass sich die heterogenen Varianten der Gesellschaftskritik nebst der theoretischen Grundlage auch dahingehend unterscheiden, welche normativen Massstäbe sie der Kritik anlegen (vgl. S.113). Dies wird im Kapitel 1.4 Thema sein. 1.3.2 Die Kunst nicht dermassen regiert zu werden. Wenn eine Gesellschaftskritik auf die Kritik der vorherrschenden sozialen Ordnung abzielt und diese, wie oben beschrieben, nicht als neutrale Gegebenheit, sondern als Herrschaftsordnung betrachtet wird, rückt die Frage nach der Erzeugung von Herrschaft in den Mittelpunkt. Im Folgenden soll daher auf Foucaults Analysen moderner Macht- und Herrschaftsformen eingegangen werden. In seinen Analysen wird ein Bezugsrahmen von Kritik verwendet, in dem sich keine Beurteilungskriterien eines «Besseren» oder «Schlechteren» finden; es kann bestenfalls die Rede von einer Veränderung zum «Anderen» sein. Dieses kritische Verschieben der Veränderungsperspektive vom wertenden «Besseren» zum unbestimmten «Anderen» zeigt sich spezifisch im Begriff von «Regierung». Kunstreich (2013) zitiert Foucault (1992) folgendermassen: «Wenn man diese Bewegung der Regierbarmachung der Gesellschaft und der Individuen historisch angemessen einschätzt und einordnet, dann kann man ihr (...) das zur Seite stellen, was ich eine kritische Haltung nenne. Als Gegenstück zu den Regierungskünsten4 (...) ist (...) eine Kulturform entstanden, eine moralische und politische Haltung, eine Denkungsart, welche ich nenne: (...) die Kunst, nicht dermassen regiert zu werden» (S.83-84). Eine solche Entschlüsselung von Kritik als Verhalten, als Haltung, als 4 Foucault setzte sich ausführlich mit der Frage auseinander, «wie man reagiert» (Kinder, Alte, Familien, Staaten, den eigenen Körper usw.). Auf diese Frage habe die Vervielfältigung aller Regierungskünste, sowie die Vervielfältigung aller Regierungseinrichtungen geantwortet (vgl. Kunstreich, 2013, S.83). FHS St.Gallen Soziale Arbeit, Bachelorarbeit HS 15, Claudia Caflisch / 16 Hilfe aus der Perspektive kritischer Soziale Arbeit Praxis ist nicht einfach, so Kunstreich. Er beschreibt, dass sie sich oft in stummen Protesten äussert («psychisch Kranke», Rebellion Jugendlicher usw.), in Verhaltensweisen, welche die Regierungskunst der Sozialen Arbeit zum Beispiel als Auffälligkeiten, Defizite und Störungen beschreibt (vgl. Kunstreich, 2013, S.84). In diesem Verständnis von Kritik sind es gerade auch die Adressat_innen Sozialer Arbeit die durch ihr Verhalten bestehende Herrschaftsformen in Frage stellen. Die Frage stellt sich, in welchem Verhältnis die Professionellen der Sozialen Arbeit zu dieser «praktischen Kritik» stehen. Eine mögliche Antwort bietet Cremer-Schäfer an, wenn sie kritische Praxen als «Distanzierung von Herrschaftsarbeit» beschreibt. 1.3.3 Distanzierung von Herrschaftsarbeit Cremer-Schäfer votiert für eine Trennung von Kritikformen und Formen widerständiger Praktiken welche Menschen im Alltag und der Arbeit in gesellschaftlichen Institutionen entwickeln. Ein solcher Ober-Begriff wirke zwar abstrakt, jedoch bringe er den Vorteil mit sich, Hierarchien zwischen widerständigen Praktiken des Alltags, skandalisierender/politischer Kritik von Protestbewegungen und wissenschaftlicher Kritik zu vermeiden. Wenn nun Akteur_innen der Sozialen Arbeit Vorstellungen entwickeln (aufgrund von Erfahrungen und Wissen), wie sich Soziale Arbeit gegen herrschende Prinzipien und Logiken der Institutionen organisieren lässt – und damit dem, was Menschen als Ressourcen brauchen würden näher kämen – sieht sie dies als Möglichkeit einer kritischen Sozialen Arbeit (vgl. Cremer-Schäfer et al., 2014, S.28). Sie benennt weiter, dass es in gesellschaftlichen Institutionen selten um gänzliche Befreiung und Abschaffung von Herrschaft geht, sondern um verschiedene Formen der begrenzten Mitarbeit (Reformation, Modernisierung, verbesserte Praxis). Es geht bei Betroffenen wie bei Akteur_innen laut Cremer-Schäfer um die Möglichkeit einer erweiterten Nicht-Teilnahme: «um Widerspenstigkeit, Aufsässigkeit, Ausbruchversuche bis hin zur Widerständigkeit, zu Protest und Kritik von Einrichtungen, die erziehen und disziplinieren, helfen und konformieren, strafen und reglementieren usw.» (vgl. Cremer-Schäfer et al., S.28-29). Damit benennt die Autorin eine Position, welche es ermöglicht, unterschiedliche Formen der Kritik zu erkennen, zu benennen und auf ihr Potential hin zu prüfen. Mit der Annahme, dass alle drei Formen (widerständige Praktiken des Alltags, skandalisierende/politische Kritik von Protestbewegungen und wissenschaftliche Kritik) dasselbe Ziel verfolgen, eröffnen sich für FHS St.Gallen Soziale Arbeit, Bachelorarbeit HS 15, Claudia Caflisch / 17 Hilfe aus der Perspektive kritischer Soziale Arbeit Sozialarbeiter_innen und Sozialpädagog_innen Möglichkeiten, ihre Analyse und ihre Tätigkeiten einzuordnen und handlungsfähig zu werden. 1.4 Normative Begründung Wie unter Kapitel 1.3.1 bereits angesprochen, kommt kritische Soziale Arbeit nicht um eine Auseinandersetzung mit normativen Begründungen umher. Wie geht eine kritische Soziale Arbeit, respektive eine kritische Theorie Sozialer Arbeit mit normativen Massstäben um? Kritik, so Cremer-Schäfer, setzt nicht voraus, dass man über unangreifbare und universelle Massstäbe des Guten, Wahren und Schönen verfügt. Die Ausrichtung von Kritik an Emanzipation (negativ bestimmt als Herrschaftskritik), die Gleichsetzung von kritischer mit Befreiungstheorie ist alles, was ihrer Ansicht nach an Grundsätzen nötig ist. Darüber hinaus braucht es keine weiteren Massstäbe, weil es nicht die Aufgabe ist, die «befreite Gesellschaft» inhaltlich zu bestimmen. Deren Aussehen wird sich historisch entwickeln, indem um Befreiung gekämpft und dabei gelernt wird (vgl. Cremer-Schäfer & Resch, 2012, S.99-100). Entlang eines Beispiels soll diese Aussage weiter verdeutlicht werden. Die Soziale Arbeit bezeichnet sich in ihrem Selbstverständnis oft als eine «Menschenrechtsprofession». Die Berufung auf die Menschenrechte bildet wohl den grössten Konsens hinsichtlich einer normativen Orientierung in der Sozialen Arbeit (vgl. Anhorn et al., 2012, S.18). Aus der Perspektive einer kritischen Theorie Sozialer Arbeit wird nun eine so gelagerte, normative Begründung verweigert. Dies heisst jedoch nicht, dass ein nicht-normatives Verständnis vorhanden ist (vgl. Anhorn et al., 2012, S.18). Die Besonderheit liegt in der folgenden Prämisse, welche Anhorn et al. (2012) als Differenz zu Begründungsanstrengungen, welche ein Fundament zentraler und verbindlicher ethischer Prinzipien zu festigen versuchen, benennen: «Die normative Orientierung einer kritischen Sozialen Arbeit kann nicht aus abstrakten Normen wie z.B. den Menschenrechten abgeleitet werden. Vielmehr bedarf es für eine kritische Soziale Arbeit „lediglich“ der eingehenden Darstellung und Analyse der spezifischen, historisch-gesellschaftlichen Wirklichkeit, die innerhalb der konkreten individuellen und kollektiven Erfahrungen der Unterdrückung und Ausbeutung, der Ausschliessung und Degradierung, der Widersprüche, Interessenskonflikte und Machtungleichgewichte die Möglichkeiten der Emanzipation, der Autonomie, der sozialen Gleichheit, der Partizipation sichtbar machen und in die Reichweite politisch-praktischer FHS St.Gallen Soziale Arbeit, Bachelorarbeit HS 15, Claudia Caflisch / 18 Hilfe aus der Perspektive kritischer Soziale Arbeit Realisierung rücken lassen» (S.18). In den Mittelpunkt rückt also der konkrete Mensch in seinen historisch-gesellschaftlich bestimmten Verhältnissen und Erfahrungen. Und nicht der abstrakte Mensch mit seinen universalen, unveräusserlichen Rechten (vgl. Anhorn et al., 2012, S.18-19). Mit dieser Prämisse beziehen die Autor_innen eine Position, welche eine Analyse von weitverbreitet akzeptierten, verfestigten Normen ermöglicht. Sie weisen auf die Problematik hin, dass zwischen «hochherzigen Absichtserklärungen» (wie den Menschenrechten) und der Wirklichkeit (gesellschaftliche Realität) oft Diskrepanzen bestehen (vgl. Anhorn et al., S.19). 1.5 Fazit Es kann festgehalten werden, dass sich kritische Soziale Arbeit auf unterschiedliche Theorietraditionen bezieht. Dies hat zur Folge, dass die Autor_innen unterschiedliche Analysen in Bezug auf Gesellschaft oder auf die Funktion von Kritik beschreiben und es stellt eine besondere Herausforderung dar, sich innerhalb der Diskussionen zurechtzufinden. Hinzu kommt eine vermutete inflationäre Verwendung des Begriffs der Kritik, welche es weiter erschwert, Arbeiten einzuordnen. Was jedoch deutlich herausgearbeitet werden konnte, ist das spezifische Merkmal kritischer Sozialer Arbeit, nämlich den Blick auf Diskrepanzen zwischen dem Ziel einer mündigen Gesellschaft und den real vorzufindenden Zuständen zu richten. Im Sinne einer Gesellschaftskritik rücken gesellschaftliche Bedingungen (Bedingungszusammenhänge vielfältiger sozialer Missstände, individuelles Leiden und Einschränkung individueller Entfaltungsmöglichkeiten) in den Fokus, welche eine kritische Soziale Arbeit analysiert, problematisiert und Veränderungen anstrebt. Somit nimmt eine Kritische Soziale Arbeit eine Position ein, welche sich distanziert von individualisierenden Theorien und Konzepten 5 , von Interesse sind vielmehr gesellschaftliche Verhältnisse und Dynamiken. Dass es in den Analysen und sozialen Praxen nicht darum geht, ein wertendes «Besseres» zu benennen, sondern ein unbestimmtes «Anderes», zeigt eine weitere Charakteristik kritischer Sozialer Arbeit auf. Gerade mit der Annahme, dass die Orientierung von Kritik an Emanzipation als Grundsatz genüge, bringt sich kritische Soziale Arbeit in eine Position, in welcher sie scharf kritisiert wird. Jedoch zeigt sich auch hier die Diskrepanz zwischen 5 Zu dieser Annahme folgend in Kapitel 2.1.2 weitere Erläuterungen. FHS St.Gallen Soziale Arbeit, Bachelorarbeit HS 15, Claudia Caflisch / 19 Hilfe aus der Perspektive kritischer Soziale Arbeit normativen Massstäben und der vorgefundenen Wirklichkeit als das Merkmal, worauf sich kritische Soziale Arbeit fokussiert. Weiter ist das Theorie-Praxisverhältnis im Kontext kritischer Sozialer Arbeit von einem schwer auszuhaltenden Widerspruch geprägt. Die Annahme, dass aus Theorie keine Anleitungen zu sozialtechnischem, sozialarbeiterischem Handeln erfolgen kann, bedeutet ein sich Einlassen auf Prozesse, um sich in einer Haltung wiederzufinden, welche dazu ermutigt, gesellschaftliche Entwicklungen zu prüfen und zu problematisieren. Dies bedeutet ein Innehalten, und zwar in einer Zeit in welcher wenige Ressourcen dazu vorhanden sind. Den Fokus zu wechseln und soziale Praxen als Ausgangspunkt der Analysen zu nehmen, bedeutet für Sozialarbeiter_innen und Sozialpädagog_innen eine aktive Auseinandersetzung mit der eigenen Tätigkeit und nicht rein eine Anwendung vorgeschlagener Handlungsoptionen. Das dies zu einer Überforderung und Frustration führen kann, ist verständlich. Und es kann, wie von Kunstreich angesprochen, dazu führen, dass sich Kritik zu einer wissenschaftlichen Position entwickelt und eine praktische Kritik verloren geht. Das Angebot von Cremer-Schäfer, Kritik als «Distanzierung von Herrschaftsarbeit» zu betrachten, kann dem entgegen wirken. Die Benennung der Kritik als widerständige Praktiken des Alltags, als skandalisierende/politische Kritik von Protestbewegungen und als wissenschaftliche Kritik benennt unterschiedliche Formen und Qualitäten von Kritik. Werden diese drei Formen in Konkurrenz zueinander gesehen, berauben sie sich ihrem innewohnenden Potential. Mit der Einladung, alle drei Formen in der Funktion, nämlich in der «Distanzierung von Herrschaftsarbeit» zu sehen, erzeugt eine Idee einer Handhabung des Widerspruches. Eine Form der «Distanzierung von Herrschaftsarbeit» zeigt sich in der Auseinandersetzung mit einer Nicht-Teilnahme als einer Form des Widerstands. Damit ist ein Fokus gesetzt, welcher wenig diskutiert wird in aktuellen Diskursen Sozialer Arbeit. Die Frage stellt sich: Was wäre, wenn die Soziale Arbeit nicht mitmacht in dem Moment, wo sie feststellt, dass die Tätigkeiten nicht auf die Emanzipation der Menschen ausgerichtet sind6? Prozesse und soziale Praxen in der Sozialen Arbeit aufgrund dieser erweiterten Perspektive zu analysieren und die Wirkung einer Nicht-Teilnahme zu prüfen, könnte eine grosse Chance bilden. 6 Wenn sie denn Emanzipation als Ziel ihr Tätigkeiten hat. Dies ist nicht grundsätzlich anzunehmen, sondern zeichnet sich als ein Merkmal kritischer Sozialer Arbeit aus. FHS St.Gallen Soziale Arbeit, Bachelorarbeit HS 15, Claudia Caflisch / 20 Hilfe aus der Perspektive kritischer Soziale Arbeit 2 Hilfe in der Sozialen Arbeit Gegenseitige Hilfe, wie auch materielle Unterstützung, Begleitung oder Betreuung waren stets feste Bestandteile aller Gesellschaften und Kulturkreise und sind so alt wie die Geschichte der Menschheit. Daraus lässt sich schliessen, dass Soziale Arbeit als ein universelles Phänomen betrachtet werden kann, welches es seit jeher gegeben hat. Nicht unter dieser Bezeichnung, jedoch mit demselben Inhalt («Hilfe») und derselben Form («persönliche Beziehung») (vgl. Anhorn, 2012, S. 265). Der Begriff der Hilfe ist in der Sozialen Arbeit weit verbreitet und findet sich in verschiedenen Formen, Wortkombinationen oder Beschreibungen wieder, wenn es um die Tätigkeiten Sozialer Arbeit geht. Thole (2011) benennt Hilfe denn auch als Kernaufgabe der Sozialen Arbeit. Er hält fest: «Soziale Arbeit ist – vereinfacht formuliert – ein gesellschaftlich vorgehaltenes Angebot an Hilfe, Unterstützung, Begleitung und Betreuung vornehmlich für diejenigen Gesellschaftsmitglieder, denen autonom die Ressourcen für ein «gelungenes» und «zufriedenstellendes» Leben nicht hinreichend zur Verfügung stehen oder denen diese Ressourcen vorenthalten wurden (...)» (S.563). Allerdings fehlt eine systematische Analyse des Begriffes, welche ihn zu einem theoretischen Grundbegriff der Sozialen Arbeit ausbauen würde. Den Grund sieht der Autor darin, dass sich der Begriff schwer abgrenzen lässt. Die Frage stellt sich zum einen, was ist sozialarbeiterische oder sozialpädagogische Hilfe und was nicht. Und zum anderen, was ist professionelle und was ist ehrenamtliche Hilfe (vgl. Thole, 2011, S.609). Ein zentraler Aspekt im Zusammenhang mit Hilfe in der Sozialen Arbeit ist das Spannungsfeld von Hilfe und Kontrolle. Laut Böllert (2011) geht es darum zu klären, wer oder was durch die Soziale Arbeit kontrolliert wird, respektive, wem Soziale Arbeit als Hilfe hilft (vgl. S. 436). 2.1 Verortung des Begriffs der Hilfe Das Wort Hilfe wird als ein altruistisches (selbstloses oder uneigennütziges) Verhalten verstanden. Der Begriff geht etymologisch auf das Verb «helfen» zurück, das im semantischen Umfeld von «stützen, unterstützen, fördern, beschirmen» anzusiedeln ist, so wird Kluge (2002) in Gängler (2011) zitiert (vgl. S.609). Hilfe als Begriff ist alltagssprachlich stark präsent. FHS St.Gallen Soziale Arbeit, Bachelorarbeit HS 15, Claudia Caflisch / 21 Hilfe aus der Perspektive kritischer Soziale Arbeit 2.1.1 Formen von Hilfe Die Hilfe wandelte sich aufgrund von Strukturen und wechselseitigen Erwartungen. Von einer reziproken persönlichen Hilfe mit dem Grundsatz «do ut des 7 », über eine moralisch generalisierte Hilfe mit dem Grundsatz der religiösen Verpflichtung, hin zur Hilfe in modernen Gesellschaften, namentlich zu gesetzlich definierten Hilfen, mit dem Grundsatz der sozialstaatlichen Garantie (vgl. Mühlum, Bartholomeyczik & Göpel, 1997, S.27-28). Nebst diesen Wandlungen, welche sich aufgrund sozialstruktureller Veränderungen – wie räumliche Ausdehnung, Grösse, Unübersichtlichkeit oder Gefährdung des jeweiligen Soziallebens – vollzogen, sind zwei weitere Kategorien in Bezug auf die Entwicklung des Helfens zu berücksichtigen. Nämlich die der Motivation (Bereitschaft, sich den in Not Geratenen zuzuwenden) und die der Ressourcen (verfügbaren Mittel). Diese Formen der Hilfe, wie auch die Kategorien der Motivation und der Ressourcen sind nicht als objektive Tatbestände alleine anzusehen. Denn «Hilfebedürftigkeit», wie auch «Hilfe» sind immer auch subjektiv bestimmt (vgl. Mühlum et al., 1997, S.30). Jede Gesellschaft entwickelt zudem einen eigenen Umgang mit «Hilfebedürftigkeit» (verstanden als Unvermögen, den Massstäben der Gesellschaft zu entsprechen). Historisch begann dies mit der Austilgung (Liquidation, Deportation) der Betroffenen. Diese wurde abgelöst von der Zuweisung in Sonderpositionen (Kerker, Ächtung, Hospital), welche schliesslich in einer Dynamisierung der Sonderpositionen mündete (Formen wie Bussen oder Bewährung, (Re)Sozialisierung und Therapie). Diese Entwicklung ist jedoch nicht kontinuierlich oder linear. Auch in der jüngeren Geschichte finden sich Beispiele, in welchen Betroffene mit «Aussonderung, Sterilisation oder Liquidation» rechnen mussten. Es finden sich bis heute widersprüchliche Reaktionen darauf, wie mit dem «Unvollkommenen» umgegangen werden soll (vgl. Mühlum et al., 1997, S.30-31). Folgende Abbildung zeigt unterschiedliche Orte fürsorglichen Handelns und der damit in Zusammenhang gebrachten Motivation und Form des Helfens. Dies ist von Interesse, um die Soziale Arbeit in diesen höchst unterschiedlichen Hilfeverständnissen zu verorten. 7 «Do ut des»; lateinisch = ich gebe, damit du gibst; steht im Ausdruck dafür, dass mit einer Gegengabe oder einem Gegendienst gerechnet wird (vgl. Duden, 2015). FHS St.Gallen Soziale Arbeit, Bachelorarbeit HS 15, Claudia Caflisch / 22 Hilfe aus der Perspektive kritischer Soziale Arbeit Abbildung 1: Stufen der Entwicklung fürsorglichen Handelns (Quelle: Mühlum et al., 1997, S.31) Wird die Soziale Arbeit nun in der oben aufgeführten Abbildung verortet, lässt sich festhalten, dass der Staat den «Ort des fürsorglichen Handelns» bildet. Motivation und Form des Helfens sind sozialstaatlich und es gilt der Grundsatz der sozialstaatlichen Garantie. Charakteristisch ist weiter die Herausbildung von spezialisierten Sicherungssystemen. 2.1.2 Hilfe in der Sozialen Arbeit Anhorn (2012) hält fest, dass Soziale Arbeit – und mit ihr ihre Formen der Hilfe – stets als ein Produkt von gesellschaftlichen Entwicklungen zu verstehen ist, deren Geschichte mit einer bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaftsordnung verbunden ist, welche sich in Westeuropa und Nordamerika seit Mitte des 19. Jahrhunderts durchsetzte. Aus der sich durchsetzenden liberal-kapitalistischen Marktgesellschaft bildete sich ein personenbezogenes soziales Hilfesystems heraus mit privaten und öffentlichen Institutionen und Initiativen, rechtlichpolitischen Regelungen, bürokratischen Verfahrensweisen, wissenschaftlichen Diskursen und professionellen Praxen (vgl. S.225). Die Soziale Arbeit – als institutionalisierte Reaktion auf die Konflikte und Widersprüche dieser kapitalistischen Gesellschaftsform – stellte von Anfang an das Moment der individuellen, persönlichen und erzieherischen Hilfe in den Mittelpunkt ihres Selbstverständnisses. Eine Konzentration auf Einzelne und Familien bedingte spezifische individualisierende und pädagogisierende Formen und Methoden zur Bearbeitung und Bewältigung der Konflikte (vgl. Anhorn, 2012, S.225-226). Diese Form der Hilfe, eine individualisierende und pädagogisierende «Abhilfe sozialer Mängellagen» konnte sich, so der Autor weiter, nur im Rahmen des sozialstaatlichen Arrangements so erfolgreich etablieren. Als Teil dieses Ensembles von sozialstaatlichen Institutionen machte sich die Soziale Arbeit gesellschaftliche Regulierung – in Form von Hilfe FHS St.Gallen Soziale Arbeit, Bachelorarbeit HS 15, Claudia Caflisch / 23 Hilfe aus der Perspektive kritischer Soziale Arbeit und Unterstützung und gleichzeitig Kontrolle und Disziplinierung – spezifischer gesellschaftlicher Gruppen, welche die sozialstaatliche Sicherung nicht erreichte, zur Aufgabe. Diese Gruppen – die «Verwahrlosten», die «Irren», die «Kriminellen» – wurden und werden zum Gegenstand einer besonderen «Befürsorgung». Eine hegemoniale Tradition einer individualisierenden und pädagogisierenden Sozialen Arbeit entstand, welche soziale Konflikte und Widersprüche in individuelle und familiäre Probleme transformierte und weiterhin transformiert. Diese «gängige» Form der Sozialen Arbeit erfordert zur Bearbeitung der Problematik Kompetenzen der Beziehungsgestaltung, Initiierung von Verhaltens- und Bewusstseinsveränderungen, Erziehung, Ressourcenerschliessung usw. (vgl. Anhorn, 2012, S.226). 2.2 Inhalt, Modus und Ziel von Hilfe in der Sozialen Arbeit Wie eingangs erwähnt, fehlt eine systematische Analyse des Begriffs der Hilfe, welche ihn zu einem theoretischen Grundbegriff Sozialer Arbeit machen würde. In einer Analyse von älteren Theorien des Helfens8 im Kontext der Sozialen Arbeit hält Gängler (2011) jedoch fest, dass sich folgende drei relevanten Fragen in Bezug auf den Hilfebegriff festhalten lassen: 1) Wodurch wird geholfen? 2) Wie wird geholfen? 3) Unter welchen Bedingungen und mit welchen Absichten wird geholfen? (vgl. S.613-614) 1) Inhalte (Wodurch wird geholfen?) Hier lässt sich materielle und psychosoziale Hilfe unterschieden. Beide Formen sind Gegenstand der Sozialen Arbeit. Materielle Hilfen sind meist unmittelbar auf den Ver- oder Gebrauch von Gegenständen und Lebensmitteln ausgerichtet oder haben eine die Güterproduktion ergänzende Funktion. Personenbezogene Hilfen beziehen sich auf die Person und kommen ohne das Zutun der bedürftigen Person nicht zu Stande. Diese Form der Hilfe macht heute den grössten Teil aus. Es geht um Beratungs-, Bildungs- und Erziehungsaufgaben mit dem Ziel der Veränderung der betroffenen Personen und ihren Handlungsstrategien (vgl. Gängler, 2011, S.613-614). 8 Gängler untersuchte Konzepte von Nohl, Salomon und Scherpner auf den Hilfebegriff hin (vgl. 2011, S.612-613) FHS St.Gallen Soziale Arbeit, Bachelorarbeit HS 15, Claudia Caflisch / 24 Hilfe aus der Perspektive kritischer Soziale Arbeit 2) Modus (Wie wird geholfen?) Ein zentraler Modus des Helfens ist der persönliche Bezug zwischen Helfenden und Hilfsbedürftigen und die Form der Organisationen welche beteiligt sind in modernen Hilfssystemen (vgl. Gängler, 2011, S.613). Das sozialpädagogische und sozialarbeiterische Handeln zeichnet sich seit den Anfängen des 19. Jahrhunderts durch eine zunehmende Strukturierung und Rationalisierung aus. Waren die Anfänge geprägt von einer Betonung des persönlichen Bezugs, der Intensität der helfenden Beziehung, entwickelte sich das Handeln aufgrund der Professionalisierung Sozialer Arbeit hin zu handhabbaren Techniken. Die zunehmende Verberuflichung des sozialpädagogischen und sozialarbeiterischen Handelns brachte und bringt ambivalente Konsequenzen für die helfende Beziehung mit sich. Es kommt zu einem Spannungsfeld von Entpersönlichung, Anonymisierung, Herrschaft durch Experten versus Anstrengungen zur Verbesserung des methodischen Instrumentariums der Hilfeleistungen (vgl. Gängler, 2011, S.614-615). 3) Ziel von Hilfe (Unter welchen Bedingungen und mit welchen Absichten wird geholfen?) Hierzu gehört das Ethos des Helfens (Orientierung am Ideal eines humanen Umgangs zwischen Menschen). Hilfe erfolgt immer kultur- und gesellschaftsabhängig. Ein zentrales Thema ist das Verhältnis von Hilfe und Herrschaft/Kontrolle (vgl. Gängler, 2011, S.613-614). Das Stichwort des «Doppelten Mandates» verdeutlicht die Paradoxie der sozialen Tätigkeiten. Auf der einen Seite steht die Soziale Arbeit in der Verpflichtung gegenüber ihren Auftraggebern, auf der anderen Seite in der Verpflichtung gegenüber den hilfsbedürftigen Personen als Anwältin und Interessensvertretung. Eine grundlegende Thematik ist die Anerkennung der strukturellen Asymmetrie innerhalb helfender Beziehungen und die Frage, wie diese Asymmetrie gegebenenfalls aufgelöst werden kann (vgl. Gängler, 2011, S.615). Die Unterteilung in Inhalt, Modus und Ziel ermöglicht eine Differenzierung des Begriffs der Hilfe. Es geht zum einen um Güter, welche Adressat_innen Sozialer Arbeit direkt erhalten (z.B. Sozialhilfe) und um welche zum Teil höchst kontroverse Diskussionen geführt werden. Wie viel Hilfe (in Form von Geld) ist angebracht? Wie und was muss eine Person dazu beitragen (zugewiesene und zumutbare Arbeit)? Weiter lässt sich festhalten, dass der grösste Teil der Hilfe nur durch das Zutun der Adressat_innen Sozialer Arbeit zustande kommt. Im Hinblick darauf stellen sich folgende Fragen: Wie gestaltet sich die Form der Beziehung? Handelt es sich um eine helfende oder um eine kooperative Beziehung? Wie zeigt sich das Spannungsfeld von Entpersönlichung, Anonymisierung und Herrschaft durch Experten? FHS St.Gallen Soziale Arbeit, Bachelorarbeit HS 15, Claudia Caflisch / 25 Hilfe aus der Perspektive kritischer Soziale Arbeit Verschiedene Fragen geraten in den Blick, die aus der Sicht einer kritischen Sozialen Arbeit zu beleuchten sein werden. Im nächsten Schritt soll zuerst auf die aktuelle Bedeutung von Hilfe in der Sozialen Arbeit eingegangen werden. 2.3 Aktuelle Bedeutung von Hilfe in der Sozialen Arbeit B. Müller (2012) sieht den Begriff der Hilfe in institutionalisierten Formen Sozialer Arbeit verankert 9 , erachtet ihn jedoch kaum mehr als geeigneten Leitbegriff für das, was Sozialarbeiter_innen und Sozialpädagog_innen tun (vgl. S.7). Im Fachdiskurs kommt er aktuell zum einen in Verbindung mit Eigenverantwortung und Autonomie der Adressat_innen vor (1), und zum anderen in der Rede vom Doppelmandat (2) (vgl. B. Müller, 2012, S.11). 1) Hilfe in Verbindung mit Eigenverantwortung und Autonomie der Adressat_innen Diese Verbindung findet sich z.B. in der Maxime der «Hilfe zur Selbsthilfe» wieder. Es lässt sich ein normativer Anspruch erkennen, Entmündigung durch Hilfe vorzubeugen. Dem Begriff «Hilfe zur Selbsthilfe» liegt zugrunde, dass die Autonomie der Lebenspraxis von Adressat_innen der Sozialen Arbeit zu achten ist. Vage bleibt hierbei, wie der Graben zwischen einem von aussen betrachteten, evidenten Bedarf an Hilfe und der Akzeptanz solcher Hilfe überwunden werden kann (vgl. B. Müller, 2012, S.11). 2) Hilfe im Doppelmandat von Hilfe und Kontrolle Andererseits, so der Autor, wird Hilfe in der Rede vom Doppelmandat (Hilfe und Kontrolle) eingeschränkt. Wird das Doppelmandat als sinnvoll zu gestaltender Auftrag verstanden – und nicht lediglich als widersprüchliche Rollenzuweisung – so kann darin der normative Kern gesehen werden, Grenzen 10 nicht zu vernebeln, sondern den sozial-moralischen Konflikt zwischen Kontrolle und Hilfe auszutragen und zu vermitteln. Wie aber diese doppelte Vermittlerfunktion zu bewältigen wäre, bleibt vage und unbestimmt (vgl. B. Müller, 2012, S.12). Mit diesen beiden charakteristischen Verbindungen sind höchst aktuelle Themen der Sozialen Arbeit benannt. 2.4 Fazit Die starke alltagssprachliche Präsenz des Begriffs Hilfe und das Fehlen einer systematischen Analyse, welche ihn zu einem theoretischen Grundbegriff der Sozialen Arbeit ausbauen 9 «Sozialhilfe», «Hilfe zum Lebensunterhalt», «humanitäre Hilfe» und weitere (vgl. B. Müller, 2012, S.7). 10Hilfewünsche im Konflikt mit Rechten und Ansprüchen anderer, Zwänge der Lebensverhältnisse (vgl. B. Müller, 2012, S.12). FHS St.Gallen Soziale Arbeit, Bachelorarbeit HS 15, Claudia Caflisch / 26 Hilfe aus der Perspektive kritischer Soziale Arbeit würde, erschwert es den Begriff zu fassen und zu konkretisieren. Obwohl der Begriff der Hilfe den (vagen und unbestimmten) normativen Kern der Sozialen Arbeit darstellt («die guten Absichten des Helfen Wollens») ist Hilfe kein Spezifikum Sozialer Arbeit und es stellt sich als problematisch dar, wenn der Begriff der Hilfe nicht analysiert und reflektiert, sondern als normativer Kern in seiner Vag- und Unbestimmtheit übernommen wird. Die Soziale Arbeit kommt nicht darum, sich der Frage zu stellen, was ihr normativer Kern ist und welche Aufgaben und Funktionen daraus erwachsen. Stellt sie sich diesen Anforderungen nicht, läuft sie Gefahr, dass ihre Motivationen, Absichten und Ziele verschleiert bleiben und sie Hand bietet, Interessen von Akteuren umzusetzen, welche nicht mit sozialpädagogischen oder sozialarbeiterischen Grundsätzen vereinbar sind. Wenn unklar bleibt, was den Gegenstand Sozialer Arbeit darstellt, kann dies zur Folge haben, dass in unzulässigen Verkürzungen – vor allem in politischen Diskursen – Fremdzuweisungen erfolgen. Etwa die verkürzte Sicht, dass es Soziale Arbeit im Wesentlichen mit der Bearbeitung sozialer Probleme zu tun habe und die sich daraus ergebenden Funktionen und Aufgaben unter anderem Hilfe und Kontrolle seien. (vgl. Bettinger, 2012, S.165-166). Charakteristisch für den Begriff der Hilfe in der Sozialen Arbeit (als Akteur_in im sozialstaatlichen Arrangement) ist weiter, dass er von einem Unvermögen von Einzelnen oder Gruppen ausgeht, nicht den Massstäben der Gesellschaft zu entsprechen. Damit haftet dem Begriff eine zutiefst verankerte Asymmetrie zwischen «Hilfegebenden» und «Hilfeempfangenden» an. Diese Annahme eröffnet für die Soziale Arbeit Chancen, sich grundsätzlich mit ihrem Selbstverständnis auseinanderzusetzen. Welche Vorstellungen prägen das Verhältnis Individuum und Gesellschaft? Wie soll mit dieser Asymmetrie umgegangen werden? Welche Funktionen übernimmt die Soziale Arbeit aufgrund welcher Annahmen von Vermögen oder Unvermögen von Individuen oder Gesellschaft? In wieweit sind diese reflektiert und problematisiert oder als gegeben übernommen? Die Beantwortung der Fragen fällt, aus Sicht von Bettinger deutlich aus. Soziale Arbeit funktioniert aktuell vor allem in einer traditionellen Form einer individualisierenden und pädagogisierenden «Abhilfe sozialer Mängellage», in welcher sie sich hegemonialen Vorstellungen von Ordnung (siehe Kapitel 1.3.1), Funktionszuweisungen (wie oben erwähnt vor allem politischen) und objektivistischen, entpolitisierten, quasi naturwissenschaftlichen Wissensbeständen von Bezugsdisziplinen unterwirft (vgl. Bettinger, 2012, S.169). FHS St.Gallen Soziale Arbeit, Bachelorarbeit HS 15, Claudia Caflisch / 27 Hilfe aus der Perspektive kritischer Soziale Arbeit Eine kritische Soziale Arbeit wird sich mit Selbstverständnis Sozialer Arbeit und mit den Funktionszuweisungen die sie erhält, auseinandersetzen müssen. Im folgenden Kapitel wird daher auf die handlungsleitenden Ansätze in der Sozialen Arbeit eingegangen. FHS St.Gallen Soziale Arbeit, Bachelorarbeit HS 15, Claudia Caflisch / 28 Hilfe aus der Perspektive kritischer Soziale Arbeit 3 Handlungsleitende Ansätze Soziale Arbeit kommt in der Bewältigung ihrer Aufgaben in die Notwendigkeit zu Handeln. Dieses gilt es zu begründen. 3.1 Theoretische Grundlagen professionellen Handelns Wie lässt sich professionelles Handeln in der Sozialen Arbeit differenzieren und begründen? Stimmer (2000) hält fest, dass die Grundlage Sozialer Arbeit und damit Basis jeden Handelns in der Sozialen Arbeit in der Anthropologie, Sozialphilosophie und Ethik zu sehen sind (siehe Abbildung unten). Weiter ergeben sich je nach Tradition oder «Schule», wie er es nennt, unterschiedliche Konsequenzen (vgl. S.28). Abbildung 2: Kriterienraster zur Beurteilung von Methoden und Handlungsleitenden Konzepten (Quelle: Stimmer, 2000, S.28) Unter dem Kriterium Theorie («Warum handle ich so und nicht anders?») werden psychologische, soziologische, pädagogische und methodenimmanente Theoriebezüge verstanden, welche herangezogen werden, um Konzepte sowie einzelne Schritte zu begründen. Unter dem Kriterium Axiologie («Wozu dient mein Handeln?», «Wohin soll mein Handeln führen?») werden Fragen nach den Zielen bearbeitet. Fragen zum Menschenbild oder der Ethik sind hier von Interesse. Unter dem Kriterium Wissenschaftstheorie («Woher kommt mein Wissen?») geht es um die Frage, auf welchen Wegen Erkenntnisse gewonnen werden. Unter dem Kriterium Forschungsmethoden («Was bewirkt mein Handeln?») geht es FHS St.Gallen Soziale Arbeit, Bachelorarbeit HS 15, Claudia Caflisch / 29 Hilfe aus der Perspektive kritischer Soziale Arbeit um Fragen zu der Überprüfung von Folgen und Nebenwirkungen praktischen Handelns (vgl. Stimmer, 2000, S.27-28). Als letztes wird das Kriterium der Praxeologie («Wie kann ich handeln»?) genannt. Hier stellt sich die Frage, wie unterschiedliche Praxiskonzepte in methodisches Handeln umgesetzt werden und wie gemachte Erfahrungen in die Konzepte zurückfliessen. Ebenfalls werden Umweltfaktoren professionellen Handelns, etwa Politik, Ökonomie und Recht, berücksichtigt (vgl. Stimmer, 2000, S.27). Professionelles Handeln wird so reflektiert, begründet und überprüfbar. Die theoretischen Konzepte bilden zusammen mit Praxiserfahrungen die Basis für Handlungsleitende Konzepte. Darunter versteht Stimmer einen Entwurf, einen Plan, ein Modell in welchem einzelne Inhalte in einen sinnhaften Zusammenhang gestellt werden. Als Arbeitsprinzipien benennt er zu begründende Handlungsnormen, Grundsätze des Handelns, die zur Lösung von Problemen beitragen. In ihnen sind, so Stimmer weiter, wesentliche Ziele spezifischen Handelns verdeutlicht und sie leiten sich aus sozialphilosophischen und ethischen Überlegungen ab. Weiter sind die Arbeitsformen zu nennen. Darunter sind unterschiedliche Sozialformen zu verstehen, mit jeweils eigenen Voraussetzungen, in denen handlungsleitende Konzepte umgesetzt werden (Interaktionsmodi, Handlungsarten). Spezifische Methoden wiederum beinhalten mehr oder weniger differenziert geregelte Verfahren(sweisen) und Techniken (vgl. Stimmer, 2000, S.23-25). Es gilt, diese Kriterien mitzudenken, wenn kompetent und professionell gearbeitet werden will. Folgendes Beispiel verdeutlicht dies. Wenn als Arbeitsprinzip «Hilfe zur Selbsthilfe» gelten soll, ist im Rahmen eines passenden Handlungsleitenden Konzeptes die Arbeitsform begründet zu wählen (z.B. Gruppenarbeit, um den Austausch unter den Betroffenen zu fördern). Erst im Rahmen einer solchen Verordnung wird professionelles Handeln den geforderten Ansprüchen gerecht (vgl. Stimmer, 2000, S.26). Nach diesen Grundlagen wird im folgenden Kapitel professionelles Handeln im Kontext kritischer Sozialer Arbeit thematisiert. 3.2 Die Arbeit am Sozialen Welche Angaben finden sich in Bezug auf Methoden, Vorgehen oder Techniken kritischer Sozialer Arbeit? Es lässt sich festhalten, dass es auch hier keine homogene Vorstellung gibt. Vielmehr ist eine kritische Soziale Arbeit seit ihren Anfängen geprägt von einem Misstrauen FHS St.Gallen Soziale Arbeit, Bachelorarbeit HS 15, Claudia Caflisch / 30 Hilfe aus der Perspektive kritischer Soziale Arbeit gegenüber starren Techniken oder Vorgaben, von wissenschaftlich ambitionierten Systematisierungs- und Rationalisierungsanstrengungen von «Hilfeplanungen». Eher kann von einem Prozess eines kreativen Lernens gesprochen werden (vgl. Anhorn, 2012, S.250). In den Arbeiten von Kunstreich wird der Anspruch, Soziale Arbeit als eine «kritische Handlungswissenschaft» zu begründen, deutlich formuliert. Das Prinzip der Gesellschaftskritik ist Voraussetzung für ein kritisches Verständnis Sozialer Arbeit. Kunstreich bezieht sich darin auf Foucault («die Kunst, nicht dermassen regiert zu werden», Kapitel 1.3.2). Mit Blick auf den gesellschaftlichen Funktionszusammenhang gehört die institutionalisierte Soziale Arbeit in das Zusammenspiel der Regierungskünste, die vorherrschende Machtverhältnisse verfestigen. Die Frage stellt sich, wenn Kritik die Kunst ist, nicht dermassen regiert zu werden, können Professionelle der Sozialen Arbeit gegen die Regierungskünste aufbegehren, welche sie selber repräsentieren, und wenn ja, wie? Kunstreich verweist auf die historische Tatsache, dass sich Soziale Arbeit immer wieder mit Betroffenen solidarisierte, welche darum kämpften, nicht dermassen (ungerecht) regiert zu werden. Seine Anstrengung gilt dem Nachweis, dass es neben und im Widerspruch zu herrschaftskonformen, hegemonialen Grundstrukturen Sozialer Arbeit (Disziplinierung, Normalisierung und Kontrolle) bereits früh andere Traditionen Sozialer Arbeit gab. Diese waren und sind geprägt von einem demokratischen und partizipativen Selbstverständnis, welches auf Solidarisierung und Selbstregulierung setzt. Kunstreich nennt diese Form die Arbeit am Sozialen (vgl. Stender, 2013, S.103-104). Als Arbeit am Sozialen wird eine Wirklichkeitsebene angesprochen, welche «weder aus psychischen Prozessen noch gesellschaftlichen Strukturen» ableitbar ist. Vielmehr geht es um ein aktuelles Beziehungsgeflecht, wie es sich aus der Perspektive der handelnden Akteur_innen darstellt. Jede_r Akteur_in entscheidet sich in jedem Augenblick für oder gegen eine Gruppe. Das so entstandene Netz von Gruppenzugehörigkeiten, welches quer zu den hegemonialen Institutionen einer Gesellschaft steht, zeigt gleichwohl sozialisierende, bildende und individualisierende Qualitäten auf. Für die Kunst, nicht dermassen regiert zu werden, ist diese Wirklichkeitsebene der «transversalen Sozialitäten» wie sie Kunstreich nennt, bestimmend (vgl. Stender, 2013, S.104). Kunstreich (1998) wird dazu folgendermassen von Stender (2013) zitiert: «Vernetzt durch die vielfältigen Mitgliedschaften einzelner in unterschiedlichen Sozialitäten und Milieus entwickeln die Subjekte in ihren alltäglichen Handlungen ein eigenes Koordinatensystem, das der hegemonialen „Landkarte von Bedeutung“ (...) in vielfältiger Weise widerspricht und diese unterläuft, aber eben doch mit den gossen Strukturen bis zu einem gewissen Grad – eben an FHS St.Gallen Soziale Arbeit, Bachelorarbeit HS 15, Claudia Caflisch / 31 Hilfe aus der Perspektive kritischer Soziale Arbeit der Oberfläche – in Übereinstimmung stehen muss» (S.104). Kennzeichnend für die transversalen Sozialitäten ihrer Mitglieder sind die Freiwilligkeit und ihre solidarische, auf Interessengleichheit basierende innere Struktur. Transversale Sozialitäten funktionieren selbstregulierend oder sie zerfallen. Hier findet sich der Ausgangs- und Bezugspunkt kritischer Sozialer Arbeit, indem sie Sozialitäten in ihren «transversalen Mustern von Lebensbewältigung» und in ihrem Streben nach einer gerechteren sozialen Positionierung unterstützt (vgl. Stender, 2013, S.104-105). In Bezug auf die Fragestellung dieser Arbeit zeigt sich für die Arbeit am Sozialen eine grundlegende Weichenstellung. Wenn Kritik, so Kunstreich, das Bestreben ist, nicht dermassen ungerecht regiert zu werden, wird darin ebenfalls der «normative» Orientierungspunkt kritischer Sozialer Arbeit deutlich: Er heisst nicht Hilfe, sondern soziale Gerechtigkeit, welche auf Egalität basiert (vgl. Stender, 2013, S.105). Diese Annahme verdeutlicht eine Möglichkeit, welche Position Soziale Arbeit in Bezug auf den normativen Kern ihrer Tätigkeiten einnehmen könnte. Dies bedingt jedoch einen fundamentalen Perspektivenwechsel. Als radikal egalitär kann indes bereits der Prozess der Arbeit am Sozialen gesehen werden. Kunstreich geht von einer grundsätzlichen Gleichberechtigung von wissenschaftlichem Wissen und Alltagswissen aus. Praxis versteht er als Dialog in einem schöpferischen, generativen Sinne wie ihn Paulo Freire beschreibt. Dass die Fähigkeit zur Reflexion eine «Potenz aller Subjekte» ist, wird in einem monologisch ausgerichteten Selbstverständnis traditioneller Sozialer Arbeit prinzipiell missachtet (vgl. Stender, 2013, S.105). Demgegenüber überlässt es ein dialogisches Modell Sozialer Arbeit den Akteur_innen selbst, was in einer konkreten Handlungssituation als Problem beschrieben und formuliert wird. Professionelle der Sozialen Arbeit und Adressat_innen formulieren gemeinsam ein Thema, eine Problemsetzung oder wie Kunstreich es nennt, ein «gemeinsames Drittes» und gewinnen so eine Handlungsorientierung und kommen im besten Fall zu einer gemeinsam, solidarischen Praxis der Weltveränderung (vgl. Stender, 2013, S.105). Somit ist ein handlungsleitender Ansatz beschrieben, welcher sich klar abgrenzt von traditionellen Ansätzen. Im Folgenden wird der Arbeit am Sozialen das Arbeitsprinzip der Partizipation als handlungsleitende Option zur Seite gestellt. FHS St.Gallen Soziale Arbeit, Bachelorarbeit HS 15, Claudia Caflisch / 32 Hilfe aus der Perspektive kritischer Soziale Arbeit 3.3 Arbeitsprinzip Partizipation Unter dem Arbeitsprinzip Partizipation ist eine von Kunstreich thematisierte, spezifische Form der Partizipation zu verstehen, welche er in die Tradition einer Praxis als Dialog stellt (vgl. Kunstreich, 2013, S.88). Kunstreich (2013) beschreibt, dass er davon ausgeht, dass die grossen generativen Themen der heutigen Zeit die der Herrschaft und Befreiung sind und zitiert Freire (1973) folgendermassen: «Ich habe diese Themen „generativ“ genannt, weil sie (...) die Möglichkeit entfalten, in viele möglichen Themen weiter entfaltet zu werden, die ihrerseits nach Durchführungen neuer Aufgaben verlangen» (S.89). Kunstreich beschreibt vier Komponenten des Arbeitsprinzips Partizipation. Es geht zum einen darum, anzuerkennen, dass die Wissens- und Erfahrungsdomänen aller in einer Situation Beteiligten gleichwertig, jedoch zweifelslos unterschiedlich sind. Sie können in ihrer Unterschiedlichkeit erst hervortreten, wenn sie als gleichwertig anerkannt sind. In der Handlungsentscheidung kommt es weiter entscheidend darauf an, sich auf ein gemeinsames Drittes zu verständigen. Dieses gemeinsame Dritte ist die verhandelte Grundlage, auf welcher der nächste Handlungsschritt aufbaut. Aus dieser gemeinsam entwickelten Problemsetzung wird von den Professionellen eine Handlungsorientierung generiert (vgl. Kunstreich, 2013, S.90). Zentrale Annahme ist, dass jede Situation eine Grenzsituation darstellt, in welcher es wiederum darum geht, gemeinsam eine Option zu finden, was jenseits der jeweiligen Grenze liegt, vermutet wird oder angestrebt wird. Folgendes Zitat von Freire (1973) verdeutlicht dies: «In Grenzsituationen ist die Existenz von Menschen mitgesetzt, denen diese Situation direkt oder indirekt dient, und von solchen, deren Existenzrecht durch sie bestritten wird und die man an die Leine gelegt hat. Begreifen letztere eines Tages diese Situation als Grenze zwischen Sein und Menschlicher-Sein, und nicht mehr als Grenze zwischen Sein und Nichts, dann beginnen sie ihre zunehmend kritischer Aktionen darauf abzustellen, die unerprobten Möglichkeiten, die mit diesem Begreifen verbunden sind, in Tat umzusetzen» (vgl. Kunstreich, 2013, S.90). Es wird noch einmal deutlich, dass Kunstreich eine deutlich andere Position einnimmt als dies traditionell-diagnostische Ansätze tun. Dem «Klienten Grenzen setzen, verdeutlichen, aufzeigen usw.» zeigen den Anspruch auf, nicht in den Dialog treten zu müssen, nicht auszuhandeln, sich nicht verständigen zu müssen. Sondern aufgrund eines professionellen, FHS St.Gallen Soziale Arbeit, Bachelorarbeit HS 15, Claudia Caflisch / 33 Hilfe aus der Perspektive kritischer Soziale Arbeit beruflichen Wissens in Überlegenheit entscheiden zu können. Was, wenn nun diese einseitige Grenzsetzung nicht eingehalten wird? Den traditionellen Theorie- und Praxismodellen bleiben nur Sanktionsdrohungen. Der pädagogische Bezug löst sich in dem Moment auf und wird damit als blosses Legitimationsinstrument des hegemonialen Definitionsanspruches offensichtlich. Eine Spirale entsteht, in welcher widerstehende Adressat_innen und Professionelle in ein Kräftemessen geraten, in welchem weder die Adressat_innen ihre Deutungen als «wahr» durchsetzen können, noch Professionelle «wahre» Pädagog_innen sein können (vgl. Kunstreich, 2013, S.90). Ein kritischer und dialogischer Ansatz versucht dem zu entgehen. Ziel ist in erster Linie das gemeinsame Dritte. Als Aktion der gemeinsam verantworteten Grenzüberschreitung, als begrenzte Regelverletzung im angedeuteten Sinn. Ziel ist es, dass diese Aktionen von Adressat_innen als nützliche Assistenz erfahren und bewertet werden. Ziel ist der Versuch einer gemeinsamen Praxis, einer Praxis des Dialoges und der Aufklärung. Dafür, dass dies gelingen kann, können Professionelle keine Garantie geben. Weder gegenüber den Adressat_innen, noch gegenüber den Auftraggeber_innen. Der kritische und dialogische Ansatz ist stets ein Versuch und bleibt in seinem Ausgang stets ungewiss. Und gerade in dieser Ungewissheit, in diesem steten Versuch hinter die Grenze zu kommen, liegt seine Chance (vgl. Kunstreich, 2013, S.91). 3.4 Fazit Mit dem Modell vom Stimmer wird ersichtlich, dass Handeln in der Sozialen Arbeit stets unterschiedliche Dimensionen einbeziehen muss. Diese können nicht einfach ausgeblendet werden, sie entfalten stets ihre Wirkung. Der Kriterienraster ermöglicht, Konzepte einzuordnen, oder das eigene Handeln zu überprüfen. Für eine kritische Soziale Arbeit zeigt sich die Gesellschaftskritik als Grundlage sowohl der theoretischen Analyse wie auch der handlungsleitenden Ansätze. Das Ziel, nicht dermassen regiert zu werden, leitet die Annahmen, das Modell, das der Handlung grundgelegt wird und diese selber. Dies wird im von Kunstreich beschriebenen Ansatz der Arbeit am Sozialen und einer Praxis als Dialog deutlich. Dieser Ansatz grenzt sich klar ab von herrschaftskonformen, hegemonialen Traditionslinien und zeigt eine Soziale Arbeit auf, welche in der Tradition eines demokratischen, partizipativen Selbstverständnisses steht und auf Solidarität und Selbstregulierung setzt. FHS St.Gallen Soziale Arbeit, Bachelorarbeit HS 15, Claudia Caflisch / 34 Hilfe aus der Perspektive kritischer Soziale Arbeit Der Autor hält weiter fest, dass einer Praxis als Dialog die Annahme zugrunde liegt, dass alle Subjekte die Fähigkeit zur Reflexion besitzen. Diese Annahme ist die Grundlage einer kritischen Sozialen Arbeit, deren Ziel eine mündige Gesellschaft ist, und kann als Kriterium einer kontinuierlichen Prüfung in Theorie und Praxis dienen. Die Arbeit am Sozialen und das Arbeitsprinzip Partizipation können dazu dienen, eine Vorstellung zu entwickeln, wie sich Praxis gestalten könnte, ohne aber konkrete Anweisungen aus der Theorie für die Praxis zu geben. Dies steht in Übereinstimmung mit dem im Kapitel 1.2 beschriebenen Verständnis, wie kritische Soziale Arbeit das Verhältnis von Theorie und Praxis definiert. Diese Form der Arbeit am Sozialen stellt sich jedoch gerade dann als höchst anspruchsvoll dar, wenn die Soziale Arbeit von Rationalisierungsanforderungen bestimmt wird und Forderungen nach erweiterter Kontrolle, Einschränkungen der «professionellen Autonomie» oder Technokratisierung vorherrschende Themen sind (siehe Kapitel 1.1). Der Erfolg einer so verstandenen Sozialen Arbeit (Praxis als Dialog) lässt sich nicht garantieren. Dies kann eine Entlastung für Professionelle der Sozialen Arbeit bedeuten und als Chance, offen in einen Prozess einzusteigen, gesehen werden. Jede Intervention (oder der Verständigung auf ein gemeinsames Drittes) lässt offen, ob sie erfolgreich sein wird oder nicht, und offen bleibt auch, wer dies bewertet. Auch diese Haltung stellt sich als höchst anspruchsvoll dar angesichts der aktuellen Entwicklung, die durch einen verstärkten Legitimationsdruck geprägt ist und von der Sozialen Arbeit einfordert, dass sie erfolgreich zu agieren habe. Im vorhergehenden Kapitel wurde Hilfe als normativer Kern Sozialer Arbeit thematisiert, der jedoch sehr vage und unbestimmt blieb. Kunstreich fordert eine Abwendung von der Hilfe als normativem Orientierungspunkt hin zur sozialen Gerechtigkeit. Wenn kritische Soziale Arbeit Hilfe nicht länger als normativen Kern sozialer Arbeit versteht, stellt sich die Frage, wie Hilfe aus ihrer Sicht zu konzeptionieren ist. FHS St.Gallen Soziale Arbeit, Bachelorarbeit HS 15, Claudia Caflisch / 35 Hilfe aus der Perspektive kritischer Soziale Arbeit 4 Hilfe im Kontext kritischer Sozialer Arbeit In diesem Kapitel soll die erste der beiden Fragen, welche dieser Arbeit zugrunde liegen beantwortet werden. 4.1 Zentrale Erkenntnisse und Beantwortung der ersten Frage Die Beantwortung der Frage erschliesst sich aus Erkentnissen aus den Kapiteln eins bis drei und wird zum Teil mit weiteren notwendigen Anhaltspunkten erweitert. Sie wird entlang von vier Themenkreisen beantwortet. Kritische Soziale Arbeit nimmt eine paradigmatische Haltung ein und setzt sich individualisierenden und korrigierenden Selbstverständnissen Sozialer Arbeit entgegen. Sie verwirklicht sich in partizipativen Kooperations-Modellen (z.B. bei Methoden wie der «Hilfe zur Selbsthilfe»). Sie setzt auf gemeinschaftliche (Hilfs-)Prozesse und stellt dabei ihr Interesse in die Sichtbarmachung von gesellschaftlichen Problemlagen und einer Veränderung dieser. Wenn sich die Soziale Arbeit in ihrem Selbstverständnis so verortet, dass es um die «Kunst, nicht dermassen regiert zu werden», und um eine «Distanzierung von Herrschaftsarbeit» geht (siehe Kapitel 1), nimmt eine kritische Soziale Arbeit eine paradigmatische Haltung ein. Denn, Soziale Arbeit ist (und war) keineswegs notwendigerweise kritisch. Sie kann viel mehr als eine Praxis beschrieben werden, welche darauf ausgerichtet ist, Individuen, Familien und soziale Gruppen mittels Hilfe und Kontrolle zu einer Anpassung an gesellschaftliche Erwartungen, Strukturen, Normen und Zwänge zu veranlassen. Damit wird ein Verständnis von sozialer Arbeit beschrieben, welches korrigierend auf Individuen, Familien und Gruppen einwirkt (vgl. Scherr, 2012, S.108). Diese Aussage von Scherr, deckt sich mit den Erläuterungen von Anhorn, dass die Geschichte der Sozialen Arbeit geprägt ist von einem personenbezogenen sozialen Hilfesystems, in welchem individuelle, persönliche und erzieherische Hilfe im Mittelpunkt des Selbstverständnisses steht (Kapitel 2.1.2). Scherr hält weiter fest, dass es zu einer Verschärfung dieser disziplinierenden Funktion durch die Soziale Arbeit gekommen ist. Grund sieht er in der Krise des fordistischen Wohlfahrtsstaates. Im sozial- und gesellschaftspolitischen Diskurs hat sich eine Veränderung vollzogen und zwar hin zu einem Aufruf zu mehr individueller Eigenverantwortlichkeit (vgl. Scherr, 2012, S.108). FHS St.Gallen Soziale Arbeit, Bachelorarbeit HS 15, Claudia Caflisch / 36 Hilfe aus der Perspektive kritischer Soziale Arbeit Diese kann in einer der beiden aktuell viel thematisierten charakteristischen Verbindungen von Hilfe, nämlich in Verbindung mit Eigenverantwortung und Autonomie der Adressat_innen zur Wirkung gelangen. Eine häufig verwendete Forderung in diesen Diskursen findet sich, wie im Kapitel 2.3 angesprochen, in der «Hilfe zur Selbsthilfe». Anhorn (2012) betont, dass dieser Begriff in der Sozialen Arbeit zu einer inhaltsleeren Floskel mutiert sei. Er setzt den Begriff gleich mit dem Begriff der «aktivierenden Hilfe» im aktuellen (neoliberalen) Diskurs (vgl. S.249). Dem Konzept liegen seit den Ursprüngen Sozialer Arbeit unterschiedliche Selbstverständnisse zugrunde. Während die einen Konzepte im Rahmen paternalistischer Experten-Modelle einen Prozess einleiten, mit dem Ziel einer individuell zu bewerkstelligende (Selbst-)Veränderung der Adressat_innen Sozialer Arbeit, geht es in partizipativen Kooperations-Modelle bei der «Hilfe um Selbsthilfe» um gemeinschaftliche Prozesse, in welchen es um die Sichtbarmachung von Problemlagen geht und einer Veränderung der beanstandeten Verhältnisse (vgl. Anhorn, 2012, S.249). Somit liegen sehr unterschiedliche Verständnisse der Hilfe, in Verbindung mit Eigenverantwortung und Autonomie, zugrunde. Der normative Anspruch, Entmündigung durch Hilfe aufgrund einer präzisierenden Einschränkung vorzubeugen muss alleine durch eine methodische Absicherung nicht gelingen. *** Kritische Soziale Arbeit geht davon aus, dass Inhalt, Form und Ziele von Hilfe gesellschaftlich bedingt sind und in Diskursen verhandelt und verfestigt werden. Sie geht also davon aus, dass es sich um gestaltbare und veränderbare Definitionen handelt. Dies hat zur Folge, dass es für eine kritische Soziale Arbeit notwendig ist, sich mit Diskursen auseinanderzusetzen und sich konfliktbereit in diese einzubringen. Wird der Begriff der Hilfe aus der Perspektive einer kritischen Sozialen Arbeit heraus betrachtet, so wird davon ausgegangen, dass Problemlagen von Adressat_innen Sozialer Arbeit, Aufgabenstellungen und Interventionsformen der Sozialen Arbeit gesellschaftlich bedingt sind: «Wem geholfen wird und wem nicht, welche Formen des Helfens möglich sind und welche nicht, das ist abhängig von gesellschaftlichen Vorgaben, die sich in politischen Festlegungen, Ressourcenerschliessungen und rechtlichen Regulierungen konkretisieren» (Scherr, 2012, S.109). Der Autor macht deutlich, dass davon ausgegangen wird, dass Problemlagen und Interventionsformen nicht objektiv gegeben sind, sondern gesellschaftlich bedingt sind. Er erläutert weiter, dass diese Massstäbe welche zu den Vorgaben beitragen FHS St.Gallen Soziale Arbeit, Bachelorarbeit HS 15, Claudia Caflisch / 37 Hilfe aus der Perspektive kritischer Soziale Arbeit aus politischen, moralischen, philosophischen oder religiösen Traditionen und Diskursen entstehen (vgl. Scherr, 2012, S.109). In Diskursen werden Sinn-Ordnungen sprachlich und kommunikativ erzeugt, stabilisiert und zu kollektiv verbindlichem Wissen institutionalisiert. Äusserungen finden nicht in kontextfreiem Raum statt, sondern innerhalb sozialer Kontexte durch welche sie determiniert werden, respektive tragen sie dazu bei, dass die sozialen Kontexte weiter bestehen. Diskursen wohnt also eine strukturierende Funktion inne, sie sind als symbolische Ordnung zu begreifen, welche den Subjekten das gemeinsame Sprechen und Handeln erlaubt. Sie erschliessen jedoch ebenfalls Wahrnehmung und Denken (vgl. Bettinger, 2012, S.171). Soziale Arbeit ist nun nicht einfach Auftragsempfängerin und ausführendes Organ dieser aus diesen Diskursen hervorgegangenen Vorgaben. Über notwendige Hilfen und angemessene Formen des Helfens wird in Aushandlungsprozessen entschieden. Und an diesen beteiligt sich die Soziale Arbeit (vgl. Scherr, 2012, S.109). Damit ist hervorgehoben, dass sich Soziale Arbeit in den Diskursen beteiligt. Die Frage stellt sich, wie geht die Soziale Arbeit damit um. Diskurse können einerseits als herrschaftslegitimierende Techniken der Wirklichkeitsproduktion und somit der sozialen Ordnung in der bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft gesehen werden. Anderseits lädt diese Annahme ein, in die, wie es Bettinger nennt, Arenen einzutreten in denen um die Durchsetzung von Wirklichkeit gekämpft wird. Dieser Annahme liegt wiederum zu Grunde, dass Wissensbestände aus spezifischen Diskursen keine harmonische, ein für alle Mal geltende Wahrheit bilden, sondern untereinander in Konkurrenz stehen können. Über jeweilige Geltungen entscheiden ideologische, politische, ökonomische wie auch wissenschaftliche Interessen bestimmter Personen(-Gruppen). Im Fokus steht die Durchsetzung von Welt, Wirklichkeit, Wissenschaft oder Sozialer Probleme (vgl. Bettinger, 2012, S.175). Somit ist beschrieben, dass um Inhalt, Form und Ziel von Hilfe stets Auseinandersetzungen im Gange sind, und dass diese drei Bereiche nicht gesetzt und unveränderbar sind. Dies bedingt, dass eine kritische Soziale Arbeit eine Vorstellung hat was sie in die Diskurse einbringen will und dass Diskurse für die Soziale Arbeit wichtige Orte des Widerstandes sind. *** FHS St.Gallen Soziale Arbeit, Bachelorarbeit HS 15, Claudia Caflisch / 38 Hilfe aus der Perspektive kritischer Soziale Arbeit Kritische Soziale Arbeit geht von einer Gleichberechtigung des Wissens (wissenschaftliches Wissen und Alltagswissen) aus, dass die Fähigkeit zur Reflexionen eine Potenz aller Subjekte ist und dass die generativen Themen der heutigen Zeit die der Herrschaft und Befreiung sind. Daraus formt sich eine Praxis des Dialoges, welche davon ausgeht, dass als Ausgangspunkt ein gemeinsames Drittes und eine Vereinbarung darüber, wie eine gemeinsam zu verantwortende Grenzüberschreitung aussieht. Weiter ist es notwendig, die Hilfe in Bezug zu den historisch einmaligen Rationalisierungsschüben zu betrachten, welche die Soziale Arbeit in ihren Grundzügen betreffen (siehe Kapitel 1.1). Eine geforderte Zergliederung, Standardisierung und Kontrolle des «Produktionsprozesses von Hilfe» widerspricht fundamental der Vorstellung einer Arbeit am Sozialen und eines Arbeitsprinzips der Partizipation wie dies Kunstreich in Kapitel 3 beschreibt. Die Annahme einer Gleichberechtigung des Wissens der Akteur_innen, einer Verständigung auf ein gemeinsames Drittes widerspricht der oben beschriebenen Logik, welche auf eine Planung von Hilfsprozessen setzt und damit eine monologe Position einnimmt und so nicht in einen dialogischen Prozess eintreten kann und muss. Die Annahme, dass es sich immer um Grenzsituationen handelt, in welcher es darum geht eine Option zu finden was hinter der Grenze liegt, verdeutlicht eine Sprache und Haltung, welche nicht konform ist mit den Forderungen nach erweiterter Kontrolle und einer Einschränkung der professionellen Autonomie. Denn gerade diese wird mit einer solchen Ausgangslage eingefordert. Die Annahme von Kunstreich und Freire, das alle Subjekte die Fähigkeit zur Reflexion besitzen und dass monologisch ausgerichtete Selbstverständnisse traditioneller Sozialer Arbeit dies prinzipiell missachten, muss hier noch einmal erwähnt und hervorgehoben werden. Denn die Annahme stellt eine Grundlage dar, auf welcher sich die Art und Weise der Form der Beziehung und Zusammenarbeit zwischen Professionellen und Adressat_innen der Sozialen Arbeit aufbaut. Der Bogen schliesst sich mit der von Kunstreich und Freire geteilten Annahme, dass die Themen der heutigen Zeit die Herrschaft und die Befreiung sind und dass diese denn auch den Begriff der Hilfe oder der Hilfeplanung bestimmen. *** FHS St.Gallen Soziale Arbeit, Bachelorarbeit HS 15, Claudia Caflisch / 39 Hilfe aus der Perspektive kritischer Soziale Arbeit Der Begriff der Hilfe als normative Orientierung wird von Kunstreich – wenn denn das Bestreben von Kritik ist, nicht dermassen regiert zu werden – verworfen. Er benennt stattdessen die soziale Gerechtigkeit als normative Orientierung. Diese lässt sich in Bezug auf ein Selbstverständnis Sozialer Arbeit, welches Emanzipation ins Zentrum ihrer Bestrebungen stellt und auf Solidarität und Selbstregulierung zielt, schlüssig nachvollziehen. Das Doppelmandat von Hilfe und Kontrolle, welches als charakteristisch für die Soziale Arbeit benannt wird, löst eine so genannte Orientierung, in Bezug auf die Verankerung im Sozialstaat, nicht auf. Sie ermöglicht jedoch eine reflexive Auseinandersetzung damit, was unter diesem vagen und unbestimmten Gegensatz verstanden werden kann und bietet Ansätze zu Gunsten einer partizipativen Haltung auszulegen. Als letzter Punkt wird die Aussage von Kunstreich thematisiert, dass der Bezugs- und Ausgangspunkt kritischer Sozialer Arbeit in der Unterstützung von Sozialitäten in ihren «transversalen Mustern von Lebensbewältigung» und im Streben nach einer gerechteren sozialen Platzierung zu finden ist. Daraus ergibt sich – wenn das Bestreben von Kritik ist, nicht dermassen (ungerecht) regiert zu werden – eine normative Orientierung an der sozialen Gerechtigkeit, welche auf Egalität beruft (siehe Kapitel 3.2). Der Begriff der Hilfe, welcher geprägt ist von einem zutiefst verankerten Asymmetrie zwischen «Hilfegebenden» und «Hilfeempfangenden» und dem das Unvermögen von Einzelnen oder Gruppen anhaftet, den Massstäben der Gesellschaft nicht zu entsprechen (siehe Kapitel 2.4), lässt sich nicht vereinen mit den Werten eines demokratischen und partizipativen Selbstverständnisses einer kritischen Sozialen Arbeit – einer Praxis des Dialoges – das auf Solidarität und Selbstregulation zielt. Der Fokus der Tätigkeit kritischer Sozialer Arbeit kann sich mit einer solchen normativen Orientierung auf die Problematisierung von Struktur und Dynamik gesellschaftlicher Ordnung richten und die so in den Blick geratenen Bedingungszusammenhänge, Leid und Einschränkungen individueller Entfaltungsmöglichkeiten kritisieren und bearbeiten. Dies ist dann legitim, wenn eine kritische Soziale Arbeit von einer radikalen Egalität ausgeht und sie diese Ordnung nicht als einen neutralen Begriff ansieht, sondern als Ausgangspunkt für Bedingungen der Zugehörigkeit, Möglichkeiten des sozialen Ausschlusses oder Formen der sozioökonomischen Ungleichheit (siehe Kapitel 1.3.1.) und sie Sozialitäten darin unterstützt, einen gerechteren sozialen Platz zu finden. FHS St.Gallen Soziale Arbeit, Bachelorarbeit HS 15, Claudia Caflisch / 40 Hilfe aus der Perspektive kritischer Soziale Arbeit Was weiter thematisiert werden soll ist das Doppelmandat von Hilfe und Kontrolle, welches als zweite charakteristische Verbindung der Hilfe benannt wurde (siehe Kapitel 2.3). Dieses Spannungsfeld ist nun mit Orientierung an sozialer Gerechtigkeit nicht einfach aufgelöst und die Frage stellt sich, wie dieses Spannungsfeld weniger vage und unbestimmt bleibt. Zurück zu führen ist dieses Doppelmandat auf die institutionellen Rahmenbedingungen Sozialer Arbeit, die Verankerung im Sozialstaat. Hilfe wird nicht als unabhängig vom gesellschaftlichen Kontext gesehen, sondern vielmehr in einer gesellschaftlichen Funktion mit gesetzlichem Auftrag (siehe Kapitel 2.1.2). Hilfe kann also unmöglich allein der Zielgruppe verpflichtet sein, sondern findet sich in einem widersprüchlichen Handlungsfeld von Adressat_innen-, Ordnungs- und Eigeninteressen. Die Funktion welche der Soziale Arbeit zugeschrieben wird, ist die einer «intermediären» Position. Sie soll vermitteln zwischen «Individuum und Gesellschaft» (vgl. F. Müller, 2012, S.134-135). Diese soll im Weiteren thematisiert werden. Wird am Begriff der Hilfe im Doppelmandat von Hilfe und Kontrolle festgehalten, eröffnet sich die Frage, ob nur ein politisiertes und parteiliches Verständnis von Hilfe zulässig ist. Dies aufgrund der Annahme, dass Bedingungen aufgrund von Strukturen und Dynamiken gesellschaftlicher Ordnung entstehen. Ein solches Verständnis müsste davon ausgehen, dass Notlagen der «Betroffenen» Ausdruck sozialer Konflikte sind und nicht individueller Bedürftigkeit oder Abweichung, welche über materielle oder immaterielle Zuwendung gelöst werden könnten. Umgekehrt könnte auch von einer reinen Parteilichkeit für die «Ordnungsseite» ausgegangen werden, welche die Gestaltbarkeit des Individuums und des Verhaltens in den Vordergrund rückt und deren Interventionsform eine Tendenz zu Zwang und Strafe charakterisiert (vgl. F. Müller, 2012S.136). Ein beide Seiten gleichermassen verpflichtendes Selbstverständnis, wäre aufgrund der Machtasymmetrie widersinnig und würde zugunsten der mächtigeren Seite ausfallen. Eine finanzielle und rechtliche Bindung der Sozialen Arbeit an den Sozialstaat, nimmt der Funktion der Hilfe zusätzlich an Plausibilität (vgl. F. Müller, 2012, S.135-136). Das Dilemma wird nun mit einem «Ausbalancieren» versucht zu lösen. Die Problematik, so der Autor, ist darin zu finden, dass Hilfe und Kontrolle als gleichzeitig gegebene Aspekte des Handelns im Kontext Sozialer Arbeit gesehen werden. Das Handeln bedient – in unterschiedlichen Gewichtungen – die sich gegenüberliegenden Interessen von «Individuum und Gesellschaft». Diese gegenüberliegenden Interessen können als konflikthaft angesehen FHS St.Gallen Soziale Arbeit, Bachelorarbeit HS 15, Claudia Caflisch / 41 Hilfe aus der Perspektive kritischer Soziale Arbeit werden. Hilfe und Kontrolle wird als ein situativ individuell ausgeprägtes «Mischverhältnis» gesehen. Als Orientierung gelten Leitmotive wie zum Beispiel das «Allgemeinwohl». So können kontrollierende Interventionen legitimiert werden, jedoch ist nicht geklärt, wie Interventionen als Hilfe zu bewerten sind. Er hält fest, dass der (allgemein formulierte) Konflikt zwischen Individuum und Gesellschaft als Konflikt des Individuums behandelt wird. Konflikte werden zwar als gesellschaftlich bedingt gewertet (z.B. Ungleichverteilung von Ressourcen), die Bearbeitung fokussiert sich jedoch in der Regel auf das Individuum. Hilfe und Kontrolle richten sich somit an Einzelne und an Gruppen, es findet sich kein Auftrag auf der Ebene der Strukturen. Es bleibt, trotz des Wissens um strukturelle Bedingungen beim individualisierenden Blick und damit bei einer Entpolitisierung sozialer Konflikte (vgl. F. Müller, 2012, S.136). Um ein solches Verständnis von Hilfe aufrecht zu erhalten, bedarf es als Konsequenz ein entpolitisiertes Selbstverständnis (individualisierende Perspektive) die den Anspruch der Parteilichkeit nicht erfüllt (vgl. F. Müller, 2012, S.136-137). Mit der Position der «Intermediarität», mit dem Auftrag eines Interessensausgleichs zwischen «Individuum und Gesellschaft», geschieht eine Entwicklung mit einer Abkehr von einem Selbstverständnis der solidarischen Parteilichkeit. Die Orientierung an einem «Allgemeinwohl» ermöglich in der Abstraktion Interventionen immer als irgendwie im Interessen und zum Wohle der Adressat_innen zu werten, solange sie an gängige Normalitätserwartungen ausgerichtet sind. Diese Sichtweise beachtet Asymmetrien der Mitbestimmung allenfalls als zweitranging, der Blick richtet sich stattdessen auf Ressourcen zur Anforderungsbewältigung der Zugehörigkeitsbedingungen und Sozialverantwortlichkeit von Verwirklichungsbestrebungen. Dabei wandelt sich die Kontrolle von einer zu legitimierenden Interventionsform in ein Legitimationsargument. Diese Auslegung, so der Autor, scheint umso berechtigter, wenn man den Hinweis von Meinhold (1990) aufgreift, welche das Dilemma weniger im Gegensatz von Hilfe und Kontrolle sieht, sondern vielmehr «in einem Mangel an bedarfsgerechten Hilfsangeboten» (vgl. F. Müller, 2012, S.143). Die Allgemeinwohlorientierung bringt die Frage «wessen Norm» und damit Fragen nach Zumutungen, Voraussetzungen und Bedingungen von Teilhabe zum Verschwinden und entzieht Differenzen, Asymmetrien und Konflikte von sozialen Platzierungen einer systematischen Auseinandersetzung (vgl. F. Müller, 2012, S.143). FHS St.Gallen Soziale Arbeit, Bachelorarbeit HS 15, Claudia Caflisch / 42 Hilfe aus der Perspektive kritischer Soziale Arbeit Ansätze, welche sich nun nicht am Integrationsparadigma (Erfüllung von Zugehörigkeitsbedingungen) orientieren, sondern ihren Blick auf Bedingungen sozialer Ausschliessung richten, eröffnen die Möglichkeit, «Probleme» nicht von ihrer Lösung her zu denken, sondern können eher auf dialogische Herangehensweisen setzen. Dies setzt voraus, dass soziale Konflikte nicht in Bedürftigkeit uminterpretiert werden dürfte (welche in gesetzlichen Anspruchsformulierungen bereits vordefiniert sind), sondern es muss Raum geschaffen werden, für eine Artikulationen von Interessen und Selbstdefinitionen der Konfliktparteien. Eine solche Öffnung für Selbstartikulation (wie sie dies z.B. Kunstreich beschreibt), hätte zur Folge, dass sich Soziale Arbeit weder an Hilfe noch an Kontrolle ausrichten muss, sondern als Gestalterin von Plattformen ausgerichteter Parteilichkeit zu Legitimationszwecken emanzipieren kann. Dies setzt voraus, Normalitätserwartungen zur Diskussion zu stellen. Dies nicht nur als Frage des «gesetzlichen Auftrages», sondern auch als eine des disziplinären und professionellen Selbstverständnisses und der Gestaltung der Strukturen von Angeboten und Partizipationsmöglichkeiten (der «Hilfeplanung») (vgl. F. Müller, 2012, S.144-145). Dies zu der Beantwortung der ersten Frage. Im nächsten Kapitel soll der Kindes- und Erwachsenenschutz kurz umschrieben werden. Dies ist notwendig, um den zweiten Teil der Arbeit beantworten zu können. Nämlich die Frage, welche Folgerungen sich aus den erarbeiteten Erkenntnissen für dieses Tätigkeitsfeld ergeben. FHS St.Gallen Soziale Arbeit, Bachelorarbeit HS 15, Claudia Caflisch / 43 Hilfe aus der Perspektive kritischer Soziale Arbeit 5 Kindes- und Erwachsenenschutz in der Schweiz In diesem Kapitel wird thematisiert, was Kindes- und Erwachsenenschutz in der Schweiz heisst (kurze Skizze) und welche Funktionen die Soziale Arbeit darin übernimmt. 5.1 Kindes- und Erwachsenenschutz in der Schweiz Im Dezember 2008 wurde von den eidgenössischen Räten eine totale Revision des Kindesund Erwachsenenschutzes [KES] verabschiedet. Das Vormundschaftsrecht war, mit Ausnahmen in Bestimmungen über einen Freiheitsentzug11 und des Kindesschutzrechtes12 seit 1912 in Kraft (vgl. Häfeli, 2010, S.15). Am 1. Januar 2013 trat, nach langjähriger Vorbereitung, das neue Kindes- und Erwachsenenschutzrecht [KESG] in der Schweiz in Kraft. Eine Revision galt aufgrund gesellschaftlicher Veränderungen, der Rechtsentwicklung in Europa, der Grundrechtsprechung des Bundesgerichtes sowie der Bedürfnisse der Praxis als unbestritten (vgl. Häfeli, 2014, S.10). Fassbind (2012) hält fest, dass eine Anpassung des alten Vormundschaftsrechtes aufgrund der Individualisierung, dem Aufbrechen hervorgebrachter Moral- und Wertvorstellungen («everything-goes-Menthalität»), eines sich ausbereitenden Hedonismus, der Pluralisierung, Internationalisierung und Globalisierung der Gesellschaft notwendig wurde. Weiter zeigte sich eine veränderte Einstellung zum Individuum und seinen Rechten (Gleichstellung, Minderheitenrechte z.B. von Menschen mit einer Behinderung oder Kinderrechten), ein stärkerer Fokus auf Verfahrensrechte, sowie eine Verrechtlichung (Regulierung) der Lebensverhältnissen allgemein, als grundlegend für eine Modernisierung des Kindes- und Erwachsenenschutzrechtes (vgl. S.28). Im Folgenden werden einige zentrale Neuerungen des Kindes- und Erwachsenenschutzrechtes benannt: • Stärkung des Selbstbestimmungsrechtes (insbesondere durch die eigene Vorsorge, Vorsorgeauftrag und Patientenverfügung) • Verbesserter Schutz von urteilsunfähigen Personen in Einrichtungen (anlässlich FU auch für urteilsfähige Personen) • Beistandschaften nach Mass 11 Revision der Bestimmungen über den Fürsorgerischen Freiheitsentzug (FFE) 1981. Anpassungsbedarf aufgrund der für die Schweiz in Kraft tretenden EMRK (Europäische Menschenrechtskonvention) (vgl. Fassbind, 2012, S.26). 12 Totalrevision des Kindesschutzrechtes 1978 FHS St.Gallen Soziale Arbeit, Bachelorarbeit HS 15, Claudia Caflisch / 44 Hilfe aus der Perspektive kritischer Soziale Arbeit • Beseitigung von Stigmatisierung (wegfallen von Veröffentlichung von handlungsfähigkeitseinschränkenden Massnahmen im Amtsblatt und stigmatisierenden Begriffen wie «Vormundschaft», «Mündel» usw.) • Verbesserter Rechtsschutz allgemein, dies indem als erste Beschwerdeinstanz ein Gericht vorgesehen ist, keine Verwaltungsbehörde dazwischen • Professionalisierung des Kindes- und Erwachsenenschutzes, durch organisatorische und verfahrensrechtliche Vorgaben (interdisziplinäre Fachbehörden mit mindestens drei Mitgliedern als KESB, zentrale Verfahrensgrundlagen bundesrechtlich geregelt) (vgl. Fassbind, 2012, S.55-56). Es handelt sich bei den Massnahmen einerseits um behördliche Massnahmen (z.B. die Beistandschaften), aber auch um nicht-behördliche Massnahmen (z.B. die eigene Vorsorge). Das neue KESG betrifft in dem Sinne die gesamte Gesellschaft durch die Form der Selbstbestimmung durch Vorsorge. Es betrifft jedoch nur einen Teil der Gesellschaft in Form von behördlichen Massnahmen (z.B. FU oder Beistandschaften nach Mass). Dabei kann es sich um sanfte bis hin zu massiven Eingriffen in die Freiheit einer Person handeln. Diese Änderungen und die Anforderungen an ein rechtsstaatlich einwandfreies Verfahren stellen höchste Ansprüche an alle Beteiligten. Häfeli (2014) hält fest, dass sich nach Inkrafttreten des neuen Gesetzes unter anderen folgende Erfolgs- und Risikofaktoren abzeichnen: • Mehr Selbstbestimmung zeigt sich als Prüfstein • Professionalität durch Interdisziplinarität (vgl. S.11). In Bezug auf die Umsetzung des KESG in den Kantonen, hält Fassbind (2014) fest, dass die Formulierungen im ZGB in Bezug auf die Umsetzung in den Kantonen, den kleinsten gemeinsamen Nenner bilden. Er benennt denn auch weiter, dass die KESB-Landschaft von einer kantonalen- und innerkantonalen Buntheit geprägt ist (vgl. S.15). Zum Abschluss dieses Teiles noch einige Zahlen in Bezug auf die Massnahmen. Ende 2008 standen in der Schweiz fast 74 000 Erwachsene und knapp 40 000 Kinder unter einer vormundschaftlichen Massnahme. Ende 2012 (aktuellste Zahlen) waren es bei den Erwachsenen 83'335 Massnahmen, bei den Kindern 42'381 (vgl. Kokes, Konferenz für Kindesund Erwachsenenschutz, 2015). FHS St.Gallen Soziale Arbeit, Bachelorarbeit HS 15, Claudia Caflisch / 45 Hilfe aus der Perspektive kritischer Soziale Arbeit Sowohl bei den Erwachsenen- als auch den Kindesschutzmassnahme ist eine starke Zunahme zu verzeichnen. Die Gründe dafür sind vielfältig, so der Autor. Bei den Erwachsenen sind vorwiegend demografische Gründe verantwortlich (mehr hochbetagte Menschen, fehlende Angehörige). Bei den Kindesschutzmassnahmen benennt er Überforderungen vieler Eltern in der Erziehung, sowie Elternkonflikte in Zusammenhang mit Trennung und Scheidung als zentrale Gründe (vgl. Häfeli, 2014, S.15). 5.2 Funktion der Sozialen Arbeit im Kindes- und Erwachsenenschutz Die Soziale Arbeit übernimmt unterschiedliche Funktionen im KES. Zum einen handelt es sich um Funktionen welche bereits während der Zeit des Vormundschaftsrechtes Teil ihrer Aufgaben war: • Beratung und Begleitung von Personen mit behördlichen Massnahmen (z.B. Kinder- und Jugendheime, Sozialpädagogische Beschäftigungsplätze für Menschen Familienbegleitungen, mit Behinderung Wohnoder und psychischen Beeinträchtigungen usw.) • Beratung und Begleitung von Personen ohne behördliche Massnahmen (z.B. Prävention) • Durchführung von Abklärungen (z.B. bei Gefährdungsmeldungen) • Beistandschaften, usw. Eine neue Funktion übernimmt die Soziale Arbeit in der neu formierten und professionalisierten Kinder- und Erwachsenenschutzbehörde [KESB]. Sie ist Teil einer interdisziplinär zusammengesetzten Fachbehörde, welche ihre Entscheide in der Regel in einer Dreierbesetzung trifft. Im Spruchkörper sollen die drei Kernkompetenzen Recht, Sozialarbeit, Psychologie/Pädagogik vertreten sein. Weitere Spezialkompetenzen wie Medizin/Psychiatrie, Treuhand, Versicherungswesen sollen im Bedarfsfall mobilisiert werden (vgl. Häfeli, 2010, S.18). Eine interdisziplinäre Zusammenarbeit wird gefordert, da soziale Probleme, welche zu zivilrechtlichen Massnahmen führen, sowohl in ihrer Ausprägung und Entstehung, wie auch bei der professionellen Bewältigung und Interventionen zu vielschichtig seien, um nur durch eine disziplinäre Betrachtungsweise umfassend verstanden und bearbeitet werden zu können. Es geht also darum, dass es zu einem Zusammenführen von Erkenntnissen mehrerer voneinander unabhängiger Einzelwissenschaften kommt. Von zentraler Bedeutung ist, dass es zu einem Ganzen kommt, zu einer Kombination und Verknüpfung einzelner Erkenntnisse. Ein Nebeneinander der Teilaspekte wird dem geforderten Anspruch der Interdisziplinarität FHS St.Gallen Soziale Arbeit, Bachelorarbeit HS 15, Claudia Caflisch / 46 Hilfe aus der Perspektive kritischer Soziale Arbeit nicht gerecht. Es bedarf, so die Autoren weiter, dass sich die unterschiedlichen Disziplinen Erkenntnisse und Handlungskompetenzen der jeweils anderen Disziplinen aneignen um in einen konstruktiven Dialog treten zu können. Alle beteiligten Disziplinen seinen jedoch zunächst der eigenen Fachlichkeit verpflichtet, denn die Interdisziplinarität entfaltet ihre Wirkung primär im Zusammenfügen der jeweiligen Erkenntnisse (vgl. Hofer & Zingaro, 2010, S.23-24). Diese Zusammenarbeit zeigt sich jedoch als herausfordernd. Aus Befragungen von mehreren Personen welche in der KESB tätig sind, stellte sich die interdisziplinäre Zusammenarbeit als (noch) nicht befriedigend heraus. Die Zusammenarbeit wird eher als multi-, anstelle interdisziplinär empfunden. Es braucht viel Zeit und Energie, eine gemeinsame Haltung zu entwickeln. Diese Zeit fehlt aufgrund hoher Arbeitsauslastung. Als positiv wird erlebt, dass aufgrund von interdisziplinären Fallbesprechungen, Verantwortung gemeinsam getragen werden kann. Als weiter schwierig wird der unterschiedliche Zugang zu den Arbeitsabläufen beschrieben. Jurist_innen würden eher resultatorientiert arbeiten, Sozialarbeiter_innen eher prozessorientiert. Alle befragten Personen hielten fest, dass die Soziale Arbeit in Vergleich zu juristischen Aspekten zu wenig beachtet werde und die Gefahr bestehe, zu einer «Hilfsprofession» zu werden (vgl. Eberli, 2014, S.29-30). Abschliessend lässt sich festhalten, dass die Soziale Arbeit ihre Position noch nicht gefunden habe. Jurist_innen sei zu wenig bekannt, über welche fachlichen Kompetenzen Sozialarbeitende verfügen und wie diese eingesetzt werden können. Diese Feststellung wird durch die Tatsache, dass alle Präsidien von Jurist_innen besetzt sind verstärkt. Es bedarf, so der Autor weiter, nebst der Bereitschaft der einzelnen Personen genügen zeitliche Ressourcen und geeignete strukturelle Rahmenbedingungen. Weiter hält der Autor fest, dass es selbstbewusst auftretende Sozialarbeitende brauche, welche sich einbringen und einmischen würden (vgl. Eberli, 2014, S.31). 5.3 Fazit Es handelt sich bei der Revision des Kindes- und Erwachsenenschutzgesetz um ein Themenfeld, welches stark auf die Jurisprudenz verweist. Somit ist ebenfalls eine Terminologie und Struktur vorherrschend, welche dieser Disziplin entspringt. Die im Kapitel verwendeten Autoren sind denn auch vorwiegend dieser anzurechnen. Eine Revision des Kinder- und Erwachsenenschutzgesetz war, so die einheitliche Meinung, notwendig. Dies da das vorhergehende Recht in seiner Form z.T. seit hundert Jahren bestand FHS St.Gallen Soziale Arbeit, Bachelorarbeit HS 15, Claudia Caflisch / 47 Hilfe aus der Perspektive kritischer Soziale Arbeit und da sich in den gesellschaftlichen Strukturen sowie in den rechtlichen Anforderungen viel änderte. Diese Annahmen (Individualisierung, aufbrechen hervorgebrachter Moral- und Wertevorstellungen usw.) wie auch die Aussagen bezüglich der Gründe für einen Anstieg an Fällen (z.B. demografischer Wandel, Überforderung der Eltern) müssen aus Sicht der Sozialen Arbeit geprüft werden und sind in dem Sinne auch steter Gegenstand in Analysen und Diskursen Sozialer Arbeit. Die Soziale Arbeit ist in unterschiedlichen Handlungsfeldern vom KESG betroffen und ist im Freiwilligen- wie auch im Zwangskontext tätig. Eine zentrale Änderung für die Soziale Arbeit findet sich in der neu gegründeten KESB. Die Herausforderung findet sich dabei in der Interdisziplinären Zusammenarbeit. Eine solche bedingt zum einen eine starke Vertretung der jeweiligen Disziplinen und ist zugleich auf die Bereitschaft angewiesen, gemeinsam neue Deutungsformen zu erarbeiten. Die Rückmeldungen diesbezüglich sind wenig optimistisch. Wie in Kapitel 5.2 festgehalten, stellt sich die Zusammenarbeit als schwierig dar. Es wird allgemein beklagt, dass Aspekten aus der Sozialen Arbeit zu wenig Aufmerksamkeit geschenkt wird. Dies, da die Ressourcen der Sozialen Arbeit zu wenig bekannt sind. Weiter gelten unterschiedliche Zugänge als erschwerend. Die Jurisprudenz arbeitet eher ergebnisorientiert, die Soziale Arbeit prozessorientiert. Im nächsten Kapitel soll das Leitmotiv des KESG mit dem darin enthaltenen Hilfeverständnis thematisiert werden. FHS St.Gallen Soziale Arbeit, Bachelorarbeit HS 15, Claudia Caflisch / 48 Hilfe aus der Perspektive kritischer Soziale Arbeit 6 Hilfe im Kontext des Kindes- und Erwachsenenschutz Leitmotiv des neuen Gesetzes ist das Wohl von hilfsbedürftigen, vulnerablen (leicht verletzlichen und verwundbaren), aufgrund eines Schwächezustandes besonders hilfs- und schutzbedürftigen Personen (vgl. Häfeli, 2014, S.11). Dem wird im Folgenden weiter nachgegangen. 6.1 Hilfe im Kindes- und Erwachsenenschutz Dem neuen Kindes- und Erwachsenenschutzrecht liegt das Wohl des Schwachen als tragender Leitgedanke zugrunde. Dieses hängt, so Häfeli (2013), aufs Engste mit der Respektierung der Menschenwürde zusammen. Die Menschenwürde ist von unverfügbarem Eigenwert der Person und findet ihren Ausdruck in der Selbstbestimmung der Person. In der Menschenwürde liegt jedoch ebenfalls das Angewiesen sein auf den Mitmenschen. Daher hat die Menschenwürde ein Doppelgesicht. Sie wird verletzt, wenn über den Menschen verfügt wird wie über eine Sache. Sie wird jedoch auch verletzt, wenn dem Menschen in seinen grundlegendsten Bedürfnissen Hilfe untersagt wird (vgl. S.25). Der Autor hält weiter fest, dass die Wahrung der Menschenwürde im definitiven Gesetz nicht ausdrücklich als Grundsatz verankert ist. Jedoch ist es die Sicherstellung von Wohl und Schutz der hilfsbedürftigen Person. Der Mensch als Individuum und als soziales Wesen steht als Träger_in von Grundrechten und dem Anspruch auf umfassenden Schutz bei bestimmten Schwächezuständen im Mittelpunkt (vgl. Häfeli, 2013, S.25-26). Im Folgenden wird dem Begriff des Schwächezustandes nachgegangen. Dieser ist als zu erfüllen vorausgesetzt, damit der Kindes- und Erwachsenenschutz als Hilfe oder Kontrolle zur Wirkung kommt. Der Begriff soll beitragen, Stigmatisierungen entgegenzuwirken (vgl. Häfeli, 2013, S. 36). Wie bereits betont, bilden das Wohl und der Schutz hilfsbedürftiger Personen den Leitgedanken. Zweck, Ziel und Aufgabe des Kindes- und Erwachsenenschutzrechtes ist es, Defizite und Schwächezustände, welche das Wohl einer betroffenen Person gefährden, zu beseitigen, zu beheben, auszugleichen oder zu mildern. Dies um die Interessen der Betroffenen Person dauerhaft und nachhaltig zu wahren (vgl. Fassbind, 2012, S.40). FHS St.Gallen Soziale Arbeit, Bachelorarbeit HS 15, Claudia Caflisch / 49 Hilfe aus der Perspektive kritischer Soziale Arbeit Dies gilt jedoch erst, wenn der Schutz der betroffenen Person nicht durch private Hilfe gewährleitet werden kann (Subsidiarität). Es gilt eine Eingriffsschwelle für jede Intervention der KESB zum Wohl und Schutz einer Person. Das heisst, es ist eine erhebliche (ernstliche) Gefährdung der Interessen, bzw. des Wohls der betroffenen Person festzustellen. Die Voraussetzungen für die Annahme einer erheblichen Gefährdung, werden sowohl im Kindesals auch im Erwachsenenschutzrecht nicht ausdrücklich erwähnt (vgl. Fassbind, 2012, S.41). Ursachen von persönlichen oder wirtschaftlichen Gefährdungen, bzw. Hilfsbedürftigkeit (von sogenannten Schwächezuständen) können vielfältiger Natur sein. Zum Beispiel physische und psychische Beeinträchtigungen, Unerfahrenheit, Misswirtschaft, Unwilligkeit oder Unfähigkeit einer Person. Das Kindes- und Erwachsenenschutzrecht bezweckt den Ausgleich solcher Schwächezustände (vgl. Fassbind, 2012, S.41). Ziel jeder Massnahme muss die Selbstbestimmung der betroffenen Person so weit wie möglich erhalten und fördern, denn die Selbstbestimmung und die Würde sind, wie oben beschrieben, die Leitgedanken des neuen Gesetzes. Es hat einen Ausgleich zwischen der Freiheit und der Betreuung der hilfsbedürftigen Person zu schaffen. Dies soll gelingen, in dem unter bestimmten Voraussetzungen eine Fremdbestimmung vorzusehen ist, welche aber soweit wie möglich eine Hilfe zur Selbsthilfe darstellt (vgl. Fassbind, 2012, S.42). 6.2 Fazit Als neu zentraler Begriff wird der Schwächezustand benannt, welcher als Grundlage dient, dass der KES zum Tragen kommt. Damit wird klar betont, dass die betroffene Person in irgendeiner Form nicht fähig ist, sich selber zu sorgen. Der Begriff erinnert an eine Terminologie aus der Medizin. Weiter wird der Schutz und das Wohl der hilfsbedürftigen Person als Ausgangspunkt von Interventionen gesehen werden. Dabei handelt es sich um unbestimmte (Rechts-)Begriffe. Sie sind abhängig von gesellschaftlichen Entwicklungen. In Bezug auf das Kindswohl (als spezifische Beschreibung bei Kindern) findet sich folgende Aussage einer KESB: «Dieser unbestimmte Rechtsbegriff ist gesellschaftlichen Veränderungen unterworfen und kann deshalb in der Praxis auch mit unterschiedlichen Inhalten gefüllt werden. Das gilt vor allem für eine wertpluralistische Gesellschaft, in welcher den Eltern ein grosser Ermessenspielraum überlassen bleibt, nach welchen ethischen oder religiösen Wertmassstäben sie ihre Kinder erziehen» (KESB Bern, 2012). FHS St.Gallen Soziale Arbeit, Bachelorarbeit HS 15, Claudia Caflisch / 50 Hilfe aus der Perspektive kritischer Soziale Arbeit Aus den Erläuterungen wird weiter ersichtlich, dass es einer erheblichen Gefährdung bedarf, welche ein Eingreifen legitimiert. Es wird konstatiert, dass auch Voraussetzungen für die Annahme erheblicher Gefährdungen nicht ausdrücklich beschrieben sind. Der KES kommt nun erst zur Wirkung, wenn private Hilfen den Schwächezustand von Personen nicht genügend begleiten können. Gründe, damit der KES zur Wirkung kommt sind höchst unterschiedlich. Ebenfalls die Settings sind unterschiedlich (z.B. behördliche Massnahme, nicht-behördliche Massnahme). Die Rahmenbedingungen, in welcher Hilfe stattfindet sind somit äusserst different. Als letzter Punkt wird festgehalten, dass die beiden charakteristischen Verbindungen von Hilfe – Hilfe in Verbindung mit Eigenverantwortung und Autonomie, sowie Hilfe in Verbindung vom Doppelmandat – auch in den Erläuterungen des Kindes- und Erwachsenenschutzes eine zentrale Rolle spielen. Im KES kommt der Anspruch der Eigenverantwortung und Autonomie unter dem Begriff der Selbstbestimmung zum Tragen. Dieses wird im revidierten Erwachsenenschutz als zentrales Revisionsziel beschrieben. Insbesondere sind damit die behördlichen Massnahmen (eigene Vorsorge, Vorsorgeauftrag und Patientenverfügung) gemeint. Jedoch geht es nicht nur um diese. Bei behördlichen Massnahmen ist vorgesehen, dass diese die Selbstbestimmung der betroffenen Person(en) soweit wie möglich erhalten und fördern. Ebenfalls sind Beistände aufgefordert, ihre Aufgaben im Interesse der betroffenen Person zu erfüllen und auf deren Meinung Rücksicht zu nehmen (vgl. Rosch, 2015, S.218). Der Autor geht davon aus, dass Selbstbestimmung auch für Menschen ohne Schwächezustand als sehr anspruchsvoll gesehen werden muss und es eröffnet sich die Frage, welche Massstäbe für Menschen mit einem Schwächezustand gelten sollen. Er hält fest, dass Einigkeit darüber herrsche, die Fremdbestimmung möglichst zu minimieren und die Menschen als aktive Subjekte zu sehen und zu befähigen. Einigkeit herrsche auch darüber, dass Menschen mit Schwächezustand potenziell schutzbedürftig seien und der Staat gegebenenfalls fremdbestimmend einschreiten müsse, um den Schwächezustand zu minimieren oder auszugleichen (vgl. Rosch, 2015, S.218-219). FHS St.Gallen Soziale Arbeit, Bachelorarbeit HS 15, Claudia Caflisch / 51 Hilfe aus der Perspektive kritischer Soziale Arbeit 7 Folgerungen für das Tätigkeitsfeld des Kindes- und Erwachsenenschutzes In diesem Kapitel soll es um die Beantwortung der zweiten Frage gehen, nämlich welche Folgerungen sich für das Tätigkeitsfeld des Kindes- und Erwachsenenschutz aufgrund der Erkenntnisse aus Kapitel 4 ergeben. Dazu werden die zentralsten Punkte noch einmal kurz benannt. Eine kritische Soziale Arbeit verwirklicht Hilfe entlang von partizipativen KooperationsModellen mit dem Ziel einer gerechteren Gesellschaft. Sie ist interessiert an der Sichtbarmachung von gesellschaftlichen Problemlagen und der Veränderung jener. Sie geht davon aus, dass Inhalt, Form und Ziel von Hilfe gesellschaftlich bedingt sind und in Diskursen umkämpft und gefestigt werden, welche wiederum für die Wahrnehmung dieser drei Themenkreise verantwortlich sind. Weiter zeichnet eine kritische Soziale Arbeit aus, dass sie von der Gleichberechtigung des Wissens ausgeht und der Annahme, dass Reflexion eine Fähigkeit aller Subjekte ist. Sie sieht die generativen Themen der heutigen Zeit in der Herrschaft und Befreiung. Eine kritische Soziale Arbeit legt ihren Handlungen eine Praxis des Dialogs zugrunde. In der Konsequenz sieht eine kritische Soziale Arbeit, soziale Gerechtigkeit und nicht Hilfe als normativen Orientierungspunkt. Sie bleibt sich der Doppelfunktion von Hilfe und Kontrolle aufgrund der Verankerung im Sozialstaat bewusst, versucht jedoch den Gegensatz transparent zu machen und bietet Ansätze zu Gunsten einer partizipativen Haltung. 7.1 Zentrale Erkenntnisse und Beantwortung der zweiten Frage Als erste und wohl zentralste Erkenntnis kann festgehalten werden, dass die herausgearbeiteten Merkmale, in Bezug auf den Begriff der Hilfe aus der Perspektive einer kritischen Sozialen Arbeit und dem Begriff der Hilfe wie er im KES benannt wird, in einem grundsätzlichen Widerspruch stehen. Im KES findet sich eine starke Betonung der Hilfebedürftigkeit. Der Begriff des Schwächezustandes erinnert an eine medizinische Diagnose. Die Vermutung liegt nahe, dass sich der Begriff an traditionell-diagnostischen Ansätzen orientiert und so legitimiert, zu wissen FHS St.Gallen Soziale Arbeit, Bachelorarbeit HS 15, Claudia Caflisch / 52 Hilfe aus der Perspektive kritischer Soziale Arbeit was für betroffene Personen wichtig und richtig ist. Kunstreich (2013) hält fest, dass sich die bedeutsamen Ereignisse in der Sozialen Arbeit als Kampf um «soziale Zensuren» verstehen, als Auseinandersetzung um eine gerechte Platzierung der Akteur_innen. «Soziale Zensuren» wie z.B. «hilfsbedürftig» sagen meist wenig aus über die Praxen der benannten Personen, stellen jedoch (meist unhinterfragte) eingriffsberechtigte Deutungen der Professionellen dar. Eine so legitimierte Platzierungs-Zensur baut auf einem professionellen Monolog auf, der sich in Anamnese und Diagnose als höheres Wissen kennzeichnet, welches zu einer entsprechenden Behandlung berechtigt. Der Autor beschreibt eine solche Annahme weiter folgendermassen: « Die „grossen Erzählungen“ von (...) Hilfe sind die Mythen, mit denen die Professionellen ihrem Tun quasi religiöse Weihen verleihen und eine patriarchale Struktur von sozialer Gerechtigkeit stabilisieren: „Ich weiss, welcher Platz in der Gesellschaft für dich gut ist“» (S.87). Demgegenüber steht die Annahme einer kritischen Sozialen Arbeit, welche von der Gleichberechtigung der Wissensdomänen und Deutungsmustern ausgeht, mit der Annahme der Gleichheit aller Subjekte. Darin manifestiert sich die Aussage, dass der normative Orientierungspunkt kritischer Sozialer Arbeit nicht Hilfe, sondern soziale Gerechtigkeit ist (vgl. Kunstreich, 2013, S.87). Dieser widerspricht sich mit dem Hilfeverständnis des KES entscheidend. Dies soll aufgrund eines Beispiels verdeutlicht werden. Diese genannten Grundbedingungen kritischer Sozialer Arbeit spiegeln sich im Arbeitsprinzip der Partizipation von Kunstreich wieder. Damit wird ein Begriff benannt, welcher im neuen KES ebenfalls eine wichtige Rolle spielt (als Handlungsoption in Bezug auf die Selbstbestimmung). Beiden Formen der Gestaltung der Zusammenarbeit, der Gestaltung des «Hilfsprozesses», liegen nun jedoch grundsätzlich unterschiedliche Verständnisse zugrunde. Kunstreich geht davon aus, dass es ein Aushandeln eines gemeinsamen Dritten bedingt um gemeinsam (Adressat_in Sozialer Arbeit, Professionelle) eine Problemdefinition zu erhalten, aufgrund welcher durch die Professionellen eine Handlungsorientierung generiert werden kann (siehe Kapitel 3.3). Demgegenüber geht das (gängige) Partizipationsverständnis im KES davon aus, dass eine gelingende Partizipation von der Teilnahmegewährung (formelle Rechte der Mitsprache, z.B. Antrags- oder Rekursrecht oder informelle Mittel) und der Teilnahme (als aktiver Teil des Gegenüber) gekennzeichnet ist. Dies, so die Autorin, bedinge eine Abkehr von der Vorstellungsmacht als Fachpersonen (in angemessenem Rahmen) und die Einnahme einer Prozessbegleitungsposition, da Partizipation stets ein gegenseitiger Lernprozess darstelle. Es FHS St.Gallen Soziale Arbeit, Bachelorarbeit HS 15, Claudia Caflisch / 53 Hilfe aus der Perspektive kritischer Soziale Arbeit brauche somit Professionelle, welche Lernen ermöglichen, und nicht alles auf dem schnellsten Weg für die Adressat_innen organisieren. Als weitere Bedingung sieht sie, dass die Rahmenbedingungen geklärt werden müssen und zwar durch die Professionellen (vgl. ElMaawi, 2014, S.21). Dies verdeutlicht noch einmal, welch radikal egalitäre Position Kunstreich in seinen Ausführungen zu dem Arbeitsprinzip Partizipation einnimmt. Es lässt vermuten, wie gross sich der Widerspruch zur Praxis darstellen muss, wenn bereits ein Partizipationsverständnis wie von El-Maawi benannt einen Kulturwandel bedeutet. Der Begriff der Selbstbestimmung, welcher als ein zentrales Merkmal des neuen KES gilt, muss aus der Perspektive einer kritischen Sozialen Arbeit denn auch analysiert werden. Gross ist der Verdacht, dass auch darin Logiken einer neoliberalen Restrukturierung vorfindbar sind und sich an Werten orientieren, welche auf die Eigenverantwortung des Individuums zielen und so einen Leistungsabbau seitens des Staates legitimieren würde. Ebenfalls ist hier noch einmal zu betonen, dass eine methodische Absicherung alleine noch keine Garantie darstellt, der Entmündigung von Personen entgegenzuwirken. Dies kann lediglich über die Voraussetzung einer grundsätzlich differenzierten Haltung ermöglicht werden. Weiter ist die Annahme von zentraler Bedeutung, dass in Diskursen drüber entscheiden wird, wie sich Hilfe definiert. Wie wird über das KES gesprochen, über Entscheide, Funktionen und Legitimationen? Eine kritische Soziale Arbeit muss sich mit den ihr eigenen zentralen Werten in die Diskurse einbringen. Als letzte Folgerung soll noch die Hilfe im Doppelmandat von Hilfe und Kontrolle benannt werden. Dieser Verbindung fällt im KES eine tiefgreifende Rolle zu. Aus Sicht einer kritischen Sozialen Arbeit geht es darum, Hilfe und Kontrolle in den Fokus struktureller Bedingungen zu stellen. Es korrigierenden ist unzulässig, Perspektive Problemsituationen zu aus interpretieren. einer individualisierenden In den Fokus und rücken Bedingungszusammenhänge, individuelles Leid und die Einschränkung der individuellen Entwicklungsmöglichkeiten. Es ist notwendig, dieses Verhältnis und jene Wirkmechanismen zu analysieren. Das ein «Ausbalancieren» dieses Verhältnisses ein problematischer Bewältigungsversuch darstellt, wurde in Kapitel 7.1 beleuchtet. Zudem konnte benannt werden, wie sich Kontrolle legitimiert. Die Auseinandersetzung zu Normalitätsvorstellungen zeigt sich hier als zentral. FHS St.Gallen Soziale Arbeit, Bachelorarbeit HS 15, Claudia Caflisch / 54 Hilfe aus der Perspektive kritischer Soziale Arbeit Was jedoch zum Schluss hervorgehoben werden soll, ist die Feststellung von Meinhold, dass sie das Dilemma weniger in Hilfe und Kontrolle sieht, sondern im Fehlen von Hilfsangeboten. Das Doppelmandat Hilfe und Kontrolle muss stets Teil einer tiefgreifenden Analyse sein. Es eröffnet sich die Frage, wie Prozesse initiiert und begleitet werden können, um wie von Cremer-Schäfer beschrieben, dem näherzukommen, was Menschen als Ressourcen brauchen. Zum Schluss soll festgehalten werden, dass eine kritische Soziale Arbeit, auch im Tätigkeitsfeld der KES, die Werte der Solidarität und Selbstregulation als Grundlage ihres Handelns ansieht. Sie verfolgt das Ziel einer sozial gerechten Gesellschaft und problematisiert daher Bedingungen, welche diesen Bestrebungen entgegenwirken. FHS St.Gallen Soziale Arbeit, Bachelorarbeit HS 15, Claudia Caflisch / 55 Hilfe aus der Perspektive kritischer Soziale Arbeit Reflexion und eigene Positionierung Die Erarbeitung des Begriffs der Hilfe zeigte auf, dass der Begriff schwierig zu fassen ist. Sein Gebrauch in unterschiedlichen Formen und gesellschaftlichen Verhältnissen betont seine Vagheit. Vieles kann Hilfe sein. Doch was ist er in der Sozialen Arbeit? Dies bleibt nach wie vor schwierig zu fassen. Gerade in Bezug auf die Motivation und den Grundsätzen welche der Hilfe zugrunde liegen. Es wurde klar ersichtlich, dass die Hilfe in der Sozialen Arbeit eng angebunden ist an die Entwicklung des Sozialstaates, und das Hilfe dadurch rechtlich verankert ist. Jedoch wirken wenig klare Mechanismen z.B. in Bezug auf die Motivation mit. Anhorn (2012) hält fest, dass über viele Jahrhunderte die christliche Nächstenliebe zentrale Motivation für die Hilfe war. Diese Vorstellung des Helfens wurde vor allem mit der Geschichte des «Barmherzigen Samariters» genährt, welche: «historisch gewiss zur wirkmächtigsten, prototypischen und kulturellen Repräsentation eines personalen Hilfehandelns geworden ist» (S. 265). Mit den tiefgreifenden gesellschaftlichen Veränderungen durch die industrielle Revolution (Säkularisierung, Rationalisierung) verwandelte sich jedoch die Symbolik der barmherzigen freien Liebestätigkeit. An ihre Stelle folgte eine professionalisierte, personenbezogene soziale Dienstleistung. Jedoch, so erläutert Anhorn weiter, schöpfen – auch unter säkularisierten Bedingungen – profitorientierte Konzerne, Prominente und die politische Klasse zu Marketing-, Image-, oder Legitimationszwecken aus dem Fundus dieser «Bilderwelt» (persönliche Hinwendung und Fürsorge, Opfer und Altruismus, Selbstlosigkeit und Mitleid) (vgl. Anhorn, 2012, S.265). Das Schöpfen aus diesem Bild kann, so Anhorn in keiner Weise als unproblematisch gesehen werden. Dies da sich die Hilfe im Rahmen eines so verstandenen Beziehungsgefüges (Statuspositionen des «Gebenden» und des «Nehmenden») über Hierarchien äussert. Die Gefahr besteht, dass ein «moralisches Skript» entworfen wird, welches Hilfe zu einer Sache der individuellen Verantwortung macht (vgl. Anhorn, 2012, S.265). Diese beiden Punkte konnten in der Arbeit bereits angedeutet werden. Anhorn benennt jedoch noch einen weitern Punkt, welcher so noch nicht thematisiert wurde. Es kann so eine gesellschaftliche Sphäre geschaffen werden (durch die Abspaltung der «Selbstlosigkeit») welche von Markt und Politik (scheinbar) losgelöst ist und sich dadurch Fragen zu Macht und Herrschaft entzieht. Dies hat zur Folge, dass von Fragen zu ungleichen Verteilung von Ressourcen und Partizipationsmöglichkeiten abgelenkt wird (vgl. Anhorn, 2012, S. 265-266). Anhorn hält fest, dass ein solches Selbstverständnis Sozialer Arbeit eine unzulässige Verallgemeinerung FHS St.Gallen Soziale Arbeit, Bachelorarbeit HS 15, Claudia Caflisch / 56 Hilfe aus der Perspektive kritischer Soziale Arbeit beschreibt, dies da es sich a-historisch und a-gesellschaftlich darstelle (vgl. Anhorn, 2011, S. S.266). Es zeigt noch einmal deutlich auf, welche Notwendigkeit einer Auseinandersetzung mit dem normativen Kern Sozialer Arbeit zukommt. Denn der Begriff der Hilfe trägt viele Dimensionen in sich. Er eröffnet, nebst Fragen dazu, was Soziale Arbeit denn tut, Reflexionsmöglichkeiten zu elementaren Fragen des sozialen Gefüges. Denn der Begriff der Hilfe trifft uns alle in unserem Kern. Wir sind als Menschen von anderen abhängig, denn unser Streben nach Autarkie und Autonomie ist prinzipiell vom Scheitern bedroht (vgl. Mühlum et al., 1997, S. S.30). Diese Annahme kann einladen, grundsätzlich darüber nachzudenken, wie sich unsere Beziehungen und Bedürfnisse ausgestalten, was wir benötigen und welchen Stellenwert dem zugesprochen wird. Die Erarbeitung des Themenbereiches der Kritik stellte sich als höchst anfordernd heraus. Dies aufgrund der Vielfallt an theoretischen Bezügen welche die Autor_innen wählen, jedoch auch aufgrund des Bruches von Theorie und Praxis auf welchen in der Literatur immer wieder verwiesen wird. Kritik als Distanzierung von Herrschaftsarbeit zu sehen zeigte einen Weg auf, sich dem Widerspruch anzunähern. Sie lädt ein, Kritik in unterschiedlichen Formen mit dem je eigenen Potential zu erkennen und nicht als eine alleinige Domäne der Wissenschaft zu sehen. Dies ist dahingehend hilfreich, da den Texten eine starke sprachlichen Dominanz und Distanziertheit innewohnt. Ebenfalls kann der Verdacht auf disziplininterne Profilierungsversuche- oder Notwendigkeiten nicht ganz abgewendet werden. Demgegenüber hält Stender jedoch fest, dass die Theorien eine «Sperrigkeit» bedürfen, um die Gefahr einer verflachten Adaption abzuwenden und um nicht als neue hegemoniale Deutungsmuster verwendet zu werden (vgl. Stender, 2013, S.106). Es gilt also auch diesbezüglich einen Widerspruch auszuhalten und Konzepte und Theorien immer wieder auf beide Argumente hin zu prüfen. Das herausarbeiten der Grundsätze eines dialogischen Konzeptes, einer Praxis als Dialog stellte eine Besonderheit in der Arbeit dar. Die Arbeit am Sozialen stellt den Bezug her, um kritische Soziale Arbeit in der Praxis zu versuchen. Es konnte deutlich gemacht werden, welches Potential in dieser Form steckt, jedoch auch, auf welche Widersprüche sie stossen wird. Denn die Soziale Arbeit, wie unsere Gesellschaft als Ganzes, ist vielmehr auf einem Monolog aufgebaut. FHS St.Gallen Soziale Arbeit, Bachelorarbeit HS 15, Claudia Caflisch / 57 Hilfe aus der Perspektive kritischer Soziale Arbeit Die Arbeit am Sozialen und das Arbeitsprinzip der Partizipation basieren auf radikal egalitären Annahmen. Darin manifestiert sich ein zentraler Widerspruch z.B. zum KES, wie zu allen anderen Tätigkeitsfeldern der Sozialen Arbeit. Die Versuchung war gross, diese fundamentalen Annahmen in Bezug zum KES zu relativieren. Den Menschen die Gleichheit im Wissen abzusprechen, und eine Verantwortung lediglich in einem Teil zu gewähren, scheint um ein vieles einfacher. Die Konsequenzen des Arbeitsprinzip Partizipation auszuhalten bedeutet jedoch, sich auf gesellschaftlich wenig legitimierte Prinzipien zu berufen. Jedoch ist gerade von diesen Prinzipien nicht abzurücken. Aus (eigenen) Erfahrungen aus der Praxis lässt sich beschreiben, dass die Strukturen wie sie heute in der Sozialen Arbeit vorhanden sind, sehr schnell an Grenzen stossen und in eine eigene Hilflosigkeit verfallen, respektive keine anderen Antworten zur Verfügung haben als Ausschluss und Sanktion. Bettinger (2012) hält fest, was eine kritische Soziale Arbeit – nebst der direkten Arbeit mit Adressat_innen –zur Realisierung von Teilhabe, Chancengleichheit und Partizipation beitragen kann. Folgende Aufzählung dienen als Abschluss und Abrundung dieser Arbeit, bilden jedoch gleichzeitig den Ausgangspunkt vieler neuer Arbeiten und Projekte: – Macht-, Herrschafts- & Ungleichheitsverhältnisse (und die Reproduktion dieser) thematisieren und skandalisieren – Sich als politische Akteurin verstehen – Bildungs- und Sozialisationsprozesse offerieren, welche sich o an den Prinzipien der Aufklärung und Emanzipation und o an den Bedürfnissen, Wünschen, Interessen und Willen der Adressat_innen Sozialer Arbeit ausrichten – Diskurse als herrschaftslegitimierende Techniken der Wirklichkeitsproduktion – und somit von gesellschaftlicher Ordnung in der kapitalistischen Gesellschaft – zu erkennen und zu analysieren und in die Arenen einzutreten, in denen um die Durchsetzung von Wirklichkeit gekämpft wird (vgl. S.187). Zum Schluss ist festzuhalten, dass das Thema dieser Arbeit zu vielen neuen Erkentnissen und zu Argumenten in Bezug auf die Tätigkeit von Sozialer Arbeit und auf ein kritisches Selbstverständnis beitrug. Daher kann aus Sicht der Autorin das Ziel der Arbeit als erfüllt gesehen werden. FHS St.Gallen Soziale Arbeit, Bachelorarbeit HS 15, Claudia Caflisch / 58 Hilfe aus der Perspektive kritischer Soziale Arbeit Literaturverzeichnis Anhorn, Roland. (2012). Wie alles anfing... und kein Ende findet. Traditionelle und kritische soziale Arbeit im Vergleich von Mary E. Richmond und Jane Adams. In Roland Anhorn, Frank Bettinger, Cornelis Horlacher & Kerstin Rathgeb (Hrsg.), Kritik der Sozialen Arbeit – kritische Soziale Arbeit (S.225-270). Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften. Anhorn, Roland, Bettinger, Frank, Horlacher, Cornelis & Rathgeb, Kerstin. (2012). Zur Einführung: Kristallisationspunkte kritischer Sozialer Arbeit. In Roland Anhorn, Frank Bettinger, Cornelis Horlacher & Kerstin Rathgeb (Hrsg.), Kritik der Sozialen Arbeit – kritische Soziale Arbeit (S.1-23). Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften. Bettinger, Frank. (2012). Bedingungen kritischer Sozialer Arbeit. In Roland Anhorn, Frank Bettinger, Cornelis Horlacher & Kerstin Rathgeb (Hrsg.), Kritik der Sozialen Arbeit – kritische Soziale Arbeit (S.163-190). Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften. Böllert, Karin. (2011). Funktionsbestimmungen Sozialer Arbeit. In Hans-Uwe Otto & Hans Thiersch (Hg.), Handbuch Soziale Arbeit. Grundlagen der Sozialarbeit und Sozialpädagogik (4., völlig neu bearb. Aufl.) (S.436-444). München: Ernst Reinhardt. Cremer-Schäfer, Helga, Kessl, Fabian, May, Michael & Scherr, Albert. (2014). Über den Sinn der Streitbarkeit in Fragen von Kritik und Reflexivität. Eine virtuelle Diskussion. Widersprüche 34 (132), S.11-48. Cremer-Schäfer, Helga & Resch, Christine. (2012). «Reflexive Kritik». 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S. 24 Abbildung 2: Kriterienraster zur Beurteilung von Methoden und Handlungsleitenden Konzepten (Quelle: Stimmer, 2000, S.28)............................................................................................. S. 29 FHS St.Gallen Soziale Arbeit, Bachelorarbeit HS 15, Claudia Caflisch / 63 Hilfe aus der Perspektive kritischer Soziale Arbeit Schlussblatt Ich erkläre hiermit: dass ich die vorliegende Arbeit ohne fremde Hilfe und ohne Benützung anderer als der angegebenen Hilfsmittel verfasst habe. _______________________ St. Gallen, 6. Oktober 2015 Unterschrift Veröffentlichung Bachelorarbeit Ich bin damit einverstanden, dass meine Bachelor Thesis bei einer Bewertung mit der Note 5.5 oder höher, der Bibliothek für die Aufnahme ins Ausleiharchiv und für die Wissensplattform Ephesos zur Verfügung gestellt wird. Sie darf auch an Aussenstehende verkauft werden. x ja □ nein _______________________ St. Gallen, 6. Oktober 2015 FHS St.Gallen Soziale Arbeit, Bachelorarbeit HS 15, Claudia Caflisch / 64