1 Aufgaben und Hintergründe 1 Aufgaben und Hintergründe Bernd Röhrle 1 Einleitung 2 Einflüsse 3 Definition, Aufgaben und Ziele 4 Funktionen 5 Arten der Diagnostik 6 Schlussbemerkungen Literatur 1 Einleitung So zahlreich die unterschiedlichen Ziele und Aufgaben der klinisch-psychologischen Diagnostik sind, so vielfältig sind ihre theoretischen Grundlagen, methodischen Vorgehensweisen und auch die sie gestaltenden äußeren Einflüsse. Klinisch-psychologische Diagnostik ist dabei nicht ohne einen kontinuierlichen Diskurs möglich, der sich im Kontext dieser Vielfalt hält. Nicht zuletzt deshalb werden immer wieder Versuche unternommen, diesen Diskurs öffentlich zu vermitteln. Im englischsprachigen Bereich sind im Gefolge davon zahlreiche Bücher und Übersichtsarbeiten, teilweise in immer neuer Auflage, erschienen (Antony, 2002; Beck, 2000; Dougher, 2000, 2003; Dougher & Hayes, 2000; Goldstein & Hersen, 2000; Groth-Marnat, 2003; Haynes & Heiby, 2004; Haynes & O’Brien, 2000; Hersen, 2005a,b; Hersen & Bellack, 2002; Hersen & Porzelius, 2002; O’Brien, McGrath & Haynes, 2003; Ramsay, Reynolds & Kamphaus, 2002; Smith, Smith & Handler, 2006; Wood, Garb, Lilienfeld & Nezworski, 2002). Aber auch im deutschsprachigen Raum finden sich regelmäßig entsprechende Publikationen (vgl. zuletzt Brähler & Schumacher, 2005; Döpfner, Lehmkuhl, Heubrock & Petermann, 2000; Gaebel & Müller-Spahn, 2002; Hautzinger, 2001; Heubrock & Petermann, 2005; Laireiter, 2000a; Petermann, 2002; Reinecker & Baumann, 2005; Schulte, 1996; Schumacher & Brähler, 2004, 2006a,b; Stieglitz, Baumann & Freyberger, 2001). Das vorliegende Buch versteht sich auch als Teil dieser Unternehmungen, wobei aber viele neue Aspekte und vertiefende Betrachtungsweisen der bisherigen Diskussion deutlich werden sollen (z. B. die Diagnostik in ausgewählten Störungsbereichen). Im Folgenden werden zunächst die äußeren Einflüsse vorgestellt, welche die heutige klinisch-psychologische Diagnostik beeinflusst haben und sie bis heute noch prägen. Darauf aufbauend werden die zentralen definitorischen Bestimmungsstücke, Aufgaben bzw. Ziele und auch Arten der Diagnostik erörtert. 13 I Allgemeiner Teil 2 Einflüsse Befasst man sich zunächst mit den historischen Hintergründen der klinisch-psychologischen Diagnostik, so werden aktuelle gedankliche Linien zur Art und Weise erkennbar, wie Schlussfolgerungen gezogen werden, wie man sich den Gegenstandsbereich vorstellt und welche gesellschaftlichen Aufgabenstellungen prägend waren und sind (Bastine, 1998; Benjamin, 2005; Dougher & Hayes, 2000; Gaebel & Müller-Spahn, 2002; Lutzker & Whitaker, 2005; Mash & Hunsley, 2004; Morris, et al., 1990; Ollendick, Alvarez & Greene, 2004; Taylor, 1999). Die grundlegenden Ideen des Diagnostizierens sind eng mit dem Aufkommen der Klinischen Psychologie verknüpft. Sie fällt im engeren Sinne zusammen mit der Gründung der ersten Psychologischen Klinik im Jahre 1896 durch Witmer (1867–1956) und rund zehn Jahre später durch Goddard (1908). Beide zeigten schon ein reges Interesse an diagnostischen Fragen im klinischpsychologischen Bereich. Witmer versuchte Fallgeschichten zu aggregieren, um so allgemeine Gesetzmäßigkeiten psychischer Störungen zu erkennen, aber auch um allgemeingültige testdiagnostische Möglichkeiten zu entwickeln (O’Donnell, 1979). In diesem Zusammenhang eröffnete Witmer auch ein Testbüro für Schulauslese. Bei diesen frühen Entwicklungen der klinisch-psychologischen Diagnostik muss man sich vor Augen halten, dass ihr eine lange kulturelle Tradition vorausging, welche sie überhaupt erst möglich machte. Wahrscheinlich war das älteste diagnostische Interesse in der Kulturgeschichte der Menschheit auf Prognosen von natürlichen und politischen Ereignissen ausgerichtet (etwa im frühen Mesopotamien). Erst später war man an der Vorhersage individueller Ereignisse interessiert (ca. 500 nach Chr.). Die prognostisch wichtigsten Metho14 den waren damals die Analyse der Leber (Hepatoskopie von geweihten Schafen) und die Astrologie. Selbst im hellenistischen Zeitalter spielte die Astrologie noch eine Rolle (z. B. bei Ptolomäus, Pythagoras). Schon sehr früh lassen sich die Wurzeln des Interesses erkennen, Menschen in Typen zu unterteilen, insbesondere auch, um sie für verschiedene Aufgabenstellungen besser einsetzen zu können. So einfach dieses Interesse anmutet, so tief ist die Bedeutung der damit einhergehenden Grundannahmen: Menschen als Individuen zu bestimmen und sie, wie auch andere Dinge der Welt, klar voneinander unterscheiden zu können, ist eine der leitenden Prämissen. Zugleich entwickelten sich Vorstellungen vom Verhältnis der Phänomene zueinander (z. B. Leib und Seele), Ursache und Wirkung und zur wahrscheinlichen Zukunft interessierender Ereignisse. Mit der Unterscheidung Platons zwischen einem sozialen und nicht-sozialen Individuum wurde in der Antike die Idee der Individualität betont. Später wurde sie genährt vom christlichen Gedanken der Unsterblichkeit der Seele. In der nachfeudalen Zeit entwickelte sich daraus die Vorstellung vom prinzipiell freien, aber auch zu kontrollierenden Individuum (Hobbes). Heute ist eine auf den Einzelnen ausgerichtete Psychodiagnostik eine abendländische Selbstverständlichkeit, dennoch ist diese gerade im Vergleich mit allozentrischen Kulturen, die ja auch im Zusammenhang mit der Entstehung multikultureller Gesellschaften zu betrachten ist, in ihrer Einseitigkeit zu hinterfragen. Das auch heute noch vorherrschende taxonomische diagnostische Interesse, nicht nur in der Klinischen Psychologie, äußerte sich in der Antike zunächst bei den Stoikern (500 v. Chr.) darin, zwischen affektiven Zuständen, wie Freude, Trauer, Angst und Hoffnung, unterscheiden zu wollen. Solche Unterscheidungen können durchaus als Vorläufer einer auch klinisch-psychologisch interessierenden Differenzierung be- 1 Aufgaben und Hintergründe schreibbarer Gefühlszustände gelten. Eng damit verbunden war die Vorstellung von Theophrast (372–287 v. Chr.), der individuelle Erscheinungen von Menschen in Typen einteilte. Auf ähnliche Weise ging auch Aristoteles (384–322 v. Chr.) davon aus, dass es die Möglichkeit einer physiognomischen Diagnostik geben müsse. Sie sollte es möglich machen, den Charakter des Menschen auf der Grundlage seines physischen Äußeren zu beurteilen. Die voraussetzende Annahme hierbei war, dass sich Seele und Körper gemeinsam mit allen natürlichen Affekten verändern. Diese Diagnostik sollte ihm helfen, Schüler auszuwählen1. Bei diesem Vorgang wurde also nicht nur zwischen Individuen differenziert, sondern zudem von Beobachtbarem auf innere Eigenschaften (Traits) geschlossen. Die Annahme einer Kovariation von Leib und Seele wurde u. a. auch durch Thomasius (1691) vertreten, der mit seinem Werk „Das Verborgene des Herzens anderer Menschen auch wider Willen aus der täglichen Conversation zu erkennen‘‘ bekannt wurde. In diesem Werk findet man gar schon den Vorschlag, für diese Aufgaben Schätzskalen zu nutzen. Die Tradition der physiognomischen Diagnostik bleibt über Lavater, Kretschmer und Sheldon bis zur heutigen Zeit bestehen, zumindest wenn es darum geht, Gefühlszustände anhand von äußeren Erscheinungsbildern, z. B. im Rahmen der psychotherapeutischen Prozessforschung, zu erkennen (z. B. mit Hilfe der bekannten, von Ekman & Friesen entwickelten Methode zur Analyse von Mimik und Gestik). Letztendlich bleibt bis heute dabei die Frage: „Wie viel darf man von den zugrundeliegenden Einheiten, seien es Eigenschaften, Kognitionen oder auch unbewusste Prozesse im Sinne von Freud, noch annehmen, ohne wissenschaftstheoretische Vorgaben der Sparsamkeit und Messbarkeit zu stark zu verlet- zen?‘‘ Oder von der Gegenseite her betrachtet: „Wie viel muss man voraussetzen?‘‘ Auch die Neigung, interindviduelle Unterschiede nach (vermeintlich) stabilen Merkmalen zu typisieren, also Klassen zuzuordnen, kannte man schon in der Antike. Die Gruppierung von Personen in Temperamente ist etwa von Hippokrates (460–377 v. Chr.) vorgenommen worden, der Menschen in Sanguiniker, Choleriker, Phlegmatiker und Melancholiker einteilte. Darauf bauen seine Annahmen auf, die nicht nur Unterschiede zwischen Personen machen, sondern Schlussfolgerungen zwischen körperlichen und seelischen Phänomenen ziehen. Er führte Merkmale von Persontypen auf den Einfluss von Körpersäften wie Galle, Schleim und Blut zurück. Dabei lehnte er die damals noch üblichen Annahmen zur Wirkung transzendentaler Kräfte ab. In gleicher Weise verfuhr der römische Arzt Galen (163–201 n. Chr.). Man kann beide Sichtweisen als Vorläufer einer psychosomatischen und psychophysiologischen Diagnostik betrachten. Dabei ist die bis heute anhaltende Neigung der Diagnostik zu erkennen, äußere Gegebenheiten auf zugrundeliegende Ursachen, in diesem Fall körperlicher Art, zurückzuführen. Diese Idee entwickelte Sydenham im 17. Jahrhundert bei der Erkundung hysterischer Zustände zur Lehre einer Pathologie mit dem Verhältnis von Ursachen und Symptomen weiter. Darüber hinaus hatte Hippokrates im Zuge seiner Gesundheitslehre (Diätik) auch die Vorstellung, dass es möglich sei, Frühsymptome einer Erkrankung zu erkennen; was heute als Frühdiagnostik, Vulnerabilitätsoder Risikoanalyse bezeichnet werden würde. Der Blick auf rationale diagnostische Zusammenhänge, wie er sich schon bei Hippokrates andeutete, sollte aber erst im Gefolge der Aufklärung seine Blütezeit haben. 1 Im alten China (etwa 2000 v. Chr.) gab es schon die Tradition der Auswahl geeigneter Führungspersönlichkeiten mit Hilfe von Literaturprüfungen. 15 I Allgemeiner Teil So wurden im 19. Jahrhundert psychische Eigenschaften als quasi-stabile Einheiten zunehmend vermessen. Dabei wurden auch die Grundlagen des experimentellen Denkens gelegt. Hier ist auch der Beginn der Messtheorie in der Psychologie zu sehen. Methoden der Psychophysik (z. B. messbare Reizdarbietungen) wurden zur Grundlage einer objektiven und analytisch orientierten Diagnostik. Zu erinnern ist in diesem Zusammenhang an Cattell, einen Schüler Wundts, der 1890 den ersten „Mental Test‘‘ entwickelte (Mental Tests and Measurement). Er war es auch, der die erste psychologische Klinik eröffnete, um Schulauslese betreiben zu können. Galton schrieb 1883 sein Werk „The Measurement of Character‘‘ und stellte darin Ratingskalen, Papier-Bleistift-Tests und sensumotorische Tests (z. B. für Reaktionszeitmessungen) vor. Der Testbegriff soll im Übrigen auf ihn zurückgehen. Das naturwissenschaftlich begründete Interesse setzt sich in der Entwicklung zahlreicher Fähigkeitstests fort. Dazu gehörte zum Beispiel das von Binet um 1905 konstruierte Instrument zur Schwachsinnsdiagnostik oder der für militärische Zwecke von Yerkes (1921) um 1915 konstruierte Army Alpha und Beta Test. Aber auch schon im engeren Sinne klinisch-psychologische Verfahren zur Identifikation psychisch gestörter Personen (Soldaten) wurden auf messtheoretisch begründetem Niveau entwickelt; z. B. das Personal Data Sheet von Woodworth (1919), so von Hollingsworth (1920) benannt und auch weiter verarbeitet. Die Suche nach einer möglichst exakten diagnostischen Messung setzt sich bis heute fort und verbindet sich zuletzt auch mit Hoffnungen auf eine noch fehlerfreiere, durch Computer gesteuerte Diagnostik (Berger, 2006; Butcher, Perry & Hahn, 2004). Das Interesse an der Klassifikation unterschiedlicher psychischer Störungen ist im Wesentlichen durch Kraepelin, ebenfalls 16 ein Schüler Wundts, begründet worden. Die Klassifikation psychischer Störungen heutiger Prägung, aber auch die Entdeckung von Syndromen (Merkmalsmuster von Symptomen), wäre ohne diese ersten Einteilungen und ihre Methoden (induktives klinisches Schließen) nicht denkbar (vgl. Stieglitz, 2000). Ebenso wenig vorstellbar wäre die auf das Jahr 1939 zurückgehende Entwicklung eines bis heute genutzten klinisch-psychologischen Testverfahrens, dem Multiphasic Minnesota Personality Inventory (MMPI). Seit den 1960er Jahren ist eine deutliche Wende in der klinisch-psychologischen Diagnostik zu erkennen: Sie führt weg von einer dominant eigenschaftsorientierten Diagnostik hin zu einer Milieuorientierung und zu einer situationistisch geprägten Diagnostik. Diese Wende wurde bedingt durch: ● ● die Kritik an der psychiatrischen Diagnostik und am damit verbundenen medizinischen Krankheitsmodell, sowohl aus testtheoretischer als auch aus sozialwissenschaftlicher Sicht. Die fehlende Zuverlässigkeit der diagnostischen Verfahren, die Stigmatisierungsfolgen der Diagnostik und zu weit reichende Schlussfolgerungen sind einige dieser Kritikpunkte. den Einfluss von Lerntheorien und ökologischen Theorien, wie denen von Skinner, Thorndike und Barker: Der wesentliche Erkenntnisfortschritt dieser Zugänge für die Diagnostik bestand darin, dass die empirische Bedeutung von Personmerkmalen erheblich zugunsten von Situationsmerkmalen relativiert wurde (Haynes & O’ Brien, 2000). Etwas später nahm die Vorstellung einer Wechselwirkung zwischen Person und Situation eine vermittelnde Position ein (Interaktionismus). Insbesondere durch die Perspektive der Ökologischen Psychologie wurde eine noch weitergehende Wende vollzogen. Sie reduzierte die Bedeutung 1 Aufgaben und Hintergründe des Individuums und wies im Sinne eines Analogieschlusses wichtigen Rahmenbedingungen (z. B. sozialen Klimata von Behandlungseinrichtungen) anfänglich sogar Persönlichkeitsprofile zu. Eng mit diesen Entwicklungen verknüpft sind auch die Erkenntnisse, dass durch Modifikation von Situationsmerkmalen (Verhaltensauslöser, Hinweisreize, Konsequenzen) individuelles Verhalten modifiziert werden kann. Solche Einsichten kennzeichnen die Geburtsstunde von empirisch begründeten Therapiemethoden, insbesondere der Verhaltenstherapie. Andere Therapiemethoden verfolgten diesen Gedankengang mit wenigen Ausnahmen anfangs nur sehr zögerlich (vgl. Laireiter, 2000a). Mit der Erkenntnis, dass durch genaue situative Analysen auch etwas zur Modifikation unerwünschten Verhaltens gewonnen werden kann, stärkte sich das Interesse an modifikationsorientierten Zielen der Diagnostik. Dieses Interesse führte zu Fragen nach der Auswahl und Gestaltung von verhaltensrelevanten Bedingungen, um mögliche Modifikationsziele zu erreichen, aber auch zu Fragen, ob und wie man sich dem gesetzten Ziel annähern könne. So erweiterten sich Fragen der modifikationsorientierten Diagnostik zu speziellen Anliegen einer Prozess- und Erfolgsdiagnostik bis hin zu dem, was man heute als Qualitätsmanagement oder evidenzbasierte Diagnostik bezeichnet. Im Gefolge dieser Entwicklungen wurden auch wieder gedankliche Verbindungen zur Eigenschaftsdiagnostik gesucht und zwar im Zusammenhang mit Fragen, die helfen sollten zu entscheiden, welche Person mit welcher psychischen Störung, in welchem Kontext am meisten von ausgewählten Behandlungsbemühungen profitieren kann (differentielle Indikation). Diese Verfeinerung der Fragen ist nicht nur Ausdruck eines immer genauer werdenden Zugangs klinisch-psychologischer Diagnostik, sie ist auch die Wiederaufnahme einer schon in der Antike mit der Entdeckung des Individuums einhergehenden wissenschaftstheoretisch begründeten Sichtweise: Danach sind diagnostische Erkenntnisse immer nur individuell und situationsspezifisch möglich. Sie betonen also eine ideographische Sicht. Diese Art des Zugangs, etwas diagnostisch zu objektivieren, steht im Widerspruch zur Suche nach allgemeinen Gesetzlichkeiten und Ordnungen im Rahmen einer sogenannten nomothetischen Orientierung (vgl. Cone, 1986; Nelson-Gray, 1996; Pervin, 1984). Neben diesen ideengeschichtlichen Einflüssen auf die (klinisch-)psychologische Diagnostik waren auch jeweils gesellschaftliche Lagen und Interessenzusammenhänge prägend. Zugespitzt formuliert, könnte man die Entwicklung der Diagnostik primär mit menschlichem Elend, Krieg und ökonomischen Verwendungsinteressen in Zusammenhang bringen. Auch der erhebliche Professionalisierungsschub gestaltet diese Entwicklung mit. Als in der Antike mit dem Aufkommen der Stadtstaaten Epidemien ausbrachen, stärkte sich das Interesse an der Heilkunst und gesunden Lebensformen. Dies war zweifellos, neben den ideengeschichtlichen Einflüssen, ein weiterer Anlass für die Entwicklung der frühen diagnostischen Fragestellungen. Besonders deutlich werden die Verwendungsinteressen mit dem Beginn der industriellen Revolution, welche nach einer extensivierenden Phase (wahllose Nutzung von Arbeitskräften) die Intensivierung der Arbeit erforderlich machte (gezielte Auswahl von qualifizierten Arbeitskräften). Gleichzeitig kam es zu einem weiteren Aufblühen von Handel und Wissenschaft, zur Stärkung des Bürgers und zu einer größeren gesellschaftlichen Differenzierung. Dies wiederum verstärkte das Interesse an der Auswahl geeigneter Personen für unterschiedliche Bildungswege und für andere Anwendungszusammenhänge, wie z. B. die Auswahl von Personen für Kriegsdienste. 17 I Allgemeiner Teil Auch die Zuweisung einer Krankheitskategorie ist eine Entscheidung, die für Krankenkassen oder andere Sicherungssysteme wichtig ist, um Arbeitskraft zu erhalten oder wieder herzustellen. Allerdings weichen diese modernen Entscheidungen von den vorausgehenden Aufgaben insofern ab, als damit auch ein therapeutisches, rehabilitatives, also letztlich modifikationsorientiertes diagnostisches Interesse einhergeht. Zuvor war dieses Interesse an einer möglichst optimalen Zuordnung von Personen auf die für sie geeigneten oder verfügbaren gesellschaftlichen Plätze verbunden. Erst mit dem Aufkommen therapeutischer Möglichkeiten und Notwendigkeiten findet fast zeitgleich auch die schon erwähnte modifikationsorientierte Diagnostik ihre Position. In den fünfziger Jahren des 20. Jahrhunderts ergaben volkswirtschaftliche Berechnungen, dass für psychisch Kranke die Behandlungskosten geringer seien als reine Verwahrkosten (Fein, 1958). Die aktuellen Bemühungen um kostengünstige, optimalisierte Behandlungsformen und eine damit einhergehende Diagnostik in der Gestalt von „Managed Care‘‘, „Integrierter Versorgung‘‘ und „Qualitätsmanagement‘‘ sind insoweit also nichts Neues (Fydrich, 2005; Groth-Marnath, 2000; Härter, Linster & Stieglitz, 2003; Laireiter & Vogel, 1998; Stricker, Troy & Shueman, 1999). In diesem Zusammenhang darf nicht vergessen werden, dass sich auch der kulturelle und institutionelle Umgang mit psychischen Störungen im Laufe der Geschichte prägend auf die diagnostischen Aufgaben ausgewirkt hat. In frühen Zeiten wurden psychische Störungen als mystische Erscheinungen angesehen und waren als solche lange einem durch die Vernunft geprägten Zugang versperrt. Ausnahme davon waren die schon erwähnten antiken und auch noch im Mittelalter vertretenen Annahmen zu möglichen körperlichen Ursa- 18 chen psychischer Beeinträchtigungen. Mit der Befreiung der „Irren‘‘ während der französischen Revolution wuchs zum ersten Mal das Interesse an einer richtigen Zuweisung der Personen. Im Rahmen dieser Befreiung ging es darum, Armut, Kriminalität und Erkrankung zu trennen. Es galt, psychisch kranke Menschen mehr oder weniger verwahrenden, pädagogisch orientierten bis hin zu unmenschlichen, vermeintlich vernünftig geprägten Behandlungsvorstellungen des „Moral Treatment‘‘ zuzuweisen. Etwas später, mit Ende des 19. Jahrhunderts, kam die Psycho- und Soziohygienebewegung in den Vereinigten Staaten auf. Auch sie bemühte sich um eine bessere Versorgung psychisch Kranker. Dieses Interesse ist bis heute wach geblieben, wenn es z. B. um die Frage geht, ob ein stationärer Aufenthalt notwendig, eine ambulante Behandlung sinnvoller oder die Unterbringung in einer Wohngruppe die geeignetere Maßnahme ist. Dabei ist zu bedenken, dass sich die Behandlungsangebote und damit auch die diagnostischen Anforderungen nicht notwendigerweise und vorrangig an den Erfordernissen der Patienten orientieren. Vielfach sind sie durch Interessen zahlreicher Lobbyisten geprägt. 3 Definition, Aufgaben und Ziele Aus der geschilderten gedankengeschichtlichen und von gesellschaftlichen Interessen geformten Entwicklung der (klinisch-)psychologischen Diagnostik haben sich sehr unterschiedliche Ziele, Aufgaben und Arten der Diagnostik entwickelt. Gleichwohl gibt es hinreichend viele Gemeinsamkeiten, die eine übergreifende Definition möglich machen: 1 Aufgaben und Hintergründe Klinisch-psychologische Diagnostik ist die wissenschaftlich begründete Erhebung klinisch-psychologisch bedeutsamer Phänomene mit Hilfe valider und reliabler Methoden, die unterschiedliche Ebenen und Aspekte des zu Diagnostizierenden (Systeme, Situationen, Kognitionen, Verhalten, biopsychologische Indikatoren), Datenquellen und Zeitpunkte nutzen. Die gewonnenen Daten dienen als Hilfe für Schlussfolgerungen und Entscheidungen, die für Auftraggeber und Ausführende so sparsam wie notwendig und so nützlich und ethisch einwandfrei wie möglich sein sollten (vgl. hierzu Heiby & Haynes, 2003, S. 7). Über Methoden der Datengewinnung wird an anderer Stelle in diesem Band und auch in weiteren Publikationen unterrichtet (Kap. 14 in diesem Band; Stieglitz et al., 2001; Schumacher & Brähler, 2006 a,b; verschiedene Autoren im störungsspezifischen Teil dieses Bandes und in Petermann & Reinecker, 2005). Die Wahl einer Erhebungsmethode ist zunächst mit der Frage verbunden, welches Instrument mit welcher Güte (Genauigkeit, Zuverlässigkeit, Objektivität) das zu erhebende Phänomen abbildet, und zwar im Sinne von Vollständigkeit, Nützlichkeit und auch ethischer Vertretbarkeit. Die Güte einer Erhebungsmethode wird durch vielerlei Kriterien bestimmt. Die Vielzahl dieser Kriterien, und auch ihr Verhältnis zueinander, können an dieser Stelle allenfalls angedeutet werden. Sie sind so zahlreich wie die Methoden, sie zu bestimmen; und dies in Abhängigkeit der Art der diagnostischen Zielsetzungen und Vorgehensweisen (s. u.). Des Weiteren kommt ihnen eine unterschiedliche Bedeutung in verschiedenen Modellen der Datenerfassung zu: im Modell der klassischen und dem der probabilistischen Testtheorie (vgl. hierzu z. B. Fisseni, 2004; Kubinger, 1999; Rost, 2004; Schuchmann, 2002; Suen & Rzasa, 2004). Die Reliabilität oder Zuverlässigkeit einer Erhebung hängt von Merkmalen des diagnostischen Objekts (z. B. der Stabilität eines emotional gefärbten mimischen Zustandes) und der Messgenauigkeit des Instrumentes ab (z. B. Feinkörnigkeit eines Kategoriensystems für pathologische emotionale Zustände), mit dem das Objekt erfasst werden soll (wobei Objekte entweder Beobachtbares oder Erschlossenes darstellen können: z. B. aggressives Verhalten und angenommene Feindseligkeit)2. Sie hängt auch davon ab, inwieweit die festgestellte Reliabilität über Personen und Situationen zu verallgemeinern ist. Hier entsteht insbesondere im Zusammenhang mit der Aufgabe, Veränderungen nachzuweisen, ein Dilemma: Einerseits sollten die Messinstrumente stabil, andererseits sollen sie veränderungssensitiv sein. Die Objektivität eines Verfahrens bestimmt sich aus der Stabilität gegenüber fehlerproduzierenden Einflüssen, die sich aus der Art der Erhebung und Auswertung ergeben. Das Ausmaß an Genauigkeit kann vielfach nicht unmittelbar bestimmt werden. Tatsächlich sind hier Verfahren unterschiedlicher Art gefragt, um sich der Genauigkeit immer gewisser werden zu können. Die Genauigkeit (Validität) eines Verfahrens gibt das Ausmaß wieder, mit dem das zu Erhebende auch tatsächlich erfasst wird. Der Prozess des Zuwachses an Validität durch die Wahl von Erhebungsverfahren und -strategien wird als Zuwachsvalidität (Incremental Validity) bezeichnet (vgl. Garb, 2003; Hunsley & Meyer, 2003). Je mehr ein Verfahren das Alltägliche, Naturalistische des zu Diagnostizierenden erhebt, 2 Der Begriff des Objektes wird bewusst gewählt, weil nicht nur Personen, sondern auch Umweltbestände gemeint sein können. 19 I Allgemeiner Teil umso ökologisch valider ist es (Angststörungen sehen im Alltag eines Patienten anders aus, als es das Kreuz in einem Angstfragebogen wiedergeben kann; dies gilt selbst für diagnostische Beobachtungssituationen, da auch dort mit dem Einfluss des Diagnostikers gerechnet werden muss). Wenn eine Beobachtung offensichtlich zutrifft, wird dies als Augenscheinvalidität bezeichnet (z. B. wenn jemand ängstlich im Beisein einer kleinen Maus reagiert). Inhaltsvalidität liegt vor, wenn das zu Messende von Experten als eindeutig erkannt wird (z. B. gehörte Stimmen, die physikalisch nicht nachzuweisen sind). Die Genauigkeit von Vorhersagen ist im Begriff der prädiktiven Validität gefasst. Lassen sich mit einem entsprechenden Messinstrument besonders gut Veränderungen abbilden, so ist es änderungssensitiv. Kann ein Instrument im Beobachtungsstrom ein singuläres Ereignis entdecken (z. B. körperdysmorphe Störungen), so gilt es als klassifikatorisch sensitiv. Wird das diagnostische Objekt mit unterschiedlichen Instrumenten, aber mit gleicher Zielsetzung erfasst, so wird die konvergente oder auch konkurrente Validität überprüft. Wird das diagnostische Objekt durch vielerlei Testungen oder experimentelle Arrangements im Sinne eines hypothetischen Konstrukts erschlossen, so spricht man von Konstruktvalidität (z. B. wird Feindseligkeit mit Hilfe von Aggressionsmaßen, gezielten Frustrationen etc. gemessen). Sucht man nach kovariierenden Mustern solcher Messungen, so handelt es sich in der Regel um eine faktorielle Validität (Faktorenanalysen dienen dabei als statistische Grundlage, auch sind hier andere Verfahren wie Cluster- und latente Strukturanalysen zu nennen). In Abhängigkeit von der Frage, wie genau ein Erhebungsinstrument das diagnostische Objekt von einem anderen unterscheiden kann (z. B. Angststörung von Depression), spricht man von differentieller oder diskriminativer Validität. 20 Neben diesen grundlegenden Gütekriterien eines diagnostischen Verfahrens sind weitere zu nennen, wie seine Nützlichkeit oder Ökonomie, Zumutbarkeit und auch ethische Vertretbarkeit (vgl. Baumann & Stieglitz, 2001; Laireiter, 2000b). Die ethischen Richtlinien der American Psychological Association (APA) geben vor, dass klinischpsychologische Diagnostik folgendermaßen beschaffen sein soll: umfassend, fehlerfrei, dauerhaft integer, angemessen normbezogen, auf der Grundlage testtheoretischen Wissens basierend, für Rückmeldungen geeignet, Eigenschaften der betroffenen Personen berücksichtigend und zwar in Hinsicht auf Geschlecht, Alter, Rasse, Ethnizität, Nationalität, Religion, sexuelle Orientierung, Behinderung, Sprache und sozioökonomischen Status (APA, 1992, S. 1603; vgl. Knapp & Vandecreek, 2006). Durch die Vielgestaltigkeit der zu diagnostizierenden klinisch-psychologischen Phänomene und Aufgabenstellungen ist es meist notwendig, mehrere Erhebungsverfahren zu nutzen. Hierzu informiert u. a. Stieglitz ausführlich in diesem Band (s. Kap. 14). Oft wird ein Kompromiss zwischen verschiedenen Ansprüchen in Hinsicht auf die Güte eines Verfahrens nötig. So sind in der diagnostischen Praxis immer wieder Kompromisse zwischen Genauigkeit, Zuverlässigkeit und Vertretbarkeit zu machen (z. B. folgen Patienten oft mit wenig Begeisterung der Bitte, Fragebogen mit guten Testkennwerten auszufüllen; dagegen sind sie eher bereit, diagnostische Daten im freien, aber eher unzuverlässigen Gespräch zu liefern). 4 Funktionen Die Funktionen oder Aufgabenstellungen der so definierten (klinisch-psychologischen) Diagnostik sind ausgerichtet auf das Fest- 1 Aufgaben und Hintergründe stellen, Beschreiben, Klassifizieren bzw. Selektieren von Personen, Person- oder Umweltmerkmalen. Diese Art von Diagnostik will analysieren bzw. erklären, Interventionsziele und -maßnahmen festlegen, psychische Störungen und psychische Begleiterscheinungen von körperlichen Erkrankungen, Behinderungen und Beschwerden prognostizieren (vgl. Bastine, 1998; Baumann & Stieglitz, 2001; Laireiter, 2000b; Perrez, 1985; Reinecker-Hecht & Baumann, 2005; Schumacher & Brähler, 2006a). Unter Beschreibung versteht man die Festlegung des Problem- und/oder Zielverhaltens (Symptomatologie) und seiner Topographie (Eigenschaften, Intensität, Verlauf, etc.), der Umstände (Ursachen) und der Problemträger. Es geht also um die für verschiedene Urteilende nachvollziehbare Festlegung des jeweiligen diagnostischen Objekts, wie zum Beispiel einer Angststörung in ihren unterschiedlichen Auftretensaspekten (z. B. Fluchtverhalten, berichtete Emotionen, gemessene Emotionsindikatoren) zu Hause oder an öffentlichen Plätzen. Eine entscheidende Vorannahme dieser grundsätzlichen Tätigkeit ist, dass solche Beschreibungen völlig objektiv und auch theoriefrei sein sollten. Diese Vorannahme ist schwer zu erfüllen, da die Urteilenden vielerlei a priori Hypothesen, mehr oder weniger implizite Repertoire- und Auffälligkeitshypothesen in den diagnostischen Prozess einbringen. Diese Hypothesen sind lebensgeschichtlich, aber auch durch die berufliche Sozialisation und letztlich auch durch kulturelle Einflüsse geprägt. Theoriefreie Beschreibungen sind darüber hinaus deshalb nicht möglich, weil sie ohne einen Interpretationsrahmen zu sinnlosen Aussagen führen würden (hier versteckt sich der in Vergessenheit geratene Positivismusstreit der Wissenschaftstheorie). Im Kontext einer solchen Perspektive bleiben zu diagnostizierende psychische Störungen immer ein bewertetes menschliches Merkmal, dessen Wertungsgrundlagen sich von Urteilendem zu Urteilendem und von Kultur zu Kultur erheblich unterscheiden können. Es mag übergreifende, aber letztlich nur weiche gemeinsame Kriterien geben, wie erlebte oder zugeschriebene Beeinträchtigung von Patienten und ihrer Bezugspersonen oder Abweichung von einer sozialen oder statistischen Norm (vgl. Vollmoeller, 2005). Unter Klassifikation und Selektion verstehen wir diagnostische Tätigkeiten, die nach bestimmten Regeln Personen- oder Situationsmerkmale aussuchen, um sie bestimmten Merkmalsgruppen zuzuordnen. In der Regel handelt es sich hierbei um eine Zuweisung in eine durch Experten festgelegte Klasse von Personmerkmalen mit Hilfe international anerkannter Systeme. Einige davon erheben Anspruch darauf, theorieund wertungsfrei zu sein; eine Annahme, die aufgrund des eben Gesagten als irreführend bezeichnet werden muss. Die Klassifikation und Selektion von Personen, selten auch von Bedingungen, will letztlich eine Reduktion von Komplexität (Individualität) erreichen. Dies geschieht durch die Zusammenfassung diagnostischer Objekte nach ihrer Ähnlichkeit, um zu einfachen Entscheidungen in der Auswahl von Personen oder Bedingungen, Detailanalysen, Prognosen und Bewertungen kommen zu können. Auch soll der jeweilige Gegenstandsbereich dadurch kommunizierbar gemacht werden (vgl. Baumann, 2005; Kap. 12 in diesem Band; Saß & Saß-Houben, 2005; Schmidt & Klein, 2005; Stieglitz, 2000; Wittchen, 2006). Die dieser diagnostischen Funktion zugrundeliegenden Annahmen gehen in der Regel von der Konstanz und geringen Beeinflussbarkeit der diagnostischen Objekte aus. Unter dieser Vorgabe sollen vor allem Personen so ausgewählt werden, dass sie nicht fälschlicherweise einer anderen Gruppe von Personen zugeordnet werden als der, die man als diagnostische Einheit im Auge hat (Differentialdiagnostik). So gilt es, z. B. Zwangsgedanken einer Zwangsstörung von sol21