Psychosoziale_Beratung_Tagay

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JMD Tagung
Essen, 11.04.2016
Psychosoziale Beratung:
Traumatisierte Klienten in der Beratung –
Unterstützungsmöglichkeiten und Hilfeangebote
PD Dr. Sefik Tagay
Klinik für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie
Universität Duisburg-Essen
Gliederung
(1) Bedeutung von Trauma
(2) Entwicklungswege nach Trauma
(3) Traumatisierungen bei Kindern und Jugendlichen
(4) Unbegleitete minderjährige Flüchtlinge
(5) Flucht und Trauma am Beispiel der Eziden
(6) Wege des Helfens…
Wichtige Fragen
 Was macht krank? ___Risikofaktoren: Belastungen / Traumata
 Was hält gesund?
___Schutzfaktoren: Ressourcen / Resilienz
___Salutogenese
 Wie hängen Risiko- und Schutzfaktoren zusammen?
Hat KULTUR einen Einfluss auf Krankheit und Gesundheit?
Was bedeutet Trauma?
Traumadefinition nach DSM-IV
Traumadefinition nach dem Klassifikationssystem Psychischer
Störungen (DSM-IV) (APA, 1994):
Kriterium A1: Die Person erlebte, sah oder war konfrontiert mit
einem oder mehreren Ereignissen, die aktuellen oder möglichen
Tod oder schwere Verletzung beinhalteten oder eine Bedrohung
der physischen Integrität der eigenen Person oder der anderer.
Kriterium A2: Die Reaktion der Person beinhaltete
intensive Furcht, Hilflosigkeit oder Entsetzen.
Was ist ein psychisches Trauma?
Unterscheidung zwischen:
Belastung, Stress, kritisches Lebensereignis und Trauma
 Belastung, Stress („critical life events“)
hohe Belastung z.B. durch Krankheit, berufliche Probleme, finanzielle
Schwierigkeiten, Umzug, Kündigung, Trennung, Schwangerschaft…
 Trauma (Psychotraumatologie)
„Überlebensschuld“
Primo Levi
„Überlebensschuld“
Primo Levi selbst blieb nach seiner
Befreiung aus dem KZ Ausschwitz
zutiefst mit der Frage beschäftigt, dass es
gerade jene, die nichts zu ihrem Überleben
beigetragen hatten, sind, die sich der
unterlassenen Hilfeleistung für andere
schuldig fühlen: „Es ist nur eine
Vermutung, ja eigentlich nur der Schatten
1919-1987
Italienischer Schriftsteller
eines Verdachts: dass jeder der Kain
Überlebender des Holocaust
1987 Tod durch Suizid
seine Nächsten verdrängt hat und an seiner
seines Bruders ist, dass jeder von uns …
Statt lebt“ (1986).
Paul Celan (1920-1970)
Als jedoch 1941 rumänische und deutsche
Truppen Czernowitz (Ukraine) besetzten,
wurden die Juden in das örtliche Ghetto
gezwungen, von wo Celans Eltern 1942 in
ein Lager in Transnistrien (Moldawien)
deportiert wurden. Dort starb sein Vater an
Typhus, seine Mutter wurde erschossen. Die
Deportation und der Tod seiner Eltern
hinterließen tiefe Spuren in Paul Celan. Er
litt für den Rest seines Lebens unter dem
1920-1970
Deutschsprachiger Lyriker
Überlebender des Holocaust
1970 Tod durch Suizid
Gefühl, seine Eltern im Stich gelassen zu
haben. In seinen Gedichten sind zahlreiche
Verweise auf dieses Trauma zu finden
Entwicklungswege
nach Trauma…
Mögliche Entwicklungswege nach einem Trauma
Tagay et al. 2013, Psychotherapeut
Psychopathologischer Entwicklungsweg
adaptiv
Adaptiver / salutogenetischer
Entwicklungsweg
Traumafolgestörungen
Neurobiologische
Veränderungen
Erhöhte Vulnerabilität
für psychische Störungen
salutogenetisch
Trauma
Ohne psychiatrische
Morbidität /
Kompensation durch
Abwehrmechanismen
Gute Bewältigung
aufgrund personaler,
sozialer und struktureller
Ressourcen
Persönliche Reifung
„Posttraumatisches Wachstum“
• Akute Belastungsstörung
• PTSD
• Andauernde
Persönlichkeitsänderung nach
Extrembelastung
• Traumaentwicklungsstörung
Neurobiologische, kognitive,
emotionale, motivationale und
behaviorale Veränderungen
Psychische Störungen
• Depressionen
• Angststörungen
• Somatoforme Störungen
• Dissoziative Störungen
• Anpassungsstörungen
• Essstörungen
• Psychotrope Störungen
• Persönlichkeitsstörungen
• Entwicklungsstörungen
• Sonstige psychische Störungen
Bei Chronifizierung:
Hohe psychische
Komorbidität!
Persönliche Reifung
erschwert
Grundannahmen
Ronnie Janoff-Bulman (1992)
„shattered assumptions“
Resilienz
Psychische
Widerstandsfähigkeit
Sense of Coherence (Kohärenzgefühl)
nach Antonovsky (1987)
Verstehbarkeit: Die Überzeugung, dass ein Großteil der Erfahrungen und
Ereignisse des Lebens verstehbar ist (Bindung, Zugehörigkeit, innere und äußere
Sicherheit…)
Kontrollierbarkeit / Handhabbarkeit:
Die Erfahrung, dass das eigene
Leben kontrollierbar und handhabbar ist (Handlungsmöglichkeiten…)
Bedeutsamkeit / Sinnhaftigkeit:
Das Gefühl, dass das eigene Leben einen
Sinn hat und bedeutsam ist (Akzeptanz, Sinn, Teilhabe an Entscheidungen, Achtung…)
Schutzfaktoren (Ressourcen)
(Bengel et al., 2009)







Personale Ressourcen
Positives Temperament
Kognitive Fähigkeiten
Positive Selbstwahrnehmung
Selbstwirksamkeitserwartungen
Soziale Kompetenzen
Aktive Bewältigungsstrategien
Kreativität und Phantasie
Familiäre Ressourcen
 Stabile Bindung zu mindestens einer Bezugsperson
 Emotional warmes aber auch klar strukturiertes Erziehungsverhalten
 Positive Beziehung zu Geschwistern
Soziale Ressourcen
 Soziale Unterstützung
 Qualität der Bildungsinstitution
Tagay et al., 2014
Ressourcen-Instrumente
Das Essener Ressourcen-Inventar (ERI)
Das Essener Ressourcen-Inventar für Kinder und Jugendliche (ERI-KJ)
Personale
Ressourcen
Soziale
Ressourcen
Strukturelle
Ressourcen
Symptomatik
nach Trauma
Das frühzeitige Erkennen von Traumata
Wichtige Hinweiszeichen auf Traumatisierung sind insbesondere:
 Konzentrations- und Gedächtnisschwierigkeiten
 Massive Schlafstörungen und Alpträume
 Diffuse Gefühle von Angst und ständiger Bedrohung
 Starke Vermeidung spezieller Aktivitäten und Situationen
 Körperliche Beschwerden, wie Kopfschmerzen, Übelkeit, Bauchschmerzen
 Ständige Nervosität und Schreckhaftigkeit
 Häufige Konflikte mit anderen Menschen
 Großes Misstrauen gegenüber Menschen
 Antisoziales Verhalten / Aggressivität / Impulsivität
Typische Merkmale nach Trauma
Wie sie sich i.d.R. innerhalb von Wochen oder Monaten, aber gelegentlich auch erste
später einstellen
- Sich aufdrängende lebhafte Bilder des traumatischen Ereignisses (flashbacks)
oder einschießende Erinnerungen (Intrusionen), bei einem gleichzeitigen Gefühl
von emotionaler Betäubung (bumbing)
- Vermeiden von Situationen, die an das Trauma erinnern. „vergessen wollen aber
nicht vergessen können“
- Hohes Stressniveau mit Reizbarkeit, Schreckhaftigkeit, Konzentrations- und
Gedächtnisstörungen, Schlaflosigkeit und Alpträumen.
Somatoforme Beschwerden und Traumatisierung
Tagay et al., 2004, PPmP
Tagay et al., 2010, Eur Eat Disord Rev
N=483
25
Anzahl Beschwerden
p≤0,001
21,1
20
15
9,71
10
5
3,4
0
*
Normwerte
ohne Trauma
PTSD
N=2050,
Rief et al., 2001
ETI, Essener Trauma-Inventar
Traumatisierungen bei
Kindern und Jugendlichen
15 Mal höhere PTBS-Rate bei Flüchtlingskindern (BPtK, 2015)
Studien, die mit Kindern von Flüchtlingen in Deutschland durchgeführt
wurden, zeigen, dass fast die Hälfte dieser Flüchtlingskinder deutlich
psychisch belastet ist (Gavranidou et al., 2008). Rund 40 Prozent sind durch
das Erlebte in wichtigen Lebensbereichen wie zum Beispiel dem schulischen
Lernen und den zwischenmenschlichen Beziehungen deutlich eingeschränkt.
Jedes fünfte Kind erfüllt das Vollbild einer Posttraumatischen
Belastungsstörung (19 %). Das ist 15 Mal häufiger als bei in Deutschland
geborenen Kindern (Ruf et al., 2010). In Deutschland sind 1,2 Prozent der
Kinder und Jugendlichen von einer PTBS betroffen (Essau et al., 1999).
Anzahl
Traumata und Traumasymptomatik
(ETI-KJ)
Anzahl
derderTraumata
und
PTSD-Symptomatik
(Tagay et al., 2013)
N=195, Alter: 14.4 Jahre
ETI-KJ, Essener Trauma-Inventar für Kinder und Jugendliche
Körperliche Beschwerden und Trauma-Symptomatik:
Körperliche Beschwerden und Traumasymptomatik
Kinder und Jugendliche, N=276, Alter =14,4 Jahre
(Tagay et al., 2011)
Körperliche Beschwerden, nach Auftritt des schlimmsten Ereignisses
4,5
4
3,89
p≤0,001
Mittelwert
3,5
3
2,5
2,33
2
1,5
1
0,5
0,63
0
unauffällig
grenzwertig
Trauma-Symptomatik (ETI-KJ)
klinisch auffällig
Die sensibilisierte Alarm-Reaktion
• Ständiges Nachdenken über die gefährliche Situation
• Spezifische Erinnerungen werden generalisiert
• Aktivierung bei Triggern, obwohl die Gefahr vorüber ist
• Schneller Übergang von Furcht zu massiver Angst und Erleben von Terror
• Alltägliche Stressoren führen zu einer Überreaktion
•
Dauernder Angstzustand wird zu einer Persönlichkeitskomponente
Traumadiagnostik
Essener Trauma-Inventar (ETI)
Essener Trauma-Inventar für Kinder und Jugendliche (ETI-KJ)
“Niemals Gewalt”
Astrid Lindgren (1907-2002)
Astrid Lindgren, 1978
Essener Trauma-Inventar (ETI) Tagay et al., ZPPM
Essener Trauma-Inventar für Kinder und Jugendliche (ETI-KJ)
Tagay et al., 2011, ZKJP
ETI und ETI-KJ inzwischen auch als Interview vorhanden!
http://www.uni-due.de/rke-pp/
ETI mittlerweile in 15
ETI-KJ
Sprachen vorhanden!
in 10 Sprachen!
Unbegleitete minderjährige
Flüchtlinge (UMF)
50% der Flüchtlinge weltweit
unter 18 Jahren (UNHCR, 2014)
Ca. 45.000 UMF in Deutschland,
davon rund 9000 in NRW (BumF, 2015)
Warum kommen Kinder und Jugendliche ohne ihre Eltern? (BumF, 2015)
Warum kommen Kinder und Jugendliche ohne ihre Eltern?
- Je länger die Bürgerkriege in Syrien und in Teilen des Iraks sowie Afghanistans dauern, die die größte
Flüchtlingskrise seit dem zweiten Weltkrieg ausgelöst haben, desto häufiger werden Familien versprengt und
desto schwächer werden die finanziellen Ressourcen der geflüchteten Familien. Oft reicht das Geld nur dafür,
einem Familienmitglied die Flucht zu ermöglichen.
- In den Hauptherkunftsländern von UMF kommt es entweder zu Zwangsrekrutierungen
von
Minderjährigen durch radikale Milizen (Afghanistan, Irak, Somalia und Syrien) oder Jugendliche werden
zum Militärdienst gezwungen (Eritrea). Wenn das Geld nicht für alle reicht, entscheiden sich Eltern daher
oft, ihre Söhne im Teenageralter in Sicherheit zu bringen.
- Viele Familien können nicht gemeinsam fliehen, weil es Kleinkinder oder erkrankte
Familienmitglieder gibt, mit denen die Flucht nicht möglich ist. Teenager werden dann zum Teil mit entfernten
Angehörigen oder Bekannten auf die Flucht geschickt, um zumindest diese in Sicherheit zu bringen.
- Auch auf der Flucht kommt es vermehrt zu Familientrennungen. Da weiterhin keine legale Einreise
möglich ist, müssen oft teure und gefährliche Wege eingeschlagen werden, auf denen es durch chaotische
Fluchtbedingungen und teilweise auch durch rücksichtslose Schleuser zu Familientrennungen kommt.
Fallbeispiel
Ezidischer Junge aus
dem Nordirak (16 Jahre)
Seit 2014 ohne Eltern
in Deutschland
Flucht und Vertreibung am
Beispiel der Eziden
Wer sind die Eziden?
Was ist das Ezidentum?
Tagay & Ortac
2016
Wege des Helfens…
Fallbeispiel
Ezide, 24 Jahre
Überlebender des Shingal-Genozids
Was kann im Umgang mit
traumatisierten Flüchtlingen helfen?
- Kenntnisse über Traumata und ihre Folgen
- Kenntnis über Flucht und ihre Folgen
- Wissen über kulturellen Hintergrund
- Flüchtlingsbeauftragter / Ansprechpartner
- Erkennen des individuellen Bedarfs von Einzelpersonen und Familien
- Aufnahmeeinrichtung: Berücksichtigung von Ethnien und Religionen
- Aufnahmegespräch unter Hinzuziehung eines Dolmetschers
- Netzwerk, Kontakt und Austausch mit anderen sozialen Berufen
- empathische Haltung, non-verbale Signale beachten, langsam sprechen
- Sprachkurse
- Arbeit
- Ressourcenaktivierung!
Trigger bei Flüchtlingskindern
- Dunkle Flure
- Uniformierte Polizeibeamte in der Schule
- Laute Geräusche, grobe, vulgäre Sprache
- Klingel
- Situationen, die aus der Kontrolle geraten
- Andere Kinder, die sie anstarren
- Körpersprache, die falsch interpretiert wird
- Unvertraute Festivals, wie Halloween
Juang et al. (2015). Flüchtlingskinder im Klassenzimmer
„Wir wissen nicht: wer ist traumatisiert oder hat nur ein Lernproblem?
Dafür sind wir nicht ausgebildet und das macht das ganze sehr schwierig“
(Ingrid Lüring, Schulleiterin in Nordrhein-Westfalen)
Solche und ähnliche Gedanken beschäftigen dieser Tage viele Lehrkräfte, wenn sie in
ihrer Klasse auf einmal Kinder und Jugendliche aus Flüchtlingsfamilien haben, die
neben anfänglichen Sprachschwierigkeiten oftmals auch die Erinnerung an traumatische
Erlebnisse mit sich bringen.
Sekundärtraumatisierung
Eine Gefahr auch für Lehrkräfte, Therapeuten
und weitere helfende Berufe…
Sekundärtraumatisierung
= Traumatisierung
durch Berichte über traumatische Ereignisse
Symptomatik wie bei einer Posttraumatischen Belastungsstörung (PTBS)
- emotional: Ängste, Depression, Reizbarkeit
- kognitiv: Konzentrationsprobleme, Bilder
- körperlich: Schlafstörungen, Erschöpfung, psychosomatische Beschwerden
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