„Naturkatastrophen“erforschen: Das Phänomen aus sozial- und kulturwissenschaftlicher Perspektive. Essen: Kulturwissenschaftliches Institut Essen (KWI), 15.06.2011-16.06.2011. Reviewed by Gitte Cullmann Published on H-Soz-u-Kult (January, 2012) “Naturkatastrophen” erforschen: Das Phänomen aus sozial- und kulturwissenschaftlicher Perspektive LAND (alle Essen) vor. Sie erläuterten, dass es in dem Projekt der Katastrophenerinnerung vor allem um den Umgang von Gesellschaften mit Naturkatastrophen und deren soziale Konsequenzen geht. Dabei spielen die Erinnerung an und die Wahrnehmung/Deutung von Naturkatastrophen eine zentrale Rolle. Die Untersuchungen der Doktorandinnen und des Doktoranden des Projekts Katastrophenerinnerung wurden in vier Ländern durchgeführt und die einzelnen Forschungsarbeiten wurden jeweils kurz vorgestellt. Neben der Bundesrepublik Deutschland (Maike Böcker) zählen Ghana (Ingo Haltermann), Chile (Gitte Cullmann) und die USA (Eleonora Rohland) zu den untersuchten Kulturkreisen. Der Klimawandel hat sich in den letzten zehn Jahren von einer kaum wahrgenommenen Bedrohung zu einem im gesellschaftlichen Diskurs allgegenwärtigen und brisanten Thema entwickelt. Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler betonen, dass mit zunehmender Erderwärmung mit hoher Wahrscheinlichkeit eine Häufung von Naturkatastrophen und ihrer Intensität droht. Der Workshop des Center for Interdisciplinary Memory Research (CMR) am Kulturwissenschaftlichen Institut (KWI) Essen mit dem Titel Naturkatastrophen“ erfor” schen: Das Phänomen aus sozial- und kulturwissenschaftlicher Perspektive befasste sich mit diesem Wandel und den daraus resultierenden Risiken und Chancen für die betroffenen Gesellschaften. Um möglichst viele und verschiedene Perspektiven auf das Thema Naturkatastro” phen“ zu erhalten, war für den Workshop eine transdisziplinäre Zusammensetzung der Teilnehmer/innen gewählt worden. In den Vorträgen von OSKAR MARG (Bremen) und NICOLE KRONENBERG (Göttingen) standen die Betroffenen von (Flut-)Katastrophen und ihre Erfahrungen, Erinnerungen und Erwartungen an den Staat, im Zentrum. Durch den systematischen Rückzug des Staates aus der Im Zentrum der Diskussionen und vorgestellten Ar- Hochwasser-Prävention stellte sich für Oskar Marg die beiten stand vor allem die Erforschung sozialer, kultu- Frage, wie resilient die betroffenen Teile der deutschen reller und historischer Faktoren, die handlungsrelevant Gesellschaft sind und ob sich die Menschen überhaupt für Gesellschaften in Bezug auf klimabezogene Extremer- in der Lage sehen, adäquat auf Katastrophen reagieren eignisse sind. Dies resultierte daraus, dass der menschli- zu können. Von besonderem Interesse war ihm bei seiche und gesellschaftliche Aspekt bislang nicht genügend ner Forschung die Sicht der Betroffenen auf den gesellRaum in der Katastrophenforschung eingenommen hat. schaftlichen Trend zu mehr Eigenverantwortung, die Risikowahrnehmung der Betroffenen und deren EigenvorNach den einführenden Worten des wissenschaftli- sorge. chen Geschäftsführers des CMR, Christian Gudehus, soNicole Kronenberg sah in ihrem Vortrag über Vietwie des Projektkoordinators Franz Mauelshagen stellte sich die gastgebende Projektgruppe Katastrophenerin- nam ein großes Konfliktpotential zwischen dem Bür” nerung“, bestehend aus MAIKE BÖCKER, INGO HAL- ger/der Bürgerin und dem Staat. Die Menschen im TERMANN, GITTE CULLMANN und ELEONORA ROH- Mekong-Delta nähmen die Fluten als Teil ihres Lebens 1 H-Net Reviews und ihrer Arbeit wahr, da die Hochwasser wichtige Nährstoffe für die landwirtschaftlich genutzten Böden mit sich führten. Das Sprichwort Shaking hands with the floods“ ” bezeichne am Besten den Umgang der Lokalbevölkerung mit der Flut. Der vietnamesische Staat hingegen sei an einer massiven Eindämmung der Fluten interessiert, da er diese als negativen Faktor für die Wahrung seiner ökonomischen Interessen ansehe. Dadurch entstünden Konflikte, die allerdings in den letzten Jahren etwas an Sprengkraft verloren hätten. Kronenberg zeigte, dass sich die Strategie der Regierung weg vom Versuch des absoluten Schutzes ohne Partizipation der Anwohner, hin zu einer Flutvermeidungsstrategie, bei der auch die Menschen im Mekong-Delta mit einbezogen werden, wandle. deutung dieses Ereignis hat. Das Erinnern wurde in diesem Zusammenhang innerhalb der individuellen Lebensgeschichte interpretiert. Es wurde deutlich, dass die Flut als biographischer Ankerpunkt gesehen wird und somit eine zentrale Rolle in der Familiengeschichte spielt. Die Ikonen der Sturmflut für die Betroffenen sind vor allem Fotos, die den Erinnerungsrahmen bilden. Neben biographischen Merkmalen lag ein weiterer Schwerpunkt von Paech vor allem auf der Theorie des kollektiven Erinnerns, welches durch den sozialen Prozess der Vergemeinschaftung aufgegriffen und analysiert wurde. Stefanie Trümper beleuchtete in ihrem Vortrag die Frage, welche diskursiven Verbindungen im regionalen Kontext zwischen historischen Naturkatastrophen und Die journalistischen und künstlerischen Perspekti- der heutigen Berichterstattung über Naturkatastrophen ven auf Naturkatastrophen wurden von ULRIKE HEINE und den Klimawandel existieren. Ihre komparative Stu(Gießen), STEFANIE TRÜMPER (Hamburg) und FRAU- die zu Medieninhalten, journalistischen Praktiken und KE PAECH (Hamburg) präsentiert. In diesen drei Beiträ- Deutungsmustern stellte sie in den Kontext der beiden gen ging es um die mediale Übermittlung von Naturka- Sturmfluten 1953 in Holland und 1962 in Hamburg. In der tastrophen bzw. dem Klimawandel. Bilder, ob in Form Folge beider Katastrophen wurden groß angelegte techvon Fotographie oder Film, besitzen eine große Wirkung, nische Anpassungsmaßnahmen vorgenommen, die das so die Vortragenden, da sie die Beobachter, trotz geogra- Sicherheitsgefühl der Anwohner bis heute prägten. Dies phischer und/oder zeitlicher Distanz, an dem Geschehen stehe jedoch im zunehmenden Widerspruch zu den Bepartizipieren lassen: drohungen durch den Klimawandel, was einen Diskurs über adaptive und mitigative Maßnahmen nach sich zieDie forschungsleitende Frage von Ulrike Heine bezog he. Dieser Diskurs wurde durch die Erinnerung an die zusich auf den theoretischen Zusammenhang zwischen den rückliegenden Katastrophen geprägt, beeinflusst zum anEigenschaften des Bildmediums Fotografie und der Kon- deren aber auch den journalistischen Umgang mit der Erstitution von Erinnerung. Dabei wurde vor allem auch innerung an zurückliegende Katastrophenereignisse. Es die Wahrnehmungslücke zwischen der Bebilderung und gelte somit die assoziativen und thematischen Verknüpdem Handeln in den Vordergrund gestellt. Die Bebilde- fungen zu untersuchen, die Journalisten im jeweiligen rung dient der medialen Übermittlung von Katastrophen, regionalen Kontext zwischen der jeweiligen Katastrophe wie zum Beispiel Tschernobyl. Als Beispiel hierfür lieund dem Klimawandel ziehen. ferte Ulrike Heine Bilder von Igor Kostin, die die einzigen Aufnahmen von der Kernschmelze zeigen. Sie gelFRIEDEMANN LEMBCKE (Potsdam) stellte in seiten heute als Ikone der atomaren Gefahr. Ikonen dienen nem Vortrag die Rolle von Katastrophen für die Kommuden Menschen als visuelle Schlagwörter“, mit denen ei- nikation des Klimawandels in den Vordergrund, wobei er ” ne Kette von Erinnerungen und Erfahrungen verbunden diese innerhalb sowie zwischen unterschiedlichen gesellist. Darüber hinaus legte sie den Fokus auf eine Auswahl schaftlichen Subsystemen darstellte. Speziell die Wissenvon Bildmaterial über den Klimawandel, bei denen kon- schaft und die Massenmedien stünden sich hierbei ambikrete Katastrophenerinnerungen aktualisiert und mit Ka- valent gegenüber. Während in der Wissenschaft die Katastrophenvisionen in einen narrativen Zusammenhang tastrophe zur Generierung von Leitbildern im Umgang gebracht werden. mit dem Klimawandel genutzt wird, stellt sie zwar auch in der massenmedialen Repräsentation eine Art OrienDie Forschungsinhalte von Frauke Paech bezogen tierung hinsichtlich des Klimawandels dar, entbehrt mitsich auf die Sturmflut von 1962 in Hamburg. In ihrem unter jedoch jeglicher Wissenschaftlichkeit. Lembcke beBetrag zeigte sie Ausschnitte aus ihrem Dokumentarfilm tonte, dass es dann problematisch wird, wenn wissenFlut 1962 - Erinnern. Gedenken. Erzählen.“ Sie ging der schaftliche Erkenntnisse politische Entscheidungen ver” Frage nach, inwieweit die Sturmflut noch heute das Le- langen, da es von der Kommunikation des Klimawandels ben der damals betroffenen Menschen beeinflusst, wie in der massenmedial repräsentierten gesellschaftlichen sich daran erinnert wird und welche biographische Be- Öffentlichkeit abhängt, wie der Klimawandel im spezi2 H-Net Reviews fischen Kalkül wissenschaftlicher, wirtschaftlicher, politischer oder massenmedialer Kommunikation Anschluss findet. Um diesem Problem analytisch aus dem Weg zu gehen, plädierte er dafür, die Diskussion des Klimawandels systemtheoretisch hinsichtlich ihrer Funktion in Kalkül- und Katastrophenkommunikation zu unterscheiden. und erörterte dabei, dass Katastrophen als solche schon das Scheitern kultureller Lernprozesse bedeuten können. Daniel Levys Vortrag Memories of Catastrophes: ” The Mediat(iza)ion of the Future“ behandelte den Umgang und die Vermittlung mit bzw. von Erinnerungen an vergangenen Naturkatastrophen in der Zukunft und wie sie diese beeinflussen. Dabei untersuchte Levy im gloDer Historiker MARTIN BAUCH (Darmstadt) stell- balen Kontext die Verknüpfung zwischen Erinnerungen te in seinem Beitrag auf historischen Quellen basierende und der Darstellung von Katastrophen. Die WechselwirEvidenz für eine Falschdatierung des historischen Vul- kung zwischen nationalen und globalen Erfahrungen im kanausbruchs Kuwae 1453 durch die Natur- (bzw. Geo- Umgang mit Naturkatastrophen spiele dabei eine zentra)wissenschaften des 20. und 21. Jahrhunderts vor. Er zeig- le Rolle, so Levy. Er betonte darauf aufbauend, dass einerte somit in seinem Vortrag die Notwendigkeit einer diszi- seits weltweite Desaster-Erfahrungen nationale Erwarplinübergreifenden Zusammenarbeit, um Naturkatastro- tungen formen können und andererseits aber auch umgephen historisch zu erforschen und sowohl die menschli- kehrt nationale Wahrnehmungen von Katastrophen glochen Archive, als auch die Archive der Natur zu Rate zie- bale Wahrnehmungen beeinflussen können. hen und verstehen zu können. Er hielt fest, dass menschIn der von Maike Böcker und Gitte Cullmann modeliche, sowie natürliche“ Überlieferung (das heißt Eisbor” rierten Abschlussdiskussion zeigte sich, dass es schwiekerne, Seesedimente, Baumringe etc.) jeweils fragmentarig werden würde, eine einheitliche, für alle Disziplirisch blieben. Einerseits fehlten den Geisteswissenschafnen gleichsam anwendbare Definition des Katastrophenten Hinweise aus der Naturwissenschaft, um geschriebene Quellen nicht nur lesen, sondern auch richtig deuten begriffs zu formulieren. Ingo Haltermann betonte unter zu können. Umgekehrt benötigten Naturwissenschaft- Hinweis auf Fälle, in denen die ”Katastrophe“ der Alltag ler/innen die Einsichten und Kompetenz der Geisteswis- sei, dass der Begriff analytisch nicht sehr tragfähig sei senschaftler/innen im Umgang mit schriftlichen Quellen, und schlug vor, den Risikobegriff stärker zu machen. um ihre Proben aus den Naturarchiven präziser einordEs scheint mitunter schwierig, eine Tagung gewinnnen zu können. Mit seinem Beitrag unterstrich Bauch bringend zu gestalten, wenn so viele verschiedene Disdie für eine historische Rekonstruktion von Naturkata- ziplinen an einem Tisch sitzen. Vor allem dann, wenn strophen unabdingbare Zusammenarbeit zwischen den in den einzelnen Disziplinen häufig ebenfalls keine einNatur- und Geisteswissenschaften. deutige Forschungsmeinung herrscht. Gerade in dem BeAn beiden Tagen fanden jeweils Abendvorträge statt. reich der globalen Erwärmung und der KatastrophenAm 15. Juni sprach MARTIN VOSS (Kiel), am 16. Juni DA- forschung wird aber diese transdisziplinäre Zusammenarbeit immer dringlicher, da wir uns mit den weltweiNIEL LEVY (New York). ten Folgen des Klimawandels gemeinsam auseinanderDer Soziologe und Katastrophenforscher Martin Voss setzen müssen. Die Tagung hat einen Anreiz dazu gegestellte in seinem Vortrag Aus Desastern und Katastro- ben, die transdisziplinäre Katastrophenforschung voran” phen lernen“ den Prozess des Lernens ins Zentrum. Ein zutreiben. Allgemein wurde von den Teilnehmenden eiSchwerpunkt seines Vortrags war die Definition des Be- ne sehr positive Bilanz aus der zweitägigen Zusammengriffs der Katastrophe. Während der Begriff umgangs- arbeit gezogen und es wurden eine Fortsetzung des Tasprachlich inflationär gebraucht werde, so ist für Voss gungsformats sowie das Aufrechterhalten der Kommuniausschließlich solches als Katastrophe zu bezeichnen, kation über eine Mailingliste oder Internetplattform vorwas eine historisch gewachsene kulturelle Ordnung ins geschlagen. Wanken bringt. Bei destruktiven Prozessen ohne KolKonferenzübersicht: laps der Sinnesstrukturen sollte man wissenschaftlich aber eher von Desastern sprechen. Weiterhin ging es Oskar Marg (Bremen): Private und staatliche Verantvor allem um die Frage, was Lernen ist und welches wortung gegenüber Flutkatastrophen aus der Sicht GeWissen geschaffen wird. Zusätzlich wurde der räum- schädigter und Betroffener lich/zeitliche Kontext von Lernen thematisiert. AbschlieUlrike Heine (Gießen): Die perpetuierte Katastrophe: ßend ging Martin Voss darauf ein, welche Barrieren LernErinnerung und Vision in der Katastrophenfotografie prozesse im Hinblick auf Naturkatastrophen blockieren 3 H-Net Reviews Frauke Paech (Hamburg): Bilder-Sprache einer Naturkatastrophe - Zur individuellen Erinnerung und kulturellen Bewältigung der Hamburger Sturmflut von 1962 strophe - Die Kommunikation des Klimawandels Martin Bauch (Darmstadt): Trügerische Erinnerung der Ausbruch des Vulkan Kuwae im 15. Jahrhundert Martin Voss (Kiel): Aus Desastern und Katastrophen lernen Nicole Kronenberg (Göttingen): How to assess Disaster Response on flood events during the 20th century - a Stefanie Trümper (Hamburg): Katastrophenerinne- conceptional framework and its application in Vietnam rung im Journalismus als Dimension des öffentlichen Kli- and Germany mawandeldiskurses Daniel Levy (New York): Memories of Catastrophes: Friedemann Lembcke (Potsdam): Kalkül versus Kata- The Mediat(iza)ion of the Future If there is additional discussion of this review, you may access it through the network, at: http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/ Citation: Gitte Cullmann. Review of , „Naturkatastrophen“erforschen: Das Phänomen aus sozial- und kulturwissenschaftlicher Perspektive. H-Soz-u-Kult, H-Net Reviews. January, 2012. URL: http://www.h-net.org/reviews/showrev.php?id=35098 Copyright © 2012 by H-Net, Clio-online, and the author, all rights reserved. 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