Freitagsansprache vom 27.06.2008 von Hojjatoleslam Dr. Seyyed Mohammad Nasser Taghavi Stellv. Leiter des Islamischen Zentrums Hamburg Toleranz in den himmlischen Religionen (Teil 11) Im Namen Gottes, des Gnädigen, des Barmherzigen. Lobpreis sei Gott, dem Gepriesenen und Erhabenen, dem Herrn der Welten, und Sein Frieden und Segen seien mit unserem Propheten Mohammad (mhiitie iieFideirF), seinen reinen Nachkommen (mhiitie iie Fide irFiF) und seinen rechtschaffenen Gefährten. Ich rate mir selbst und Ihnen zu Frömmigkeit und Gottesfurcht. Frömmigkeit und Klugheit Bei der Erörterung der Frömmigkeit spielen zwei gegensätzliche Begriffe eine Rolle, nämlich „kiyÁsat“ und „½emÁqat“. „KiyÁsat“ bedeutet „Klugheit“, „Scharfsinn“, „Wachsamkeit“, „Intelligenz“, und das Gegenteil davon, „½emÁqat“, bezeichnet „Dummheit“, „Torheit“ oder „Verständnisschwäche“. Sicherlich ist Klugheit im Denkprozess eine Eigenschaft, die das gewöhnliche Denken übersteigt, und gilt folglich als eine positive Eigenschaft. „¼emÁqat“ hingegen bringt ein unter dem Durchschnitt liegendes Denkvermögen zum Ausdruck und gilt deshalb als eine Schwäche. Der kluge Mensch denkt vielseitig, hat einen weiten Blick und betrachtet die Dinge mit Scharfsinn; auch sein Handeln basiert auf dieser Vielseitigkeit, die ihm sein Scharfsinn ermöglicht und folglich sein Leben bestimmt. Der dumme Mensch hat hingegen eine eingeschränkte Sichtweise; ihm fehlt der Weitblick, um seinen Vorteil und seinen Verlust zu erkennen, d. h. sein Blick reicht nur bis zur eigenen Nasenspitze. Worin besteht nun im täglichen Leben Klugheit und Scharfsinn? Indem wir unsere Zeit und die Gelegenheiten, die unser Leben bietet, bestmöglich nutzen. Ein Mensch, der für sein Alter das beste Einkommen erhält, das schönste Haus bewohnt und die vorbildlichste Ehe führt, einen solchen Menschen bezeichnen wir als klug und intelligent, wohingegen ein Mensch, der diese Gelegenheiten verpasst, als dummer Mensch angesehen wird. Wenngleich alle diese Aspekte einerseits auf die Klugheit und andererseits auf die Dummheit verweisen, so sind diese Gelegenheiten und guten Zustände aber nicht auf Besitz, Auto, Haus, Zeugnis, Beruf usw. begrenzt, sondern das Leben bietet dem Menschen darüber hinaus höhere Gelegenheiten für einen weiten Blick auf das Leben des Jenseits. Diese Gelegenheiten zu nutzen ist ein Ausdruck von Klugheit, und der Gipfel der Klugheit sind Frömmigkeit und Gottesfurcht, wie der edle Prophet des Islam (s.a.s.) sagte: „Die klügste Klugheit ist die Frömmigkeit, und die dümmste Dummheit ist die Sündhaftigkeit.“ (Bi½Áru-l-anwÁr, Bd. 77, S. 117). Islamisches Zentrum Hamburg · Schöne Aussicht 36 · 22085 Hamburg Tel.: (040) 22 12 20/22 12 40 · Fax: (040) 220 43 40 Homepage: www.izhamburg.com 2 E-Mail: [email protected] Der fromme Mensch nutzt die Gelegenheiten, die ihm das Leben bietet, und gestaltet auf diese Weise sein Diesseits und sein Jenseits. Der sündige Mensch hingegen zeigt seine Torheit, indem er die ihm gebotenen Gelegenheiten nicht richtig nutzt, sündigt und damit auch sein Jenseits verunstaltet. Der fromme und gottesfürchtige Mensch bereitet sich auf die größte und wichtigste Reise seines Lebens vor und ist folglich einer der klügsten und scharfsinnigsten Menschen. Ist denn jemand, der mit Gottesfurcht und Frömmigkeit den Entschluss zu seinem eigenen Wohlergehen und seiner eigenen Glückseligkeit im Diesseits und im Jenseits fasst, kein kluger Mensch? Möge Gott uns alle zu diesen klügsten Menschen, d. h. den Gottesfürchtigen, gehören lassen. Weitere Begriffe, die mit der Toleranz eng verbunden sind In den vorausgegangenen Ansprachen haben wir bereits einige Begriffe diskutiert, die mit dem Toleranzbegriff im direkten Zusammenhang stehen, und zwar Freundlichkeit (rifq - )رفق, Vernachlässigung (ta™Áful - )تغافل, Nachgiebigkeit (lÍn -)لین, Verzeihen (þafw - )عفو, stillschweigendes Übergehen (Èaf½ - )صفح, Milde (½ilm - )حلم, ِ Geduld (Èabr -)صبر, Langmut (ta½ammol - )تح ّملund Unterdrücken von Groll (kaãim ™ayã - ) کظم غیظ. Diese Begriffe wurden in islamischen Überlieferungen sehr vielseitig und im Hinblick auf verschiedene Themenbereiche verwendet, wie z. B. hinsichtlich des Umgangs der Menschen miteinander, der Freundlichkeit zwischen den Menschen, des Wahrens der Geheimnisse anderer, des positiven Denkens usw., was hier jedoch nicht weiter ausgeführt werden soll. Vernunft und Toleranz Wenngleich die Toleranz eine religiöse Empfehlung ist, die im Islam betont wird, werden dennoch Denken und Vernunft ungleich mehr betont. Die Toleranz ist das Ergebnis von Denken und Vernunft. Es gibt die Empfehlung im Islam, dass zwischen religiösem Urteil und dem Urteil der Vernunft kein Widerspruch bestehen soll, d. h. wenn die der Toleranz inhärente Dimension der Vernunft Beachtung findet, ungeachtet der Tatsache, welcher Religion oder Konfession man angehört, und wenn man vernünftig denkt und das Verhalten auf Vernunft gründet, dann wird dieses Verhalten zweifellos Toleranz den anderen gegenüber implizieren. In diesem Sinne hat der edle Prophet des Islam (s.a.s) gesagt, dass sich der Maßstab der guten Tat in der Toleranz, und der Maßstab der schlechten Tat in Unvernunft und Intoleranz zeigen: „Der vernünftigste Mensch ist derjenige mit der größten Toleranz, und der schlechteste Mensch ist derjenige, der andere Menschen kränkt.“ (Bi½Áru-l-anwÁr, Bd. 75, S. 52). Dieser schöne und wertvolle Satz zeigt: auch wenn das Verhalten und die Meinung der anderen nicht mit der eigenen Meinung und Tat übereinstimmen, gebietet die Vernunft, Toleranz zu üben. Wenn man hingegen gegenüber Andersdenkenden Unhöflichkeit anstelle von Toleranz übt, dann ist das ein 3 Ausdruck der eigenen Schlechtigkeit und Intoleranz, die das deutlichste Kennzeichen dafür ist, dass man seine Vernunft nicht gebraucht. Toleranz im Umgang mit den Menschen ist so wichtig, dass Prophet Mu½ammad (s.a.s.) diese Eigenschaft nach dem Glauben an den einen und einzigen Gott erwähnt und sie als Gipfel der Bescheidenheit und Vernunft bezeichnet: „Der Gipfel der Bescheidenheit und Vernunft ist nach dem Glauben an Gott die Toleranz den Menschen gegenüber.“ (Bi½Áru-l-anwÁr, Bd. 77, S. 144). Ein ähnlicher Ausspruch ist von Imam þAlÍ (a.s.) überliefert: „Der Gipfel der Weisheit ist die Toleranz gegenüber den Menschen.“ (³urar al-¼ikam). Die Weisheit ist eine vollkommene Wissenschaft, die von der Quelle der Vernunft bestätigt wird und sich in vernünftigem Verhalten manifestiert. Wenn wir die Weisheit besser verstehen wollen, sollen wir sehen, was er zur Weisheit sagte: „Die Weisheit gleicht einem Baum, der im Herzen wächst und seine Früchte beim Sprechen zeigt.“ (³urar al-¼ikam). Von Imam þAlÍ (a.s.) ist auch dieser Ausspruch überliefert: „Die Wissenschaft enthüllt das Geheimnis der Wissenschaft.“ (³urar al-¼ikam). Das vernünftige Handeln manifestiert sich demnach in einem toleranten Umgang mit den Menschen. Wenn wir in unserem Verhalten und Reden tolerant sind, praktizieren wir Weisheit. Die vernünftigsten und klügsten Menschen waren die Propheten (a.s.), die in ihrem Verhalten das höchste Maß an Toleranz gezeigt haben. Auch der Prophet des Islam (s.a.s.) hat in seinem Leben diese praktische Toleranz gezeigt, selbst gegenüber seinen unerbittlichsten Feinden! Diese Toleranz des Propheten (s.a.s.) gründete auf seiner inneren Weisheit und Vernunft und einer äußeren Empfehlung Gottes, wie der Heilige Qur’an feststellt, und was wir im bisherigen Verlauf der Diskussion bereits angeführt haben. Vom Propheten (s.a.s) selbst sind in diesem Zusammenhang einige Äußerungen überliefert, die wir, so Gott will, bei nächster Gelegenheit darlegen werden. Und der Friede sei mit euch und die Gnade Gottes und Seine Segnungen.