Yulia Kracht mit Osteopathen-Team im Afrikaeinsatz Von Anke Ullrich ACHIM. „Osteopathie goes Afri- ca" von diesem Projekt hatte Yulia Kracht auf der Seite der Osteopathie Schule Deutschland (OSD) im Internet gelesen. Es galt, die humanitäre Organisation Divinity Foundation (www.divi- nityfoundation.com) zu unterstützen. Eine Gruppe von Osteopa- then sollte nach Kenia fahren, um vor allem Kinder in dem zweit größten Slum der Welt Kibera, in Nairobi, und im Pokot Gebiet zu versorgen. Für zwei Wochen reiste die Achimerin nach Afrika. Das Team aus Osteopathen und Ärzten versorgte in dieser Zeit 4.000 Kinder und Frauen. „Wir mussten in 20 Minuten klar diagnostizieren, behandeln und schnell zum Ziel kommen", erinnert sich die Osteopathin, die seit vier Wochen wieder zu Hause ist. Zeit ist vergangen, in der sie begonnen hat, ihre Eindrücke zu verarbeiten. Die Bilder von Kindern, die im Müll leben, die hungern, die kein frisches Trinkwasser haben. Von jungen Frauen, die die verbotene und doch praktizierte Beschneidung an den Genitalien überlebten. Vom Besuch im Waisenhaus, in dem mit Aids infizierte Kinder leben. „Es war ganz erstaunlich, dass den Kindern dort mitten im Dreck - geholfen wurde mit Yoga und Naturheilmitteln", wundert sich die Frau, die sich 2003 mit einer Praxis in Achim selbstständig gemacht hatte. Das wichtigstes Handwerkszeug - ob bei der Arbeit vor Ort in der Wohlstandsgesellschaft oder bei der in der Nähe der Hauptstadt von Kenia - sind dabei ihre Hände. Sie begeben sich auf die Suche nach krankmachenden Blockaden, um sie zu lösen. Erst dann können die Selbstheilungskräfte des Körpers einsetzen. Wie kommt eine derartige Medizin an in einem Land, in dem ein epileptischer Anfall noch als Teufelswerk verschrien wird, in dem Mütter ihre Kinder verste cken, wenn sie behindert sind. Der Sonntags-Tipp besuchte Yulia Kracht, um mit ihr auch darüber zu reden Kinder leben dort im Müll „In Afrika sind Osteopathen Doktoren. Wir mussten auch kleine OPs mitmachen." In Schlangen standen die Frauen und Kinder vor den Zelten, in denen behandelt wurde. Immer zwei Ärzte und zwei Osteopathen waren gemeinsam im Einsatz. „Wir haben Wunden versorgt, Haut-, Atemwegsund Harnwegserkrankungen behandelt, Geschlechtskrankheiten und Frauen, die durch eine Beschneidung verstümmelt wurden. Eine Frau war bei mir, sie hatte deswegen neun Kinder verloren. Wenn sie keine bekommt, dann wird sie vom Stamm verstoßen." Was sie für diese Patientin tun konnte? „Ich konnte ihr die Spannungen im Beckenboden nehmen, für eine bessere Durchblutung sorgen und für eine andere Wahrnehmung der Schmerzen." Vielleicht werde das nächste befruchtete Ei bei ihr nicht gleich wieder vom Körper abgestoßen. Ob diese Frau später einmal schwanger wird, dass bleibt eine offene Frage. Dennoch: „Wir hatten auch Erfolge vor Ort. Ein 15-jähriges Mädchen klagte über ständige Bauchschmerzen." Bei ihr entdeckte die Osteopathin aus Deutschland eine Blockierung an der Wirbelsäule. „Nach der Behandlung waren die Schmerzen weg." „Ich hätte gerne mehr Zeit für die Kinder gehabt." Sich mit ihnen zu unterhalten, das gelang nur mit einem Übersetzer. Unzählige Swahili, Kikuyu, Luo, Luhya, Kamba und Englisch schwirren in den Slums der Großstädte von Kenia durch die Luft. „Die Grundversorgung dort ist katastrophal. Im Krankenhaus wird man nur behandelt, wenn man zahlen kann." Da es kein sauberes Wasser gibt leiden viele Menschen an Magen-Darmerkrankun- gen. „Wir haben Trinkwasser angeboten, aber die Frauen wollten es erst nicht nehmen. Sie sagten, ,dann werde ich krank'", erinnert sich die Achimerin. Und auch daran denkt sie noch oft, an die Kopfverletzungen der Frauen, die von ihren Ehemännern misshandelt wurden. „Ich habe keine Frau getroffen, die nicht von ihrem Mann geschlagen wurde." Die Helfer versorgten nicht nur Wunden, sie brachten auch Windeln, Bücher, Süßigkeiten und vor allen Dingen Essen mit. Wenn nichts mehr zum Verteilen da war, dann empfand Yulia Kracht das als die schlimmsten Momente, die sie in den zwei Wochen des humanitären Einsatzes machen musste: „Das Gefühl, nichts mehr geben zu können." Nach Kibera ging es in ein Waisenhaus für Kinder, die sich mit dem HIV-Virus angesteckt hatten. Am dritten Tag führte die Tour zu einem Haus, in dem taubstumme Kinder essen, schlafen und zur Schule gehen können. 400 junge Patienten galt es, zu versorgen. „Wir haben alle geschafft!" An diesem Tag trat das Team erst im Dunkeln den Rückweg zum Camp an und brachte sich dadurch in große Gefahr. „Nach 17.30 Uhr sollte man von der Straße runter sein. Es ist nicht sicher. Es gibt viele Überfälle." Zeit zum Durchatmen gab es am vierten Tag. In einem Schulungsraum brachten die Osteopathen aus Deutschland, Österreich, der Schweiz und England anderen Helfern vor Ort bei, wie sie mit einfachen Mitteln Erste Hilfe leisten können. Zum Beispiel, wenn ein Baby zu ersticken droht. „Das haben wir an Puppen geübt." Am fünften Tag ging es früh raus zum nächsten Slum, rund drei Stunden entfernt von Nairobi. So wie an den anderen Einsatzorten auch waren die Menschen dort sehr auf Medikamente fixiert. „Sie glauben, wenn sie keine Tablette bekommen, dann würden sie auch nicht geheilt." Dabei helfe die Osteopathie gerade bei schwangeren Frauen, die kein Antibiotika nehmen sollten und bei Kindern, deren noch nicht ausgereifte Organismen durch starke Präparate geschädigt werden können. Dem nächsten Team, das nach Afrika reist, geben die Helfer den Tipp, Vitamintabletten zu verteilen. Ein hilfreicher Placebo- Effekt, der keinen Schaden anrichten kann. In diesem Slum traf die Achimerin auf eine junge Mutter. „Vielleicht war sie so 16 Jahre alt. Sie sagte, sie brauche noch etwas für ihr Baby. Ich konnte aber keines sehen. Ich sagte ihr, ich könne nicht helfen, wenn sie es mir nicht zeigt." Endlich machte die Frau einen Rucksack auf, den sie die ganze Zeit auf dem Rücken getragen hatte. „Darin war ein zweijähriges Mädchen, das stark schielte." Die Mutter hatte Angst davor, dass ihre Tochter verstoßen würde. „Alle, die anders aussehen, haben keine Chance." Wen wundert da der Wunsch einer anderen Mama, die die Hand ihrer Tochter verband, damit niemand ihren sechsten Finger daran sehen konnte? Sie war gekommen, damit die Ärzte ihn abschneiden. Nairock hieß das Dorf, das in der zweiten Woche auf dem Plan stand. Die dort lebenden Massai waren zurückhaltender, aber dankbar. „Wir wurden nicht so bedrängt, wie in den Slums." Besonders die Behandlung der Frauen war schwer. „Sie ließen ihren kompletten Schmuck und ihre Kleidung an. Die Unterleibsregion war tabu." Dabei lägen genau dort die größten Probleme. Verkrampfungen, die gelöst werden müssten, damit der An- und Abtransport von Flüssigkeiten ungehindert vonstatten gehen körme. Wer nicht loslassen kann, der löst eine Sperre aus. Zum Glück können Osteopathen auch durch Kleidung hindurch spüren, wo die Ursache für eine Erkrankung zu suchen ist. Weil im Norden des Landes zwischen zwei Stämmen Krieg ausbrach, entschlossen sich die Helfer, nach Oloitoktok zu fahren. Das Dorf am Fuße des Kilimandscharo an der Grenze zu Tansania entpuppte sich als „der schönste Ort." Der Bürgermeister begrüßte das Team freundlich. Als er merkte, wie gut die Menschen die Hilfe der Osteopathen annahmen, fasste er einen Plan. „Er hat die Idee eine Station einzurichten, in der die Osteopathen behandeln können." Wer weiß, wenn sich im Mai nächsten Jahres das neue Osteopathen-Team auf den Weg nach Afrika macht, vielleicht könnte es in Oloitoktok in dieser neuen Station praktizieren. Ob sie wieder hinfahre? Noch nicht sofort. Erst müsse sie Abstand von den Erlebnissen gewinnen und die Eindrücke verarbeiten. Und dann: „Das ist doch klar, auf jeden Fall fahre ich wieder hin. Man hat dort das Gefühl man ist am richtigen Ort." Quelle: Achimer Sonntagstipp; 14.11.2010