Portugal von António Manuel Hespanha 1 (Lissabon) 1. Portugal um 1800 Portugal verfügte zu Beginn des 19. Jahrhunderts über ein stabilisiertes Territorium, das von ca. drei Mio. Einwohnern, vornehmlich Bauern, bevölkert wurde. Das nach dem großen Erdbeben von 1755 entsprechend einer fortschrittlichen Stadtplanung wieder aufgebaute Lissabon stellte das ökonomische und politische Zentrum des Landes dar. Oporto als Handelshafen (Umschlag von Wein und Handel mit Brasilien) folgte an zweiter Stelle. In Coimbra gab es die einzige Universität des Landes, an der die geistlichen und bürokratischen Eliten ausgebildet wurden. Für die Verbreitung der neuen fortschrittlichen und proto-liberalen Ideen zeichnete jedoch das höfische und akademische intellektuelle Milieu Lissabons verantwortlich. Außerhalb Europas besaß Portugal noch ausgedehnte Kolonialbesitzungen. In Asien handelte es sich um Überbleibsel seiner alten Macht: Indien, die Siedlung Macao in China und Timor auf den Sundainseln. In Afrika gab es eine Kette von „Besitzungen“ an den Küsten von Moçambique und Angola, des Weiteren Guinea und die Inseln Saint Thomas und Prince sowie Kap Verde. Die mit Abstand größte Bedeutung kam jedoch Brasilien zu, das ab dem 17. Jahrhundert enorme Handels- und Steuereinnahmen (Zucker, Tabak, Gold und Diamanten) einbrachte. 2. Verfassungsstruktur der zentralen staatlichen Ebene Als eine der ältesten Monarchien Europas blickt Portugal auf eine lange Tradition der Diskussion um das Wesen und die Reichweite königlicher Macht zurück. So gründete die Legitimationsideologie der ersten Braganzas (von João IV. bis Pedro II.) auf der Vorstellung einer begrenzten Monarchie, wie sie von den iberischen Rechtstheologen der Zweiten Scholastik (Francisco Suarez, 1548–1617) theoretisch entwickelt worden war. Ab der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts wurden sodann Dokumente produziert, die den unrechtmäßigen und despotischen Charakter der eingedrungenen Habsburger Könige belegen sollten. Die Fälschungen suchten zu beweisen, dass die Macht der portugiesischen Könige wie auch die 1 Der Verfasser dankt N’gunu Tiny für inhaltliche Anregungen und formale Ergänzungen. 1 dynastische Ordnung ihren eigentlichen Ursprung in einer Versammlung der maiores regni in den „Cortes von Lamego“ hatten. Dort sei das das Gründungsgesetz, das lex fundamentalis des portugiesischen Königreichs, geschaffen worden.2 Die Cortes, eine Versammlung, die auf das 13. Jahrhundert zurückgeht (1254) und aus den drei klassischen Ständen bestand, versammelten sich bis zum Ende des 17. Jahrhunderts regelmäßig. In dieser letzten Phase bestand ihre Hauptaufgabe in der Festsetzung der Militärabgaben (decimas) für den Restaurationskrieg (1640–1668), doch ging ihre Macht schließlich so weit, dass sie 1668 die Entthronung des Königs Alfonso VI. und die Nachfolge seines Bruders Pedro II. durchzusetzen vermochten. Ungeachtet ihrer relativ schwachen ökonomischen und institutionellen Stellung verfügte die Kirche über großen Einfluss auf das Denken des gottesfürchtigen portugiesischen Volkes. Der König wurde von ihr mit dem Titel „Fidelíssimo“ (höchst vertrauenswürdig) belegt, Heterodoxie durch die Inquisition strengstens verfolgt und eine harte kirchliche Zensur durchgeführt. Als Gegengewicht bestanden einige spezifische königliche Hoheitsrechte gegenüber der Kirche, darunter insbesondere die königliche Schirmherrschaft (Padroado régio), die es dem König erlaubte, bei der Ernennung von Bischöfen und anderen höheren kirchlichen Würdenträgern zu intervenieren. Letztlich basierte die staatliche Ordnung auf dem Vorhandensein eines wechselseitigen Vertrauensverhältnisses zwischen königlicher und kirchlicher Macht. Im frühen 18. Jahrhundert begann sich die politische Situation zu verändern. Der Krieg mit Spanien war vorüber und neue Einnahmequellen, wie beispielsweise die Tabaksteuer und der „Fünfte der Krone“ (Quinto da coroa) auf brasilianisches Gold und Diamanten, befreiten die Krone von den Cortes, deren letzte Zusammenkunft auf 1697/98 datiert ist. Der neue Reichtum gestattete den Monarchen eine weitgehend unbeschränkte Machtstellung im Sinne der absolutistischen Staatstheorie. Während der Regentschaft von João V. verstärkte sich diese absolutistische Grundtendenz weiter und richtete sich nun vor allem gegen den Einfluss des Papsttums und die Macht der Kirche. Mit dem Jahr 1750, als José I. den Thron bestieg, vollzog sich jedoch ein grundlegender Politikwechsel. Sein Urheber war Sebastião José de Carvalho de Melo, Marquês de Pombal, ab 1750 Außenminister Portugals, seit 1756 erster Minister („Ministerpräsident“) und Verfechter aufgeklärt-absolutistischer (1750–1777) Staatsvorstellungen, die er bei früheren Aufenthalten im Habsburgerreich kennen gelernt 2 Vgl. die Transkription: Francisco Coelho S. Sampaio, Prelecções de direito patrio, Lisboa 1793, S. 26–29. 2 hatte. Ein weiterer Hauptprotagonist der neuen Staatsdoktrin war José Seabra de Silva, ein Gefolgsmann Pombals. Mit seiner Deducção chronologica e Analytica (1768) schuf de Silva das „politische Manifest“ des neuen Regimes im Sinne einer radikalen Abrechnung mit der vorherigen rechtstheologischen thomistischen (jesuitischen) Staatslehre bzw. Darstellung der neuen verfassungsmäßigen Richtlinien der Monarchie. Damit übte er großen Einfluss auf die Juristen der gerade gegründeten Universität von Coimbra bzw. die dort ausgebildete nächste Beamtengeneration aus. Abb. 16.1 Pascoal (José) de Melo (Freire dos Reis) war einer dieser neuen Jura-Professoren, die sich der Aufgabe der Herausbildung einer neuen politischen Mentalität verpflichteten. Für ihn existierte eine klare Trennlinie zwischen den grundlegenden Gesetzen, die nur die Thronfolge betrafen, bzw. den für die Gesamtheit der Bevölkerung geltenden allgemeinen Gesetzen. Dabei konnte er an de Silvas Schrift Deducção chronologica e analytica anknüpfen, in der die Lei do Estado oder Lei fundamental als das Gesetz definiert wurde, welches „die Form einer Regierung konstituiert und bestimmt, über die Art der Ernennung des Monarchen entweder durch Wahl oder Thronfolge entscheidet und die Regierungsform des Reiches oder der Republik festlegt. War dies in Rom die lex regia, waren es in Portugal die Gesetze von Lamego“.3 Freire entwickelte seine Staatslehre in den Handbüchern der portugiesischen Rechtsgeschichte (Historia iuris civilis lusitani, 1778) und des portugiesischen besonderen Rechts (Institutiones iuris civilis [und criminalis] lusitani, 1789) an der Rechtsfakultät von Coimbra (Faculdade de Leis).4 Demnach bestand der Ursprung der königlichen Rechte des ersten 3 José Seabra de Silva, Deducção chronologica e Analytica, 1768, 1. Tl., Abt. XII, Nr. 600. Vgl. v.a. Pascoal (José) de Melo (Freire dos Reis), Historia iuris civilis Lusitani, Coimbra 1778, §§ 38–40; ders., Institutiones iuris civilis lusitani cum publici tum privati liber, Coimbra 1789, Bde. I, I/2, III, IV/3; CDROM-1, Dok.-Nr. 15.2.1 (Fundamentalgesetze des Königreichs Portugal v. 1789/Auszug); Dok.-Nr. 15.2.2 (Monarchie und ständische Gesellschaftsordnung v. 1789/Auszug). In den Quellentexten findet sich die alte Schreibweise des Namens: Pascoal de Mello. 4 3 Königs von Portugal, Afonso Henrique, einerseits in der Mitgifts- und Schenkungstabelle, die sein Großvater, Alphonsus VI., Herrscher über León, für seine Tochter Teresa und deren Nachfolger angefertigt hatte, andererseits im dynastischen Erbfall und sowie der legitimen kriegerischen Eroberung. Folglich beruhte die Rechtmäßigkeit der Monarchie nicht auf einem militärischen Wahlakt (auf dem Schlachtfeld von Ourique) noch auf der Wahl des Volkes oder der Gnade des Papstes. (Historia, § 38, Anmerkung). Unter den ersten portugiesischen Gesetzen (primordiales leges), die in den Cortes de Lamego, den legendären Cortes, deren Existenz die Historiographie des 19. Jahrhunderts zurecht bestreiten sollte, ausgearbeitet wurden, war nach Auffassung Freires das einzige grundlegende, im Zusammenwirken von König und Volk beschlossene Gesetz (Lex Status) dasjenige, welches die Thronfolge bestimmte.5 Alle anderen Gesetze, zum Beispiel zum Status des Hochadels, der Richter, zum Strafrecht, seien vom König ohne Mitwirkung des Volkes erlassen worden. Die von de Melo mit Erfolg propagierte neue Sicht auf die Grundlagen des Königtums6 wurde von beträchtlichen politischen und institutionellen Umwälzungen begleitet.7 So war die Politik der Amtszeit des Konsuls Pombal (1750–1777) von einem harten, bis zum Verbot der Societas reichenden Anti-Jesuitismus und einem ausgeprägten Laizismus bestimmt. Entsprechend wurde das kanonische Recht aus weltlichen Gerichten ausgeschlossen (1769), die Inquisition auf den Status eines Kirchengerichts zurückgeführt (1769) und das Universitätswesen von „jesuitischem“ Einfluss gesäubert (1772). Ferner kam es zu einer signifikanten Verstärkung des königlichen Zensurwesens (mit der Einrichtung folgender Institutionen: Real Mesa Censória durch Carta de lei [im Folgenden: C.L.] vom 5.4.1768; Comissão Geral sobre o Exame e Censura dos Livros, 21.6.1787). Die Anhänger der auf Juan de Marianas (1536– 1623) zurückgehenden Monarchomachie wurden verfolgt und zum Teil getötet (Pe. Gabriel Malagrida, 1761); hinzu kamen drastische Maßnahmen gegen die Macht des Hochadels, insbesondere die wichtigsten adeligen Häuser des Reiches, also die Grafen von Aveiro und Caminha und die Marquisen von Vila Real, 1759. Ferner erfolgte eine erhebliche Reduzierung der Privilegien der Staatsbeamten mit dem Ziel der Hierarchisierung und 5 Für diese Quellen vgl. J[oaquim] J[osé] Lopes Praça, Collecção de leis e subsídios para o estudo do direito constitucional portuguez, Bd. 1, Coimbra 1893. 6 Vgl. dazu José Sebastião da Silva Dias, Pombalismo e teoria política, in: Cultura, história e filosofia 1 (1982), S. 45-114; zu konstitutionellen Konsequenzen vgl. António Manuel Hespanha, O absolutismo de raiz contratualistas, in: J. Mattoso (Hg.), História de Portugal, Bd. 4, Lisboa 1993, S. 137–143. 7 Vgl. José Manuel Subtil, Governo e administração, in: J. Mattoso (Hg.), História (wie Fn. 6), S. 157–192. 4 Disziplinierung des Beamtenapparats (vgl. C.L. 23.11.1770; Alvará [im Folgenden: Alv.] 20.5.1774).8 Trotz der Reaktion der konservativen Kräfte nach dem Tod Josés I. (1777) behielt die Reformbewegung ihre Stärke und ihr Tempo unter Maria I. bei. Eine neue Generation fortschrittlicher Minister (D. Rodrigo de Sousa Coutinho, D. Tomás Xavier de Lima, Martinho de Melo e Castro) zeigte sich für die aus dem Ausland kommenden Vorschläge einer politischen Erneuerung offen bzw. sympathisierte mit dem Reformprogramm der kurz zuvor in Lissabon gegründeten Königlichen Akademie der Wissenschaften (1779). Die innere „Politik“ (Policia, Policey) des Reiches wurde zu einer bedeutenden Angelegenheit. Ein Allgemeines Verwaltungsamt (Intendente Geral da Polícia) wurde 1760 (Alv. 25.7)9 mit dem Auftrag geschaffen, alle Angelegenheiten bezüglich des öffentlichen Friedens und der öffentlichen Ruhe zu beaufsichtigen. Demgegenüber wurde die Justizgewalt der Pächter der königlichen Ländereien (Donatários de bens da coroa) eingeschränkt (C.L., 19.7.1790)10 und eine allgemeine Bodenreform mit dem Ziel vorbereitet,11 die Gebietsverwaltung zu rationalisieren, innere Grenzen abzuschaffen, gerichtliche Konflikte zu vermeiden und eine neue administrative Grundstruktur zu entwerfen. Wenngleich das Projekt scheiterte, konnte die erfolgreiche Verwaltungsreform des Jahres 1836 auf diese Vorarbeiten zurückgreifen. Als Kompensation für die Verluste des Reiches, die durch die internationale Öffnung des brasilianischen Handels (Carta régia [im Folgenden: C.R.] 28.1.1808) entstanden, wurde eine Reduzierung oder sogar Abschaffung feudaler Rechte erwogen und neben anderen ergänzenden Reformen (wie die Vereinheitlichung von Gewichten und Maßen)12 kontrovers debattiert.13 Einen Höhepunkt des Diskurses über den Charakter der „grundlegenden Gesetze des Reiches“ (Leis fundamentais do Reino) bildete die von António Ribeiro dos Santos im Jahr 1789 initiierte Kontroverse mit dem damals angesehensten und oben bereits eingeführten 8 Vgl. António Manuel Hespanha, Las vésperas del Leviathan. Instituciones y poder politico, Madrid 1989, S. 502–508; José Manuel, Governo e administração, in: J. Mattoso (Hg.), História (wie Fn. 6), S. 187ff. 9 Die Verfügung vom 25.7.1760 in: Collecção de leis extravagantes do Reino de Portugal. Laegislação antiga e moderna. Laeis antigas, Bd. 4, Coimbra 1819, S. 309ff. 10 Vgl. CD-ROM-1, Dok.-Nr. 15.6.3 (Gerichtsbarkeit der Großgrundbesitzer v. 19.7.1790). 11 Vgl. Ana Cristina Silva, O modelo espacila do Estado moderno, Lisboa 1998. 12 Vgl. António Manuel Hespanha, O jurista e o legislador na construção da propriedade burguesa, in: Análise social 61–62 (1980), S. 211–236. 13 Die wichtigsten Artikel der Polemik lauten: Manuel de Almeida e Sousa (de Lobão), Discurso jurídico, histórico e crítico sobre direitos dominicaes, e prove d’elles, Lisboa 1819; ders., Discurso sobre a reforma dos foraes, Lisboa 1825; Manuel Fernandes Thomaz, Observações sobre o discurso que escreveu Manuel d’Almeida 5 portugiesischen Juristen Pascoal [José] de Melo [Freire dos Reis], der mit der Sektion „Öffentliches Recht“ (Buch 2) des Novo Código beauftragt war.14 Santos war dagegen Mitglied der Junta do Novo Código, einer 1778 eingesetzten Juristenkommission, die sich der Überarbeitung der Ordenações Filipinas von 1604 als einer Sammlung von königlichen Verordnungen15 widmete, die bislang vor allem deswegen als „Grundgesetz“ angesehen wurden, weil sie nicht ohne ausdrückliche Erklärung widerrufen werden konnten.16 Das Interesse der Junta do Novo Código richtete sich genau auf dieses Problem der Definition der „grundlegenden Gesetze des Reiches“ (Leis fundamentais do Reino).17 Zur Frage der „grundlegenden Gesetze“ hatte sich zuvor Freire in der Einführung des Abschnitts „Über Gesetze und Gewohnheitsrecht“ (Buch II, Tit. II) geäußert: „Unter dem Titel „Gesetze Portugals“ sind in erster Linie die grundlegenden Gesetze des Staates erfasst, die heiligsten aller Gesetze, die die Nachfolge des Königreiches festlegen und unsere absolute und unabhängige Macht bekräftigen“ (§ 1). Der nächste Paragraph differenzierte den Gesetzesbegriff wie folgt: „Unter diesem Namen [„Gesetze“] werden auch all die Satzungen und Verordnungen erfasst, die von den Königen dieses Königreiches seit dem Beginn der Monarchie festgelegt wurden, entweder in den Cortes, wo vor der Einrichtung von Gerichten Menschen angehört wurden, oder gemäß dem Ratschlag der Minister ihrer Ratsversammlung oder anderer Leute, die die Könige gewöhnlich anhörten, ohne dass ihre oberste Autorität und Souveränität dadurch eine Einschränkung erfahren hätte“ (§ 2). Ausgehend von dieser Definition betraf für Freire das einzige grundlegende Gesetz die Thronfolge. Die übrigen, andere Angelegenheiten betreffenden Gesetze seien vom König ohne Mitwirkung des „Volkes“ erlassen. Die Bedeutung des königlichen Eides, der von den Königen vor ihrer Erhebung abgelegt wurde,18 hatte demnach rein protokollarischen Charakter, denn „die e Sousa em favor dos direitos dominicaes da Coroa, donatarios e particulares, Coimbra 1814; Alberto Carlos de Menezes, Plano de reform dos foraes, e direitos banaes […], Lisboa 1825. 14 Publiziert in kommentierter Edition durch: António Ribeiro dos Santos, Notas ao plano do Novo Código de Direito Público do D.or Paschoal José de Mello, feitas e appresentadas na Junta da Censura e Revisão pelo D.or, Coimbra 1844. Vgl. das Projekt Melos in: CD-ROM-1, Dok.-Nr. 15.6.4 (port.)/15.6.5 (dt.) (Entwurf einer Kodifikation des öffentlichen Rechts v. 1790/Auszug). 15 Vgl. Ordenações Filipinas, Lisboa 1604. Buch I beinhaltete hauptsächlich die Vorschriften über königliche und städtische Beamte, Buch II die Disziplin der Beziehungen zwischen königlichen, kirchlichen und feudalen Gewalten; Buch III enthielt Verwaltungsverfahren, Buch IV unterschiedliche Normen zu Verträgen und Familienangelegenheiten und Buch V Strafrecht. Das „konstitutionellste” Segment war das zweite Buch, das das Gleichgewicht der Gewalten innerhalb der korporativen Monarchie regelte. 16 Vgl. António Manuel Hespanha, O Antigo Regime (1620–1810), in: J. Mattoso (Hg.), História (wie Fn. 6), S. 141; zum Konzept des „grundlegenden Gesetzes” in der Doktrin Portugals im 17. Jahrhundert vgl. ders., História das instituições. Épocas medieval e moderna, Coimbra 1982. 17 Zu diesem Vorhaben der Gesetzesrevision vgl. Nuno Espinosa Gomes da Silva, História do direito português. Fontes de direito, Lisboa 1991, S. 370ff. 18 Zur im 17. Jahrhundert festgelegten Eidesformel vgl. Alv. 9.9.1642; weitere Formeln bei: J. J. Lopes Praça, Collecção de leis (wie Fn. 5), S. 30, 122, 176, 196, 272. 6 öffentliche Erhebung verleiht weder, noch nimmt sie das Recht zu regieren, welches [die Könige] unmittelbar nach dem Tode des Vorgängers erwerben, ohne dafür irgendeiner öffentlichen Bezeugung, Krönung, Einwilligung, Anerkennung oder irgendeiner Form von Zeremonie oder Inszenierung zu bedürfen“.19 António Ribeiro dos Santos widersprach dieser restriktive Sichtweise. Für ihn teilte sich das zu kodifizierende „nationale öffentliche Recht“ (Direito publico nacional) in zwei Stränge. Der eine betraf die „grundlegenden oder primordialen Gesetze des Staates“, die das Ergebnis einer stillschweigenden oder ausdrücklichen Vereinbarung waren („Gesetze des Königreiches“, „grundlegende Verfassung“); der andere das vom Souverän herausgegebene „bürgerliche öffentliche Recht“ („Gesetze des Königs“, „öffentlicher Status der Nation“). Somit sei der inhaltliche Bezug der neun Bücher der Sammlung wie folgt zu differenzieren: (i) auf die Form der obersten Gewalt (summo imperio); (ii) auf die Reihenfolge der Thronfolge; (iii) auf die besonderen Formen der Ausübung der Rechte des Souveräns; (iv) auf das öffentliche Verwaltungssystem; (v) auf die Rechte von Privatpersonen hinsichtlich gegenseitiger Pflichten zwischen ihnen und dem Fürsten; (vi) auf die Privilegien der den Staat formenden Stände; (vii) auf das Parlament (Cortes); (viii) auf die staatlichen Pachteinkünfte; (ix) auf Angelegenheiten von öffentlichem Interesse wie zum Beispiel Religion, Bildung und Erziehung, Polizei etc. Andere Angelegenheiten gingen nach Santos` Einschätzung über den Rahmen des nationalen öffentlichen Rechts hinaus und durften nicht in die Sammlung aufgenommen werden.20 Für jedes der von ihm herausgearbeiteten Themenfelder schlug Santos spezifische Richtlinien vor.21 Zunächst bezog er sich auf die grundlegenden Gesetze, die am Anfang der Königsherrschaft ausdrücklich vereinbart wurden, nachdem sie von den vorangegangenen Staatsformen (Königreich von León, Westgotisches Reich) entweder stillschweigend übernommen oder danach in gegenseitigem Einverständnis von Volk und König festgelegt worden waren. Dazu gehörten die das Wesen der Regierung und Thronfolge betreffenden Gesetze der Cortes de Lamego, die Gesetze der Cortes de Lisboa von 1674 bezüglich der Vormundschaft der Fürsten und Regenten sowie die Gesetze der weiteren Cortes de Lisboa von 1698 (12.4.) zur Interpretation der Sukszessionsvorschrift bei einer Erbfolge in der Seitenlinie. Diese Gesetze mussten Santos` Einschätzung eindeutig geklärt und sorgfältig von 19 Pascoal de Melo, Resposta, in: A. R. dos Santos, Notas ao plano (wie Fn. 14), S. 82. Vgl. A. R. dos Santos, Notas ao plano (wie Fn. 14), S. 6. 21 Vgl. ebd. Santos kritsierte Freires Entwurf nicht zuletzt wegen des Fehlens einer solche Konkretisierungsleistung. 20 7 den anderen („lediglich zivilen und vom Willen des Fürsten abhängigen“) Gesetzen unterschieden werden, da sie über die Macht des Volkes und des Fürsten hinausgingen und demzufolge die Grundlage des nationalen öffentlichen Rechts des Neuen Kodex bildeten.22 Der zweite Themenschwerpunkt betraf die Ordnung der Thronfolge, die Eigenschaften der Nachfolger, die Vorrechte der königlichen Gattinnen, die königliche Vormundschaft und Regentschaft, den königlichen Willen und den königlichen Eid.23 Der nächste Gegenstand bezog sich auf die Rechte und Freiheiten des Volkes, die nicht bloß individuell, sondern als „Körper des Staates“ verstanden wurden24 und vom König beim Akt der Inthronisation beschworen wurden. Hieraus ergab sich die Notwendigkeit zur Bereitstellung von geeigneten Mitteln zu ihrer Durchsetzung bzw. von Sanktionsmaßnahmen für den Fall der Verweigerung..25 Der vierte Themenbereich behandelte die drei Stände des Reiches sowie ihre Verfassungen und besonderen Pflichten und Privilegien26 – ergänzt durch detaillierte und unkonventionelle Handlungsanweisungen in einem weiteren Artikel.27 Der fünfte Posten umfasste die gesamte Thematik der Cortes: ihr Wesen, ihre Verfassung, ihre Zuständigkeiten, ihre formalen Regeln, ihre Entscheidungsprozesse, die Autorität ihrer Beschlüsse.28 Der sechste Punkt betraf die Dienstvorschriften und Satzungen des Verwaltungspersonals, der Beamten des Königshauses und der Mitglieder der Ratsversammlungen: ihre verschiedenen Ränge, ihre Hierarchie und ihre Gerichtsbarkeit. Dabei ging es ihm vor allem darum, die Architektur des gesamten Systems der staatlichen Beamten in einem geschlossenen und in sich stimmigen Kodex zusammenzufassen, der über die Struktur der Regierung und der öffentlichen Verwaltung Auskunft geben sollte.29 Der siebte Schwerpunkt behandelte die Munizipalregierung sowie die Kolonien unter dem Gesichtspunkt ihrer Regierungs- und Administrationsverhältnisse – unter Einbeziehung der Charakterisierung der Bevölkerungen und ihrer Eigentumsverhältnisse, Pflichten und Vorrechte.30 Sodann befasste sich dos Santos mit öffentlichen Verbrechen,31 gefolgt von einem recht detaillierten Abschnitt, der sich dem neuen „Polizeirecht“ (Wirtschaft, Bevölkerung, Gewerbe und Handwerk, Handel, Schifffahrt, Bildung und 22 Vgl. a.a.O., Nr. I; Nr. XXI. Vgl. a.a.O., Nr. II, Nr. X. 24 Vgl. a.a.O., S. 21. 25 Vgl. Kapitel 4 dieses Beitrags. 26 Vgl. A. R. dos Santos, Notas ao plano (wie Fn. 14), Nr. XII. 27 Vgl. a.a.O., Nr. XIX. 28 Vgl. a.a.O., Nr. XIII. 29 Vgl. a.a.O., Nr. XV–XVI, XX. 30 Vgl. a.a.O., Nr. XVII–XVIII. 31 Vgl. a.a.O., Nr. XXII. 23 8 Wissenschaften) widmete.32 Das Kirchenrecht sollte schließlich die jeweiligen Rechte und Pflichten von Kirche und Staat genau definieren,33 wobei es dos Santos vor allem darum ging, eine effektivere Staatskontrolle über die innerkirchliche Disziplin zur Geltung zu bringen, um der Kirche auf diese Weise eine externe Autoritätsquelle an die Seite zu stellen. Im Grunde handelte es sich bei dos Santos‘ Konzept um ein konservatives Reformprojekt. Tatsächlich ging es ihm vor allem darum, die korporative politische Struktur aufrechtzuerhalten und die politische Gesellschaft als harmonische Gesamtheit hierarchisch geordneter Stände neu zu konstituieren. Dementsprechend behielten die munizipalen Körperschaften behielten demnach politische Autonomie fast vollständig bei und wurden auch Beamte und Räte ihrer politischen Vorrechte nicht gänzlich enthoben. Letztere sahen sich aber einem stärkeren Zentralisierungs- und Disziplinierungsdruck ausgesetzt. Die Parlamente behielten ihre traditionelle triadische Struktur. Das Recht war weit davon entfernt, für jeden Bürger allgemein und gleich zu sein. Eine Neuheit stellte allerdings die Idee eines schriftlichen konstitutionellen Kodex dar – insbesondere da sich mit ihr der Vorschlag verband, dass alle bestehenden Rechte und Pflichten des Monarchen und der Untertanen zum Inhalt gemacht werden sollten. Damit wurde die Charakterisierung des politischen Pakts, an dem jeder Bürger teilhatte, das Wissen um seine normativen Inhalte und um seine Ausführung zum Ziel erklärt. Folglich sollte der Neue Kodex (i) einen systematischen Aufbau erhalten, der eine ökonomische Darlegung und leichtes Memorieren erlaubte, weiters (ii) sollte er knapp und nicht von Details und Weitschweifigkeit belastet sein.34 De Berücksichtigung dieser formalen Vorgaben sollte nicht zuletzt die Chancen einer aufgeklärten Rechtspolitik und Rechtspraxis möglich machen. Dos Santos’ Haltung war kennzeichnend für diejenigen politische Richtung, die eine reformorientierte Rationalisierung der traditionellen Verfassung unterstützte („reformistischer Traditionalismus“)35. Im Gegensatz dazu repräsentierte die Replik von Freire36 die harte Linie des aufgeklärten Despotismus. Ihre Gegenüberstellung bietet deshalb eine ausgezeichnete 32 Vgl. a.a.O., Nr. XXIII–XXIX. Vgl. a.a.O., Nr. XXX. 34 Vgl. a.a.O., S. 56. 35 Vgl. António Manuel Hespanha, O projecto institucional do tradicionalismo reformista, in: O liberalismo na península ibérica na primeira metade do século XIX, Bd. 1, Lisboa 1982, S. 63–90. 36 Vgl. Resposta que deu o Desembargador Paschoal José de Mello Freire dos Reis [à primeira censura], in: A. R. dos Santos, Exame do plano (wie Fn. 19), S. 63–100; ders., Resposta que deu o Desembargador Paschoal José de Mello Freire dos Reis [à segunda censura], in: a.a.O., S. 101–112. – António Ribeiro dos Santos’ Antwort darauf, vgl. ders., Notas à resposta à primeira censura, in: a.a.O., S. 115–144. 33 9 Möglichkeit, die konstitutionelle Debatte Portugals im Jahr der Französischen Revolution zu charakterisieren. Nicht zuletzt aufgrund der Ereignisse in Frankreich unterlag dos Santos. Seine Entwürfe wurden nicht vor Mitte des 19. Jahrhunderts publiziert.37 Der reformistische Flügel des Regimes spielte jedoch innerhalb akademischer Regierungskreise langfristig eine entscheidende Rolle und zeichnete für mehrere politische Reformvorhaben verantwortlich, ob diese nun ausgeführt wurden oder nicht.38 Im Gegensatz dazu blieben die Ansichten Freires die offizielle Doktrin. Jedes Jahr wurde Dutzenden von Studenten der politisch führenden Rechtsuniversität zu Coimbra der strenge Absolutismus nach Freires Handbüchern gelehrt. In den Institutiones iuris civilis lusitani (von 1789 bis zum endgültigen Sieg des konstitutionellen Regimes in Gebrauch) behielt Freire seine restriktive und abwertende Auffassung der Leges fundamentales bei: In Portugal hätte die königliche Macht keinen Ursprung im Volk; die einzigen grundlegenden Gesetze wären die der Cortes de Lamego, die sich mit der Thronfolge befassten.39 Alle anderen Gesetze galten ihm zwar als „Monumente höchster Amtsgewalt“, aber nicht als Gesetze von Verfassungsrang; eine Ableitung aus dem Naturrecht kam wiederum wegen des Rekurses auf das römische Recht nicht in Betracht. Kurz gefasst waren die verbleibenden Gesetze nichts anderes als bloßes portugiesisches „bürgerliches Recht“ (Institutiones iuris civilis lusitani, I, I, II, Anmerkung). Vgl. A. R. dos Santos, „Exame do plano“ (wie Fn. 19). Es gibt von António Ribeiro dos Santos viele Manuskripte in portugiesischen Archivsammlungen. Einige von ihnen sind handschriftliche Versionen seiner publizierten Beiträge zur Junta de Revisão. Andere nicht editierte Beiträge decken eine große Bandbreite von Fragen zur konstitutionellen Relevanz ab, vgl. beispielsweise António Ribeiro dos Santos, Sobre a multiplicidade das leis, in: Biblioteca Nacional, Lisboa (im Folgenden: BNL), códice (im Folgenden: cod.) 4677, folio (im Folgenden: fl.) 23; ders., Sobre a redução dos costumes a codigos, in: BNL 4677, fl. 235; ders., Do principe como soberano e como senhor feudal, in: BNL cod. 4677, fl. 70; ders., Sobre os direitos reais, in: BNL cod. 4668, fl. 251; cod. 4677, fl. 144, 155, 105; ders., Comentario a lei Julia de magestatis, in: BNL cod. 4669, fl. 135; ders., Dissertação sobre o dominio eminente e como não convem usar esta expressão, in: BNL cod. 4677, fl. 119; ders., Fragmentos de um livro sobre as leis e usos de Portugal, in: BNL cod. 4671, fl. 270; ders., Dos ministros publicos da religião e do Estado que devem entrar no codigo, in: BNL cod. 4676, fl. 130–136; ders., Annotationes ad leges quoddam lusitanae, in: BNL cod. 4671, fl. 155; ders., Notas cursivas ao codigo, in: BNL cod. 4676, fl. 1 (Tit. 7ff.); ders., Notas ao Titulo II das Leys e do Costume do Novo Codigo de Direito Publico de Portugal, escritas e apresentadas na Junta de Revisão, parte IIII. 38 Für eine Evaluation vgl. A. M. Hespanha, O projecto institucional (wie Fn. 35), S. 63–90; Zília Osório de Castro, Constitucionalismo vintista. Antecedentes e pressupostos, Lisboa 1986. 39 Außerdem jene Gesetze, die die Thronfolge Ende des 17. Jahrhunderts modifizierten: 1674, 1679, 1698. Vgl. P. de Melo, Institutiones (wie Fn. 4), I, I, II, Anm.; vgl. auch a.a.O., I, I, VI, Anm.; III, IX, III; ders., Historia iuris (wie Fn. 4), §§ 38–40. Diese begrenzte Auffassung beeinflusste die Auswahl einer Sammlung konstitutioneller Texte, die nach der Revolution von 1820 publiziert wurde: Collecção de constituições antigas e modernas com o projecto de outras, por dois bacharéis, 4 Bde., Lisboa 1821–1822. Auch der weitschweifigste (und angewandteste) unter den praktischen Rechtsgelehrten des frühen 19. Jahrhunderts, Manuel de Almeida e Sousa, akzeptiert kommentarlos die Doktrin von Melo, vgl. Manuel de Almeida e Sousa (de Lobão), Notas de uso práticas e críticas [...] a Melo, Bd. 1, Lisboa 1818, Titel I, § 1–2, Anm. 2. 37 10 Jedoch ließ sich der Einfluss des europaweit verbreiteten neuen Verfassungsdenkens auch in Portugal nicht dauerhaft ausschalten. Die liberale Literatur wurde heimlich von Frankreich und England aus verbreitet, hauptsächlich durch geheime Gesellschaften wie die der Freimaurer.40 Sodann lösten die Napoleonischen Kriege mit einer (wenn auch nur kurzen) Belagerung Portugals durch die Armee Junots (November 1807 – August 1808) eine neue Verfassungsbewegung aus, die schon Anzeichen eines neuen Konstitutionalismus aus. Zusammenfassend kann man von einer doppelten Wirkung der revolutionären Ereignisse in Frankreich und der Invasionen Napoleons (1807, 1810, 1811) ausgehen. Einerseits immunisierten sie das politische Ambiente gegen jegliche Reformideen oder brachten zumindest Probleme hervor (Krieg, Finanzkrise, Verlegung des Hofs nach Rio de Janeiro), die eine angemessene politische Reflexion und Reaktion verhinderten. Andererseits löste die kurze französische Okkupation eine liberale Bewegung aus, die von Napoleon eine Verfassung verlangte und die Rezeption des französischen bürgerlichen Gesetzbuches förderte.41 Die Petition für eine Verfassung wurde von einer Delegation von „Repräsentanten“ der Nation im Jahr 1808 (24.5.) an den Kaiser gerichtet.42 In der Petition wurde eine Verfassung gefordert, die der Konstitution des Großherzogtums Warschau ähnelte: Katholizismus als Staatsreligion, Religionsfreiheit, Gleichheit aller Bürger, Verwaltungs- und Bodenreform mit Reduzierung der Beamtenzahl, vollständige Integration der Kolonien in das Reich und in die Nationalversammlung, Schaffung eines Ministeriums für Bildung; Pressefreiheit; Errichtung eines Staatsrates zur Unterstützung der Regierung, Bildung einer nationalen Repräsentation mit zwei Kammern, die von den Munizipalräten nach den traditionellen Gesetzen des Staates zu wählen und mit Legislativkompetenzen auszustatten waren. Ferner: Unabhängigkeit der Justiz; leistungsabhängige Ernennung zu öffentlichen Ämtern; Aufhebung erbrechtlicher Bindungen wie des Fideikommisses für kirchlichen Landbesitz; Allgemeingültigkeit von Abgaben; Konsolidierung und Sicherung von Staatsschulden. Kurzum, ein von gemäßigt liberalen Grundsätzen (rechtliche Gleichheit; Allgemeingültigkeit und Gleichheit von Abgaben; Leistungsbezogenheit; Religions- und Pressefreiheit; Ministerverantwortung; Unabhängigkeit der Gerichte; Leichtigkeit der Staatsverwaltung), einer kompromissvollen Konzeption der nationalen Repräsentation (korporative Repräsentation der Verwaltungs- 40 Vgl. Graça da Silva Dias/Sebastião da Silva Dias, Primórdios da Maçonaria em Portugal, Lisboa 1988. Vgl. N. E. Gomes da Silva, História do direito português (wie Fn. 17), S. 374. 42 Vgl. CD-ROM-1, Dok.-Nr. 15.2.3 (Verfassungssupplik der portugiesischen Nation an Napoleon Bonaparte v. 1808). Zur Episode vgl. J. J. Lopes Praça, Collecção de leis (wie Fn. 5), Bd. 2, S. viii–x (mit dem Text: S. ix); A. M. Hespanha, O Antigo Regime (wie Fn. 16), S. 149. 41 11 bezirke) und von dualen Legitimitätsvorstellungen (gemeinsame Gesetzgebungskompetenz der Legislative und Exekutive) getragener Forderungskatalog. 3. Wahlrecht und Wahlen Im traditionellen Verfassungsdenken war das Thema Wahlen eng mit der Theorie der ständischen Repräsentation verknüpft. Einerseits wurde davon ausgegangen, dass das Allgemeingut als die bestmögliche Kombination der Privatgüter der Einzelnen anzusehen sei und jede Angelegenheit, welche die Interessen aller berührt, auch von allen entschieden werden sollte (Quod omnes tangit ab omnibus approbari debet). Andererseits sah man in diesem Prinzip eine Verkürzung des Ideals der sozialen Gesamtheit als kollektiver Person, da es die gemeinsame politische Ordnung auf die Summe seiner einzelnen Teile (Einzelpersonen oder Korporationen) reduzierte. Mehr als „das Reich“ repräsentierten die Cortes „os povos“ (in bedeutsamem Plural) das „Volk“, worunter allerdings nur diejenigen verstanden wurden, die überhaupt über zu berücksichtigende Rechte verfügten.43 In gewisser Weise war die Anwesenheit in den Cortes kein Akt der Repräsentation (stat uno pro alio), sondern der Präsentation. Dies gilt umso mehr, als die „Repräsentanten“ nicht gewählt wurden, sondern direkt und persönlich anwesend waren. Ein weiteres Thema, das sich auch auf den Problembereich der Wahlen bezog, war der geeignete Weg der Herausbildung des allgemeinen Willens. Die Antwort auf diese bereits seit dem Mittelalter diskutierte Frage war zwiespältig. Demnach konnte eine Körperschaft entweder von dem maior pars oder dem sanior pars repräsentiert werden. Dort, wo alle Mitglieder den gleichen Rang und Status besaßen, fiel denjenigen die Repräsentation zu, die von der größten Zahl der Mitglieder erwählt (gewählt) wurden. Dort, wo Mitglieder organisiert und hierarchisiert waren, oblag die Repräsentation den Besten (sanior pars). In dos Santos’ Projekt setzten sich die Cortes noch nach den traditionellen Ständen zusammen. Gleichwohl stellte er die Frage nach dem Charakter der Repräsentation: „Wer sind die Repräsentanten der Nation oder der Stände des Reiches, d. h., wer sind die Prälaten und andere kirchliche Personen, die den ersten Stand repräsentieren? Wer sind die Adligen, die den zweiten Stand repräsentieren? Welche Städte des Reiches repräsentierten durch ihre Vgl. António Manuel Hespanha, Qu’est que la 'Constitution' dans les monarchies ibériques de l’époque moderne?, in: Themis 1 (2000), S. 139–173; auch in: http://hespanha.net. 43 12 Prokuratoren den dritten Stand?“44 Dies bedeutet, dass zur Repräsentation jeden Standes keineswegs diejenigen (Einzelpersonen oder Städte) berechtigt waren, die das historische Recht zur Anwesenheit in den Cortes besaßen, sondern diejenigen, die das Vertrauen des gesamten Stands hatten. Im Gegensatz dazu verwies die „Supplikation“ an Napoleon auf ein globales und vereinheitlichtes Repräsentationskonzept, das dem Grundsatz der verfassungsmäßigen Gleichheit der Bürger entsprach. Nichtsdestotrotz zog man die korporative Ernennung der nationalen Repräsentanten (durch die Stadträte) dem individualistischen Wahlrecht vor.45 4. Grundrechte Im traditionellen Sinne waren Privatrechte sowohl im zivilen als auch im politischen Bereich voll und ganz geschützt – ob als „Eigentum“ (iura quaesita, iura radicata) oder als gesetzlich gewährter Anspruch (intentiones fundatas). Eigentumsrechte, verbriefte Statusrechte (Name, Titel, Rang), Rechte auf die Gunst des Königs (Schenkungen, Pacht, Anstellungen), Steuerbefreiungen oder -privilegien, Rechte auf Verwaltungsposten, politische Mitbestimmungsrechte (Teilnahme an den Cortes) wurden als Rechte in patrimonio betrachtet, die nach dem jeweils bestehenden System geregelt wurden (Formen der Aneignung und Übertragung einschließlich Verkauf, Erwerb und Verordnung) und durch gewöhnliche Rechtsakte geschützt waren (Reivindicatio, Action ex posesso, Interdicta). Die neue absolutistische Theorie neigte dagegen dazu, einige dieser Garantien zu begrenzen oder aufzuheben, um die oberste Gewalt von „anstößigen“ Einschränkungen zu befreien. Dies galt insbesondere für das Recht der Staatsbeamten auf ihre Ämter, das durch die Gesetzgebung der Aufklärung den Charakter der iura quaesita verlor, um auf einen Gnadenakt des Monarchen reduziert zu werden, welcher persönlich (intuitus personae) verliehen wurde und auch wieder aufgehoben werden konnte (Statut C.L. 23.11.1770). Das gleiche geschah mit den anderen Schenkungen der Krone, insbesondere mit den Schenkungen königlicher Ländereien (bens da coroa). Das Prinzip der gnädigen Verleihung solcher Ländereien oder Würden, das schon in den Ordenações (Ord. fil., II, 35) aufgestellt, aber durch die Rechtslehre des 17. Jahrhunderts fast wieder ausgelöscht worden war, wurde nachdrücklich bestätigt. Im Allgemeinen wurde auch die Möglichkeit zur Verhinderung 44 A. R. dos Santos, Exame do plano (wie Fn. 19), S. 24. 13 königlicher Entscheidungen durch gewöhnliche Rechtsmittel eingeschränkt, vor allem in Finanzangelegenheiten.46 Politische Mitbestimmung wurde traditionsgemäß durch die Cortes zugesichert, eine Versammlung, in der der Hochadel (Titel: Herzöge, Marquis, Barone, Grafen, Vicomtes), der gehobene Klerus (Bischöfe und die Äbte der wichtigsten Klöster) und fast einhundert Städte vertreten waren. Die Cortes versammelten sich regelmäßig, wenngleich in ungleichmäßigen Abständen bis zum Ende des 17. Jahrhunderts (die letzte Zusammenkunft wurde vom König 1698 aufgelöst).47 In der aufgeklärten Rechtslehre wurde die repräsentative Rolle der Cortes geleugnet. So bestand nach Pascoal de Melo für den König keine Notwendigkeit zur Einberufung der Cortes an, da seine Macht keinen Ursprung im Volk hatte und auch die grundlegenden Gesetze des Reiches nicht Gegenstand irgendeiner Vereinbarung waren. Nach seiner Auffassung sollte die Versammlung der Cortes lediglich als königlicher Rat erhalten bleiben und zu gegebener Zeit als Versammlung spezialisierter Hofräte figurieren.48 Eine liberale Konzeption politischer Individualrechte trat im Rahmen der Diskussion über den Novo Código in Erscheinung.49 So setzte António Ribeiro dos Santos an diesem Punkt mit seiner Kritik an der Konzeption Pascoal de Melos an. Melo betrachtete die Rechte der Vasallen gegenüber dem Souverän lediglich als das Recht, „Vergünstigungen als Belohnung für ihre Leistungen zu erbitten“, was sich vor allem auf „Schenkungen von königlichen Ländereien und Würden, Gewährung neuer Begünstigungen und die Bestätigung der schon bestehenden“ bezog.50 Nach Santos` Einschätzung behandelte Melo die Rechte der Vasallen damit lediglich als private, mit besonderen Eigenschaften, Leistungen oder Diensten verbundene Vorrechte. Demgegenüber schlug er vor, in dem Abschnitt des Novo Código, der sich dem öffentlichen Recht widmete, von den Vasallen als dem „Organ der Nation“ zu sprechen und ihre Rechte als diejenigen zu beschreiben, die „jeder Vasall im Allgemeinen 45 Vgl. Kapitel 2 dieses Beitrags. Vgl. A. M. Hespanha, História das instituições (wie Fn. 16), S. 330–331; ders., O absolutismo de raiz contratualistas (wie Fn. 6), S. 141f. 47 Vgl. A. M. Hespanha, História das instituições (wie Fn. 16), S. 367–384; Pedro Cardim, Cortes e cultura política no Antigo Regime, Lisboa 1998. 48 Vgl. P. de Melo, Institutiones (wie Fn. 4), Bd. I, Tit. I, § IV; ders., Resposta (wie Fn. 19), S. 88–91. 49 Zu diesem Vorhaben vgl. N. E. Gomes da Silva, História do direito português (wie Fn. 17), S. 370ff. 50 Pascoal (José) de Melo (Freire dos Reis), Notas ao Projecto (wie Fn. 17), Tit. I „Dos Direitos Reais“, §§ 48– 57; CD-ROM-1, Dok.-Nr. 15.6.4/15.6.5 (wie Fn. 14) (Edition mit veränderter Paragraphennummerierung). In gleichem Sinne vgl. auch P. de Melo, Institutiones (wie Fn. 4), Bd. II, Tit. 3; António Manuel Hespanha, História de Portugal moderno. Político e Institucional, Lisboa 1995, S. 201ff. 46 14 entsprechend den grundlegenden Gesetzen, Titeln, Freiheiten und Sitten unseres Reiches besitzt“.51 Seine Stellungnahme fiel allerdings – vermutlich aus taktischen Gründen – vorsichtig aus: „Ich erkenne an, dass diese Angelegenheit“ wegen des „absoluten und reinen“ Wesens der portugiesischen Monarchie, wo „alle Macht der alleinigen Person unserer Fürsten gehört“, „großer Umsicht und Weisheit bedarf“.52 Dementsprechend leitete er das Recht der Vasallen indirekt aus dem königlichen Machtbereich ab: „In einem Jahrhundert der Vernunft und der Menschlichkeit, in dem die Monarchen Europas erkennen, dass sie für das Volk geschaffen wurden und dass die Interessen des Volkes der einzige Zweck ihrer Regierung sind, kann man nicht bezweifeln, dass unser Souverän [...] diese Ziele billigen wird, indem er durch die Weisheit und Vorsehung seiner Gesetze die alten Rechte und Privilegien seines Volkes festigt“.53 Außerdem würde sich der „absolute“ Charakter der königlichen Macht in einen Vorteil verkehren, wenn dadurch eine königliche Definition und Bestätigung nationaler Rechte und Freiheiten zustande käme, die frei sei von den „Verlegenheiten, Interessenkollisionen und Schwierigkeiten, die bei Regierungen anderer Natur so verbreitet sind“. Es ist weder klar, wie Santos eine „reine und absolute Monarchie“ mit der Anerkennung dieser Rechte und Privilegien des Volks in Einklang bringen wollte, noch welche rechtliche Klassifikation er dem königlichen Akt der Anerkennung genau geben wollte. Doch scheint es ihm im Kern darum gegangen zu sein, die Rechte von Bürgern als solche festzuschreiben, seien sie durch grundlegende Gesetze, Zugeständnisse, Bräuche, Konventionen oder Vereinbarungen entstanden.54 Der Reformismus Santos' reichte jedoch nicht aus, um die ständische Staatsstruktur zu demontieren. Seiner Ansicht nach mussten die „drei Stände des Staats“ beibehalten55 und lediglich durch eine genauere Definition der Stellung und der Rechte jeden Standes ergänzt werden. Freilich war der traditionelle Entwurf einer dreigeteilten Gesellschaft schon seit langem in Zweifel gezogen worden. So war bereits die Rechtslehre des 16. Jahrhunderts mit der Umgestaltung des triadischen Schemas beschäftigt, um es der sozialen Mobilität anzupassen. Dazu wurde das Konzept eines intermediären Status („estado do meio“) eingeführt, um aufstrebende soziale Gruppen wie die literati (zumeist Anwälte oder in anderen juristischen A. R. dos Santos, „Exame do plano“ (wie Fn. 19), S. XI–XII. A.a.O., S. 22. 53 A.a.O., S. 22–23. 54 Melos Antwort bezüglich der Rechte des Volkes, der Stände und der Städte, vgl. P. J. de Melo (Freire dos Reis), Resposta (wie Fn. 19), S. 84–88, 91–100. 55 A. R. dos Santos, „Exame do plano“ (wie Fn. 19), S. 23. 51 52 15 Berufen arbeitende Personen), die freien Berufe (Mathematiker, Musiker, Doktoren), die Kapitäne großer Schiffe, die Großgrundbesitzer oder den ortsansässigen niederen Adel kategorisieren zu können.56 Seit dem frühen 18. Jahrhundert waren einige dieser Klassen schon vollständig in den Adelsstand integriert. Während des Konsulats Pombals förderte die königliche Gesetzgebung die Nobilitierung von Kaufleuten und Unternehmern.57 Neben wichtigen symbolischen Wirkungen brachte die Zugehörigkeit zu Adel oder Klerus einige Befreiungen (vor allem fiskalischer oder [nur im Falle des Klerus] juristischer Natur)58 oder einen speziellen Status im Zivilrecht (Beweisrecht, Legitimierung von Kindern) oder im Strafrecht mit sich. Auf ökonomischer Ebene erwies sich Pombals Politik als doppeldeutig. Offizielle Erklärungen über den Nutzen des freien Handels waren allgemein verbreitet.59 Die Schaffung staatlich gelenkter Unternehmen – Companhia Geral dos Vinhos do Alto Douro, Alv. 10.9.1756; Companhia do Grão Pará e Maranhão, 7.6.1755, wieder unterdrückt am 5.1.1778; Companhia Geral do Comércio de Paraíba e Pernambuco, Alv. 13.8.1759; Companhia Geral das Reais Pescarias do Reino do Algarve, A.15.1.1773; Companhia das carnes, Alv. 12.3.1794, wieder unterdrückt durch Decreto (im Folgenden: D.) 25.4.1797 –60 ersetzte jedoch die Handelsfreiheit durch Privilegien. Gegen Ende des Jahrhunderts wurde die Betonung ökonomischer Rechte (vor allem freier Handel und freies Unternehmertum) immer mehr zu einem allgemeinen Anliegen. Obwohl das unmittelbare Motiv dafür eine britische Auflage war, widersprach die allseitige Öffnung des brasilianischen Handels (C.R. 28.1.1808) nicht dem politischen Diskurs des reformistischen Flügels, der in den aufgeklärten Kreisen dominierte (vor allem in der Academia Real das Ciências de Lisboa).61 56 Vgl. P. de Melo, Institutiones (wie Fn. 4), Bd. II, Tit. III, §§ 14–15; M. de Almeidea e Sousa de Lobão, Notas a Melo (wie Fn. 39), ad §§ 14–15, S. 32–38; Luís da Silva Pererira de Oliveira, Privilégios da nobreza e fidalguia de Portugal, Lisboa 1806. – Sekundärliteratur vgl. A. M. Hespanha, As vésperas (wie Fn. 8), S. 307– 352; ders., História de Portugal moderno (wie Fn. 50), S. 42–50. 57 Vgl. Alv. 26.12.1756 (Kap. 18, § 6), Alv. 24.11.1764, C.L. 3.8.1770. 58 Vgl. A. M. Hespanha, As vésperas (wie Fn. 8); ders., História de Portugal moderno (wie Fn. 50). 59 Vgl. Alv. 21.4.1751, § 11 („Alles, was den Handel gefährdet, und jeder, der dies unterstützt, muss gestoppt werden”); D. 30.9.1755; Alv. 5.1.1757 („davon hängt der Nutzen jedes Einzelnen und das Gemeinwohl des Staates ab”); Alv. 17.8.1758, § 37 („Seine Seele ist die Freiheit”). Im Vorwort eines Gesetzes vom 30.9.1770 kommt auch der Gedanke zum Ausdruck, dass der Handel das für den Staat wichtigste Anliegen ist, das mehr öffentliche Aufmerksamkeit verdient als Gerichtsverfahren, das Gewerbe oder das Manufakturwesen; weitere Beispiele vgl. Rui Manuel Marcos, A legislação pombalina, in: Boletim da Faculdade de direito de Coimbra 33 (1990), Suplemento, S. 1–314, hier: S. 212–214 Anm. 247. 60 „[Generalunternehmen] lassen Landwirtschaft und Handel florieren”, Alv. 7.6.1755. 61 Der brasilianische Handel war bereits für jeden Staatsangehörigen offen (10.9.1765; 27.6.1769). Für Angola wurde die Handelsfreiheit erklärt durch Alv. 11.1.1758; für Moçambique [und Angola] durch Alv. 7.5.1761; für den asiatischen Handel wurde die alte strenge Regulierung durch die Alv. 16.1.1774 und 27.12.1802, Art. 5, verstärkt. 16 Die gleiche liberale Einstellung herrschte in Bezug auf die Eigentumsrechte vor; ferner wurde die Frage der Beseitigung feudaler Rechte zusehends in der Öffentlichkeit erörtert. 62 Althergebrachte Beschränkungen der Rechte von Eigentümern, wie zum Beispiel die traditionell unbefristete Verlängerung der Erbpacht, wurden nun durch königliche Verordnung aufgehoben (C.L. 9.9.1769, § 26) und die Besteuerung von Land immer mehr reduziert (vgl. Alv. 16.1.1773, Alv. 15.7.1779). Bedeutend waren die Einschränkungen der Satzung von Morgados und Capelas. Dabei handelte es sich um die traditionelle iberische Variante von Ländereien der Toten Hand im Besitz einer Familie. Diese Praxis widersprach der neuen physiokratischen Auffassung, deren Kritik schließlich zum Statut vom 3.8.1770 führte, demzufolge die königliche Autorisation nur noch dort gewährt wurde, wo ein schriftlicher Nachweis vorlag und der Ertrag ausreichend war. Entgegen des sich zusehends liberalisierenden Umgangs mit dem Eigentumsbegriff, zwang freilich der Wiederaufbau Lissabons nach dem Erdbeben von 1755 zu drastischen Einschränkung von Eigentumsrechten am städtischen Boden.63 5. Verwaltung Im späten 18. Jahrhundert wurde der Kern der portugiesischen Zentralverwaltung bereits durch die „Regierung” (Angelegenheiten der „polícia”, „oeconomia” oder „cameral”) gebildet.64 Mit den Inspektoren, Intendanten und Oberintendanten traten nunmehr neue Ämter in Erscheinung, die im Auftrag des Zentrums handelten und von diesem abhängig waren („kommissarisches Modell“). Der Status des Staatsdieners begann sich ungeachtet vieler Widerstände vom traditionellen Typus des privaten Amtsinhabers zum modernen Modell des Bediensteten als öffentlicher Funktionär zu wandeln.65 62 Vgl. A. M. Hespanha, O jurista e o legislador (wie Fn. 11). Vgl. D. 12.6.1758; R. M. Marcos, A legislação (wie Fn. 59), S. 246–254. 64 Vgl. CD-ROM-1, Dok.-Nr. 15.5.1 (Zentralisierung des Polizeiwesens v. 25.6.1760). Für eine allgemeine Beschreibung des modernen Models vgl. António Manuel Hespanha, Paradigmas de legitimação, áreas de governo, processamento burocrático e agentes da administração, in: J. Mattoso (Hg.), História (wie Fn. 6), S. 157–163. 65 Vgl. C.L. 22.12.1761: Jedes vermeintliche Recht auf die Ämter der Eltern wurde für inexistent erklärt. – C. L 17.1.1766: Verbot jeden Handels mit Ämtern. – C.L. 23.11.1770: Ämter wurden als widerrufbare königliche Gnade betrachtet. – Vgl. A. M. Hespanha, As vésperas (wie Fn. 8), S. 498–522; J. M. Subtil, Governo e administração (wie Fn. 7), S. 187f. – Quellen vgl. P. de Melo, Instituiones (wie Fn. 4), Bd. I, Tit. II; ders., Historia iuris (wie Fn. 4), § CV; F. C. S. Sampaio, Prelecções (wie Fn. 2), S. 189ff. 63 17 Die Struktur der portugiesischen Verwaltung ergibt sich aus folgender Tabelle.66 Abb. 16.2 Die Autonomie kommunaler Institutionen (Concelhos) war noch immer bedeutsam, da die Stadträte (Câmaras) sehr ausgedehnte Befugnisse für die Lokalverwaltung besaßen. Im Gegensatz dazu kam den feudalen Institutionen kaum noch Bedeutung zu, wurden sie doch zwischen den politischen Instanzen niederer Ebene (Concelhos) und der Oberaufsicht der Krone (Corregedores, Desembargo do Paço) zerrieben. Eine eigentliche feudale Rechtssprechung gab es nur noch innerhalb der bedeutendsten Feudalhäuser.67 Die Personalstruktur der Verwaltung spiegelt das ungleiche Verhältnis zwischen Zentrum und Peripherie wider: 84 % der Staatsbeamten gehörten der (munizipalen) Lokalverwaltung, 9 % der königlichen Peripherverwaltung, 2 % der feudalen Verwaltung und nur 5 % der Zentralverwaltung an.68 In Hinblick auf die Verwaltungsbereiche dominierten Justiz und Lokalverwaltung. 6. Justiz Die amtliche Verwaltung der Justiz69 basierte auf gewählten Juízes ordinaries, die vom und unter dem ortsansässigen niederen Adel ausgewählt wurden.70 Bildungsqualifikationen spielten dabei keine Rolle, nicht selten handelte es sich um Analphabeten. In einigen 66 Zum allgemeinen Modell und zur Architektur vgl. A. M. Hespanha, Paradigmas de legitimação (wie Fn. 64). Für detaillierte Informationen vgl. ders., História de Portugal moderno (wie Fn. 50), S. 213–257 (mit Tabellen und Diagrammen); J. M. Subtil, Governo e administração (wie Fn. 7) (ebenfalls mit graphischen Darstellungen). Weitere Details bei G. Salgado (Hg.), Fiscais e meirinhos. A administração no Brasil colonial, Rio de Janeiro 1985. 67 Vgl. A. M. Hespanha, História de Portugal moderno (wie Fn. 50), S. 175–210 (mit der Aufklärungspolitik gegenüber dem Feudalsystem: S. 186–188); Nuno Gonçalo Monteiro, O crepúsculo dos grandes, 1750–1832, Lisboa 1998. 68 Zahlen von ca. 1630, vgl A. M. Hespanha, As vésperas (wie Fn. 8); die Veränderungen im späten 18. Jahrhundert hatten keine dramatischen Auswirkungen. 69 Zu den Quellen des Strafrechts vgl. CD-ROM-1, Dok.-Nr. 15.6.1 (Grundlagen des Staatsrechts v.18.8.1769); zum Wortlaut des Strafgesetzes vgl. CD-ROM-1, Dok.-Nr. 15.6.2 (Strafgesetz v. 1789/Auszug). In der jüngeren Literatur wird die Bedeutung von informellen Verfahren zur Beilegung von Konflikten aufgezeigt, wobei die Rolle des nicht offiziellen Gemeinschaftsrechts und der Gerichtsbarkeit in den Gesellschaften des Ancien Régime betont wird; vgl. A. M. Hespanha, As vésperas (wie Fn. 8), S. 439ff. 70 Vgl. Ordenações filipinas (wie Fn. 15), I, S. 67. 18 Gemeinden und Städten, darunter den bedeutendsten, wurden gelehrte königliche Richter (Juízes de fora: ausländische [fremde ?, auswärtige ? Richter [the Portuguese expression means „from outside the town“, ie., „foreign“, but in a narrow sense [simply not local >< not national]) berufen, doch wurden diese bis zum Ende des Ancien Régime zahlenmäßig von den gewöhnlichen Richtern klar übertroffen.71 In feudalen Gemeinden (ca. zwei Drittel der Gesamtzahl, schließt man Gemeinden militärischer Orden mit ein) bestand die Gerichtsbarkeit der Grundbesitzer lediglich in der Revisionsgerichtsbarkeit (bei lokalen Rechtsverfahren).72 An der Spitze besaßen königliche Gerichte (Casa da Suplicação in Lissabon, Casa do Cível in Oporto) die finale Revisionsgerichtsbarkeit sowohl für lokale als auch für feudale Rechtsverfahren. Die Corregedores,73 die vom König aus dem Kreis der gelehrten Anwälte berufen wurden, übten eine Kontrollfunktion sowohl über die kommunale Justiz als auch über die Regierung aus. Neben dieser allgemeinen Rechtssprechung gab es noch besondere (oder bevorrechtigte) Gerichtsbarkeiten. Die wichtigste war die kirchliche Gerichtsbarkeit. Kirchliche Gerichte (zumeist bischöfliche Gerichte) waren zur Anhörung von Fällen berechtigt, bei denen eine Seite von einem Geistlichen vertreten wurde (competentia ratione personae) oder bei denen es um kirchliche Angelegenheiten ging (competentia ratione materiae). Die Relações eclesiásticas (Lissabon, Braga, Évora, Goa) bildeten eine erste Ebene von Berufungsgerichten, das Tribunal da Nunciatura oder da Legacia eine zweite Stufe, von der nur noch eine letzte (und recht seltene74) Berufung beim König möglich war (regia protectio).75 Im Gegensatz dazu besaßen Adlige, sofern sie nicht Ritter eines militärischen Ordens waren, keine bevorrechtigte Gerichtsbarkeit. Waren sie Ritter, wurden sie an ihre besonderen Gerichte verwiesen. Gewöhnliche Militärangehörige verfügten erst ab der Mitte des 17. Jahrhunderts, mit der Institutionalisierung des Kriegsrates,76 über eine besondere Gerichtsbarkeit. 71 Zur juristischen Struktur vgl. A. M. Hespanha, As vésperas (wie Fn. 8), S. 196–212. Gewöhnliche Richter gab es in ca. 80 % aller Grafschaften mit Gerichtsbarkeit. 72 Vgl. Ordenações filipinas (wie Fn. 15), II, S. 45. Zur Einschränkung der Gerichtsbarkeit der Großgrundbesitzer vgl. CD-ROM-1, Dok.-Nr. 15.6.3 (wie Fn. 10). 73 Vgl. Ordenações filipinas (wie Fn. 15), I, S. 58. 74 Dies war eigentlich ein altes Privileg, das von der Krone vehement gegen Ansprüche der päpstlichen Gerichtsbarkeit verteidigt wurde. 75 Vgl. A. M. Hespanha, História de Portugal moderno (wie Fn. 50), S. 131ff. 76 Zu weiteren Sondergerichtsbarkeiten vgl. António Manuel Hespanha, Art. Portugal, in: F. Ranieri (Hg.), Gedruckte Quellen der Rechtsprechung in Europa (1800–1945), Frankfurt a.M. 1992, S. 787–809. 19 7. Militär77 Seit 1570 war die männliche erwachsene Bevölkerung Portugals der militärischen Erfassung sowie der Abhaltung regelmäßiger Übungen unterworfen (Regimento das ordenanças, 10.12.1570). Allerdings war die Effizienz dieser Organisation relativ gering: Die einberufenen Männer waren keine ausgebildeten Soldaten und mit der Befehlsgewalt wurden entweder nichtprofessionelle Personen, die von den Gemeinden gewählt wurden, oder ortsansässige adlige Grundbesitzer betraut. Deshalb wurden, als in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts der Krieg ausbrach (Restaurationskrieg 1640–1668 gegen Spanien), diese Militias erst als letzte Ressource einberufen, als das improvisierte Berufsheer der Krone nicht mehr ausreichte. In der Zwischenzeit zwangen die anhaltenden militärischen Verpflichtungen (Restaurationskrieg, Spanischer Erbfolgekrieg 1704–1712) zur Ausbildung dauerhafter Militärstrukturen. Das Regimento dos Governadores de Armas das Comarcas (Statut der Militärgouverneure der Provinzen, 1.4.1650) führte die Einrichtung eines stehenden Berufsheers ein.78 Obwohl es ein verheerendes Ausmaß an Einberufungsflucht und Desertion zu verkraften hatte, blieb dieses System bis zum Ende des Ancien Régime maßgebend. Eine zweite und dritte Linie von Hilfstruppen wurde von älteren Milizionären gebildet. Die finanzielle Absicherung dieses Systems erfolgte durch spezielle Militärsteuern (décimas), die von einer Sonderdelegation der Cortes (Junta dos Três Estados, D. 18.1.1643)79 mit Hilfe einer spezialisierten Finanzverwaltung (Vedoria Geral do Exército, 1645; Contadoria Geral do Exército, 1645; Pagadoria Geral do Exército, 29.8.1645)80 separat verwaltet wurden. An der Spitze der Militärverwaltung stand ein Kriegsrat (Conselho de Guerra), der eine einheitliche und permanente Kommandostruktur garantierte.81 Neben seinen Kommandofunktionen fungierte er zudem als Rechtsprechungsorgan, das mit den Militär- und Straf- 77 Für weitere Details vgl. António Manuel Hespanha, Administração militar, in: N. S. Teixeira (Hg.), História militar de Portugal, Bd. II, Kap. 5.5. Als Quellen des späten 18. Jahrhunderts seien genannt: Reg. über Infanterietruppen, 18.2.1763; Reg. über Kavallerietruppen, 25.8.1764; Reg. über Militärübungen, 9.7.1764; Reg. über Wehrpflicht, 24.2.1764. 78 Vgl. aber schon zuvor: C.R. vom 11.05.1643. 79 Letzte Verordnung vom 9.5.1654. 80 Regimento das fronteiras, vgl. José Robertto M. C. C., Systema ou collecção dos regimentos reais, Bd. 5, Lisboa 1783, S. 416ff.; José Justino de Andrade e Silva, Collecção chronologica da legislação portuguesa [...], Lisboa 1854, S. 275–289. 20 rechtsangelegenheiten der Berufssoldaten betraut war. Die „verborgene Anwesenheit“ des Königs als höchstem Militär-Chef symbolisierte der leere Präsidentenstuhl bei den Sitzungen des Kriegsrats. Ein entscheidender Wandel in der Militärorganisation vollzog sich unter der aufgeklärten Regierung Pombals. Sie wurde durch den Grafen von Schaumburg-Lippe herbeigeführt, einem deutschen Fürsten, der 1762 von George III. als Kommandant einer alliierten militärischen Expeditionsarmee nach Portugal geschickt worden war. Unter der Protektion des Premierministers verblieb Lippe einige Jahre in Portugal, um eine umfassende Reform der portugiesischen Armee nach preußischem Stil zu entwerfen und teilweise auch umzusetzen (Regimentos 18.2. und 15.7.1763). Das Reformvorhaben reichte von der Umstrukturierung der Infanterie und Kavallerie über die Einführung standardisierter Titel, Abzeichen und Uniformen bis hin zur Einrichtung von Militärschulen. Obwohl adlige und ehrenamtliche Elemente nicht völlig ausgeschlossen wurden, verband sich damit die Entwicklung des Militärs zur Berufskorporation, die von professionellen und ausgebildeten Offizieren geleitet wurde.82 Aufs Ganze gesehen blieb der politische Einfluss des Militärs relativ gering. 8. Verfassungskultur Nach den bereits im zweiten Kapitel dieses Beitrags behandelten, auch für den Bereich der Verfassungskultur relevanten Debatten zum Konstitutionalismus konzentrieren sich die folgenden Ausführungen auf die politische Symbolik des späten 18. Jahrhunderts. Zur Veranschaulichung mag zunächst das späte Beispiel eines politischen Genres mit einiger Tradition auf der iberischen Halbinsel dienen: die Emblemsammlungen.83 Der wenig bekannte Gelehrte Francisco António de Novais Campos widmete 1790 dem portugiesischen Thronfolger eine Manuskriptabschrift der Embleme von Juan de Solórzano und bot sie ihm an.84 Allein der Umstand, dass kurz nach den dramatischen Ereignissen in Frankreich die Idee aufkommen konnte, dem König diese in die Jahre gekommene Fundgrube politischer Maxime 81 Vgl. Manuel Álvares Pegas, Commentaria ad Ordinationes Regni Portugalliae, Bd. 7, Olyssipone 1669, S. 279ff. 82 Für weitere Details vgl. Fernando Dores Costa, As reformas de Lippe e o seu destino, in: N. S. Teixeira (Hg.), História militar (wie Fn. 77), Bd. III, Kap. 7.12. 83 Die bekanntesten Beispiele sind die von Juan de Solórzano (Emblemas regio-politicos, Valencia 1568) und von Diego Saavedar Fajardo (Idea de un principe politico-cristiano representada en cien empresas, 1640). 84 Francisco António de Novaes Campos, Príncipe perfeito. Emblemas de João de Solórzano, hg. v. M. H. de T. C. Ureña Prieto, Brasil 1995. 21 anzubieten, ist von Bedeutung. Denn nicht nur das Genre erschien altmodisch,85 sondern auch der Inhalt bemühte die traditionelle Vorstellung der Monarchie als politischen Körper, derzufolge der König als koordinierendes, von strengen religiösen und deontologischen Prinzipien geleitetes und beschränktes Haupt wirkte, während das Volk die ihm verliehenen Freiheiten genoss.86 Der allgegenwärtigen Gleichsetzung von König und Sonne (XLII) stand das Postulat der Bescheidenheit, Diskretion und Milde der königlichen Regierung (XVI, splendor mendax)87 gegenüber. Entsprechend zeichnete sich die Symbolik des Königtums durch eine gewisse Mäßigung aus. Wenn jedoch, wie unter João V. und José I. die Person des Königs als Mittelpunkt des Hofes herausgestellt und die europaweit übliche rhetorisch-bildhafte Repräsentation des Monarchen übernommen wurde, stieß dies auf Kritik. Noch 1750 und damit zu einer Zeit, die als Hochphase der portugiesischen Aufklärung gelten kann, fiel ein Buch der Zensur zum Opfer, weil darin das Adjektiv „heilig“ in Bezug auf den König gebraucht wurde.88 Auch in ihren äußeren Aspekten erreichte die Glorifizierung der königlichen Person und Macht nicht das Niveau des französischen oder auch deutschen Hochabsolutismus. Der Architektur königlicher Plätze fehlte es durchweg an Luxus und Pomp. Im Grunde präsentierte sich selbst der Königspalast als eine aus dem Spätmittelalter übernommene, architektonisch zusammenhanglose Aneinanderreihung und Aufeinanderfügung von Einzelgebäuden in der Ecke eines Allzweckplatzes. Die Notwendigkeit des Neuaufbaus nach dem großen Erdbeben von 1755 eröffnete die Chance zur Entwicklung einer majestätischen Hauptstadt im aufgeklärten Sinne. Jedoch existierte in diesem Konzept kein eigenständiger Königsplatz. Vielmehr lebte der Hofstaat bis zu seiner Abreise nach Brasilien (1807) in Holzbaracken. So waren Hofleben und Zeremoniell laut ausländischer Reisender eher bescheiden. Hinzu kommt die Tatsache, dass die portugiesischen Könige weder gekrönt wurden noch eine Krone trugen. 85 Vgl. Maria Helena de T. C. Ureña Prieto, Einführung, in: F. A. de Novaes Campos, Príncipe (wie Fn. 84), S. 127f. 86 Vgl. a.a.O., S. 83ff. Zu den religiösen Einschränkungen des Königs vgl. bes. a.a.O., IV, XXIV, XL; zum König, Gesetz und zu den Anwälten vgl. a.a.O., LXXX, XLV, LXVI, LXIX; zu den Tugenden des Königs vgl. a.a.O., XVI, XXXVI, XXXVII, XXXVIII; zur Harmonie vgl. a.a.O., XXIII, XLVIII, XCV; zur Gerechtigkeit als Ziel der Regierung vgl. a.a.O., XIII, XIX; zu den Freiheiten des Volkes vgl. a.a.O., III, XL, LV; zu den Gefahren bei Eile und Innovation (hauptsächlich in der Gesetzgebung und Steuererhebung) vgl. a.a.O., XLIII, LI, LXVIII, LXXXIII, LXXXIV, LI; zur Liberalität vgl. a.a.O., XXXIX, XLI, LIII, LXXVIII. 87 Vgl. a.a.O., LXXI, LVI. 88 Vgl. António Manuel Hespanha, O absolutismo providencialista (wie Fn. 6), S. 356. 22 9. Kirche Die portugiesische Staatsreligion war der Katholizismus. Die Beziehungen zwischen Staat und Kirche folgten dem Prinzip der Gemeinschaft zwischen religiöser und bürgerlicher Gesellschaft, wie es in dem Konzept der respublica christiana dargelegt wurde.89 Dieses Prinzip gewährte dem Souverän ein Kontrollrecht in kirchlichen Angelegenheiten, und zwar entweder als Schirmherr, um das Wohl der Kirche zu fördern, oder als Kaiser, um missbräuchliche Handlungen der Kirche zu begrenzen und damit die Interessen des Staates zu schützen, wobei der letzte Aspekt von der aufgeklärten Politik- und Rechtslehre klar betont wurde. Daher galt für die portugiesischen Könige, dass sie (i) das Recht der Ernennung von Bischöfen ausübten (regius patronatus), (ii) Vergehen gegen die Religion bestraften,90 (iii) die Unterstützung der „weltlichen Macht“ bei der Umsetzung kirchlicher Beschlüsse garantierten,91 (iv) den Erwerb und die Verwaltung des Kirchenbesitzes kontrollierten,92 (v) den Vasallen ein Berufungsrecht beim königlichen Gericht gegenüber kirchlichem Machtmissbrauch gewährten (regia protectio),93 (vi) an ihrer Befugnis zur Genehmigung der Veröffentlichung von Papst- und Bischofsbriefen festhielten,94 (vii) die kirchliche Gerichtsbarkeit entweder ratione personae oder ratione materiae anerkannten.95 Während der Konsulatszeit Pombals wurde diese „regalistische“ Politik noch weiter betont. Das Tribunal do Santo Ofício da Inquisição wurde in ein königliches Gericht umgewandelt (C.L. 20.5.1769; 20.6.1759).96 Die Grenzen kirchlicher Zuständigkeiten wurden durch eine neue restriktive Verordnung des Königs neu austariert (10.3.1764). Die leis de amortização, also Gesetze gegen die Tote Hand,97 wurden erneuert (4.7.1768, 12.5.1759).98 10. Bildung 89 Zur Regelung des Verhältnisses zwischen Staat und Kirche (1789) vgl. CD-ROM-1, Dok.-Nr. 15.9.1 (Staat und Kirche v. 1789/Auszug); der Text entspricht P. de Melo, Institutiones (wie Fn. 4), Bd. I, Tit. V. Zum Thema vgl. auch F. C. S. Sampaio, Prelecções (wie Fn. 2), Bd. I, Pt. II, Kap. 4, S. 87ff.; Jozé Manuel Ribeiro Vieira de Castro, Obras (Ensaios II–III); und neuerdings R. M. Marcos, A legislação (wie Fn. 59), S. 5f., 23–29, 140–142. 90 Vgl. Ordenações filipinas (wie Fn. 15), V. 91 Vgl. Auxílio do braço secular, in: Ordenações filipinas (wie Fn. 15), II, S. 8. 92 Vgl. a.a.O., II, S. 16–25. Details vgl. bei P. de Melo, Institutiones (wie Fn. 4), Bd. I, Tit. V, §§ 10–13. 93 Vgl. Ordenações filipinas (wie Fn. 15), I, S. 5, 9, 12; II; III, S. 78. Zur Überwachung kirchlicher Gefängnisse vgl. R. M. Marcos, A legislação (wie Fn. 59), S. 154–146. 94 Vgl. Ordenações filipinas (wie Fn. 15), II, S. 14. 95 Vgl. a.a.O., S. 1, 9. Vgl. Kapitel 6 zur Justiz in diesem Beitrag. 96 Vgl. R. M. Marcos, A legislação (wie Fn. 59), S. 29–37. 97 Vgl. Ordenações filipinas (wie Fn. 15), II, S. 26. 98 Andere Symptome, die das königliche Plazet für Papstbriefe betrafen, finden sich bei P. de Melo, Historia iuris (wie Fn. 4), § 108. 23 Bildung stellte ein zentrales Anliegen auf der Reformagenda der Aufklärer dar. Deshalb wurde unter Pombals Führung: die Universität von Coimbra reformiert (Estatutos novos oder „pombalinos“, 28.8.1772).99 Im Bereich des Schulwesen kam es zur Einrichtung öffentlicher Grundschulen und zur Einführung des Unterrichts klassischer Sprachen (C.L. 28.6.1759, C.L. 30.9.1770, C.L. 6.11.1772).100 Auf exklusiverem Bildungsniveau wurde der Colégio dos Nobres, eine Akademie für Adlige, errichtet (1761). Des Weiteren verfügte man die Einführung einer öffentlichen Zensur für Bücher (Tribunal da Real Mesa Censória, 5.4.1768). 11. Finanzen101 Die Finanzverwaltung des ausgehenden Ancien Régime wurde von den Reformen Pombals beherrscht. Die leitende Idee bestand in der Rationalisierung und Konzentration der Finanzverwaltung, die bis dahin auf verschiedene politische Organe (Conselho da Fazenda, Junta dos Três Estados, Casa da Índia), verschiedene Rechnungsämter und verschiedene Schatzämter verteilt war. Von 1751 an wurden mehrere Finanzabteilungen abgeschafft. Die Idee eines Tesouro Público Nacional, eines Nationalen Öffentlichen Schatzamtes, wurde 1761 mit der Einrichtung des Erário régio konkretisiert, eines obersten Finanzorgans, dessen Vorsitz bis 1777 Pombal selbst führte.102 Die Entscheidungsprozeduren wurden drastischen Veränderungen unterzogen: Die traditionelle consulta, das Produkt mehrseitiger Beratungsvorgänge und Vorentscheidungen, wurde durch den despacho ersetzt, bei dem es sich um eine persönliche, allein der königlichen Autorität entsprungene Anordnung handelte. Das strategische Ziel königlicher Finanzpolitik bestand in der Durchsetzung des Prinzips des einheitlichen Budgets, dem auch die einzelnen Regierungsabteilungen unterworfen werden sollten (Tesouraria-mor do reino). Dem alten Conselho da Fazenda blieben nach diesem Konzept nur noch Rechtsprechungskompetenzen. Das vormalige Prinzip, die Cortes zur Einführung neuer Steuern zu konsultieren, war schon seit Beginn des 18. Jahrhunderts aufgehoben worden.103 99 Vgl. R. M. Marcos, A legislação (wie Fn. 59), S. 38–42. Vgl. CD-ROM-1, Dok.-Nr. 15.10.1 (Aufbau des Grundschulwesens v. 6.11.1772). 101 Für weitere Details zum Wesen des Kroneinkommens vgl. António Manuel Hespanha, A fazenda, in: J. Mattoso (Hg.), História (wie Fn. 6), S. 203–238; zur Fiskalbürokratie vgl. J. M. Subtil, Governo e administração (wie Fn. 7), S. 171–174. 102 Vgl. CD-ROM-1, Dok.-Nr. 15.11.1 (Neuordnung der Finanzen 22.12.1761). 103 Das System der öffentlichen Finanzen und Steuern wird zusammengefasst durch P. de Melo, Institutiones (wie Fn. 4), Bd. 2, Tit. 4; CD-ROM-1, Dok.-Nr. 15.11.2 (Öffentliche Finanzen und Steuern v. 1789/Auszug). 100 24 12. Wirtschafts- und Sozialgesetzgebung104 Portugals Wirtschafts- und Sozialgesetze orientierten sich im späten 18. Jahrhundert am Prinzip des „Policey-“ oder „Ordnungsrechts“, das definiert wurde als die „Autorität der Fürsten zur Festsetzung und Bereitstellung der Mittel und Beihilfen, die die Beachtung ihrer Gesetze erleichtern und fördern. Diese Mittel bestehen hauptsächlich in der Pflege der Wissenschaften, in der Vermehrung der Bevölkerung, in der Gesundheit der Menschen, im Handel, in der Landwirtschaft und im Manufakturwesen“.105 In diesem Sinne kam es im Darstellungszeitraum zu zahlreichen Maßnahmen.106 So wurden zur Förderung des Bevölkerungswachstums Gesetze zum Familienrecht erlassen, die sich vor allem auf die häusliche Disziplin der Adelshäusern richteten (17.8.1761 und 4.2.1765: Begrenzung der Mitgift; 10.10.1763: Bestrafung der Entführung junger Damen, um die Hochzeit zu erzwingen). Zur Pflege der Landwirtschaft erließ der Monarch folgende Gesetze: Gewährung von Privilegien für die Bauern und deren Söhne (C.L. 20.2.1752; C.L. 24.2.1764, § 24), Gründung eines Unternehmens mit königlichem Privileg zur Kommerzialisierung der Weine des Douro-Tals107 und Errichtung einer Schule für die Winzer im Douro-Tal (Casa do Douro, 10.9.1756). Des Weiteren wurden mehrere Agrargesetze (26.10.1765, 20.7.1765, 18.2.1766, 3.3.1772) erlassen, die zur Verhinderung extremer Parzellierung die Bodenverteilung regulierten (9.7.1773, 14.10.1773); außerdem wurde der Fideikommiss beschränkt (3.8.1770). Zur Förderung des Gewerbes wurden königliche Inspektoren der Wollmanufakturen eingesetzt (Reg. 3.9.1759; 11.8.1759; 7.11.1766; 4.9.1769) und eine neue, mit Privilegien ausgestattete Fábrica da Seda (Seidenspinnerei) in Lissabon errichtet (6.8.1757). Als wirtschaftspolitischer Schlüsselbereich wurde der Handel angesehen.108 So ordnete eine königliche Urkunde die Einrichtung der Junta do Comércio do Reino e Domínios an (10.9.1755; 16.12.1756) als Gilde aller in Lissabon tätigen Kaufleute an.109 Die Aula do Comércio wurde eingerichtet, um die Kaufleute in ihrem Wissen und Handwerk auszubilden 104 Vgl. mit weit gehendem Bezug auf Pombals Gesetzgebung R. M. Marcos, A legislação (wie Fn. 59); interessante Elemente zur politischen Archäologie dieser Gesetze finden sich bei José Manuel Subtil, O Desembargo do Paço (1750–1833), Lisboa 1996, bes. S. 357–430. Vgl. auch das umfassende Werk zum portugiesischen „Ordnungsrecht” von Airton L. Cerqueira-Leite Seelaender, Polizei, Ökonomie und Gesetzgebungslehre: ein Beitrag zur Analyse der protugiesischen Rechtswissenschaft am Ende des 18. Jahrhunderts, Frankfurt a.M, 2003 (zugl. Diss. Frankfurt a.M. 2001). 105 F. C. S. Sampaio, Prelecções (wie Fn. 2), Bd. I, S. 138ff. 106 Zu den Reformen im Bildungsbereich vgl. Kapitel 10 dieses Beitrags. 107 Vgl. Kapitel 4 dieses Beitrags. 108 Vgl. R. M. Marcos, A legislação (wie Fn. 59), S. 208–241. 25 (C.L. 19.5.1759; Reg. 19.4.1759); ferner wurden den Kaufleuten Privilegien (und Nobilitierungen) gewährt (C.L. 13.11.1756 über Konkursfälle;110 C.L. 17.10.1756 und 30.8.1770 über die Beweiskraft von Handelsbüchern). Privilegierte Handelsgesellschaften wurden ins Leben gerufen111 und der Handel mit Brasilien liberalisiert (10.9.1765, 27.6.1769). Eine harte Bestrafung wurde für Schmuggelei als Verbrechen gegen das königliche Schatzamt und gegen den legalen Handel festgesetzt.112 Zur Begünstigung des öffentlichen Unternehmensgeistes erließ man Gesetze, die den Luxus einschränkten (C.L. 24.5.1749, C.L.21.4.1751), das Glücksspiel verboten (Alv. 29.10.1756) und die Bettelei verfolgten (C.L. 25.6.1760). 109 Vgl. a.a.O., S. 212. Vgl. a.a.O., S. 216–222. 111 Vgl. Kapitel 4 dieses Beitrags. 112 Vgl. Alv. 14.11.1757; R. M. Marcos, A legislação (wie Fn. 59), S. 99–103. 110 26