6.3.3. Performative Topologie

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Humboldt-Universität zu Berlin
Seminar für Ästhetik
Dozentin: Prof. Karin Hirdina
Autor: Stefan Riekeles (Matrikel Nr.: 505730)
Zürich, Juli 2006
Interkulturelle Topologie
Überlegungen zur Bestimmung eines Raumbegriffs in einer interkulturellen
Perspektive auf Japan und Europa.
Interkulturelle Topologie 2/21
Inhalt
1. Einleitung .............................................................................................................................. 3
2. Zum Verhältnis von Tradition und Moderne ........................................................................ 4
3. Übersetzung ........................................................................................................................... 5
3.1. Bruchstellen ................................................................................................................ 5
3.2. Schriftsystem .............................................................................................................. 6
4. Raum – 空間........................................................................................................................... 7
5. Stadt ....................................................................................................................................... 7
5.1. Ordnungsprinzipien .................................................................................................... 8
5.2. Geometrie ................................................................................................................... 8
5.3. Topologie .................................................................................................................. 10
6. Schwelle .............................................................................................................................. 11
6.1. Geschichteter Übergang............................................................................................ 12
6.2. Kontinuum ................................................................................................................ 12
6.3. Raum-Praktiken ........................................................................................................ 13
6.3.1. Sprache ........................................................................................................... 13
6.3.2. Rituale ............................................................................................................ 13
6.3.3. Performative Topologie ................................................................................. 14
7. Mauer .................................................................................................................................. 14
7.1. Schnitt – Kontinuum ................................................................................................. 14
7.2. 間 – ma ...................................................................................................................... 15
7.2.1. Das Schriftzeichen ......................................................................................... 16
7.2.2. Sprachlicher Kontext ...................................................................................... 16
7.2.3. Dynamisches Intervall .................................................................................... 17
8. Anschlüsse ........................................................................................................................... 18
Formale Hinweise zum Text
Fachausdrücke und Buchtitel werden in Kursivschrift hervorgehoben. Japanische Fachbegriffe
werden in Kursivschrift wiedergegeben und klein geschrieben. Die Schreibweise der
japanischen Fachbegriffe orientiert sich an: Langenscheidts Zeichenwörterbuch JapanischDeutsch.1 Japanische Namen werden in der Ordnung Vorname Nachname wiedergegeben.
1 Hadamitzky (Hrsg.), München, 2001
Interkulturelle Topologie 3/21
1.
Einleitung
Den Ausgangspunkt meiner folgenden Analyse bildet die Hypothese, dass es qualitative
Unterschiede in der räumlichen Strukturierung und den damit verbundenen Vorstellungen und
Begriffen von Raum im Vergleich zwischen Japan und Europa gibt. Daran knüpft die Frage
an, wie sich diese spezifischen Qualitäten erfassen lassen und wie eine Annäherung erfolgen
kann, ohne fundierte Kenntnisse der japanischen Sprache zu besitzen.
Da für eine interkulturelle Perspektive das methodische Vorgehen entscheidend ist, werden
die Überlegungen hierzu entsprechend ausführlich gefasst. Die Untersuchung verläuft dabei
entlang dreier Grundlinien:
Grundlage jedes Argumentationsschrittes ist die Betrachtung einer konkreten räumlichen
Situation. Auf dieser Ebene findet eine Bewegung statt, die von einer Analyse des urbanen
Raumes von Tokio ausgeht und über die Schwelle der Veranda (engawa) eines japanischen
Wohnhauses in den Steingarten des ryōan-ji führt.
An jede Situationsbetrachtung schließt eine Bestimmung der darin wirkmächtigen
Ordnungsprinzipien, das heißt eine Analyse der diese Räume strukturierenden Faktoren an.
Anhand der Beschreibung des urbanen Raumes wird eine topologische Ordnung als
Grundlage für die weitere Betrachtung vorgestellt. Die Betrachtung des Wohnraumes legt die
performative Strukturierung von Räumen offen. Im Steingarten konzentriert sich die
Betrachtung auf die ästhetische Funktion der umgrenzenden Mauer. Im Durchmarsch von der
Straße in den Garten werden so Aspekte räumlicher Strukturierung in Japan analysiert, die
schließlich im japanischen Begriff ma (間) konvergieren.
Da Begriffe im Zusammenhang mit anderen Begriffen an Schärfe gewinnen, findet neben
dieser induktiven Argumentation eine Auseinandersetzung mit dem sprachlichen Kontext
statt, die von den jeweils verwendeten Schriftzeichen ausgeht. Aufgrund der sprachlichen
Besonderheiten
des
Japanischen
wird
sich
diese
„Zeichenanalyse“
für
die
Begriffsbestimmungen als sehr fruchtbar erweisen. Sowohl bei der Betrachtung des
Gegenstandes als auch bei der Begriffsbestimmung spielen in interkultureller Perspektive
Prozesse der Übersetzung und Interpretation eine zentrale Rolle. Die Bestimmung der
spezifischen Qualitäten räumlicher Gestaltung stellt sich daher auch als eine Frage der
Übersetzung des Zeichens und der Interpretation der räumlichen Situation „vor Ort“. Durch
eine Verschränkung dieser Perspektiven lässt sich das Bedeutungsfeld von „Raum“ im
Japanischen aufspannen.
Interkulturelle Topologie 4/21
2.
Zum Verhältnis von Tradition und Moderne
Auf den ersten Blick scheint es, als ob traditionelle und moderne Gestaltung in Japan
nebeneinander bestehen. In vielen Städten sind „traditionelle“ Holzhäuser unmittelbar neben
„modernen“ Bürokomplexen zu finden. Für eine Untersuchung räumlicher Strukturen in
Japan ist dieses besonders auffällige Verhältnis von Tradition und Moderne daher von großer
Bedeutung.
Der japanische Philosoph und Soziologe Shingo Shimada zeigt in seinem Buch Grenzgänge –
Fremdgänge wie sich die japanische Gesellschaft durch eine Auseinandersetzung mit
bestimmten Elementen aus der westlichen Zivilisation konstituiert.2 Zu diesen Elementen
gehört auch der Begriff der Geschichte. Shimada legt dar, dass es vor der Meiji-Restauration
(1868) im Geschichtsbild japanischer Intellektueller kein Fortschrittsdenken im Sinne einer
linearen zeitlichen Entwicklung gab. Das heißt, dass kulturelle Artefakte nicht in die
Kategorien von „traditionell“ oder „modern“ unterteilt wurden. Erst durch die Übernahme
eines linearen Geschichtsmodells aus der westlichen Philosophie gegen Ende des 19.
Jahrhunderts wurde nach Shimada so etwas wie die „japanische Tradition“ geschaffen. Im
Vergleich mit den bereits industrialisierten Kulturen Europas stuften japanische Intellektuelle
ihre eigene Kultur daraufhin als rückständig ein. Die Intellektuellen versetzten sich damit
selbst in die Position der „Fortschrittlichen“. In der Vorstellung einer linearen zeitlichen
Entwicklung positionierten sie Japan zwischen den westeuropäischen Gesellschaften am Ende
der Geschichte und den nicht-westlichen am Anfang der Geschichte.3
Einige europäische Autoren hingegen nehmen beispielsweise bei der Beschreibung von
japanischer Architektur eine genau gegensätzliche Position ein. Sie bewerten die japanische
Kultur darin als besonders „hoch entwickelt“ und „fortschrittlich“.4
Ich möchte hier deshalb argumentieren, dass Positionen die in der Dichotomie
traditionell/modern liegen für eine interkulturelle Perspektive, der an einem Verständnis
kulturell spezifischer Qualitäten gelegen ist, nicht geeignet sind. Denn im Sinne dieser
Kategorisierung wird mit einem Geschichtsmodell argumentiert, das der japanischen Kultur
nicht gerecht wird. Mit der Beschreibung räumlicher Situationen in den Unterscheidungen
von
traditionell/modern
oder
rückständig/fortschrittlich
überschrieben und damit unkenntlich, das heißt nicht erkennbar.
2 Shimada (1994)
3 Shimada (1994), S. 229ff
4 vgl. hierzu beispielsweise Nitschke (1966)
würden
wichtige
Aspekte
Interkulturelle Topologie 5/21
3.
Übersetzung
3.1.
Bruchstellen
Die Sprache nimmt elementaren Einfluss auf die Konfiguration von Räumen, und zwar indem
sie nicht nur an der Beschreibung von Räumen beteiligt ist, sondern auch ganz unmittelbar bei
der Zuschreibung von räumlichen Eigenschaften wirkt.5 Die Verfügbarkeit einer
Raumvorstellung hängt deshalb maßgeblich von ihrer begrifflichen Verfasstheit ab. Beim
Versuch die spezifischen Qualitäten der Vorstellung und Gestaltung von Raum in Japan zu
verstehen, spielt deshalb der sprachliche Kontext am „Ort des Geschehens“ eine
entscheidende Rolle. In dieser Perspektive stellt sich die interkulturelle Betrachtung als ein
Frage der Übersetzung.
Eine Möglichkeit der Übersetzung, wenn es um „fremde Vorstellungen“ geht, liegt darin, ein
Fremdwort einzuführen. In unserem Fall hieße das, ein Zeichen oder Wort, das zur
Bezeichnung eine räumlichen Situation verwendet wird aus dem Japanischen zu übernehmen.
Da sowohl der Autor, als auch die meisten LeserInnen dieser Untersuchung mehrheitlich der
japanischen Sprache wohl nicht mächtig sind, bliebe der Begriff allerdings sehr vage, weil
seine Referenz höchstens dem Übersetzer, das heißt vielmehr dem „Überträger“ einigermaßen
einleuchtend wäre.6 Um die Bestimmtheit der Räumlichkeitsverhältnisse in Japan in unserem
Fall zu fassen, müssen Übersetzungen deshalb auf die im Deutschen verfügbaren Begriffe
zurückgreifen. Wie bei jedem Übersetzungsprozess entstehen dabei Bruchstellen, Lücken und
teilweise Unbestimmtheiten zwischen den Bedeutungsfeldern der jeweiligen Begriffe im
Japanischen und im Deutschen.
Roland Barthes weist in diesem Zusammenhang darauf hin, dass „die Hauptbegriffe der
aristotelischen Philosophie in gewisser Weise durch die Fügungen der griechischen Sprache
erzwungen worden“7 seien. Ihm ist daran gelegen, sich „in die Schau der irreduziblen
Differenzen“ zu versetzen, „von denen [...] eine sehr entfernte Sprache einen Schimmer
5 Ich stütze mich hier insbesondere auf einen Vortrag von Bernhard Waldenfels am 10.11.2005 beim
Symposium Topologie an der Bauhaus Universität Weimar. Eine weitere Position hierzu wäre beispielsweise
Simmel: „Die räumliche Fixierung geschieht unter anderem durch sprachliche Ausdrücke.
Räumlichkeitsverhältnisse werden mittels Sprache in den Körper des einzelnen eingeschrieben, und der
einzelne situiert sich anhand seiner körperlichen Raumwahrnehmung im Raum“ (Zitat nach Shimada, S.
125).
6 Shimada (1994), S. 235
7 Barthes (1970), S. 17
Interkulturelle Topologie 6/21
vermitteln kann“ (Hervorhebung im Original).8 Diesen „Schimmer“ zu vermitteln, heißt die
Bruchstellen, die Lücken der Übersetzung aufzuspüren und nachzuzeichnen.
Im Spannungsfeld zwischen einer unbekannten oder zumindest fremden, als entfernt
vorgestellten räumlichen Situation als Referenz und den zur Beschreibung verfügbaren
Begriffen, manifestieren sich die Unterschiede im Raumverständnis auch als sprachliche
Differenzen. Die Bruchstellen der Übersetzung eröffnen dabei gewissermaßen den
interkulturellen Raum, ein „Zwischen“ der Kulturen.
3.2.
Schriftsystem
Die augenscheinliche Differenz zwischen der japanischen und der deutschen Sprache ist das
Schriftsystem. Das besondere Verhältnis von geschriebenen und gesprochen Zeichen des
Japanischen bietet einen ersten Zugang zum Verständnis der Verfasstheit japanischer
Begriffe. Von besonderem Interesse sind dabei die kanji. Diese Zeichen funktionieren
logographisch. Ähnlich einem Ideogramm oder einem Piktogramm operieren die kanji als
bedeutungstragende Einheiten. Neben diesen logographischen Zeichen werden die Alphabete
hiragana
und
katakana
analog
zum
lateinischen
Alphabet
als
lautsprachliche
(phonographische) Zeichen verwendet. Im Sinne einer qualitativen Bestimmung der
räumlichen Differenzierung ist eine Betrachtung der kanji allerdings sehr viel fruchtbarer und
wir beschränken uns im Folgenden auf deren Analyse.
Die kanji wurden aus dem Chinesischen übernommen. Ein Zeichen hat meist mehrere
Varianten der Lesung. Die jeweilige Lesart eines kanji kann zwar mittels des Hepburn
Systems in lateinischer Schrift als lautsprachlicher Ausdruck festgehalten werden.9 Da
verschiedene kanji aber wiederum gleich gelesen werden, kann von dieser Notation nicht
mehr eindeutig auf die Bedeutung geschlossen werden. Um die jeweilige Bedeutung eines
gesprochenen Ausdrucks zu verstehen, muss über den Kontext auf das zugrunde liegende
kanji geschlossen werden.
4.
Raum – 空間
Als Übersetzungsvorschlag für das deutsche Wort ‚Raum‘ ins Japanische findet man im
8 Barthes (1970), S. 17
9 Das Hepburn System ist ein Transkriptionssystem mit dem die japanische Sprache im lateinischen Alphabet
abgebildet werden kann. Es ist benannt nach Dr. James Curtis Hepburn, einen US-amerikanischen Arzt und
Missionar, der 1867 das erste Japanisch-Englische Wörterbuch, zusammenstellte.
Interkulturelle Topologie 7/21
Zeichenlexikon die kanji 空間 und die zugehörige Lesart als kūkan.10 Das Zeichen 空 als kū
gelesen wird für sich genommen als ‚leer‘, ‚Himmel‘ oder‚Vakuum‘ übersetzt. Das zweite
Zeichen 間 als kan gelesen hat die Bedeutungen ‚Zwischenraum‘ oder ‚Intervall‘. Eine
Rückübersetzung des Kompositums 空間 auf dieser Grundlage könnte damit als ‚leerer
Zwischenraum‘ angegeben werden. Tatsächlich entspricht diesem Bedeutungshof auch die
Lesart als akima, was mit ‚freies Zimmer‘ im Wörterbuch angegeben ist.11 Damit ist ein erster
Hinweis auf die spezifischen Qualitäten des Begriffes ‚Raum‘ gegeben.
‚Raum‘ ist nicht gleich ‚Raum‘. So ist kūkan die Übersetzung eines bestimmten Raumbegriffs
der westlichen Philosophie. Günter Nitschke geht davon aus, dass die Verbindung der beiden
Zeichen relativ neu ist und erst zu Beginn des 20. Jahrhunderts ins Japanische eingeführt
wurde, um einen bestimmten westlichen Begriff von Raum im Japanischen verfügbar zu
machen.12 Es liegt nahe anzunehmen, dass sich das Adjektiv ‚leer‘ (空 – kū) auf ein leeres
Raumschema bezieht, wie es durch die Erfindung des mathematischen Perspektivismus und
der descarteschen Extensio geprägt wurde.13 Raum wird dabei als geschlossen, gleichförmig
und zwischen den Begrenzungen eines Behälters vorgestellt. Es versteht sich, dass nicht alle
Raumbegriffe der westlichen Philosophie in diesem Sinne als „leer“ gedacht sind. Umgekehrt
ist in unserem Zusammenhang aber zu fragen wie das Verhältnis von kūkan und Raum
bestimmt werden kann. Lässt sich, die dem ‚Raum‘ anhaftende ‚Leere‘ bestimmen? Oder
anders gefragt: Wie lässt sich ein Raumbegriff des Japanischen charakterisieren, der nicht als
leer gedacht wird? Diese Betrachtung „im Spiegel der Sprache“ ist der Ausgangspunkt der
weiteren Analysen.
5.
Stadt
Zunächst sollen anhand einer exemplarischen Betrachtung des Stadtraumes in Japan und
Europa räumliche Ordnungsprinzipien analysiert werden. Diese dienen im Folgenden als
Ausgangspunkt für die Entwicklung einer interkulturellen Perspektive.
5.1.
Ordnungsprinzipien
Das Stadtbild Tokios erscheint Besuchern aus dem Westen auf den ersten Blick als
10 Hadamitzky, S. 889
11 Hadamitzky, S. 1689
12 Nitschke (1966), S.155. Nitschke merkt dazu außerdem an, dass diese Bedeutung in wissenschaftlichen
Kreisen große Verwirrung auslöst, weil kan mit ganz anderen Bedeutungsfeldern verknüpft ist.
13 Botz-Bornstein (2002), S. 110
Interkulturelle Topologie 8/21
unzugänglich, überfordernd und grundsätzlich „andersartig“.14 Die, auf die erste Irritation
folgenden, Erklärungsversuche der hier zu Rate gezogenen Autoren, greifen für die
Beschreibung der räumlichen Strukturierung einerseits auf den Begriff des Chaos zurück,
andererseits taucht der Begriff der Komplexität auf. Mit beiden Begriffen wird versucht die
Andersartigkeit zu bestimmen. Begriffsgeschichtlich stehen sie dabei in einem engen
Zusammenhang. Chaos in seiner aktuellen Verwendung meint hier nicht die bloß negative
Definition als Nicht-Ordnung wie etwa in der Antike, sondern setzt selbst eine
Ordnungsstruktur (vgl. Chaostheorie). Allerdings ist diese Ordnung komplex. Komplexität
umfasst das Begriffspaar Ordnung/Nicht-Ordnung und konzeptualisiert den Übergang
zwischen beiden als einen neuen Ordnungsbegriff.15
Entscheidend ist in unserem Zusammenhang, dass beide Begriffe ein Stadtbild erst
vergleichbar machen, indem sie es auf eine Ordnung zurückführen. Der vorgefundenen
räumlichen
Strukturierung
wird
gewissermaßen
eine
Ordnung
und
damit
eine
Betrachtungsperspektive untergeschoben. Für einen bestimmenden Vergleich ist dies
natürlich notwendig. Allerdings ist es für eine Untersuchung des interkulturellen Horizonts
ebenso wichtig, sich diese Zuschreibung stets vor Augen zu halten. Im Folgenden soll deshalb
eine Perspektive entwickelt werden, die diese Erzeugung der Vergleichbarkeit auch
begrifflich mitführt und reflektiert.
5.2.
Geometrie
Für das Stadtbild von Tokio bietet die geometrische Ordnung europäischer Städte ein
lohnendes Vergleichsobjekt. Natürlich ist der urbane Raum auch in Europa nicht
ausschließlich nach geometrischen Prinzipien strukturiert. Da es an dieser Stelle aber nicht um
eine detaillierte Analyse verschiedener Stadträume geht, sondern um die Formulierung einer
interkulturellen Perspektive, sei eine sehr vereinfachende Betrachtung mit dem Verweis auf
eine Dominanz geometrischer Parameter in der Geschichte der europäischen Stadtplanung
gestattet.
Prägnante Überformungen des Stadtbildes, hin zu geschlossenen geometrischen Ordnungen,
fanden in Europa zur Zeit des Absolutismus statt. So beruht beispielsweise die Struktur von
Versailles oder von Karlsruhe auf polaren Koordinaten: Straßen und Wege gehen dort
strahlenförmig von einem symbolischen Brennpunkt aus und strukturieren das gesamte
Stadtbild. Roland Barthes beschreibt diese Anlage europäischer Städte als eine „Verdichtung
14 vgl. hierzu: Berque (1994), Geipel (1994), Klauser (1994)
15 vgl. Theisen (2000)
Interkulturelle Topologie 9/21
sämtlicher Werte der Zivilisation.“16 Das Stadtbild kann hier als eine fest definierte,
Architektur gewordene Einheit gefasst werden. Die entscheidenden Generatoren der
städtischen Form als Repräsentation absoluter Macht sind dabei die Reihung und die
Gestaltung der Fassaden.17
Auch die in Japan absolutistisch herrschenden Shogune nahmen die Hoheit über die städtische
Raumordnung als Ausdruck ihrer Macht in Anspruch. Ihre Eingriffe ins Stadtbild, wie
beispielsweise die Errichtung des gigantischen Palastes in Edo (um 1600, heute Tokio) und
dessen Umfriedung mit hohen Mauern erzeugten ebenfalls ein distinktes Muster.18 Allerdings
entwarfen die Schogune keinen integrierenden Generalplan für die Ordnung der ganzen
Stadt.19 Im Zentrum der Planung standen Stadtteile und deren Fügung als Teilordnungen zu
einer Gesamtstruktur.20 Im Gegensatz zu europäischen Großstädten verfügt Tokio deshalb
heute nicht über lange, geradlinige Achsen wie beispielsweise die Pariser Champs-Elysèes.21
Das Stadtbild Tokios weist auch keinen offenen Raum zwischen den Fassaden der
umgrenzenden Bebauung im Sinne einer Agora oder einer Plaza auf.22 Es sind deshalb auch
keine zentralen Plätze, wie etwa die Marktplätze in Europa zu finden. Gesellschaftliche
Einrichtungen, wie Geschäfte, Restaurants und Dienstleistungseinrichtung sind vielmehr in
Intervallen entlang der Straßen angeordnet. Diese lineare Anordnung der Bezugspunkte
16 Barthes (1970), S. 47f
Barthes fährt fort: „An diesem ausgezeichneten Ort sammeln und verdichten sich sämtliche Werte der
Zivilisation: Die Spiritualität (mit den Kirchen), die Macht (mit den Büros), das Geld (mit den Banken), die
Ware (mit den Kaufhäusern), die Sprache (mit den Agoren: den Cafés und Promenaden).“
17 Berque (1994), S. 26
18 McClain, S. 19. McClain et al arbeiten in dem von ihnen herausgegebenen Band „Edo and Paris“ die
Parallelen und Differenzen in der Stadtentwicklung von Edo zur Zeit der absolutistisch regierenden
Schogune (1603–1868) und Paris zur Zeit der absolutistischen Bourbonenkönige (1589–1789) heraus.
19 Auch in Japan wurden Städte wie Heianko (heute Kioto), Heijokyo (heute Nara), die vor der Edo-Zeit
Regierungssitz waren, nach geometrischen Prinzipien auf der Grundlage eines rechtwinkligen Rasters
angelegt. Da die angewandten Strukturierungsmodelle aus China übernommen wurden, werden diese
Ordnungen als Entfremdung originär japanischer Gestaltung aufgefasst (vgl. Berque (1994)). Günter
Nitschke hält den Mythos von der „importierten geometrischen Ordnung“ indessen für ein Überbleibsel einer
starken nationalistischen Phase nach der Meiji-Revolution.
20 Jinnai (1985), S. 170
21 Die Ginza in Tokio kann zwar als Prachtstraße gelten, aber eben nicht im Sinne einer geschlossenen,
repräsentativen Bebauung, bei der die Fassade eine entscheidende Rolle ästhetischer Integration spielt.
22 Jinnai (1985), S. 179
Interkulturelle Topologie 10/21
richtet die Aktivitäten nicht zentral auf eine Agglomeration städtischer Funktionen.23
Diese Beobachtung allein kann einem interkulturellen Anspruch allerdings nicht genügen.
Denn durch die Zuweisung eines Mangels auf den japanischen „fremden“ Raum würde dieser
lediglich als Illustration des „eigenen“ europäischen Raumes dienen. Es handelte sich also um
eine eurozentrierte Sicht unter dem Deckmantel des Kulturvergleichs. Um den Blick
tatsächlich „nach außen“ zu richten, wie das die Semantik des Begriffes Kulturvergleich
impliziert, muss die Perspektive erweitert werden.
5.3.
Topologie24
Augustin Berque bezieht sich in seiner Analyse Tokios als Stadt der Teilordnungen auf die
von Yoshinobu Ashihara, beschriebene verborgene Ordnung Tokios und folgert:25
„Die Räumlichkeit Tokios gründet sich [...] auf eine topologische und nicht auf
eine geometrische Ordnung.“26
Topologisch versteht Berque hier im Gegensatz zu geometrisch als eine räumliche
Strukturierung Tokios durch Merkzeichen.27 Als solche Denkmäler im wörtlichen Sinne
können beispielsweise die Berge Fuji und Tsukuba oder der Turm des Shogun-Schlosses
dienen.28 Für die Orientierung in einem solchen topologischen Raum sind die Relationen der
Bezugspunkte untereinander ausschlaggebend und nicht deren Größe, Form oder fixe
Koordinaten im Raum. Die Einbindung in das räumliche Bezugssystem beruht deshalb auch
nicht zwingend auf einer sichtbaren Kongruenz, das heißt auf einer oberflächlichen
Übereinstimmung zusammengehöriger Teile.29 Geht man von einer topologischen Ordnung
des Raumes aus, dann sind nicht länger die Achsen der Fassaden zwingend für die
23 Nitschke (1966), S. 126
24 Für eine ausführliche Analyse urbaner Räume als Topologien siehe Huber (2002).
25 vgl. Ashihara, Yoshinobu (1986): Kakureta chitsujo. Die verborgene Ordnung (1989) Ins Englische von
Lynne E. Riggs, Kodansha International
26 Berque (1994), S. 26
27 In der Mathematik wird unter mit, im 19. Jahrhunderts durch Möbius eingeführten, Begriff der Topologie
die Aufprägung einer Struktur auf einen Raum bezeichnet, als auch der Vergleich von zwei Räumen.
28 Denkmal: Lehnbildung nach gr. mnēmósynon ‚Gedächtnis, Denkmal‘ mit denken ‚sich erinnern‘ und Mal
‚Zeichen‘. Die ursprüngliche Bedeutung ist also ‚Erinnerungszeichen‘ (Kluge, Friedrich (1995):
Etymologisches Wörterbuch der deutschen Sprache. Berlin; New York: de Gruyter.)
29 Klauser (1994), S. 33
Interkulturelle Topologie 11/21
Raumordnung, sondern eine bestimmte Relationalität von Zeichen. Ein Merkzeichen operiert
dabei als solches in einem bestimmten kulturellen Kontext. Eine durch Merkzeichen
konstituierte „Räumlichkeit ist deshalb voll besetzt mit Symbolen und Bezügen zur
Kosmologie“ der jeweiligen Kultur.30 Günter Nitschke spricht in diesem Zusammenhang
deshalb auch von „mnemonic illustrations of place“ und „urbanem Symbolismus“.31 Im
folgenden Kapitel werden wir sehen, dass diese Merkzeichen allerdings keinesfalls sichtbare
Symbole sein müssen.
Sind die Merkzeichen unverständlich ist die Ordnung nicht verfügbar. Aus dieser Sicht
erscheint dann die im kulturellen Kontext Japans „verborgene“ topologische Ordnung als eine
der Raumwahrnehmung nicht zugängliche Struktur. Mit dem Begriff einer Topologie kann
die topographische Unordnung des Stadtbildes auf eine relative und relationale Ordnung
gebracht werden. Um diese Topologie beschreiben zu können, muss dann die Bestimmtheit
der Merkzeichen gefasst werden.
Die Bezeichnung einer räumlichen Struktur als topologisch in diesem Sinne steht im Grunde
auf einer begrifflichen Ebene mit „Chaos“ und „Komplexität“. Der Terminus der Topologie
als eine mathematische Disziplin zur Erforschung von Räumen, eröffnet jedoch einen
weiteren Zugang. Ein topologischer Ansatz schließt dabei immer einen Vergleich von
Räumen ein. Die Struktur eines topologischen Raumes kann nur im Vergleich mit einem
anderen Raum bestimmt werden. Nur indem ein Raum einen anderen bestimmt und
umgekehrt, ist es überhaupt möglich, auf eine Metrik, das heißt auf ein fixes Maß
(Koordinaten, Größe u.ä.) für die Raumbeschreibung zu verzichten und stattdessen
Merkzeichen verschiedenster Modalitäten als bestimmende Faktoren einzusetzen. Aufgrund
dieser impliziten Relationalität scheint die Rede von einer topologischen Ordnung auch
geeignet zu sein, um eine interkulturelle Perspektive zu formulieren. Der Begriff einer
Topologie impliziert die Relativierung und damit die Bewusstwerdung des „eigenen“
Standpunkts im Vergleich mit einem anderen. Ein interkultureller Vergleich räumlicher
Strukturen lässt sich deshalb auch im Sinne einer interkulturellen Topologie verstehen.
6.
Schwelle
Die vorangegangene Betrachtung des urbanen Raumes stützte sich auf eine Perspektive von
30 Shimada (1994), S. 125
31 Nitschke (1966), S. 126. Nitschke identifiziert diese symbolische Ordnung der Stadt als die eigentliche
Quelle der Verständnisschwierigkeiten urbanen Raumes für Menschen aus westlichen Kulturkreisen (Ebd., S.
144).
Interkulturelle Topologie 12/21
Außen. In der Vogelperspektive spielten kulturelle Praktiken oder die japanische Sprache
keine wesentliche Rolle. Im Folgenden soll nun versucht werden, konkrete Merkzeichen im
kulturellen Kontext zu bestimmen. Anhand eines Elements der japanischen Architektur, der
engawa, wird zuerst das Verhältnis von Innen- und Außenraum analysiert.
6.1.
Geschichteter Übergang
Das weit überragende Dach ist ein charakteristisches Merkmal sowohl ländlicher als auch
städtischer japanischer Architektur. Unter dem Dachvorsprung des Wohnhauses verläuft die
engawa (縁側), die das ganze Haus umfängt. 縁 – en kann als ‚Beziehung‘, ‚Verbindung‘ oder
‚Rand‘ übersetzt werden. 側 – gawa bezeichnet eine ‚Seite‘ oder eine ‚Nähe‘. In der
vorliegenden Literatur wird engawa meist als Außengang oder Veranda übersetzt.32 Es wird
damit die Übergangszone zwischen Innen- und Außenraum eines Wohnhauses bezeichnet.
Eine engawa besteht aus mehreren Teilelementen unterschiedlicher „Durchlässigkeit“. Die
shoji, mit transluzentem Papier bespannte Schiebetüren, bilden die Innenseite. Transparente
Glasschiebetüren stehen an der Außenkante der ungefähr einen Meter tiefen engawa. Die
amado, Holzschiebetüren mit Ventilationsöffnungen, sind direkt vor den Glastüren
angebracht. sudare, Vorhänge aus Stroh oder Bambus, schließen die engawa am
Dachvorsprung ab. Das so entstehende System bietet eine Vielzahl von Möglichkeiten, um
das Haus für Luft und Licht durchlässig zu halten oder zu schließen und um Aussicht und
Einsicht zu ermöglichen oder zu verhindern. Werden beispielsweise die shoji geschlossen,
kann die engawa als Veranda im europäischen Sinne genutzt werden. Dagegen wird der
Raum des Hauses mit dem Öffnen einiger Elemente auf die Straße, oder in den Garten
ausgedehnt.33
6.2.
Kontinuum
Durch die Schichtung verschiedener, flexibler Elemente besitzt das traditionelle japanische
Wohnhaus keine konstruktive Trennung von Innen- und Außenraum. Von verschiedenen
Autoren wird diese Situation daher als ein „Kontinuum von Innen und Außen“ beschrieben.34
Diese Bezeichnung meint einen „fließenden Übergang“ der Räumlichkeiten und die damit
32 vgl. hierzu Nitschke (1979) und Bosslet (1990)
Nitschke weist darauf hin, dass die Übersetzung von engawa mit Veranda, dem Funktionsumfang und den
räumlichen Qualitäten dieser „grauen Zone“ nicht vollständig gerecht wird.
33 Nitschke (1979), S. 87 und Bosslet (1990), S. 125
34 vgl. hierzu beispielsweise Bosslet (1990).
Interkulturelle Topologie 13/21
einhergehende Unmöglichkeit einer klaren Abgrenzung. Dem ist entgegen zu setzen, dass aus
dem Fehlen einer baulichen Trennung, also einer Wand im europäischen Sinne, nicht
zwangsläufig die Ununterscheidbarkeit von Räumlichkeiten, das heißt ein kontinuierlicher
Übergang folgt. Die Behauptung eines Kontinuums von Innen- und Außenraum kann nur
gehalten werden, wenn der Raum durch das Fehlen von physischen Begrenzungen, also im
Gegensatz zu einem geschlossenen Raum, negativ als kontinuierlich definiert wird. Wie wir
sehen werden ist ein japanisches Wohnhaus aber sehr wohl in Innen und Außen differenziert,
allerdings nicht durch Bausubstanz, sondern durch Sprache und ritualisierte Handlungen. Nur
unter der Prämisse eines auf physischen, beziehungsweise geometrischen Bezugspunkten
basierenden Raumverständnisses erfährt Raum keine qualitative Veränderung durch
Handlungen.35
6.3.
Raum-Praktiken
6.3.1. Sprache
Shingo Shimada zeigt, dass die Grenzen in den offenen, physisch nicht abgrenzbaren Räumen
eines Hauses durch Sprechsituationen konstituiert werden.36 „Die Grenze wird erst sprachlich
und symbolisch gezogen.“37 Daher ist diese Grenze nicht fest fixiert, sondern sie ist relativ
und eher imaginär. Eine objektive Festlegung ist ohne Kommunikation nicht möglich. Eine
Differenz wird erst durch die Artikulation eines Ausdrucks manifest. So wird Innen von
Außen beispielsweise durch das Adverbienpaar uchi und soto geschieden. Den Adverbien
liegt ein raumzuweisendes Morphemsystem zugrunde.38 Diese bringen das Verhältnis des
Sprechers zur Sprechsituation, zum Sprechpartner und zum Gesprächsgegenstand jeweils klar
zum Ausdruck. Shimada weist auch darauf hin, dass dieses Adverbiensystem entscheidend
die mitmenschlichen Beziehungen in Japan prägt, ohne dabei den konkreten Bezug zur
35 Es ist hier anzumerken, dass die shoji in der zeitgenössischen Architektur nicht mehr in der hier
beschriebenen Form verwendet werden. Statt Holz werden heute Aluminium-Rahmen eingesetzt und auch
die Schichten des Übergangs werden stark reduziert und meist in eine Ebene komprimiert. Dennoch bietet
sich die engawa für eine Diskussion japanischer Raumvorstellungen an, weil sie in ihrer Flexibilität
gewissermassen den dynamsichen Übergang zu nicht-physischen Differenzierungen veranschaulicht. Mit
Shigeru Bans Curtain Wall House findet ein ähnliches Konzept in der zeitgenössischen Architektur wieder
Verwendung.
36 Shimada (1994), S. 127f
37 Shimada (1994), S. 125
38 Darunter fasst Shimada die Silben ko, so, a und do zusammen.
Interkulturelle Topologie 14/21
Räumlichkeit zu verlieren.39
6.3.2. Rituale
Neben der sprachlichen Grenzbestimmung kommt alltäglichen Ritualen eine bedeutende
Funktion bei der symbolischen Bestimmung von Räumlichkeiten zu. Der erhöhte Boden des
Wohnraumes ist mit der Konnotation des Reinen und der Sauberkeit belegt. Er darf nie mit
Schuhen betreten werden. „Daher gehört zum Übergang vom Außen- zum Innenbereich eine
Verhaltensnorm, die den Charakter des Reinigungsrituals trägt, indem man die Schuhe
auszieht, die Hände wäscht und sich gegebenenfalls umzieht.“40 Die einzelnen Handlungen
konstituieren dabei in einer Sequenz von Schwellen und Übergängen eine hierarchische
Strukturierung des Raumes, die von der engawa bis in den Schlafbereich reicht.
6.3.3. Performative Topologie
Die topologische Differenz von Innen- und Außenraum ist beim japanischen Wohnhaus also
durch performative Merkzeichen bestimmt. Die beschriebenen Raum-Praktiken deuten hier
einen grundsätzlichen Unterschied zwischen einem Begriff von Raum als „leerem Zimmer“,
wie in Kapitel 4.
dargestellt, und einem japanischen Wohnraum an. Sprache und
Schwellenrituale als handlungsgebundene Bestimmungen von Räumlichkeiten lassen eine
immanente Verschränkung der Begriffe von Raum und Zeit erahnen.41
7.
Mauer
Der Steingarten des ryōan-ji in Kioto ist wohl das bekannteste Beispiel japanischer
Gartenkunst. Er gilt als der Idealtyp eines Trockengartens (karesansui) und ist als solcher
Gegenstand zahlreicher Interpretationen und Forschungsarbeiten. Im Anschluss an die
Analyse des „wandlosen“ Wohnhauses wird hier ein Element des Gartens genauer betrachtet
werden – die den Steingarten umschließende Mauer.
7.1.
Schnitt – Kontinuum
Der japanische Philosoph Ryōsuke Ōhashi weist in seinem Buch über Schönheit in der
japanischen Kultur zunächst darauf hin, dass die entscheidende ästhetische Funktion der
39 Shimada (1994), S. 128
40 Shimada (1994), S. 128
41 vgl. Gumbrecht (2005)
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Mauer nicht darin liege, einen perspektivischen Effekt im Garten zu erzielen. Vielmehr werde
durch die den Steingarten umschließende Mauer die Landschaft im Hintergrund „geliehen“.42
Bei dieser als shakkei bezeichneten Gestaltungstechnik wird die Landschaft außerhalb des
Gartens in die Komposition des Gartens einbezogen.43 Dabei ist entscheidend, dass die
Steinmauer den Innenbereich zwar vom Außenraum trennt, die umgebende Landschaft aber
dennoch sichtbar bleibt. Um dies zu erreichen wurde die Mauer nach Ōhashi entsprechend
niedrig gehalten.
In der Abgrenzung von natürlicher Welt und gestalteter Welt und der daraus folgenden
paradoxen Figur der kontrastierten Kontinuität bildet die Mauer ein „Zwischen“. Ōhashi
bezeichnet diese Struktur mit dem Begriff kire-tsuzuki (切) und übersetzt dies als ein „SchnittKontinuum“.44 Die Mauer „schneidet“ einerseits die Landschaft ab, indem sie sie ausgrenzt.
Andererseits wird deren Wirkung in der Kontrastierung mit dem gestalteten Raum des
Gartens verstärkt und über die gestaltete Fläche weitergeführt. Der Innenraum öffnet sich
gewissermaßen gegenüber dem Außen. Im kire-tsuzuki „durchdringen sich einander
entgegengesetzte Elemente bis ins Innere des jeweils Anderen und heben sich zur gleichen
Zeit vollkommen voneinander ab.“45 Der Kontrast von Innen und Außen wird dadurch
ästhetisch verstärkt.46 Nach Ōhashi sind alle japanischen Künste durch einen solchen Bruch
im Sinne einer Verkürzung charakterisiert. Der Schnitt wird dabei in einem ritualisierten oder
ästhetisierten Kontext vollzogen.
Als „kontinuierlich“ begreift Ōhashi dabei die Verstärkung und vor allem die Weiterführung
des Einen in der Kontrastierung mit dem Anderen. Schnitt und Kontinuum treten in dieser
ästhetischen Figur simultan auf. Ein Kontinuum entsteht in diesem Sinne nicht durch das
Fehlen einer Begrenzung sondern tritt gerade durch die Setzung einer Mauer hervor. Die
Paradoxie dieses Begriffes Ōhashis kann nur damit erklärt werden, dass er sich den Übergang
von Innenraum und Außenraum in Bezug auf den durch die Mauer gesetzten Schnitt als
systematisch vorgängig vorstellt. In der retrospektiven Betrachtung erscheinen dann Schnitt
und Kontinuum als synchron.47
42 Ōhashi (1994), S. 75
43 shakkei kann wörtlich als „lebend einfangen“ übersetzt werden (vgl. auch Nitschke (1993), S. 180).
44 Ōhashi (1994), S. 65ff.
切 – als kire gelesen bedeutet Schärfe eines Messers; Rest; Scheibe; Stück
45 Ōhashi (1994), S. 66
46 Ōhashi (1994), S. 65
47 Oosterling (2000), S. 73
Interkulturelle Topologie 16/21
Wie der, um das Wohnhaus verlaufenden engawa, als Zwischenraum von Wohnhaus und
Umgebung, kommt auch der Außenmauer des Ryōan-ji eine zentrale Funktion räumlicher
Strukturierung zu. Für Ōhashi hat „die Mauer [...] strukturell gesehen eine zentrale Bedeutung
für den Steingarten, ja, bildet sogar das eigentliche Zentrum“.48 Das durch die Mauer
hervortretende „Zwischen“ von Innenraum und Außenraum bezeichnet Ōhashi dabei als ma
(間).
7.2.
間– ma
ma ist zunächst eine weitere Lesart des Zeichens 間 wie es auch im Kompositum kūkan
(空間)auftritt. Die umfangreichste monographische Arbeit zum Begriff ma aus europäischer
Perspektive stammt von Günter Nitschke aus dem Jahr 1966.49 Der Text ist die erste intensive
Beschäftigung eines europäischen Autors mit diesem Begriff. Für die verfügbaren Arbeiten
zur Begriffsbestimmung stellt er die Referenz dar. Botz-Bornstein (2004), Ōhashi (1994) und
Oosterling (2000) übernehmen den Begriff mehr oder weniger direkt von Nitschke. Dabei
taucht insbesondere seine Übersetzung von ma als „japanese sense of place“ häufig auf.50
Was ist darunter zu verstehen?
7.2.1. Das Schriftzeichen
Ein etymologischer Ansatz zum Bedeutungsfeld des kanji, ergibt sich aus der Analyse der
bestimmbaren Untereinheiten, der Radikale, dieses Zeichens.51
間 hat neben kan und ma noch die weiteren Lesungen ken, aida. Es setzt sich aus zwei
Radikalen zusammen: 門 und 日. Das größere der beiden Radikale (門) wird für sich
genommen als mon gelesen und mit Tor, Tür oder Eingang übersetzt. Es kann als bildliche
Darstellung der zwei Flügel einer Schwingtür interpretiert werden. Ursprünglich bezeichnete
es nach Günter Nitschke das große Eingangstor eines buddhistischen Tempels.52 Das kleinere
Radikal (日) wird als nichi gelesen und mit Sonne oder Tag übersetzt. Nach Nitschke
bezeichnete es ursprünglich allerdings den Mond und wird auch heute als Suffix (-ka) für
48 Ōhashi (1994), S. 75
49 Nitschke (1966). Eine komplette Ausgabe der Zeitschrift Architectural Design ist diesem Thema und
Nitschkes Arbeit gewidmet.
50 vgl. Oosterling (2000), Botz-Bornstein (2004)
51 Eine etymologische Bestimmung, erfolgt bei einem kanji, entsprechend seiner logographischen Verwendung,
nach ideographischen Prinzipien und nicht nach seiner lautsprachlichen Entwicklung.
52 Nitschke (1966), S. 116
Interkulturelle Topologie 17/21
Monatstage verwendet. Nitschke interpretiert das Zeichen „wörtlich“ als das, zwischen den
Türflügeln hindurch scheinende Mondlicht.53
7.2.2. Sprachlicher Kontext
Um das Begriffsfeld zu verdeutlichen wollen wir exemplarisch einige Verwendungen des
Zeichens betrachten.
切間 – kirema: Das Kompositum mit dem aus dem vorherigen Kapitel schon bekannten 切 –
kire bedeutet Lücke, Pause und Unterbrechung. 梁間 – harima: Wörtlich zu übersetzen als
‚Balken-Spanne‘ (梁 – Tragebalken einer Holzkonstruktion) bezeichnet dieses Kompositum
ein lineares Raummaß. 一時間 – ichijikan: Übersetzt als ‚eine Stunde‘ ist ichijikan ein lineares
Zeitmaß.
Neben der Verwendung im Kontext eines Raum- oder Zeitmaßes bietet das Kompositum 人間
– ningen noch eine interessante Perspektive. Es bezeichnet den Menschen im philosophischen
Sinne (der Mensch, die Menschheit).54 Dabei steht das erste kanji 人 – nin für Mensch als
Person, Charakter oder Persönlichkeit. Das Zeichen 間, als gen gelesen, bedeutet wiederum
einen Zwischenraum. ningen bezieht sich also auf eine dynamische Sphäre der
Zwischenräume und Vernetzungen. Der Mensch ist in diesem Sinne ein „Mensch zwischen“,
und menschlich sein bedeutet daher eine relationale Existenz zu haben.55
Das Zeichen (間) tritt also in unterschiedlichen Bedeutungszusammenhängen wie Linie,
Raum, Zeit und Mensch auf. Bemerkenswert ist dies vor allem im Vergleich mit den auf
Latein gründenden europäischen Sprachen. Bei diesen gehen diese Bedeutungen auf jeweils
eigene etymologische Entwicklungslinien zurück und zeigen keine vergleichbare sprachliche
Verwandtschaft.
7.2.3. Dynamisches Intervall
Der Architekt Arata Isozaki schreibt im Katalog, der von ihm 1979 kuratierten Ausstellung
ma. Space-Time in Japan:
„In Japanese, the concepts of space and time have been simultaneously expressed
by the word ma. ma, defined by Iwanami´s Dictionary of Ancient Terms as „the
natural distance between tow or more things existing in a continuity“ or „the
53 Ebd.
54 Nitschke (1966), S. 152
55 Botz-Bornstein (2004), S. 118
Interkulturelle Topologie 18/21
space delineated by posts and screens (rooms)“ or „the natural pause or interval
between two or more phenomena occuring continuously,“ gives rise to both
spatial and temporal formulations. Thus the word ma does not describe the West´s
recognition of time and space as different serializations. Rather, in Japan, both
time and space have been measured in terms of intervals. Today´s usage of the
word ma extends to almost all aspects of Japanese life – for ma is recognized as
their foundation. Therefore architecture, fine arts, music, and drama are all known
as the art of ma.“56
Die Vorstellung, die Isozaki in dieser Begriffsbestimmung zum Ausdruck bringt, verweist auf
einen dynamischen Aspekt, der in allen bisher betrachteten Topologien zu wiederzufinden ist.
Sowohl bei der Definition räumlicher Schwellen durch ritualisierte Handlungen und Sprache,
als auch in der ästhetischen Praxis räumlicher Verkürzung bei der Gartengestaltung werden
die entscheidenden Strukturen durch raum-zeitliche Intervalle geschaffen. ma lässt sich in
diesem Sinne als eine grundlegende Figur der untersuchten räumlichen Strukturierungen in
Japan ausmachen. Entscheidend ist, dass die geschaffenen Räume nicht „leer“ sind. Ein
„leerer Raum“ ist ein abgeschlossener Raum, eine Umgrenzung ohne ein „geliehenes Außen“,
ein Zwischenraum ohne Dynamik. Es ist ein Raum der durch seine Begrenzungen geschaffen
wird (extensio).57 ma hingegen hat einen selbst-genügsamen und selbst-produzierenden
Charakter.58 ma ist ein dynamisches Intervall.
8.
Anschlüsse
Auch in der westlichen Philosophie gibt es natürlich Ansätze, eine Verschränkung von Raum
und Zeit zu denken.59 Doch geht dieses Denken dabei in der Regel von zwei Kategorien aus.60
Interessant ist am Japanischen Begriff ma, dass sich in ihm eine Vorstellung ausdrückt, die
eine solche kategorische Trennung unterläuft oder überwindet – jedenfalls nicht aufweist.
Gelänge es, den Begriff nicht nur zu bestimmen, sondern tatsächlich in einen philosophischen
Kontext „hinüber zu setzen“ hätte dies unter Umständen erschütternde Konsequenzen für die
56 Isozaki (1979), S. 3
57 Oosterling (2000), S. 73
58 Botz-Bronstein (2004), S. 117
59 vgl. Isozaki (1979), S. 3: „This concept is strangely contemporary, as it coincides with present day theories
that equate space and time.“
60 Gegenbeispiele wären in Bachtins Begriff des „Chronotopos“ oder Deleuze/Guattaris „Ritornell“ zu finden.
Interkulturelle Topologie 19/21
westliche Metaphysik.61 Von eben solch einer Bewegung träumt Roland Barthes wenn er
schreibt:
„Ein Traum: eine fremde Sprache kennen und sie dennoch nicht verstehen: in ihr
die Differenz wahrnehmen, ohne dass diese Differenz freilich jemals durch die
oberflächliche Sozialität der Sprache, durch Kommunikation oder Gewöhnlichkeit
eingeholt und eingeebnet würde; in einer neuen Sprache positiv gebrochen, die
Unmöglichkeiten der unsrigen erkennen; die Systematik des Unbegreifbaren
erlernen; unsere „Wirklichkeit“ unter dem Einfluss anderer Einteilungen, einer
anderen Syntax auflösen; unerhörte Stellungen des Subjekts in der Äußerung
entdecken, deren Topologie verschieben; mit einem Wort ins Unübersetzbare
hinabsteigen und dessen Erschütterung empfinden [...].“62
Auch außerhalb der Sprache hat dieser Traum große Aktualität. Denn wenn Kultur als
Kulturraum verstanden wird, dann ließe sich aus der Topologie des Begriffes ma vielleicht
eine Haltung gewinnen, mit der „anderen“, „fremden“ Kulturen begegnet werden kann. Wie
eine solche Begegnung aussehen könnte muss in einer weiteren Arbeit untersucht werden.63
61 vgl. Heideggers Begriff der Übersetzung: Eine Gesellschaft versucht sich durch Aneignung neuer Begriffe in
einen neuen Zustand hinüber-zu-setzen. Heidegger versteht dies als einen „Sprung über einen Graben“ (vgl.
Heidegger, Martin (1977) Holzwege, Frankfurt/M.)
62 Barthes (1970), S. 17ff: Die unbekannte Sprache.
63 Henk Oosterlings Aufsatz „A culture of the ‚Inter‘, Japanese Notions of ma and basho“, Oosterling (2000),
ist bereits eine wichtige Referenz für einen solchen Ansatz. In dieser Arbeit verbindet er Kants sensus
communis und den Begriff ma, um damit ein ‚inter‘ im ‚interkulturellen‘ Austausch neu zu bestimmen.
Interkulturelle Topologie 20/21
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