Humboldt-Universität zu Berlin Seminar für Ästhetik Dozentin: Prof. Karin Hirdina Autor: Stefan Riekeles (Matrikel Nr.: 505730) Zürich, Juli 2006 Interkulturelle Topologie Überlegungen zur Bestimmung eines Raumbegriffs in einer interkulturellen Perspektive auf Japan und Europa. Interkulturelle Topologie 2/21 Inhalt 1. Einleitung .............................................................................................................................. 3 2. Zum Verhältnis von Tradition und Moderne ........................................................................ 4 3. Übersetzung ........................................................................................................................... 5 3.1. Bruchstellen ................................................................................................................ 5 3.2. Schriftsystem .............................................................................................................. 6 4. Raum – 空間........................................................................................................................... 7 5. Stadt ....................................................................................................................................... 7 5.1. Ordnungsprinzipien .................................................................................................... 8 5.2. Geometrie ................................................................................................................... 8 5.3. Topologie .................................................................................................................. 10 6. Schwelle .............................................................................................................................. 11 6.1. Geschichteter Übergang............................................................................................ 12 6.2. Kontinuum ................................................................................................................ 12 6.3. Raum-Praktiken ........................................................................................................ 13 6.3.1. Sprache ........................................................................................................... 13 6.3.2. Rituale ............................................................................................................ 13 6.3.3. Performative Topologie ................................................................................. 14 7. Mauer .................................................................................................................................. 14 7.1. Schnitt – Kontinuum ................................................................................................. 14 7.2. 間 – ma ...................................................................................................................... 15 7.2.1. Das Schriftzeichen ......................................................................................... 16 7.2.2. Sprachlicher Kontext ...................................................................................... 16 7.2.3. Dynamisches Intervall .................................................................................... 17 8. Anschlüsse ........................................................................................................................... 18 Formale Hinweise zum Text Fachausdrücke und Buchtitel werden in Kursivschrift hervorgehoben. Japanische Fachbegriffe werden in Kursivschrift wiedergegeben und klein geschrieben. Die Schreibweise der japanischen Fachbegriffe orientiert sich an: Langenscheidts Zeichenwörterbuch JapanischDeutsch.1 Japanische Namen werden in der Ordnung Vorname Nachname wiedergegeben. 1 Hadamitzky (Hrsg.), München, 2001 Interkulturelle Topologie 3/21 1. Einleitung Den Ausgangspunkt meiner folgenden Analyse bildet die Hypothese, dass es qualitative Unterschiede in der räumlichen Strukturierung und den damit verbundenen Vorstellungen und Begriffen von Raum im Vergleich zwischen Japan und Europa gibt. Daran knüpft die Frage an, wie sich diese spezifischen Qualitäten erfassen lassen und wie eine Annäherung erfolgen kann, ohne fundierte Kenntnisse der japanischen Sprache zu besitzen. Da für eine interkulturelle Perspektive das methodische Vorgehen entscheidend ist, werden die Überlegungen hierzu entsprechend ausführlich gefasst. Die Untersuchung verläuft dabei entlang dreier Grundlinien: Grundlage jedes Argumentationsschrittes ist die Betrachtung einer konkreten räumlichen Situation. Auf dieser Ebene findet eine Bewegung statt, die von einer Analyse des urbanen Raumes von Tokio ausgeht und über die Schwelle der Veranda (engawa) eines japanischen Wohnhauses in den Steingarten des ryōan-ji führt. An jede Situationsbetrachtung schließt eine Bestimmung der darin wirkmächtigen Ordnungsprinzipien, das heißt eine Analyse der diese Räume strukturierenden Faktoren an. Anhand der Beschreibung des urbanen Raumes wird eine topologische Ordnung als Grundlage für die weitere Betrachtung vorgestellt. Die Betrachtung des Wohnraumes legt die performative Strukturierung von Räumen offen. Im Steingarten konzentriert sich die Betrachtung auf die ästhetische Funktion der umgrenzenden Mauer. Im Durchmarsch von der Straße in den Garten werden so Aspekte räumlicher Strukturierung in Japan analysiert, die schließlich im japanischen Begriff ma (間) konvergieren. Da Begriffe im Zusammenhang mit anderen Begriffen an Schärfe gewinnen, findet neben dieser induktiven Argumentation eine Auseinandersetzung mit dem sprachlichen Kontext statt, die von den jeweils verwendeten Schriftzeichen ausgeht. Aufgrund der sprachlichen Besonderheiten des Japanischen wird sich diese „Zeichenanalyse“ für die Begriffsbestimmungen als sehr fruchtbar erweisen. Sowohl bei der Betrachtung des Gegenstandes als auch bei der Begriffsbestimmung spielen in interkultureller Perspektive Prozesse der Übersetzung und Interpretation eine zentrale Rolle. Die Bestimmung der spezifischen Qualitäten räumlicher Gestaltung stellt sich daher auch als eine Frage der Übersetzung des Zeichens und der Interpretation der räumlichen Situation „vor Ort“. Durch eine Verschränkung dieser Perspektiven lässt sich das Bedeutungsfeld von „Raum“ im Japanischen aufspannen. Interkulturelle Topologie 4/21 2. Zum Verhältnis von Tradition und Moderne Auf den ersten Blick scheint es, als ob traditionelle und moderne Gestaltung in Japan nebeneinander bestehen. In vielen Städten sind „traditionelle“ Holzhäuser unmittelbar neben „modernen“ Bürokomplexen zu finden. Für eine Untersuchung räumlicher Strukturen in Japan ist dieses besonders auffällige Verhältnis von Tradition und Moderne daher von großer Bedeutung. Der japanische Philosoph und Soziologe Shingo Shimada zeigt in seinem Buch Grenzgänge – Fremdgänge wie sich die japanische Gesellschaft durch eine Auseinandersetzung mit bestimmten Elementen aus der westlichen Zivilisation konstituiert.2 Zu diesen Elementen gehört auch der Begriff der Geschichte. Shimada legt dar, dass es vor der Meiji-Restauration (1868) im Geschichtsbild japanischer Intellektueller kein Fortschrittsdenken im Sinne einer linearen zeitlichen Entwicklung gab. Das heißt, dass kulturelle Artefakte nicht in die Kategorien von „traditionell“ oder „modern“ unterteilt wurden. Erst durch die Übernahme eines linearen Geschichtsmodells aus der westlichen Philosophie gegen Ende des 19. Jahrhunderts wurde nach Shimada so etwas wie die „japanische Tradition“ geschaffen. Im Vergleich mit den bereits industrialisierten Kulturen Europas stuften japanische Intellektuelle ihre eigene Kultur daraufhin als rückständig ein. Die Intellektuellen versetzten sich damit selbst in die Position der „Fortschrittlichen“. In der Vorstellung einer linearen zeitlichen Entwicklung positionierten sie Japan zwischen den westeuropäischen Gesellschaften am Ende der Geschichte und den nicht-westlichen am Anfang der Geschichte.3 Einige europäische Autoren hingegen nehmen beispielsweise bei der Beschreibung von japanischer Architektur eine genau gegensätzliche Position ein. Sie bewerten die japanische Kultur darin als besonders „hoch entwickelt“ und „fortschrittlich“.4 Ich möchte hier deshalb argumentieren, dass Positionen die in der Dichotomie traditionell/modern liegen für eine interkulturelle Perspektive, der an einem Verständnis kulturell spezifischer Qualitäten gelegen ist, nicht geeignet sind. Denn im Sinne dieser Kategorisierung wird mit einem Geschichtsmodell argumentiert, das der japanischen Kultur nicht gerecht wird. Mit der Beschreibung räumlicher Situationen in den Unterscheidungen von traditionell/modern oder rückständig/fortschrittlich überschrieben und damit unkenntlich, das heißt nicht erkennbar. 2 Shimada (1994) 3 Shimada (1994), S. 229ff 4 vgl. hierzu beispielsweise Nitschke (1966) würden wichtige Aspekte Interkulturelle Topologie 5/21 3. Übersetzung 3.1. Bruchstellen Die Sprache nimmt elementaren Einfluss auf die Konfiguration von Räumen, und zwar indem sie nicht nur an der Beschreibung von Räumen beteiligt ist, sondern auch ganz unmittelbar bei der Zuschreibung von räumlichen Eigenschaften wirkt.5 Die Verfügbarkeit einer Raumvorstellung hängt deshalb maßgeblich von ihrer begrifflichen Verfasstheit ab. Beim Versuch die spezifischen Qualitäten der Vorstellung und Gestaltung von Raum in Japan zu verstehen, spielt deshalb der sprachliche Kontext am „Ort des Geschehens“ eine entscheidende Rolle. In dieser Perspektive stellt sich die interkulturelle Betrachtung als ein Frage der Übersetzung. Eine Möglichkeit der Übersetzung, wenn es um „fremde Vorstellungen“ geht, liegt darin, ein Fremdwort einzuführen. In unserem Fall hieße das, ein Zeichen oder Wort, das zur Bezeichnung eine räumlichen Situation verwendet wird aus dem Japanischen zu übernehmen. Da sowohl der Autor, als auch die meisten LeserInnen dieser Untersuchung mehrheitlich der japanischen Sprache wohl nicht mächtig sind, bliebe der Begriff allerdings sehr vage, weil seine Referenz höchstens dem Übersetzer, das heißt vielmehr dem „Überträger“ einigermaßen einleuchtend wäre.6 Um die Bestimmtheit der Räumlichkeitsverhältnisse in Japan in unserem Fall zu fassen, müssen Übersetzungen deshalb auf die im Deutschen verfügbaren Begriffe zurückgreifen. Wie bei jedem Übersetzungsprozess entstehen dabei Bruchstellen, Lücken und teilweise Unbestimmtheiten zwischen den Bedeutungsfeldern der jeweiligen Begriffe im Japanischen und im Deutschen. Roland Barthes weist in diesem Zusammenhang darauf hin, dass „die Hauptbegriffe der aristotelischen Philosophie in gewisser Weise durch die Fügungen der griechischen Sprache erzwungen worden“7 seien. Ihm ist daran gelegen, sich „in die Schau der irreduziblen Differenzen“ zu versetzen, „von denen [...] eine sehr entfernte Sprache einen Schimmer 5 Ich stütze mich hier insbesondere auf einen Vortrag von Bernhard Waldenfels am 10.11.2005 beim Symposium Topologie an der Bauhaus Universität Weimar. Eine weitere Position hierzu wäre beispielsweise Simmel: „Die räumliche Fixierung geschieht unter anderem durch sprachliche Ausdrücke. Räumlichkeitsverhältnisse werden mittels Sprache in den Körper des einzelnen eingeschrieben, und der einzelne situiert sich anhand seiner körperlichen Raumwahrnehmung im Raum“ (Zitat nach Shimada, S. 125). 6 Shimada (1994), S. 235 7 Barthes (1970), S. 17 Interkulturelle Topologie 6/21 vermitteln kann“ (Hervorhebung im Original).8 Diesen „Schimmer“ zu vermitteln, heißt die Bruchstellen, die Lücken der Übersetzung aufzuspüren und nachzuzeichnen. Im Spannungsfeld zwischen einer unbekannten oder zumindest fremden, als entfernt vorgestellten räumlichen Situation als Referenz und den zur Beschreibung verfügbaren Begriffen, manifestieren sich die Unterschiede im Raumverständnis auch als sprachliche Differenzen. Die Bruchstellen der Übersetzung eröffnen dabei gewissermaßen den interkulturellen Raum, ein „Zwischen“ der Kulturen. 3.2. Schriftsystem Die augenscheinliche Differenz zwischen der japanischen und der deutschen Sprache ist das Schriftsystem. Das besondere Verhältnis von geschriebenen und gesprochen Zeichen des Japanischen bietet einen ersten Zugang zum Verständnis der Verfasstheit japanischer Begriffe. Von besonderem Interesse sind dabei die kanji. Diese Zeichen funktionieren logographisch. Ähnlich einem Ideogramm oder einem Piktogramm operieren die kanji als bedeutungstragende Einheiten. Neben diesen logographischen Zeichen werden die Alphabete hiragana und katakana analog zum lateinischen Alphabet als lautsprachliche (phonographische) Zeichen verwendet. Im Sinne einer qualitativen Bestimmung der räumlichen Differenzierung ist eine Betrachtung der kanji allerdings sehr viel fruchtbarer und wir beschränken uns im Folgenden auf deren Analyse. Die kanji wurden aus dem Chinesischen übernommen. Ein Zeichen hat meist mehrere Varianten der Lesung. Die jeweilige Lesart eines kanji kann zwar mittels des Hepburn Systems in lateinischer Schrift als lautsprachlicher Ausdruck festgehalten werden.9 Da verschiedene kanji aber wiederum gleich gelesen werden, kann von dieser Notation nicht mehr eindeutig auf die Bedeutung geschlossen werden. Um die jeweilige Bedeutung eines gesprochenen Ausdrucks zu verstehen, muss über den Kontext auf das zugrunde liegende kanji geschlossen werden. 4. Raum – 空間 Als Übersetzungsvorschlag für das deutsche Wort ‚Raum‘ ins Japanische findet man im 8 Barthes (1970), S. 17 9 Das Hepburn System ist ein Transkriptionssystem mit dem die japanische Sprache im lateinischen Alphabet abgebildet werden kann. Es ist benannt nach Dr. James Curtis Hepburn, einen US-amerikanischen Arzt und Missionar, der 1867 das erste Japanisch-Englische Wörterbuch, zusammenstellte. Interkulturelle Topologie 7/21 Zeichenlexikon die kanji 空間 und die zugehörige Lesart als kūkan.10 Das Zeichen 空 als kū gelesen wird für sich genommen als ‚leer‘, ‚Himmel‘ oder‚Vakuum‘ übersetzt. Das zweite Zeichen 間 als kan gelesen hat die Bedeutungen ‚Zwischenraum‘ oder ‚Intervall‘. Eine Rückübersetzung des Kompositums 空間 auf dieser Grundlage könnte damit als ‚leerer Zwischenraum‘ angegeben werden. Tatsächlich entspricht diesem Bedeutungshof auch die Lesart als akima, was mit ‚freies Zimmer‘ im Wörterbuch angegeben ist.11 Damit ist ein erster Hinweis auf die spezifischen Qualitäten des Begriffes ‚Raum‘ gegeben. ‚Raum‘ ist nicht gleich ‚Raum‘. So ist kūkan die Übersetzung eines bestimmten Raumbegriffs der westlichen Philosophie. Günter Nitschke geht davon aus, dass die Verbindung der beiden Zeichen relativ neu ist und erst zu Beginn des 20. Jahrhunderts ins Japanische eingeführt wurde, um einen bestimmten westlichen Begriff von Raum im Japanischen verfügbar zu machen.12 Es liegt nahe anzunehmen, dass sich das Adjektiv ‚leer‘ (空 – kū) auf ein leeres Raumschema bezieht, wie es durch die Erfindung des mathematischen Perspektivismus und der descarteschen Extensio geprägt wurde.13 Raum wird dabei als geschlossen, gleichförmig und zwischen den Begrenzungen eines Behälters vorgestellt. Es versteht sich, dass nicht alle Raumbegriffe der westlichen Philosophie in diesem Sinne als „leer“ gedacht sind. Umgekehrt ist in unserem Zusammenhang aber zu fragen wie das Verhältnis von kūkan und Raum bestimmt werden kann. Lässt sich, die dem ‚Raum‘ anhaftende ‚Leere‘ bestimmen? Oder anders gefragt: Wie lässt sich ein Raumbegriff des Japanischen charakterisieren, der nicht als leer gedacht wird? Diese Betrachtung „im Spiegel der Sprache“ ist der Ausgangspunkt der weiteren Analysen. 5. Stadt Zunächst sollen anhand einer exemplarischen Betrachtung des Stadtraumes in Japan und Europa räumliche Ordnungsprinzipien analysiert werden. Diese dienen im Folgenden als Ausgangspunkt für die Entwicklung einer interkulturellen Perspektive. 5.1. Ordnungsprinzipien Das Stadtbild Tokios erscheint Besuchern aus dem Westen auf den ersten Blick als 10 Hadamitzky, S. 889 11 Hadamitzky, S. 1689 12 Nitschke (1966), S.155. Nitschke merkt dazu außerdem an, dass diese Bedeutung in wissenschaftlichen Kreisen große Verwirrung auslöst, weil kan mit ganz anderen Bedeutungsfeldern verknüpft ist. 13 Botz-Bornstein (2002), S. 110 Interkulturelle Topologie 8/21 unzugänglich, überfordernd und grundsätzlich „andersartig“.14 Die, auf die erste Irritation folgenden, Erklärungsversuche der hier zu Rate gezogenen Autoren, greifen für die Beschreibung der räumlichen Strukturierung einerseits auf den Begriff des Chaos zurück, andererseits taucht der Begriff der Komplexität auf. Mit beiden Begriffen wird versucht die Andersartigkeit zu bestimmen. Begriffsgeschichtlich stehen sie dabei in einem engen Zusammenhang. Chaos in seiner aktuellen Verwendung meint hier nicht die bloß negative Definition als Nicht-Ordnung wie etwa in der Antike, sondern setzt selbst eine Ordnungsstruktur (vgl. Chaostheorie). Allerdings ist diese Ordnung komplex. Komplexität umfasst das Begriffspaar Ordnung/Nicht-Ordnung und konzeptualisiert den Übergang zwischen beiden als einen neuen Ordnungsbegriff.15 Entscheidend ist in unserem Zusammenhang, dass beide Begriffe ein Stadtbild erst vergleichbar machen, indem sie es auf eine Ordnung zurückführen. Der vorgefundenen räumlichen Strukturierung wird gewissermaßen eine Ordnung und damit eine Betrachtungsperspektive untergeschoben. Für einen bestimmenden Vergleich ist dies natürlich notwendig. Allerdings ist es für eine Untersuchung des interkulturellen Horizonts ebenso wichtig, sich diese Zuschreibung stets vor Augen zu halten. Im Folgenden soll deshalb eine Perspektive entwickelt werden, die diese Erzeugung der Vergleichbarkeit auch begrifflich mitführt und reflektiert. 5.2. Geometrie Für das Stadtbild von Tokio bietet die geometrische Ordnung europäischer Städte ein lohnendes Vergleichsobjekt. Natürlich ist der urbane Raum auch in Europa nicht ausschließlich nach geometrischen Prinzipien strukturiert. Da es an dieser Stelle aber nicht um eine detaillierte Analyse verschiedener Stadträume geht, sondern um die Formulierung einer interkulturellen Perspektive, sei eine sehr vereinfachende Betrachtung mit dem Verweis auf eine Dominanz geometrischer Parameter in der Geschichte der europäischen Stadtplanung gestattet. Prägnante Überformungen des Stadtbildes, hin zu geschlossenen geometrischen Ordnungen, fanden in Europa zur Zeit des Absolutismus statt. So beruht beispielsweise die Struktur von Versailles oder von Karlsruhe auf polaren Koordinaten: Straßen und Wege gehen dort strahlenförmig von einem symbolischen Brennpunkt aus und strukturieren das gesamte Stadtbild. Roland Barthes beschreibt diese Anlage europäischer Städte als eine „Verdichtung 14 vgl. hierzu: Berque (1994), Geipel (1994), Klauser (1994) 15 vgl. Theisen (2000) Interkulturelle Topologie 9/21 sämtlicher Werte der Zivilisation.“16 Das Stadtbild kann hier als eine fest definierte, Architektur gewordene Einheit gefasst werden. Die entscheidenden Generatoren der städtischen Form als Repräsentation absoluter Macht sind dabei die Reihung und die Gestaltung der Fassaden.17 Auch die in Japan absolutistisch herrschenden Shogune nahmen die Hoheit über die städtische Raumordnung als Ausdruck ihrer Macht in Anspruch. Ihre Eingriffe ins Stadtbild, wie beispielsweise die Errichtung des gigantischen Palastes in Edo (um 1600, heute Tokio) und dessen Umfriedung mit hohen Mauern erzeugten ebenfalls ein distinktes Muster.18 Allerdings entwarfen die Schogune keinen integrierenden Generalplan für die Ordnung der ganzen Stadt.19 Im Zentrum der Planung standen Stadtteile und deren Fügung als Teilordnungen zu einer Gesamtstruktur.20 Im Gegensatz zu europäischen Großstädten verfügt Tokio deshalb heute nicht über lange, geradlinige Achsen wie beispielsweise die Pariser Champs-Elysèes.21 Das Stadtbild Tokios weist auch keinen offenen Raum zwischen den Fassaden der umgrenzenden Bebauung im Sinne einer Agora oder einer Plaza auf.22 Es sind deshalb auch keine zentralen Plätze, wie etwa die Marktplätze in Europa zu finden. Gesellschaftliche Einrichtungen, wie Geschäfte, Restaurants und Dienstleistungseinrichtung sind vielmehr in Intervallen entlang der Straßen angeordnet. Diese lineare Anordnung der Bezugspunkte 16 Barthes (1970), S. 47f Barthes fährt fort: „An diesem ausgezeichneten Ort sammeln und verdichten sich sämtliche Werte der Zivilisation: Die Spiritualität (mit den Kirchen), die Macht (mit den Büros), das Geld (mit den Banken), die Ware (mit den Kaufhäusern), die Sprache (mit den Agoren: den Cafés und Promenaden).“ 17 Berque (1994), S. 26 18 McClain, S. 19. McClain et al arbeiten in dem von ihnen herausgegebenen Band „Edo and Paris“ die Parallelen und Differenzen in der Stadtentwicklung von Edo zur Zeit der absolutistisch regierenden Schogune (1603–1868) und Paris zur Zeit der absolutistischen Bourbonenkönige (1589–1789) heraus. 19 Auch in Japan wurden Städte wie Heianko (heute Kioto), Heijokyo (heute Nara), die vor der Edo-Zeit Regierungssitz waren, nach geometrischen Prinzipien auf der Grundlage eines rechtwinkligen Rasters angelegt. Da die angewandten Strukturierungsmodelle aus China übernommen wurden, werden diese Ordnungen als Entfremdung originär japanischer Gestaltung aufgefasst (vgl. Berque (1994)). Günter Nitschke hält den Mythos von der „importierten geometrischen Ordnung“ indessen für ein Überbleibsel einer starken nationalistischen Phase nach der Meiji-Revolution. 20 Jinnai (1985), S. 170 21 Die Ginza in Tokio kann zwar als Prachtstraße gelten, aber eben nicht im Sinne einer geschlossenen, repräsentativen Bebauung, bei der die Fassade eine entscheidende Rolle ästhetischer Integration spielt. 22 Jinnai (1985), S. 179 Interkulturelle Topologie 10/21 richtet die Aktivitäten nicht zentral auf eine Agglomeration städtischer Funktionen.23 Diese Beobachtung allein kann einem interkulturellen Anspruch allerdings nicht genügen. Denn durch die Zuweisung eines Mangels auf den japanischen „fremden“ Raum würde dieser lediglich als Illustration des „eigenen“ europäischen Raumes dienen. Es handelte sich also um eine eurozentrierte Sicht unter dem Deckmantel des Kulturvergleichs. Um den Blick tatsächlich „nach außen“ zu richten, wie das die Semantik des Begriffes Kulturvergleich impliziert, muss die Perspektive erweitert werden. 5.3. Topologie24 Augustin Berque bezieht sich in seiner Analyse Tokios als Stadt der Teilordnungen auf die von Yoshinobu Ashihara, beschriebene verborgene Ordnung Tokios und folgert:25 „Die Räumlichkeit Tokios gründet sich [...] auf eine topologische und nicht auf eine geometrische Ordnung.“26 Topologisch versteht Berque hier im Gegensatz zu geometrisch als eine räumliche Strukturierung Tokios durch Merkzeichen.27 Als solche Denkmäler im wörtlichen Sinne können beispielsweise die Berge Fuji und Tsukuba oder der Turm des Shogun-Schlosses dienen.28 Für die Orientierung in einem solchen topologischen Raum sind die Relationen der Bezugspunkte untereinander ausschlaggebend und nicht deren Größe, Form oder fixe Koordinaten im Raum. Die Einbindung in das räumliche Bezugssystem beruht deshalb auch nicht zwingend auf einer sichtbaren Kongruenz, das heißt auf einer oberflächlichen Übereinstimmung zusammengehöriger Teile.29 Geht man von einer topologischen Ordnung des Raumes aus, dann sind nicht länger die Achsen der Fassaden zwingend für die 23 Nitschke (1966), S. 126 24 Für eine ausführliche Analyse urbaner Räume als Topologien siehe Huber (2002). 25 vgl. Ashihara, Yoshinobu (1986): Kakureta chitsujo. Die verborgene Ordnung (1989) Ins Englische von Lynne E. Riggs, Kodansha International 26 Berque (1994), S. 26 27 In der Mathematik wird unter mit, im 19. Jahrhunderts durch Möbius eingeführten, Begriff der Topologie die Aufprägung einer Struktur auf einen Raum bezeichnet, als auch der Vergleich von zwei Räumen. 28 Denkmal: Lehnbildung nach gr. mnēmósynon ‚Gedächtnis, Denkmal‘ mit denken ‚sich erinnern‘ und Mal ‚Zeichen‘. Die ursprüngliche Bedeutung ist also ‚Erinnerungszeichen‘ (Kluge, Friedrich (1995): Etymologisches Wörterbuch der deutschen Sprache. Berlin; New York: de Gruyter.) 29 Klauser (1994), S. 33 Interkulturelle Topologie 11/21 Raumordnung, sondern eine bestimmte Relationalität von Zeichen. Ein Merkzeichen operiert dabei als solches in einem bestimmten kulturellen Kontext. Eine durch Merkzeichen konstituierte „Räumlichkeit ist deshalb voll besetzt mit Symbolen und Bezügen zur Kosmologie“ der jeweiligen Kultur.30 Günter Nitschke spricht in diesem Zusammenhang deshalb auch von „mnemonic illustrations of place“ und „urbanem Symbolismus“.31 Im folgenden Kapitel werden wir sehen, dass diese Merkzeichen allerdings keinesfalls sichtbare Symbole sein müssen. Sind die Merkzeichen unverständlich ist die Ordnung nicht verfügbar. Aus dieser Sicht erscheint dann die im kulturellen Kontext Japans „verborgene“ topologische Ordnung als eine der Raumwahrnehmung nicht zugängliche Struktur. Mit dem Begriff einer Topologie kann die topographische Unordnung des Stadtbildes auf eine relative und relationale Ordnung gebracht werden. Um diese Topologie beschreiben zu können, muss dann die Bestimmtheit der Merkzeichen gefasst werden. Die Bezeichnung einer räumlichen Struktur als topologisch in diesem Sinne steht im Grunde auf einer begrifflichen Ebene mit „Chaos“ und „Komplexität“. Der Terminus der Topologie als eine mathematische Disziplin zur Erforschung von Räumen, eröffnet jedoch einen weiteren Zugang. Ein topologischer Ansatz schließt dabei immer einen Vergleich von Räumen ein. Die Struktur eines topologischen Raumes kann nur im Vergleich mit einem anderen Raum bestimmt werden. Nur indem ein Raum einen anderen bestimmt und umgekehrt, ist es überhaupt möglich, auf eine Metrik, das heißt auf ein fixes Maß (Koordinaten, Größe u.ä.) für die Raumbeschreibung zu verzichten und stattdessen Merkzeichen verschiedenster Modalitäten als bestimmende Faktoren einzusetzen. Aufgrund dieser impliziten Relationalität scheint die Rede von einer topologischen Ordnung auch geeignet zu sein, um eine interkulturelle Perspektive zu formulieren. Der Begriff einer Topologie impliziert die Relativierung und damit die Bewusstwerdung des „eigenen“ Standpunkts im Vergleich mit einem anderen. Ein interkultureller Vergleich räumlicher Strukturen lässt sich deshalb auch im Sinne einer interkulturellen Topologie verstehen. 6. Schwelle Die vorangegangene Betrachtung des urbanen Raumes stützte sich auf eine Perspektive von 30 Shimada (1994), S. 125 31 Nitschke (1966), S. 126. Nitschke identifiziert diese symbolische Ordnung der Stadt als die eigentliche Quelle der Verständnisschwierigkeiten urbanen Raumes für Menschen aus westlichen Kulturkreisen (Ebd., S. 144). Interkulturelle Topologie 12/21 Außen. In der Vogelperspektive spielten kulturelle Praktiken oder die japanische Sprache keine wesentliche Rolle. Im Folgenden soll nun versucht werden, konkrete Merkzeichen im kulturellen Kontext zu bestimmen. Anhand eines Elements der japanischen Architektur, der engawa, wird zuerst das Verhältnis von Innen- und Außenraum analysiert. 6.1. Geschichteter Übergang Das weit überragende Dach ist ein charakteristisches Merkmal sowohl ländlicher als auch städtischer japanischer Architektur. Unter dem Dachvorsprung des Wohnhauses verläuft die engawa (縁側), die das ganze Haus umfängt. 縁 – en kann als ‚Beziehung‘, ‚Verbindung‘ oder ‚Rand‘ übersetzt werden. 側 – gawa bezeichnet eine ‚Seite‘ oder eine ‚Nähe‘. In der vorliegenden Literatur wird engawa meist als Außengang oder Veranda übersetzt.32 Es wird damit die Übergangszone zwischen Innen- und Außenraum eines Wohnhauses bezeichnet. Eine engawa besteht aus mehreren Teilelementen unterschiedlicher „Durchlässigkeit“. Die shoji, mit transluzentem Papier bespannte Schiebetüren, bilden die Innenseite. Transparente Glasschiebetüren stehen an der Außenkante der ungefähr einen Meter tiefen engawa. Die amado, Holzschiebetüren mit Ventilationsöffnungen, sind direkt vor den Glastüren angebracht. sudare, Vorhänge aus Stroh oder Bambus, schließen die engawa am Dachvorsprung ab. Das so entstehende System bietet eine Vielzahl von Möglichkeiten, um das Haus für Luft und Licht durchlässig zu halten oder zu schließen und um Aussicht und Einsicht zu ermöglichen oder zu verhindern. Werden beispielsweise die shoji geschlossen, kann die engawa als Veranda im europäischen Sinne genutzt werden. Dagegen wird der Raum des Hauses mit dem Öffnen einiger Elemente auf die Straße, oder in den Garten ausgedehnt.33 6.2. Kontinuum Durch die Schichtung verschiedener, flexibler Elemente besitzt das traditionelle japanische Wohnhaus keine konstruktive Trennung von Innen- und Außenraum. Von verschiedenen Autoren wird diese Situation daher als ein „Kontinuum von Innen und Außen“ beschrieben.34 Diese Bezeichnung meint einen „fließenden Übergang“ der Räumlichkeiten und die damit 32 vgl. hierzu Nitschke (1979) und Bosslet (1990) Nitschke weist darauf hin, dass die Übersetzung von engawa mit Veranda, dem Funktionsumfang und den räumlichen Qualitäten dieser „grauen Zone“ nicht vollständig gerecht wird. 33 Nitschke (1979), S. 87 und Bosslet (1990), S. 125 34 vgl. hierzu beispielsweise Bosslet (1990). Interkulturelle Topologie 13/21 einhergehende Unmöglichkeit einer klaren Abgrenzung. Dem ist entgegen zu setzen, dass aus dem Fehlen einer baulichen Trennung, also einer Wand im europäischen Sinne, nicht zwangsläufig die Ununterscheidbarkeit von Räumlichkeiten, das heißt ein kontinuierlicher Übergang folgt. Die Behauptung eines Kontinuums von Innen- und Außenraum kann nur gehalten werden, wenn der Raum durch das Fehlen von physischen Begrenzungen, also im Gegensatz zu einem geschlossenen Raum, negativ als kontinuierlich definiert wird. Wie wir sehen werden ist ein japanisches Wohnhaus aber sehr wohl in Innen und Außen differenziert, allerdings nicht durch Bausubstanz, sondern durch Sprache und ritualisierte Handlungen. Nur unter der Prämisse eines auf physischen, beziehungsweise geometrischen Bezugspunkten basierenden Raumverständnisses erfährt Raum keine qualitative Veränderung durch Handlungen.35 6.3. Raum-Praktiken 6.3.1. Sprache Shingo Shimada zeigt, dass die Grenzen in den offenen, physisch nicht abgrenzbaren Räumen eines Hauses durch Sprechsituationen konstituiert werden.36 „Die Grenze wird erst sprachlich und symbolisch gezogen.“37 Daher ist diese Grenze nicht fest fixiert, sondern sie ist relativ und eher imaginär. Eine objektive Festlegung ist ohne Kommunikation nicht möglich. Eine Differenz wird erst durch die Artikulation eines Ausdrucks manifest. So wird Innen von Außen beispielsweise durch das Adverbienpaar uchi und soto geschieden. Den Adverbien liegt ein raumzuweisendes Morphemsystem zugrunde.38 Diese bringen das Verhältnis des Sprechers zur Sprechsituation, zum Sprechpartner und zum Gesprächsgegenstand jeweils klar zum Ausdruck. Shimada weist auch darauf hin, dass dieses Adverbiensystem entscheidend die mitmenschlichen Beziehungen in Japan prägt, ohne dabei den konkreten Bezug zur 35 Es ist hier anzumerken, dass die shoji in der zeitgenössischen Architektur nicht mehr in der hier beschriebenen Form verwendet werden. Statt Holz werden heute Aluminium-Rahmen eingesetzt und auch die Schichten des Übergangs werden stark reduziert und meist in eine Ebene komprimiert. Dennoch bietet sich die engawa für eine Diskussion japanischer Raumvorstellungen an, weil sie in ihrer Flexibilität gewissermassen den dynamsichen Übergang zu nicht-physischen Differenzierungen veranschaulicht. Mit Shigeru Bans Curtain Wall House findet ein ähnliches Konzept in der zeitgenössischen Architektur wieder Verwendung. 36 Shimada (1994), S. 127f 37 Shimada (1994), S. 125 38 Darunter fasst Shimada die Silben ko, so, a und do zusammen. Interkulturelle Topologie 14/21 Räumlichkeit zu verlieren.39 6.3.2. Rituale Neben der sprachlichen Grenzbestimmung kommt alltäglichen Ritualen eine bedeutende Funktion bei der symbolischen Bestimmung von Räumlichkeiten zu. Der erhöhte Boden des Wohnraumes ist mit der Konnotation des Reinen und der Sauberkeit belegt. Er darf nie mit Schuhen betreten werden. „Daher gehört zum Übergang vom Außen- zum Innenbereich eine Verhaltensnorm, die den Charakter des Reinigungsrituals trägt, indem man die Schuhe auszieht, die Hände wäscht und sich gegebenenfalls umzieht.“40 Die einzelnen Handlungen konstituieren dabei in einer Sequenz von Schwellen und Übergängen eine hierarchische Strukturierung des Raumes, die von der engawa bis in den Schlafbereich reicht. 6.3.3. Performative Topologie Die topologische Differenz von Innen- und Außenraum ist beim japanischen Wohnhaus also durch performative Merkzeichen bestimmt. Die beschriebenen Raum-Praktiken deuten hier einen grundsätzlichen Unterschied zwischen einem Begriff von Raum als „leerem Zimmer“, wie in Kapitel 4. dargestellt, und einem japanischen Wohnraum an. Sprache und Schwellenrituale als handlungsgebundene Bestimmungen von Räumlichkeiten lassen eine immanente Verschränkung der Begriffe von Raum und Zeit erahnen.41 7. Mauer Der Steingarten des ryōan-ji in Kioto ist wohl das bekannteste Beispiel japanischer Gartenkunst. Er gilt als der Idealtyp eines Trockengartens (karesansui) und ist als solcher Gegenstand zahlreicher Interpretationen und Forschungsarbeiten. Im Anschluss an die Analyse des „wandlosen“ Wohnhauses wird hier ein Element des Gartens genauer betrachtet werden – die den Steingarten umschließende Mauer. 7.1. Schnitt – Kontinuum Der japanische Philosoph Ryōsuke Ōhashi weist in seinem Buch über Schönheit in der japanischen Kultur zunächst darauf hin, dass die entscheidende ästhetische Funktion der 39 Shimada (1994), S. 128 40 Shimada (1994), S. 128 41 vgl. Gumbrecht (2005) Interkulturelle Topologie 15/21 Mauer nicht darin liege, einen perspektivischen Effekt im Garten zu erzielen. Vielmehr werde durch die den Steingarten umschließende Mauer die Landschaft im Hintergrund „geliehen“.42 Bei dieser als shakkei bezeichneten Gestaltungstechnik wird die Landschaft außerhalb des Gartens in die Komposition des Gartens einbezogen.43 Dabei ist entscheidend, dass die Steinmauer den Innenbereich zwar vom Außenraum trennt, die umgebende Landschaft aber dennoch sichtbar bleibt. Um dies zu erreichen wurde die Mauer nach Ōhashi entsprechend niedrig gehalten. In der Abgrenzung von natürlicher Welt und gestalteter Welt und der daraus folgenden paradoxen Figur der kontrastierten Kontinuität bildet die Mauer ein „Zwischen“. Ōhashi bezeichnet diese Struktur mit dem Begriff kire-tsuzuki (切) und übersetzt dies als ein „SchnittKontinuum“.44 Die Mauer „schneidet“ einerseits die Landschaft ab, indem sie sie ausgrenzt. Andererseits wird deren Wirkung in der Kontrastierung mit dem gestalteten Raum des Gartens verstärkt und über die gestaltete Fläche weitergeführt. Der Innenraum öffnet sich gewissermaßen gegenüber dem Außen. Im kire-tsuzuki „durchdringen sich einander entgegengesetzte Elemente bis ins Innere des jeweils Anderen und heben sich zur gleichen Zeit vollkommen voneinander ab.“45 Der Kontrast von Innen und Außen wird dadurch ästhetisch verstärkt.46 Nach Ōhashi sind alle japanischen Künste durch einen solchen Bruch im Sinne einer Verkürzung charakterisiert. Der Schnitt wird dabei in einem ritualisierten oder ästhetisierten Kontext vollzogen. Als „kontinuierlich“ begreift Ōhashi dabei die Verstärkung und vor allem die Weiterführung des Einen in der Kontrastierung mit dem Anderen. Schnitt und Kontinuum treten in dieser ästhetischen Figur simultan auf. Ein Kontinuum entsteht in diesem Sinne nicht durch das Fehlen einer Begrenzung sondern tritt gerade durch die Setzung einer Mauer hervor. Die Paradoxie dieses Begriffes Ōhashis kann nur damit erklärt werden, dass er sich den Übergang von Innenraum und Außenraum in Bezug auf den durch die Mauer gesetzten Schnitt als systematisch vorgängig vorstellt. In der retrospektiven Betrachtung erscheinen dann Schnitt und Kontinuum als synchron.47 42 Ōhashi (1994), S. 75 43 shakkei kann wörtlich als „lebend einfangen“ übersetzt werden (vgl. auch Nitschke (1993), S. 180). 44 Ōhashi (1994), S. 65ff. 切 – als kire gelesen bedeutet Schärfe eines Messers; Rest; Scheibe; Stück 45 Ōhashi (1994), S. 66 46 Ōhashi (1994), S. 65 47 Oosterling (2000), S. 73 Interkulturelle Topologie 16/21 Wie der, um das Wohnhaus verlaufenden engawa, als Zwischenraum von Wohnhaus und Umgebung, kommt auch der Außenmauer des Ryōan-ji eine zentrale Funktion räumlicher Strukturierung zu. Für Ōhashi hat „die Mauer [...] strukturell gesehen eine zentrale Bedeutung für den Steingarten, ja, bildet sogar das eigentliche Zentrum“.48 Das durch die Mauer hervortretende „Zwischen“ von Innenraum und Außenraum bezeichnet Ōhashi dabei als ma (間). 7.2. 間– ma ma ist zunächst eine weitere Lesart des Zeichens 間 wie es auch im Kompositum kūkan (空間)auftritt. Die umfangreichste monographische Arbeit zum Begriff ma aus europäischer Perspektive stammt von Günter Nitschke aus dem Jahr 1966.49 Der Text ist die erste intensive Beschäftigung eines europäischen Autors mit diesem Begriff. Für die verfügbaren Arbeiten zur Begriffsbestimmung stellt er die Referenz dar. Botz-Bornstein (2004), Ōhashi (1994) und Oosterling (2000) übernehmen den Begriff mehr oder weniger direkt von Nitschke. Dabei taucht insbesondere seine Übersetzung von ma als „japanese sense of place“ häufig auf.50 Was ist darunter zu verstehen? 7.2.1. Das Schriftzeichen Ein etymologischer Ansatz zum Bedeutungsfeld des kanji, ergibt sich aus der Analyse der bestimmbaren Untereinheiten, der Radikale, dieses Zeichens.51 間 hat neben kan und ma noch die weiteren Lesungen ken, aida. Es setzt sich aus zwei Radikalen zusammen: 門 und 日. Das größere der beiden Radikale (門) wird für sich genommen als mon gelesen und mit Tor, Tür oder Eingang übersetzt. Es kann als bildliche Darstellung der zwei Flügel einer Schwingtür interpretiert werden. Ursprünglich bezeichnete es nach Günter Nitschke das große Eingangstor eines buddhistischen Tempels.52 Das kleinere Radikal (日) wird als nichi gelesen und mit Sonne oder Tag übersetzt. Nach Nitschke bezeichnete es ursprünglich allerdings den Mond und wird auch heute als Suffix (-ka) für 48 Ōhashi (1994), S. 75 49 Nitschke (1966). Eine komplette Ausgabe der Zeitschrift Architectural Design ist diesem Thema und Nitschkes Arbeit gewidmet. 50 vgl. Oosterling (2000), Botz-Bornstein (2004) 51 Eine etymologische Bestimmung, erfolgt bei einem kanji, entsprechend seiner logographischen Verwendung, nach ideographischen Prinzipien und nicht nach seiner lautsprachlichen Entwicklung. 52 Nitschke (1966), S. 116 Interkulturelle Topologie 17/21 Monatstage verwendet. Nitschke interpretiert das Zeichen „wörtlich“ als das, zwischen den Türflügeln hindurch scheinende Mondlicht.53 7.2.2. Sprachlicher Kontext Um das Begriffsfeld zu verdeutlichen wollen wir exemplarisch einige Verwendungen des Zeichens betrachten. 切間 – kirema: Das Kompositum mit dem aus dem vorherigen Kapitel schon bekannten 切 – kire bedeutet Lücke, Pause und Unterbrechung. 梁間 – harima: Wörtlich zu übersetzen als ‚Balken-Spanne‘ (梁 – Tragebalken einer Holzkonstruktion) bezeichnet dieses Kompositum ein lineares Raummaß. 一時間 – ichijikan: Übersetzt als ‚eine Stunde‘ ist ichijikan ein lineares Zeitmaß. Neben der Verwendung im Kontext eines Raum- oder Zeitmaßes bietet das Kompositum 人間 – ningen noch eine interessante Perspektive. Es bezeichnet den Menschen im philosophischen Sinne (der Mensch, die Menschheit).54 Dabei steht das erste kanji 人 – nin für Mensch als Person, Charakter oder Persönlichkeit. Das Zeichen 間, als gen gelesen, bedeutet wiederum einen Zwischenraum. ningen bezieht sich also auf eine dynamische Sphäre der Zwischenräume und Vernetzungen. Der Mensch ist in diesem Sinne ein „Mensch zwischen“, und menschlich sein bedeutet daher eine relationale Existenz zu haben.55 Das Zeichen (間) tritt also in unterschiedlichen Bedeutungszusammenhängen wie Linie, Raum, Zeit und Mensch auf. Bemerkenswert ist dies vor allem im Vergleich mit den auf Latein gründenden europäischen Sprachen. Bei diesen gehen diese Bedeutungen auf jeweils eigene etymologische Entwicklungslinien zurück und zeigen keine vergleichbare sprachliche Verwandtschaft. 7.2.3. Dynamisches Intervall Der Architekt Arata Isozaki schreibt im Katalog, der von ihm 1979 kuratierten Ausstellung ma. Space-Time in Japan: „In Japanese, the concepts of space and time have been simultaneously expressed by the word ma. ma, defined by Iwanami´s Dictionary of Ancient Terms as „the natural distance between tow or more things existing in a continuity“ or „the 53 Ebd. 54 Nitschke (1966), S. 152 55 Botz-Bornstein (2004), S. 118 Interkulturelle Topologie 18/21 space delineated by posts and screens (rooms)“ or „the natural pause or interval between two or more phenomena occuring continuously,“ gives rise to both spatial and temporal formulations. Thus the word ma does not describe the West´s recognition of time and space as different serializations. Rather, in Japan, both time and space have been measured in terms of intervals. Today´s usage of the word ma extends to almost all aspects of Japanese life – for ma is recognized as their foundation. Therefore architecture, fine arts, music, and drama are all known as the art of ma.“56 Die Vorstellung, die Isozaki in dieser Begriffsbestimmung zum Ausdruck bringt, verweist auf einen dynamischen Aspekt, der in allen bisher betrachteten Topologien zu wiederzufinden ist. Sowohl bei der Definition räumlicher Schwellen durch ritualisierte Handlungen und Sprache, als auch in der ästhetischen Praxis räumlicher Verkürzung bei der Gartengestaltung werden die entscheidenden Strukturen durch raum-zeitliche Intervalle geschaffen. ma lässt sich in diesem Sinne als eine grundlegende Figur der untersuchten räumlichen Strukturierungen in Japan ausmachen. Entscheidend ist, dass die geschaffenen Räume nicht „leer“ sind. Ein „leerer Raum“ ist ein abgeschlossener Raum, eine Umgrenzung ohne ein „geliehenes Außen“, ein Zwischenraum ohne Dynamik. Es ist ein Raum der durch seine Begrenzungen geschaffen wird (extensio).57 ma hingegen hat einen selbst-genügsamen und selbst-produzierenden Charakter.58 ma ist ein dynamisches Intervall. 8. Anschlüsse Auch in der westlichen Philosophie gibt es natürlich Ansätze, eine Verschränkung von Raum und Zeit zu denken.59 Doch geht dieses Denken dabei in der Regel von zwei Kategorien aus.60 Interessant ist am Japanischen Begriff ma, dass sich in ihm eine Vorstellung ausdrückt, die eine solche kategorische Trennung unterläuft oder überwindet – jedenfalls nicht aufweist. Gelänge es, den Begriff nicht nur zu bestimmen, sondern tatsächlich in einen philosophischen Kontext „hinüber zu setzen“ hätte dies unter Umständen erschütternde Konsequenzen für die 56 Isozaki (1979), S. 3 57 Oosterling (2000), S. 73 58 Botz-Bronstein (2004), S. 117 59 vgl. Isozaki (1979), S. 3: „This concept is strangely contemporary, as it coincides with present day theories that equate space and time.“ 60 Gegenbeispiele wären in Bachtins Begriff des „Chronotopos“ oder Deleuze/Guattaris „Ritornell“ zu finden. Interkulturelle Topologie 19/21 westliche Metaphysik.61 Von eben solch einer Bewegung träumt Roland Barthes wenn er schreibt: „Ein Traum: eine fremde Sprache kennen und sie dennoch nicht verstehen: in ihr die Differenz wahrnehmen, ohne dass diese Differenz freilich jemals durch die oberflächliche Sozialität der Sprache, durch Kommunikation oder Gewöhnlichkeit eingeholt und eingeebnet würde; in einer neuen Sprache positiv gebrochen, die Unmöglichkeiten der unsrigen erkennen; die Systematik des Unbegreifbaren erlernen; unsere „Wirklichkeit“ unter dem Einfluss anderer Einteilungen, einer anderen Syntax auflösen; unerhörte Stellungen des Subjekts in der Äußerung entdecken, deren Topologie verschieben; mit einem Wort ins Unübersetzbare hinabsteigen und dessen Erschütterung empfinden [...].“62 Auch außerhalb der Sprache hat dieser Traum große Aktualität. Denn wenn Kultur als Kulturraum verstanden wird, dann ließe sich aus der Topologie des Begriffes ma vielleicht eine Haltung gewinnen, mit der „anderen“, „fremden“ Kulturen begegnet werden kann. Wie eine solche Begegnung aussehen könnte muss in einer weiteren Arbeit untersucht werden.63 61 vgl. Heideggers Begriff der Übersetzung: Eine Gesellschaft versucht sich durch Aneignung neuer Begriffe in einen neuen Zustand hinüber-zu-setzen. Heidegger versteht dies als einen „Sprung über einen Graben“ (vgl. Heidegger, Martin (1977) Holzwege, Frankfurt/M.) 62 Barthes (1970), S. 17ff: Die unbekannte Sprache. 63 Henk Oosterlings Aufsatz „A culture of the ‚Inter‘, Japanese Notions of ma and basho“, Oosterling (2000), ist bereits eine wichtige Referenz für einen solchen Ansatz. In dieser Arbeit verbindet er Kants sensus communis und den Begriff ma, um damit ein ‚inter‘ im ‚interkulturellen‘ Austausch neu zu bestimmen. Interkulturelle Topologie 20/21 Bibliographie Barthes, Roland (1970): L´empire des signes, Das Reich der Zeichen, Aus dem Französischen von Michael Bischoff, Frankfurt am Main, Suhrkamp 1981 Berque, Augustin (1994): Tokyo – Stadt der Teilordnungen. In: Archplus, Nr. 123, S. 24ff Bosslet, Klaus; Schneider, Sabine (1990): Ästhetik und Gestaltung in der japanischen Architektur. Des traditionelle Wohnhaus. Düsseldorf, Werner Botz-Bornstein, Thorsten (2004): Place and Dream, Japan and the Virtual. Amsterdam – New-York, Rodopi Elberfeld, Rolf (1999): Kitarō Nishida (1870 – 1945), Das Verstehen der Kulturen, Moderne japanische Philosophie und die Frage nach der Interkulturalität. Amsterdam – Atlanta, Rodopi Geipel, Kaye (1994): Tradition der kurzen Dauer. Zur Frage der Identität in der japanischen Stadtentwicklung. In: Archplus, Nr. 123, September 1994, S. 35ff Gumbrecht, Hans Ulrich (2005): Die Innenwelt der Außenwelt der Innenwelt. Über den Totalitätsanspruch des Raumes in der japanischen Kultur. In: Neue Zürcher Zeitung, 10.01.2005 Günzel, Stephan (2005): Philosophie und Räumlichkeit. In: Handbuch Sozialraum, hrsg. von Fabian Kessl, Christian Reutlinger, Susanne Maurer und Oliver Frey, Wiesbaden: VS-Verlag 2005 Hadamitzky, Wolfgang (2001): Langenscheidts Großwörterbuch Japanisch-Deutsch, Zeichenwörterbuch. München, Langenscheidt Huber, Joachim (2002): Urbane Topologie – Architektur der randlosen Stadt. Weimar, Universitätsverlag der Bauhaus-Universität Isozaki, Arata (1979): Space-Time in Japan – MA. In: MA Space-Time in Japan, Cooper-Hewitt Museum, New York. Jinnai, Hidenobu (1985): Tokyo, a spatial anthropology. Erschienen als: Tokyo no kukan jinruigaku (1985), Ins Englische übersetzt von Kimiko Nishimura, Berkley; Los Angeles: University of California Press (1995). Kimmerle, Heinz (2002): Interkulturelle Philosophie zur Einführung, Hamburg, Junius-Verlag Klauser, Wilhelm (1994): Bewegliche Stadt. In: Archplus, Nr. 123, September 1994, S. 29ff McClain, James; Merriman, John; Kaoru, Ugawa [Hrsg.] (1994): Edo and Paris: urban life and the state in the early modern era. Cornell: Cornell University Press Nitschke, Günter (1966): Ma. The Japanese Sense of Place. In: Architectural Design, Volume XXXVI, März 1966. London, The Standard Catalogue Nitschke, Günter (1979): En- Transactional Space. In: From Shinto To Ando. Studies in architectural anthropology in Japan. London: Academy Editions (1993) Interkulturelle Topologie 21/21 Nitschke, Günter (1993): Japanische Gärten. Rechter Winkel und natürliche Form. Köln, Taschen Ōhashi, Ryōsuke (1994): Kire: das „Schöne“ in Japan; philosophisch-ästhetische Reflexionen zu Geschichte und Moderne. Aus dem Japanischen von Rolf Elberfeld, Köln, DuMont Oosterling, Henk (2000): A culture of the ‚Inter‘, Japanese Notions of ma and basho, in: Heinz Kimmerle/Henk Oosterling (Hrsg) (2000): Sensus communis in Multi- and Intercultural Perspective, On the Possibility of Common Judgements in Arts and Politics, Würzburg, Königshausen & Neumann Shimada, Shingo (1994): Grenzgänge – Fremdgänge: Japan und Europa im Kulturvergleich. Frankfurt/Main; New York: Campus Theisen, Bianca (2000): Chaos – Ordnung. In: Ästhetische Grundbegriffe: historisches Wörterbuch in sieben Bänden / hrsg. von Karlheinz Barck... – Stuttgart; Weimar: Metzeler.