Dr. Götz Fabry Vorlesung Medizinische Psychologie 09.01.2008: Emotionen – Scham Obwohl die Scham als eines der stärksten, unangenehmsten und möglicherweise auch destruktivsten menschlichen Gefühle angesehen wird, kam ihr lange Zeit innerhalb der Emotionstheorien nur eine untergeordnete Bedeutung zu. Vermutlich hängt das damit zusammen, dass die Scham im Gegensatz zu Emotionen wie Angst oder Trauer einige Besonderheiten aufweist: Scham empfinden zu können, ist vermutlich eine exklusive Fähigkeit des Menschen, Tiere sind nach heutigem Wissensstand dazu nicht in der Lage. Das Schamgefühl entwickelt sich ontogenetisch relativ spät, weil dazu bestimmte kognitive Voraussetzungen notwendig sind, um die für das Schamerleben notwendigen Bewertungsprozesse überhaupt vollziehen zu können. Auslöser für Scham sind weit weniger objektivierbar, als es die für andere Gefühle (Trauer – Verlust, Angst – Bedrohung) sind, weil der individuellen Wahrnehmung und Bewertung weit mehr Bedeutung zukommt, als bei allen anderen Emotionen. Der körperliche Ausdruck schließlich umfasst mehr als bei anderen Emotionen Gestik und Körperhaltung, die Mimik tritt demgegenüber eher in den Hintergrund. Die Auslöser für Scham können außerordentlich vielfältig sein. Die Verletzung der Intimsphäre, etwa als Blick auf den entblößten Körper, stellt gewissermaßen den Prototypen der Schamauslöser dar (wie er auch in der biblischen Schöpfungsgeschichte, als einem für unsere Kultur zentralen Mythos zum Ausdruck kommt). Die Tatsache, dass zahlreiche soziale Bereiche potentielle Schamauslöser bereithalten wird aus ethologischer Sicht erklärt durch die große Bedeutung, welche die soziale Gruppenbildung und Hierarchisierung für Menschen hat. Demnach wäre die Scham einerseits eine Signal nach innen, das schmerzlich bewusst macht, dass gegen Konventionen und Regeln verstoßen wurde. Nach außen signalisiert die Scham aber gleichzeitig, dass genau diese Bewusstwerdung vor sich geht und eine Bestrafung des Normenverstoßes nicht mehr notwendig ist. Die Scham steht somit, wie andere ähnlich auf das soziale Zusammenleben bezogene Gefühle, im Dienst der Moral (Folie 1). Folie 1 Emotionen im „Dienst“ der Moral: Scham, Schuld, Verlegenheit & Stolz • Objekt: das „Selbst“ • Auslöser: Selbst-Reflexion, Selbst-Bewertung • „Barometer“ für unsere soziale und moralische Akzeptierbarkeit • können sich auf vergangenes, aktuelles & zukünftiges Verhalten beziehen • unmittelbar wirksame Belohnung/Bestrafung für Verhalten Folie 2 verdeutlicht anhand des bereits bekannten Schemas (vgl. die einführende Vorlesung zum Thema Emotionen) wie diese Emotionen ihre moralbezogene Wirkung im Handlungsvollzug entfalten können. Besonders wichtig ist ihre Wirkung in der Wahl- und Planungsphase von Handlungen: Scham und Schuld zu vermeiden ist nämlich ein wichtiger Anreize für leistungsorientiertes Verhalten im weitesten Sinn und damit ein Garant für regelkonformes Verhalten. © Dr. Götz Fabry, Abteilung für Medizinische Psychologie, Freiburg. www.medizinische-psychologie.de 1/10 Folie 2 Funktion von Emotionen Motivation, Handlungsregulation Wählen Wollen Lust, Unlust, Langeweile,... Vorfreude, Lust, Angst,... Vermeiden von: Schuldgefühlen, Blamage, Kritik, ... Antizipieren von: Anerkennung, Akzeptanz, Lob, Geltung, ... Streben nach: Achtung, Respekt, Ansehen, ... Handeln Bewerten Spaß, Freude, Ärger, Frust, ... Befriedigung, Stolz, Scham, Schuldgefühle, Verlegenheit, ... Wie aus Folie 3 hervorgeht, finden sich in unserer Sprache zahlreiche Begriffe, die unmittelbar oder indirekt mit der Scham verbunden sind. Deutlich wird, dass Scham offensichtlich ein Phänomen der Interaktion ist, für das sowohl das Merkmal oder die Reaktion des sich Schämenden (Verschämtheit, Schamhaftigkeit, aber auch: Schamlosigkeit) von Bedeutung sein kann, als auch das Verhalten des „Beschämers“, der die Scham durch sein möglicherweise unverschämtes Verhalten auslöst. Wichtig ist auch die Nähe aber doch wesenhafte Verschiedenheit zu Begriffen, die eher dem Wortfeld der Schuld zugeordnet werden können (siehe unten) Folie 3 Schuld Unsicherheit Schmach Schande Beklemmtheit Schamhaftigkeit Befangenheit Sich-Zieren Verschämtheit Scham Unverschämtheit Schamlosigkeit Sprödigkeit Scheu Schüchternheit Verlegenheit Betretenheit Peinlichkeit Sich-Genieren Warum ist es wichtig, sich während des Medizinstudiums mit Scham auseinander zu setzen? Scham ist im klinischen Alltag ein ubiquitär und häufig auftretendes Gefühl (Folie 4). Von Patienten wird während der Anamnese erwartet, dem Arzt über Details ihres Lebens Auskunft zu geben, von denen sie sonst vielleicht niemandem erzählen würden. Man erwartet außerdem von ihnen, sich für die körperliche Untersuchung vollständig zu entkleiden, sich also zu entblößen und damit auch diejenigen Stellen ihres Körpers vorzuzeigen, die normalerweise dem Blick anderer verborgen sind. Manche Untersuchungen dringen noch weiter in die Intimsphäre vor, etwa wenn mit speziellen Apparaturen durch die verschiedenen Öffnungen in den Körper des Patienten geblickt wird z.B. bei einer Magenspiegelung, bei einer Darmspiegelung oder bei der vaginalen Untersuchung des Gynäkologen. Es braucht nicht viel Phantasie, um sich auszumalen, dass diese Vorgänge Scham hervorrufen können, weil z.B. Befürchtungen bestehen, dass mit dem eigenen Körper etwas nicht in Ordnung ist, dass er nicht so ist, wie er sein sollte. Solche Befürchtungen können sich auf Form und Größe bestimmter Körperpartien beziehen oder auf das Erscheinungsbild des Körpers insgesamt, womit auch Befürchtungen, den Körper © Dr. Götz Fabry, Abteilung für Medizinische Psychologie, Freiburg. www.medizinische-psychologie.de 2/10 nicht ausreichend gepflegt oder gereinigt zu haben, verbunden sein können. (In übersteigerter, pathologischer Form treten solche Befürchtungen beim Krankheitsbild der sogenannten „Dysmorphophobie“ auf (wörtlich: Angst, einen unförmigen Körper zu haben), bei der die Patienten an der nicht zu korrigierenden Überzeugung leiden, ein Körperteil (z.B. die Nase, der Penis) habe die falsche Größe, sei besonders hässlich, unförmig oder missgestaltet. Auch bei den Essstörungen spielen solche Ängste und Befürchtungen und natürlich auch Schamgefühle eine große Rolle: die Wahrnehmung des eigenen Körpers ist gestört, er wird trotz erheblichen Untergewichts immer noch als zu dick empfunden.) Auch bestimmte Diagnosen (AIDS, Krebs, Schizophrenie, etc.) können Scham hervorrufen, weil sie den Betroffenen gesellschaftlich stigmatisierten Gruppen zuweisen. Zahlreiche Auslöser von Schamgefühl sind mit der Institution Krankenhaus verbunden, wo zahlreiche sonst intime Details des Alltags öffentlich verhandelt werden (Stuhlgang, Wasserlassen, etc.), wo die eigene Körperlichkeit in ungewöhnlich direkter Weise auch den Zimmergenossen zugemutet werden muss (mit allen sonst vermiedenen Gerüchen, Geräuschen und Anblicken) und wo die Privatsphäre insgesamt stark eingeschränkt ist. Folie 4 Scham in der Medizin • Anamnese: Fragen nach intimen Details des Privatlebens (z.B. Sexualanamnese, Genußmittel, Beziehungen) • körperliche Untersuchung: Entblößung, Inspektion schambesetzter Regionen • diagnostische Eingriffe: Endoskopie, Blasenkatheterisierung, Operation • Diagnose: soziokulturelle Wertungen (Stigmatisierung) • als Bestandteil von Krankheiten/Störungen • therapeutische Maßnahmen • in der Institution Krankenhaus: Wegfall der Intimsphäre, Kontrolle der Ausscheidungen.... • auf Seiten des Arztes. Nicht vergessen werden sollte schließlich, dass auch Schamgefühle auf Seiten des Arztes großen Einfluss auf die Arzt-Patient-Beziehung haben. So kann die Tatsache, dass in Gesprächen zwischen Arzt und Patient die Sexualität selten zum Thema gemacht wird, auch darauf zurückzuführen sein, dass es dem Arzt unangenehm ist, dieses Thema anzuschneiden, z.B. deshalb, weil er sich nicht kompetent genug fühlt. Versagen und Misserfolg können ebenfalls Quellen von Scham sein, vor allem dann, wenn gleichzeitig ein hoher Leistungsanspruch besteht. Folie 5 informiert über die verschiedenen Elemente der Schamreaktion im Erleben und Verhalten. Ein Charakteristikum der Schamreaktion, mit dem sie sich deutlich von anderen Emotionen unterscheidet, ist der intensive Drang, die Schamreaktion ungeschehen zu machen bzw. zu beenden, sie zumindest aber zu begrenzen, was in der die Scham begleitende Mimik und vor allem Gestik zu Ausdruck kommt (und praktisch nie zum Erfolg führt, sondern eher das Gegenteil bewirkt). © Dr. Götz Fabry, Abteilung für Medizinische Psychologie, Freiburg. www.medizinische-psychologie.de 3/10 Folie 5 Scham Erleben: Überfallenwerden, Überraschtwerden, Verlust der Geistesgegenwart, Gelähmtsein, Verwirrtheit, Verlust der Selbstkontrolle Unfähigkeit, Unzulänglichkeit, Hilflosigkeit, Schwäche, Machtlosigkeit, Minderwertigkeit, Lächerlichkeit, Demütigung, Gekränktheit Verhalten: Versuch den Schamausdruck zu unterdrücken, zu verdrängen, zu kontrollieren, zu beenden; die Situation zu überspielen Ärger über sich selbst, Wut auf den Beschämer, offene Aggression Physiologie: Mimik, Gestik: Erröten, gesenkte Körperhaltung, Zusammensacken, Sich-Kleiner-Machen, Bedecken oder Verstecken des Gesichts, Blickkontakt vermeiden oder abbrechen, sich verstecken verbal: Stottern, Verstummen, verlegenes Lachen Wie der interkulturelle Vergleich zeigt, sind Scham- oder Verlegenheitsgesten offensichtlich weltweit in sehr ähnlicher Form anzutreffen, was für eine genetische Verankerung dieses Verhaltens spricht. Diese Feststellung führt vor dem Hintergrund der Evolutionsbiologie unmittelbar zu der Frage, welchen Selektionsvorteil die Fähigkeit, Scham zu empfinden, mit sich bringt. Scham wird offensichtlich in zwei Richtungen wirksam: für das sich schämende Individuum und für die Bezugsgruppe. Insofern ist es sinnvoll individuelle und kollektive Funktionen der Scham zu unterscheiden (Folie 6). Jemand, der sich schämt, vermag offensichtlich empathische Reaktionen auszulösen, die von Gefühlen des Mitleids und der Hilfsbereitschaft bis hin zu „induzierten“ Schamgefühlen reichen können und die auf der Verhaltensebene Unterstützung mobilisieren, um z.B. die verletzte Privatsphäre wiederherzustellen (selbstbewahrende Funktion). Die als hochgradig aversiv erlebte Scham hat aber auch einen motivierenden Effekt nach innen (selbsterweiternde Funktion) und erfüllt damit zugleich eine wichtige kollektive Funktion: um Scham zu vermeiden, verhalten sich die Mitglieder einer Gruppe möglichst in Übereinstimmung mit Regeln und Normen (der Gruppenmoral), die Schamvermeidung wird also im Sinne einer negativen Verstärkung wirksam. Folie 6 Funktionen der Scham • individuell: – selbstbewahrende Funktion: Schutz der individuellen und familiären Privatsphäre – selbsterweiternde Funktion: Motivation zur Leistung (Schamvermeidung v.a. bei Mißerfolgsscham) • kollektiv: – Selbstkontrolle im Hinblick auf Gruppennormen – Regulation des moralischen Handelns – normativer Einfluß der Gruppe auch ohne direkte Sanktion In diesem Zusammenhang ist die bereits angesprochene Unterscheidung zwischen Scham und Schuld wichtig (Folie 7 + 8). Beide Gefühle treten zwar als Folge von Normverstößen auf, die Konsequenzen für das Verhalten und Empfinden sind aber jeweils andere. Zur Abgrenzung wurde unter anderem vorgeschlagen, Scham als Reaktion auf eine globale, Schuld dagegen als Reaktion auf eine spezifische Misserfolgsattribution zu verstehen: Ich schäme mich, weil ich ein schlechter Mensch bin, fühle mich dagegen schuldig, weil ich zum Zeitpunkt X versäumt habe Y zu tun. (Zur Erinnerung: als © Dr. Götz Fabry, Abteilung für Medizinische Psychologie, Freiburg. www.medizinische-psychologie.de 4/10 Attribution versteht man die Zuschreibung der Urheberschaft bzw. Verantwortung für einen Erfolg, bzw. Misserfolg aus Sicht des Individuums.) Entsprechend lösen Schuldgefühle eher konstruktive Reaktionen aus, die darauf gerichtet sind, den Schaden wieder gut zu machen, während Schamgefühle wesentlich destruktiver sind und weitere negative Gefühle bis hin zu aggressiven Impulsen induzieren können. Diese Unterscheidung wird durch empirische Studien gestützt, in denen der Zusammenhang zwischen der Neigung, eher Schuld- bzw. eher Schamgefühle zu empfinden, mit deliquentem bzw. Risikoverhalten untersucht wurde (Folie 8). Auch hier zeigen sich die eher konstruktiven Auswirkungen von Schuld- und die eher destruktiven Auswirkungen von Schamgefühlen. Folie 7 Scham & Schuld Schuld: Scham: • Bewertung der Folgen des eigenen Verhaltens für andere (spezifisch) • Bewertung der eigenen Person durch andere (global) • Fokus: nach außen • Fokus: nach innen • fördert konstruktive Wiedergutmachung • fördert Verteidigung, Rückzug, Abstand, Trennung • fördert Empathie • vermindert Empathie • Neigung zu Externalisierung von Schuld, Feindseligkeit, Zorn, Wut, Aggression Tagney et al. 2007 Folie 8 Scham & Schuld Auswirkungen auf Verhalten Neigung zu Schuldgefühlen negativ korreliert mit: Neigung zu Schamgefühlen positiv korreliert mit: • delinquentem Verhalten bei Jugendlichen • Risikoverhalten im Bezug auf Drogen und Sex (prospektiv Kinder Jugendliche; Studenten) • Rückfälligkeit von Strafgefangenen (1 Jahr nach Entlassung). • risikoreichem Fahr- und Sexualverhalten, Alkohol- & Drogenkonsum (prospektiv Kinder Jugendliche) • Genußmittelgebrauch & Mißbrauch (Erwachsene). Tagney et al. 2007 Aus dem bisher Gesagten ist deutlich geworden, dass bestimmte Voraussetzungen erfüllt sein müssen, um überhaupt Scham empfinden zu können. Welche Voraussetzungen das im einzelnen sind, ist durchaus umstritten und so herrscht auch keine Einigkeit darüber, in welchem Alter frühestens mit dem Auftreten von Schamgefühlen gerechnet werden kann (Folie 9). Als frühester Zeitpunkt wurde das Auftreten der Fremdenangst („fremdeln“) zwischen dem vierten und achten Monat benannt, wo gestische Verhaltensweisen auftreten (Blick abwenden, sich verstecken, etc.) die Schamgefühle nahe legen könnten. Andere Autoren nennen als kritischen Zeitpunkt das Alter von 18 Monaten, wenn das Kind erstmalig in der Lage ist, sein eigenes Spiegelbild zu erkennen und damit ein Selbstkonzept aufbauen kann („das bin ich“). Spezifische Formen von Scham (z.B. Misserfolgsscham) treten aber vermutlich noch später auf, weil sie nicht nur das Bewusstsein für Normen voraussetzen, sondern auch ein Konzept der eigenen Leistungsfähigkeit. Wie aus der Motivationsforschung bekannt ist, sind solche Fähigkeiten nicht vor dem dritten oder vierten Lebensjahr vorhanden. Noch später wird von © Dr. Götz Fabry, Abteilung für Medizinische Psychologie, Freiburg. www.medizinische-psychologie.de 5/10 manchen Autoren das Auftreten von sexueller Scham angenommen, die demnach erst mit der Vorpubertät zur vollen Ausprägung gelangt. Folie 9 Ontogenese der Scham 2 3 Fremdenangst (4.-8. Monat) 4 9 Jahre kognitive, motivationale Reifung (36 - 48 Monate) Selbstkonzept (18 Monate) Sexuelle Scham (9 Jahre) Scham, Schüchternheit Schuld Von den vielfältigen medizinrelevanten Aspekten der Schamreaktion sollen nachfolgend zwei näher betrachtet werden: zum einen der Einfluss von Schamgefühlen auf gesundheitsrelevantes Verhalten, zum anderen die direkten Auswirkungen der Schamreaktion auf gesundheitsrelevante physiologische Parameter. Sexuell übertragbare Infektionen können bei den davon Betroffenen besonders leicht Schamgefühle auslösen. Folie 10 zeigt die Ergebnisse einer Studie, mit der untersucht wurde, inwieweit das Wissen darüber, dass eine bestimmte Infektion sexuell übertragbar ist, das Ausmaß der damit verbundenen Schamgefühle beeinflusst. Dazu wurden Studentinnen gebeten, sich vorzustellen, sie seien von einer Infektion mit einem Humanen Papillomvirus (HPV) betroffen, einem außerordentlich häufigen, sexuell übertragbaren Virus, das sowohl gutartige Wucherungen (Genitalwarzen) hervorrufen kann als auch als Risikofaktor für Karzinome gilt. Folie 10 Stigma, Scham & STDs Bsp. HPV Kenntnisstand Stigma („Menschen würden mich vermeiden.“) Scham („ziemlich“/„stark“) Keine Kenntnisse HPV Übertragung HPV Prävalenz HPV Übertr. & Präv. 15.9 14.7 6.6 11.4 15.9 27.3 9.9 21.5 N=811 Studentinnen, % Zustimmung Waller et al. 2007 Hinsichtlich des Informationsstandes wurden vier Gruppen gebildet: eine Gruppe, die weder über den Übertragungsweg noch über die Häufigkeit der Infektion informiert war, eine zweite Gruppe, die nur den Übertragungsweg, nicht aber die Häufigkeit kannte, eine dritte Gruppe, die über die Häufigkeit, nicht aber über den Übertragungsweg informiert war und schließlich eine vierte Gruppe, die sowohl den Übertragungsweg, als auch die Häufigkeit der Infektion kannte. Wie die Zahlen zeigen, fallen die Reaktionen im Hinblick auf Scham und befürchtete Stigmatisierung in Abhängigkeit vom © Dr. Götz Fabry, Abteilung für Medizinische Psychologie, Freiburg. www.medizinische-psychologie.de 6/10 Informationsstand unterschiedlich aus. Die stärkste Schamreaktion findet sich in der Gruppe, die nur weiß, dass es sich um eine sexuell übertragbare Erkrankung handelt, die schwächste Schamreaktion in der Gruppe, die nur über die Häufigkeit Bescheid weiß. Eine Infektion von der viele Menschen betroffen sind, löst offensichtlich weniger Schamgefühle aus. Solche Erkenntnisse sind insofern von Bedeutung, als die Angst vor Stigmatisierung und das Vermeiden von damit verbundenen Schamgefühlen wichtige Hindernisse sein können, präventive Maßnahmen in Anspruch zu nehmen. Das macht auch die in Folie 11 gezeigte Folie deutlich. Von den dort befragten homo- und bisexuellen Männern mit negativem HIV-Test gab eine große Mehrheit an, Angst vor einer gegen sie gerichteten Verwendung der Testergebnisse zu haben. Unter den Befragten mit besonders hohem Ansteckungsrisiko durch ungeschützten Analverkehr hatten drei Viertel diese Befürchtung. Abgesehen von der Tatsache, dass solche Befürchtungen nicht von der Hand zu weisen sind, dass also die Angst vor Stigmatisierung durchaus berechtigt sein kann, wird besonders deutlich, wie deren Vermeidung unmittelbar gesundheitsrelevante Folgen für die Betroffenen selbst und – durch die Möglichkeit weiterer Ansteckungen – auch für andere hat. Folie 11 Angst vor Stigmatisierung & HIV N=2593 schwule & bisexuelle Männer 184 HIV-Test neg. aber ungeschützter AV 598 niemals HIV-Test „Ich befürchte, daß die Testergebnisse gegen mich verwendet werden könnten.“ (59,1% bzw. 74,1%) Stall et al. 1996 In eine ähnliche Richtung weisen die in Folie 12 dargestellten Studienergebnisse zum Ausmaß der Verlegenheitsreaktion im Umgang mit Kondomen. Dazu wurden Jugendliche gebeten, ihre Verlegenheit in verschiedenen Situationen einzuschätzen. Hier zeigte sich, dass die meisten der Befragten, den Kauf von Kondomen als die Situation einschätzen, die am meisten Verlegenheit hervorruft. Folie 12 Verlegenheit & Kondome % der Befragten mit Verlegenheit (Skalenwerte > 3/7) Kauf dabeihaben aufbewahren benutzen entsorgen N=497 Jugendliche Moore et al. 2006 © Dr. Götz Fabry, Abteilung für Medizinische Psychologie, Freiburg. www.medizinische-psychologie.de 7/10 Die weiteren Ergebnisse der Studie (Folie 13) zeigten darüber hinaus, dass Personen, die Kondome in Verlegenheit bringen, seltener Kondome kaufen und diese auch seltener benutzen. Im Gegensatz dazu benutzen Personen, die häufiger Kondome kaufen, diese auch häufiger. Insgesamt konnte bei jugendlichen Frauen (jünger als 19 Jahre) das Ausmaß der Verlegenheit beim Kondomkauf am besten voraussagen, wie häufig diese Kondome benutzen. Auch dieses Beispiel zeigt, dass Scham bzw. Verlegenheit hier dazu führt, präventives Verhalten zu beeinträchtigen. Außerdem legen die Ergebnisse nahe, dass die Häufigkeit, mit der Jugendliche Kondome benutzen, vergrößert werden kann, wenn sie leichteren Zugang dazu haben (und sie nicht erst unter großer Verlegenheit kaufen müssen). Folie 13 Verlegenheit & Kondome • Personen, die Kondome in Verlegenheit bringen... – kaufen seltener Kondome – haben seltener Kondome dabei – haben weniger Kondome vorrätig • Personen, die mehr Kondome kaufen benutzen sie auch häufiger • Scham beim Kondomkauf: direkter Prädiktor für Häufigkeit der Kondombenutzung bei Frauen < 19 Jahre Moore et al. 2006 Scham hat aber nicht nur auf der Verhaltensebene Auswirkungen auf die Gesundheit. Viel unmittelbarer machen sich die physiologischen Aspekte der Schamreaktion im Hinblick auf das Immunsystem bemerkbar. Folie 14 verdeutlicht unter Rückgriff auf das in der Vorlesung zum Thema Stress dargestellte einfache psychophysiologische Modell, wie die Interpretation bestimmter sozialer Stressoren zu einer Schamreaktion führt, die zum einen zu einer Aktivierung des Hypophysen-NebennierenrindenSystems führt, zum anderen aber auch mit der Aktivierung von Zellbotenstoffen (sog. Cytokinen) einhergeht, welche die Immunantwort beeinflussen. Folie 14 Scham als Stressor psychoneuroimmunologische Auswirkungen Scham soziale Bewertung, Kontrollverlust: Gefährdung des sozialen Selbst Wahrnehmung + Bewertung • Aktivierung des Hypophysen-NNRSystems: Cortisol • Aktivierung proinflammatorisch wirksamer Cytokine (TNFα, IL-6, IL-1β) Welche Konsequenzen diese immunologischen Prozesse haben, zeigt Folie 15 am Beispiel der HIVInfektion. Auch hierbei handelt es sich um eine sexuell übertragbare Erkrankungen, die zudem in den westlichen Industrienationen überwiegend homosexuelle Männer betrifft. Beide Aspekte können Schamgefühle auslösen, denn trotz zunehmender gesellschaftlicher Akzeptanz einer homosexuellen © Dr. Götz Fabry, Abteilung für Medizinische Psychologie, Freiburg. www.medizinische-psychologie.de 8/10 Orientierung, gibt es nach wie vor gesellschaftliche Bereiche, in denen Homosexuelle Vorurteile und Diskriminierung erfahren. Die Ergebnisse der dargestellten Studien zeigen, dass die Erkrankung bei Personen, die eher zu Scham- oder Schuldgefühlen neigen bzw. empfindlicher auf solche soziale Zurückweisung reagieren, einen ungünstigeren Verlauf nimmt. (Als wichtigster Parameter wurde die Zahl der CD-4 Zellen bestimmt, die direkt durch das HI-Virus befallen werden und zugleich von zentraler Bedeutung für das Immunsystem sind. Je weniger CD-4 Zellen vorhanden sind, desto schlechter ist der Immunstatus und umso größer ist die Gefahr von Folgeerkrankungen z.B. Infektionen, bösartigen Tumoren, etc.). Die in Folie 14 dargestellten psychoneuroimmunologischen Zusammenhänge könnten diese Befunde erklären. Folie 15 HIV / AIDS & Scham psychoneuroimmunologische Befunde • longitudinale Studie (9J): Personen mit höherer Empfindlichkeit für soziale Zurückweisung aufgrund von Homosexualität: – schnellerer CD-4 Abfall und Progression zu AIDS – im Schnitt 2 Jahre kürzere Überlebenszeit • HIV-positive schwule & bisexuelle Männer, die zu Selbstvorwürfen neigen: schnellerer CD-4 Abfall als Vergleichsgruppe über 1½ Jahre • HIV-positive schwule & bisexuelle Männer: – anhaltende Scham- und Schuldgefühle bezüglich HIV: gute Vorhersagbarkeit des CD-4 Abfalls über 7 Jahre Dickerson et al. 2004 Insgesamt zeigt sich also, dass Scham einerseits eine wichtige Funktion für das menschliche Zusammenleben hat, indem sie auf der einen Seite den Schutz der Intimsphäre und auf der anderen Seite die Einhaltung bestimmter für das Zusammenleben wichtiger Normen sicherstellt. Zum Problem wird sie dann, wenn ihre Vermeidung zu Verhalten führt, dass dem Individuum zumindest potentiell schaden kann (Bsp. Prävention). Kritisch ist zudem, dass Scham ein starker Stressor mit ungünstigen Folgen für den Organismus ist (Folie 16). Folie 16 take-home-message • Funktion von Scham: Schutz & Kontrolle im Dienst des menschlichen Zusammenlebens • Ontogenetisch relativ spät • Schaminduktion in der Medizin vielfältig • Scham als starker Stressor mit negativen psychoneuroimmunologischen Auswirkungen. Literaturhinweise: Gilbert P: The evolution of social attractiveness and ist role in shame, humiliation, guilt and therapy. British Journal of Medical Psychology 1997; 70: 113-147. © Dr. Götz Fabry, Abteilung für Medizinische Psychologie, Freiburg. www.medizinische-psychologie.de 9/10 Kühn R, Raub M, Titze M (Hrsg.): Scham – ein menschliches Gefühl. Opladen 1997. Lewis M: Self-conscious emotions: embarrassment, pride, shame, and guilt. In: Lewis M, Haviland JM (ed.): Handbook of emotions. New York 1993: 563-573. Waller J, Marlow LAV, Wardle J: The association between knowledge of HPV and feelings of stigma, shame ans anxiety. Sexually Transmitted Infections 2007; 83: 155 – 159. Moore SG, Dahl DE, Gorn GJ, Weinberg CB: Coping with condom embarrassment. Psychology, Health & Medicine 2006; 11(1): 70 – 79. Dickerson SS, Gruenewald TL, Kemeny ME: When the social self is threatened: Shame, Physiology and Healt. Journal of Personality 2004; 72(6): 1191 – 1216. Tagney JP, Stuewig J, Mashek DJ: Moral emotions and moral behavior. Annual Review of Psychology 2007; 58: 345 – 372. © Dr. Götz Fabry, Abteilung für Medizinische Psychologie, Freiburg. www.medizinische-psychologie.de 10/10