Die betriebliche Übung im kirchlichen Bereich 1. Grundsätzliches zur betrieblichen Übung Die betriebliche Übung ist - obwohl gesetzlich nicht geregelt - allgemein anerkannt. Durch eine betriebliche Übung erhält ein Arbeitnehmer einen Anspruch auf die Leistung, wenn der Arbeitgeber mehrmals (nach der Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts: mindestens dreimal) vorbehaltlos eine Leistung gewährt hat. Durch die Gewährung der Leistung muss also beim Arbeitnehmer ein Vertrauen dahin geschaffen werden, dass er die Leistung von nun an immer so erhalten wird. Eine ausdrückliche Erklärung des Arbeitgebers ist nicht erforderlich; auch konkludentes Handeln reicht aus (z.B. die kommentarlose mehrjährige Gewährung freier Tage), vgl. BAG AP 9 zu § 611 BGB. Die rechtliche Bedeutung einer betrieblichen Übung besteht darin, dass ihr Inhalt kraft stillschweigender Vereinbarung die einzelnen Arbeitsverträge der Arbeitnehmer ergänzt. Somit gelten die allgemeinen Grundsätze des Vertragsrechts. Danach kann der Arbeitgeber die betriebliche Übung nicht durch einseitigen Widerruf beseitigen (BAG AP Nr. 2 zu § 242 BGB). Selbstverständlich kann der Arbeitgeber durch einen einseitigen Entschluss die betriebliche Übung für die Zukunft beenden. Dies hat aber nur Auswirkungen auf Arbeitnehmer, bei denen die betriebliche Übung noch nicht Bestandteil des eigenen Arbeitsvertrages geworden ist, z.B. bei Neueinstellungen. Bereits bestehende Ansprüche der Arbeitnehmer sind hiervon nicht betroffen. Diese kann der Arbeitgeber allenfalls durch Kündigung bzw. Änderungskündigung der Einzelarbeitsrechtsverhältnisse beseitigen. Hierbei trägt der Arbeitgeber allerdings ein sehr hohes Risiko. Denn eine solche Kündigung muss sich als sozial gerechtfertigt darstellen und ist im Rahmen einer Kündigungsschutzklage gerichtlich überprüfbar. Das Gericht prüft dann, ob dringende betriebliche Erfordernisse gemäß § 1 Abs. 2 KSchG die Änderungskündigung rechtfertigen und nur solche Änderungen erfolgen, welche der Arbeitnehmer billigerweise hinnehmen muss (BAG, AP 53 zu § 2 KSchG). Die Hürde für den Arbeitgeber ist mithin sehr hoch. 2. Besonderheiten im öffentlichen Dienst Allerdings ist das Entstehen von Ansprüchen aus betrieblicher Übung ausgeschlossen, wenn Bestimmungen in einem Tarifvertrag vorsehen, dass bestimmte Vertragsabreden nur dann wirksam sind, wenn sie schriftlich vereinbart wurden. Da im öffentlichen Dienst § 4 Abs. 2 BAT festlegt, dass Nebenabreden, wozu die Fälle der betrieblichen Übung im Regelfall gehören, zu ihrer Wirksamkeit der Schriftform bedürfen, hat die Rechtsprechung des Bundesarbeitsgericht folgerichtig festgestellt, dass Ansprüche aus betrieblicher Übung aufgrund einer stillschweigenden, faktischen Leistungsgewährung im öffentlichen Dienst (bzw. unter dem Geltungsbereich des BAT) nicht entstehen (BAG, Urteil vom 18.09.2002, 1 AZR 477/01). Zudem argumentiert das Bundesarbeitsgericht für den Bereich des öffentlichen Dienstes dahingehend, dass der Arbeitnehmer nicht ohne weiteres aus der mehrmaligen Gewährung einer Vergünstigung auf einen entsprechenden Bindungswillen des Arbeitgebers schließen kann, weil im Bereich des öffentlichen Dienstes aufgrund der festgelegten Haushaltsvorgaben, an die der Arbeitgeber gebunden ist, der Arbeitnehmer grundsätzlich davon ausgehen muss, dass der Arbeitgeber nur die Leistungen gewähren will, zu denen er rechtlich verpflichtet ist und die im Haushaltsplan enthalten sind (BAG AP 9 zu § 611 BGB). 3. Regelung im kirchlichen Bereich Gemäß § 7 Abs. 2 AVR bzw. § 3 Abs. 2 KAVO bedürfen zusätzliche Vereinbarungen, welche das Arbeitsverhältnis betreffen, zu Ihrer Gültigkeit der Schriftform. Es findet sich im kirchlichen Bereich also eine der Regelung in § 4 Abs. 2 BAT entsprechende Vorschrift. Dies lässt zunächst den Schluss zu, dass auch im kirchlichen Bereich eine betriebliche Übung aufgrund einer stillschweigenden, faktischen Leistungsgewährung nicht entstehen kann. Allerdings beurteilt das Bundesarbeitsgericht diesen Punkt anders. Das Bundesarbeitsgericht hat nämlich die für den öffentlichen Dienst entwickelte Rechtsprechung zur betrieblichen Übung nicht auf den kirchlichen Bereich ausgedehnt. Begründet wird dies insbesondere damit, dass der kirchliche Arbeitgeber bei der Gestaltung der vertraglichen Beziehungen zu seinen Arbeitnehmer freier ist als ein Arbeitgeber des öffentlichen Dienstes, weil er nicht den gleichen strengen haushaltsrechtlichen Überwachungsbestimmungen unterliegt (BAG, Urteil vom 26.05.1993, 4 AZR 130/93). Zudem geht die Rechtsprechung durchgängig davon aus, dass es sich bei den Regelungswerken der AVR bzw. KAVO nicht um Tarifnormen im Sinne des Tarifvertragsgesetzes handelt. Die AVR-Regelungen (bzw. KAVO-Regelungen) werden vielmehr durch die Bezugnahme im Arbeitsvertrag Bestandteil des Arbeitsvertragsverhältnisses. Von einzelvertraglichen Regelungen, d.h. dem Schriftformerfordernis, kann aber auch stillschweigend abgewichen werden. Etwas anderes würde sich nur ergeben, wenn eine sogenannte „doppelte Schriftformklausel“ in dem Arbeitsvertrag enthalten wäre, nach der Ergänzungen des Arbeitsvertrages der Schriftform bedürfen und eine mündliche Änderung der Schriftformklausel nichtig ist. Allerdings hat das Landesarbeitsgericht Düsseldorf in jüngerer Zeit eine der bisherigen Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts entgegenstehende Entscheidung getroffen (LAG Düsseldorf, Urteil vom 27.11.2002, 12 Sa 1071/02). Das LAG Düsseldorf wendet hierbei die von der Rechtsprechung entwickelten Rechtsgrundsätze zur betrieblichen Übung auch auf den kirchlichen Bereich an und gelangt damit folgerichtig zu dem Ergebnis, dass das Schriftformerfordernis der betreffenden kirchlichen Arbeitsvertragsrichtlinie dem Entstehen einer konkludenten betrieblichen Übung entgegensteht. Dieses Urteil ist allerdings nicht rechtskräftig, da das Revisionsverfahren vor dem Bundesarbeitsgericht nach derzeitigem Kenntnisstand noch nicht abgeschlossen ist. Insofern ist weiterhin von der bisherigen Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts auszugehen. 4. Ergebnis Im kirchlichen Bereich können Ansprüche aus betrieblicher Übung aufgrund einer stillschweigenden, faktischen Leistungsgewährung seitens des Arbeitgebers entstehen. Die Schriftformregelungen in den AVR bzw. in der KAVO stehen dem nicht entgegen. Gelsenkirchen, den 01.09.2005 Rainer Kaschel Rechtsanwalt